eJournals Transforming Cities 10/2

Transforming Cities
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expert verlag Tübingen
10.24053/TC-2025-0047
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2025
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Verkehrsadern am Limit: Alarmstufe Rot auf Deutschlands Brücken

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2025
Christian Ganz
Ein Großteil der deutschen Brücken ist dringend sanierungsbedürftig. Um diesem Problem entgegenzuwirken, startete das Bundesverkehrsministerium im Jahr 2022 ein umfassendes Modernisierungsprogramm und setzte sich das Ziel, bis 2032 insgesamt 4.000 schadhafte Brücken zu sanieren. Dennoch schreiten die Arbeiten nur langsam voran. Dabei sind Brücken zentrale Verkehrsadern: Ihre Sperrung führt nicht nur zu kilometerlangen Staus, sondern auch zu erheblichen Mehrbelastungen im Verkehr. Umso wichtiger ist eine effiziente Sanierung, die auf präziser Zustandserfassung und dem Einsatz digitaler Werkzeuge wie Building Information Modeling (BIM) basiert.
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Verkehrsadern am Limit: Alarmstufe Rot auf Deutschlands Brücken Brückensanierung, Building Information Modeling (BIM), Erhaltungsmanagement, Lebenszyklusanalyse, Reformgesetz Christian Ganz Ein Großteil der deutschen Brücken ist dringend sanierungsbedürftig. Um diesem Problem entgegenzuwirken, startete das Bundesverkehrsministerium im Jahr 2022 ein umfassendes Modernisierungsprogramm und setzte sich das Ziel, bis 2032 insgesamt 4.000 schadhafte Brücken zu sanieren. Dennoch schreiten die Arbeiten nur langsam voran. Dabei sind Brücken zentrale Verkehrsadern: Ihre Sperrung führt nicht nur zu kilometerlangen Staus, sondern auch zu erheblichen Mehrbelastungen im Verkehr. Umso wichtiger ist eine effiziente Sanierung, die auf präziser Zustandserfassung und dem Einsatz digitaler Werkzeuge wie Building Information Modeling (BIM) basiert. Wer häufig auf Deutschlands Straßen oder Schienen unterwegs ist, wird sicherlich bemerkt haben, dass an vielen Brücken derzeit intensiv gebaut wird - und das aus gutem Grund: Laut Daten des Bundesverkehrsministeriums gelten rund 11.000 Brücken an Bundesstraßen und Autobahnen als sanierungsbedürftig, wie auch eine Untersuchung des Bunds für Umwelt und Naturschutz (BUND) bestätigt i . Eine Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik aus dem Jahr 2023 kommt zu einem ähnlichen Ergebnis und bewertet jede zweite Straßenbrücke in kommunaler Verantwortung als marode ii . Hinzu kommen etwa 1.100 Bahnbrücken, die komplett erneuert oder instandgesetzt werden müssen iii . Doch nicht nur die Zahlen sind alarmierend - auch aktuelle Ereignisse verdeutlichen die Gefahren maroder Brücken: So stürzte im September 70 2 · 2025 TR ANSFORMING CITIES DOI: 10.24053/ TC-2025-0047 Eine verlässliche Grundlagenermittlung bildet das Fundament dieses Ansatzes. So hat das Beratungsunternehmen Drees & Sommer im Auftrag der Stuttgarter Stadtverwaltung eine umfassende Analyse von 125 Straßenbrücken im Stadtgebiet durchgeführt - inklusive einer detaillierten Planung der Erhaltungskosten. Ziel der Strategie ist es, Brücken mit ähnlichen Merkmalen oder Schadensbildern zu gruppieren und gebündelt zu sanieren. Auf Basis des Berichts lassen sich künftig sowohl die Erhaltungskosten besser prognostizieren als auch notwendige Maßnahmen effizient planen. Zudem ermöglicht die Kategorisierung den gezielten Einsatz von Normen, Forschungsergebnissen und praktischen Erfahrungen bei vergleichbaren Bauwerken. Erhaltungsstrategien mit Weitblick Alle sechs Jahre werden Deutschlands Brücken von einem Prüfingenieur gemäß DIN 1076 auf Standsicherheit, Verkehrssicherheit und Dauerhaftigkeit überprüft. Im Mittelpunkt dieser Bestandsprüfung steht die Lebenszyklusanalyse, die untersucht, wie sich Bausubstanz, Tragfähigkeit und Sicherheit der