Tribologie und Schmierungstechnik
tus
0724-3472
2941-0908
expert verlag Tübingen
10.24053/TuS-2021-0009
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2021
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JungkEin Kommentar zum mehrachsigen Spannungszustand im reibungsfrei überrollten Kontakt elastischer Körper und zur Anwendung von Vergleichsspannungshypothesen
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2021
Michael Jüttner
Stephan Tremmel
Martin Correns
Oliver Koch
Sandro Wartzack
Zur Bewertung der Tragfähigkeit eines überrollten Kontaktes sind insbesondere Wissen über den inhomogenen mehrachsigen Spannungszustand sowie die Einschränkungen verfügbarer Vergleichsspannungshypothesen maßgeblich. Der Beitrag beleuchtet deshalb am Beispiel des HERTZschen Kontaktes Kugel/Ebene zunächst den mehrachsigen Spannungszustand, um daraus anschließend die Beanspruchungshistorie bei reibungsfreier Überrollung abzuleiten.
Abschließend werden anhand der Gestaltänderungsenergiehypothese die Chancen und Einschränkungen
bei der Nutzung von Vergleichsspannungen aufgezeigt
tus6820007tus682/tus6820007_Zusatzmaterial.html
Einleitung Der Kontakt zweier Körper ist in der Technik allgegenwärtig und dessen Berechnung sowie Bewertung eine häufige, vielseitige Problemstellung. Während in manchen Fällen bereits die Pressungsverteilung und Oberflächenverformung als Ergebnisse ausreichen, so sind zum Beispiel in der Tragfähigkeitsberechnung zudem die Spannungen unter der Oberfläche von Interesse. Es zeigt sich jedoch, dass bereits bei einfachen Kontaktgeometrien die Spannungsverteilungen stark inhomogen und mehrachsig sind. In vielen Anwendungsfällen, wie beispielsweise im Wälzlager, bei Verzahnungen oder zwischen Rad und Schiene, ist dieser Kontakt zudem dynamisch, es liegt ein Überrollen vor. Hier muss der zeitliche Verlauf des mehrachsigen Spannungszustands berücksichtigt werden. Aus Wissenschaft und Forschung 7 Tribologie + Schmierungstechnik · 68. Jahrgang · 2/ 2021 DOI 10.24053/ TuS-2021-0009 Ein Kommentar zum mehrachsigen Spannungszustand im reibungsfrei überrollten Kontakt elastischer Körper und zur Anwendung von Vergleichsspannungshypothesen Michael Jüttner, Stephan Tremmel, Martin Correns, Oliver Koch, Sandro Wartzack* Vorgetragen auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Tribologie vom 28. bis 30. September 2020 Eingereicht: 16. 9. 2020 Nach Begutachtung angenommen: 22. 2. 2021 Zur Bewertung der Tragfähigkeit eines überrollten Kontaktes sind insbesondere Wissen über den inhomogenen mehrachsigen Spannungszustand sowie die Einschränkungen verfügbarer Vergleichsspannungshypothesen maßgeblich. Der Beitrag beleuchtet deshalb am Beispiel des H ERTZ schen Kontaktes Kugel/ Ebene zunächst den mehrachsigen Spannungszustand, um daraus anschließend die Beanspruchungshistorie bei reibungsfreier Überrollung abzuleiten. Abschließend werden anhand der Gestaltänderungsenergiehypothese die Chancen und Einschränkungen bei der Nutzung von Vergleichsspannungen aufgezeigt. Schlüsselwörter Kontaktmechanik, H ERTZ scher Kontakt, Spannungsfeld, Hauptspannungsorientierung, von Mises-Spannung A commentary on the multi-axial stress state in the frictionless rolling contact of elastic bodies and the application of equivalent stress criteria For the assessment of a rolling contact, knowledge about the inhomogeneous multi-axial stress state as well as the limitations of available equivalent stress hypotheses are important. Therefore, this paper examines the multi-axial stress state using the example of the H ERTZ ian contact ball/ plane in order to derive the stress history for the frictionless rolling contact. Finally, the opportunities and limitations of the use of equivalent stresses are shown using the maximum distortion criterion as an example. Keywords contact mechanics, H ERTZ ian contact, stress field, principal stress orientation, von Mises stress Kurzfassung Abstract * Michael Jüttner, Master of Science (federführender Autor) Orcid-ID: https: / / orcid.org/ 0000-0002-8910-0707 Lehrstuhl für Konstruktionstechnik KTmfk, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 91058 Erlangen Professor Dr.-Ing. Stephan Tremmel Orcid-ID: https: / / orcid.org/ 0000-0003-1644-563X Lehrstuhl für Konstruktionslehre und CAD, Universität Bayreuth, 95447 Bayreuth Dipl.