Brücke im Verlauf ihres Lebenszyklus verändert haben. Dabei dokumentiert der Prüfingenieur Schäden wie Risse und Korrosion und bewertet den Zustand des Bauwerks abschließend mit einer Note von 1 (sehr gut) bis 4 (ungenügend). Die Lebenszyklusanalyse ist zudem entscheidend für die Priorisierung von Erhaltungsmaßnahmen bei Sanierungsprojekten. Dabei fließen neben technischen Aspekten auch soziale und ökologische Faktoren in die Bewertung ein. So wird berücksichtigt, ob eine Brücke eine Hauptverkehrsader darstellt und welche Auswirkungen Sanierungsarbeiten auf Umwelt, Anwohner und Steuerzahler haben können. Die Experten von Drees & Sommer übernehmen das strategische Erhaltungsmanagement der betroffenen Bauwerke und orientieren sich dabei konsequent an den Prinzipien der Nachhaltigkeit, einem professionellen Vertragsmanagement sowie 2024 ein Teil der Carola-Brücke in Dresden ein und mit ihr eine wichtige Verkehrsader. Sanierungsbedürftige Brücken stellen nicht nur ein Sicherheitsrisiko dar, sondern verursachen auch erhebliche finanzielle und personelle Belastungen. Ein anschauliches Beispiel ist die Rahmede-Talbrücke auf der A45 zwischen Dortmund und Frankfurt, die täglich von rund 16.000 Lkw und 48.000 Pkw genutzt wurde. Seit ihrer Sperrung im Jahr 2021 wird der Verkehr über Lüdenscheid umgeleitet - eine Stadt, deren Straßen mit dem unerwartet hohen Verkehrsaufkommen schnell an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Die Konsequenzen spüren vor allem die Anwohner durch ständigen Stau, erhöhte Feinstaubbelastung und Lärm. Auch die Wirtschaft leidet unter den Umwegen, die Dienstleister und Lieferanten nun regelmäßig in Kauf nehmen müssen. Laut einer Studie der IW Consult GmbH für den Verkehrsverband Westfalen entstanden allein im Jahr 2022 negative wirtschaftliche Effekte von mindestens 1,8 Milliarden Euro iv . Deutschlands Brücken: Zwischen Altersschwäche und modernen Herausforderungen In Deutschland gibt es etwa 28.000 Autobahnbrücken, die zwischen 1960 und 1980 errichtet wurden. Mit einer durchschnittlichen Lebensdauer von rund 70 Jahren befinden sich viele dieser Bauwerke bereits in der zweiten Hälfte ihres Lebenszyklus. Problematisch ist, dass viele der damals gebauten Brücken nicht für das heutige Verkehrsaufkommen und die veränderten klimatischen Bedingungen ausgelegt sind. Die steigende Zahl von Schwerlastfahrzeugen sowie häufigere Wetterextreme beschleunigen die Abnutzung zusätzlich. Die Sanierung von Brücken ist ein äußerst komplexer Prozess, der idealerweise unter laufendem Verkehr erfolgen sollte, um den Verkehrsfluss nicht vollständig zu unterbrechen. Doch neben Alter und Belastung stellen auch fehlende Daten zum Zustand, zu technischen Kennwerten und zu früheren Reparaturen eine große Herausforderung für den konstruktiven Ingenieurbau (KIB) dar. Zusätzlich erschwert der Mangel an Fachpersonal in der öffentlichen Verwaltung die koordinierte Zusammenarbeit und verzögert die Umsetzung der Bauvorhaben erheblich. Fahrplan statt Flickwerk Eine kosteneffiziente und dauerhaft erfolgreiche Brückensanierung erfordert mehr als nur kurzfristige Reparaturen. Ein durchdachter und strukturierter Fahrplan schafft hier Abhilfe. Grundlage dafür ist eine individuelle Analyse jedes einzelnen Bauwerks, um gezielte Empfehlungen für dessen Erhalt abzuleiten. Bild 1: © ThamKC - gettyimages.com THEMA Brückensanierung 71 2 · 2025 TR ANSFORMING CITIES DOI: 10.24053/ TC-2025-0047 nen- und Straßenkreuzungen. Um diese Barrieren zu meistern, kommen verschiedene Brückentypen zum Einsatz, die sich sowohl in ihrer Bauweise als auch in ihrer Lage deutlich unterscheiden. So gibt es Balken- und Bogenbrücken, Hängebrücken, Schrägseilbrücken sowie Fachwerkbrücken. Die Vielfalt ist entscheidend, da die einzelnen Bauwerke aus unterschiedlichen Komponenten bestehen - wie Über- und Unterbau, Lager, Fundament und Gründung - und zudem mit Entwässerungssystemen, Lärmschutzvorrichtungen, Abdichtungen sowie Fahrbahnübergangskonstruktionen ausgestattet sind. Die unterschiedlichen Standortbedingungen, Konstruktionsarten und verwendeten Materialien machen es unmöglich, Sanierungspläne einfach von einer Brücke auf eine andere zu übertragen. Ein weiteres Hemmnis für eine zügige Umsetzung von Brückensanierungen stellt die oftmals langwierige und komplexe Bürokratie dar. Insbesondere umfangreiche Planungs-, Prüfungs- und Genehmigungsverfahren führen dazu, dass sich Sanierungsmaßnahmen in der Praxis über viele Jahre hinziehen können. In der Realität bedeutet dies, dass zwischen dem ersten Planungsschritt und dem tatsächlichen Beginn oder Abschluss der Bauarbeiten nicht selten Zeiträume von fünf bis zu 18 Jahren vergehen. Angesichts dieser Verzögerungen hat die Bundesregierung im Jahr 2023 reagiert und ein Reformgesetz auf den Weg gebracht, das die Genehmigungspflichten bei Brückensanierungen weitgehend reduziert. Ziel der Maßnahme ist es, den Sanierungsstau aufzubrechen, Planungsverfahren zu beschleunigen und insgesamt effizientere Abläufe zu etablieren. Trotz der gesetzlichen Erleichterungen bleibt jedoch ein entscheidender Aspekt bestehen: Die Auswahl und Priorisierung der konkret durchzuführenden Maßnahmen obliegen weiterhin den Ländern und Kommunen. Sie tragen die Verantwortung dafür, die zur Verfügung stehenden Ressourcen strategisch klug einzusetzen und sicherzustellen, dass die dringendsten Projekte bevorzugt behandelt werden. Sicherheitsrisiko Spannungsrisskorrosion: Baden-Württemberg geht in die Offensive Im Februar 2021 beauftragte das Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg das Beratungsunternehmen Drees & Sommer mit einem umfassenden Gutachten: Der Zustand von rund 7.300 Brücken an Bundes- und Landesstraßen sollte analysiert und bewertet werden. Ein besonderes Augenmerk galt dabei jenen Bauwerken, die einem erhöhten Risiko durch sogenannte Spannungsrisskorrosion ausgesetzt sind. Bei dieser gefährlichen Form der Materialermüdung können die in der Brücke verbauten der Entwicklung maßgeschneiderter Erhaltungsstrategien. Nürnberg schreitet mit gutem Beispiel voran Die Vorbereitung auf großflächige Brückensanierungen variiert in den deutschen Ländern und Kommunen stark. Ein herausragendes Beispiel für vorausschauendes Erhaltungsmanagement liefert die Stadt Nürnberg im Nordosten Mittelfrankens. Seit 2011 dokumentiert Nürnberg kontinuierlich den Zustand sowie sämtliche Instandhaltungsmaßnahmen ihrer Brücken. Dieser umfassende Brückenbericht gilt als Fundament für den strategischen Sanierungsplan der Stadt. Er enthält detaillierte Daten zu rund 300 Brücken, von denen etwa zwei Drittel aus Stahl- oder Spannbeton bestehen, circa 50 Jahre alt sind und sich dem Lebenszyklusende von rund 70 Jahren nähern. Statt pauschal die Investitionen zu erhöhen, setzt Nürnberg auf eine präzise und datenbasierte Kostenplanung. Hierfür entwickelte Drees & Sommer ein Prognosetool, das auf den Brückendaten aufbaut und sowohl einen Finanzierungsplan als auch eine Priorisierung der notwendigen Instandhaltungsmaßnahmen ermöglicht. Dieses Werkzeug unterstützt die Stadt dabei, langfristige, verlässliche und ressourcenschonende Erhaltungsstrategien zu entwickeln, die optimal auf den tatsächlichen Bedarf und verfügbare Mittel abgestimmt sind. Brückenvielfalt trifft Bürokratie Mit einer Gesamtlänge von rund 830.000 Kilometern ist Deutschlands Straßennetz etwa doppelt so lang wie der Abstand zwischen Erde und Mond. Dabei überwindet es zahlreiche natürliche und künstliche Hindernisse: Täler, Hänge, Flüsse, Seen, Schie- Bild 2: © Design Pics - Plainpictures THEMA Brückensanierung 72 2 · 2025 TR ANSFORMING CITIES DOI: 10.24053/ TC-2025-0047 außerdem zuverlässige Aussagen zu Kostenentwicklungen, Materialbedarf und Personalressourcen treffen. Ein Beispiel für zukunftsweisende Digitalisierung im Brückenbau ist das Forschungsprojekt HyBridGen, das vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr gefördert wird. Als Entwicklungspartner bringt Drees & Sommer hier seine Expertise ein. Ziel des Projekts ist es, mithilfe Künstlicher Intelligenz auf Basis vorhandener Trassendaten und Geoinformationen automatisiert sinnvolle Brückengeometrien zu generieren. Das spart Zeit in der Planung, erhöht die Qualität der Entwürfe und trägt dazu bei, dass Brückenbau in Deutschland effizienter und resilienter wird. Langfristig kann nur eine Kombination aus strategischem Management, datenbasierter Planung und digitaler Innovation den Sanierungsstau im Brückenbestand wirksam abbauen - und damit die Sicherheit und Funktionsfähigkeit des deutschen Verkehrsnetzes dauerhaft sichern. ENDNOTEN i Marode Autobahnbrücken: Verkehrsministerium rechnet Zahl klein ii Investitionsbedarfe für ein nachhaltiges Verkehrssystem iii Bahnbrücken: „Katastrophe mit Ansage! “ iv Folgen der A45-Sperrung Eingangsabbildung: © ollo - gettyimages.com Spannstähle plötzlich versagen - oft, ohne dass äußerlich sichtbare Schäden erkennbar sind. Experten vermuten, dass genau diese Art von versteckter Schädigung zum Einsturz der Dresdner Carola-Brücke am 11. September 2024 geführt hat. In Baden-Württemberg sind derzeit 73 Brücken mit einem vergleichbaren Risiko identifiziert. Diese Bauwerke werden deshalb im Brückenerhaltungsprogramm mit höchster Priorität behandelt und sollen bis spätestens 2030 durch Neubauten ersetzt werden. Um dem enormen Sanierungsbedarf gerecht zu werden, hat das Land für die Jahre 2025 und 2026 jeweils 184 Millionen Euro für die Instandhaltung des Landesstraßennetzes eingeplant - inklusive Brückensanierungen. Zusätzlich stellt der Landtag pro Jahr weitere 19 Millionen Euro speziell für den Erhalt von Landesstraßenbrücken bereit. Trotz gesetzlicher Erleichterungen, wie der Abschaffung bürokratischer Genehmigungsverfahren bei Brückensanierungen, bleibt die Umsetzung ein langfristiges Vorhaben. Die Komplexität der Maßnahmen und die begrenzten personellen Kapazitäten lassen eine sofortige Entlastung nicht zu. Bis zum Ersatz der betroffenen Brücken greifen daher Übergangsmaßnahmen: Die Regierungspräsidien haben die Prüfintervalle verkürzt und den Betrieb durch Geschwindigkeits- und Gewichtsbeschränkungen abgesichert. So soll die Verkehrssicherheit auf den kritischen Bauwerken weiterhin gewährleistet bleiben. Vom Verfall zur virtuellen Rettung Eine langfristige Strategie für den Erhalt deutscher Brücken ist längst vorhanden - doch sie muss konsequent und flächendeckend umgesetzt werden. Insbesondere Länder und Kommunen sind gefragt, systematisch ein strategisches Erhaltungsmanagement zu entwickeln. Denn nur wenn Instandhaltungsmaßnahmen frühzeitig und zielgerichtet geplant werden, lassen sich finanzielle Risiken minimieren und Ressourcen effizient einsetzen. Zentraler Baustein einer solchen Strategie ist die strukturierte und kontinuierliche Dokumentation aller baulichen Maßnahmen, Zustandsbewertungen und Planungsprozesse. Diese Daten bilden die Grundlage für künftige Entscheidungen und erlauben ein vorausschauendes Management über den gesamten Lebenszyklus eines Bauwerks hinweg. Digitale Werkzeuge wie Building Information Modeling (BIM) spielen dabei eine zunehmend wichtige Rolle. BIM ermöglicht es, Bauwerke, Materialien und Abläufe virtuell und in hoher Detailtiefe abzubilden. So können Planungsfehler frühzeitig erkannt, Kollisionen vermieden und Abläufe optimiert werden. Ergänzt durch intelligente Prognosetools lassen sich Bild 3: © AI-generated AUTOR: INNEN Christian Ganz, Dr., Senior Experte für konstruktiven Ingenieurbau mit Spezialisierung auf Brückenbau bei Drees & Sommer SE infrastructure@dreso.com THEMA Brückensanierung 73 2 · 2025 TR ANSFORMING CITIES DOI: 10.24053/ TC-2025-0047