-Ing. Martin Correns Orcid-ID: https: / / orcid.org/ 0000-0003-3148-0732 Dr.-Ing. Oliver Koch Schaeffler Technologies AG & Co. KG, 91074 Herzogenaurach Prof. Dr.-Ing. Sandro Wartzack Orcid-ID: https: / / orcid.org/ 0000-0002-0244-5033 Lehrstuhl für Konstruktionstechnik KTmfk, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, 91058 Erlangen rachwissenschaft \ ltphilologie \ Sport munikationswissenche Sprachwissenment \ Altphilologie d Kommunikations- Historische Sprach- Management \ Altstik \ Bauwesen \ tschaft \ Tourismus gie \ Kulturwissenhichte \ Anglistik \ \ BWL \ Wirtschaft TuS_2_2021.qxp_TuS_Muster_2021 08.06.21 10: 18 Seite 7 nungszustands für den H ERTZ schen Punktkontakt erfolgt in der Literatur meist begrenzt auf die abgebildete parabelförmige Pressungsverteilung (Bild 1) und die Spannungen im höchstbelasteten Punkt des Kontaktes in die Materialtiefe (Bild 2). Als Koordinatensystem wird wegen der Punktsymmetrie meist ein Zylinderkoordinatensystem gewählt. Aufgrund des späteren Übergangs auf einen überrollten Kontakt wird hier, abweichend davon, ein kartesisches Koordinatensystem gewählt. Die x-Achse und y-Achse spannen dabei die Oberflächenebene auf, während die positive z-Achse ins Material der Ebene hinein orientiert ist. In Bild 2 sind die bekannten Charakteristika des H ERTZschen Punktkontaktes erkennbar. Obgleich die Normalspannungskomponenten ihr Maximum an der Oberfläche haben, so liegen die maximale Hauptschubspannung τ max sowie die maximale VON M ISES -Spannung in einer Tiefe von ca. 0,48 a unter der Oberfläche. Da diese Beanspruchungen die globalen Maxima darstellen, mag die Einschränkung auf deren Betrachtung für verschiedene Fälle gerechtfertigt und ausreichend sein. Die räumliche Spannungsverteilung wird bei diesen Darstellungen aber unbeachtet gelassen. In Bild 3 sind die Verteilungen der einzelnen Komponenten des Spannungstensors im kartesischen Raum in Form spannungsisometrischer Flächen visualisiert. Es sei angemerkt, dass es durch Überlagerungseffekte zu einer unvermeidlichen optischen Abdunklung der Farbtöne tiefer gelegener Isoflächen kommt, weshalb der Fokus auf eine qualitative Auswertung der Diagramme gelegt werden sollte. Die Normalspannungskomponenten σ xx und σ yy zeigen zur yzbeziehungsweise xz-Ebene symmetrische Verteilungen. Resultierend aus der Punktsymmetrie des Kontaktes sind diese abgesehen von einer Verdrehung um 90° um die z-Achse identisch. Der Maximalwert liegt im Zentrum an der Oberfläche und nimmt, wie Aus Wissenschaft und Forschung 8 Tribologie + Schmierungstechnik · 68. Jahrgang · 2/ 2021 DOI 10.24053/ TuS-2021-0009 Die Vorstellung, Visualisierung und Verarbeitung eines solchen Spannungszustands ist mitunter schwierig, jedoch wichtig für ein tiefergreifendes Verständnis der Beanspruchungssituation und eine sinnvolle Verarbeitung und Bewertung. Im Folgenden soll deshalb für den bewusst einfach gehaltenen und gemeinhin bekannten H ERTZ schen Kontakt Kugel/ Ebene ein visueller Eindruck und ein Verständnis des Spannungszustands vermittelt werden, der über die in der Literatur bekannten Darstellungen hinausgeht. Aus dem statischen Kontakt wird die Belastungshistorie bei reibungsfreier Überrollung abgeleitet und diskutiert. Abschließend werden darauf aufbauend am Beispiel der Gestaltänderungsenergiehypothese die Chancen und Einschränkungen bei der Nutzung von Vergleichsspannungen aufgezeigt. Kontakteigenschaften Die folgend diskutierten Ergebnisse gelten für den trockenen Kontakt mit glatten Oberflächen und elastischem, homogenen und isotropen Materialverhalten mit einer Querdehnzahl von ν = 0,3. Durch Angabe aller Ergebnisse in normierter Form sind diese unabhängig von Kugeldurchmesser und aufgebrachter Last. Die Spannungen werden mit dem Betrag der maximalen H ERTZschen Pressung p 0 , die Längenmaße mit der halben Kontaktbreite a normiert. Die Berechnungsverfahren für die Berechnung des klassischen Kontaktproblems sowie der Spannungsverteilung unter der Oberfläche sind Stand der Wissenschaft, weshalb auf die einschlägige Literatur [1 bis 5] verwiesen wird. Statischer Kontakt Zunächst wird das Spannungsfeld in der Ebene für den statischen Kontakt betrachtet. Die Darstellung des Span- -0,2 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 -2 -1 0 1 2 -100 -80 -60 -40 -20 0 20 p/ p 0 x/ a oder y/ a z/ a p 0 Pressung def. Geom. Bild 1: H ERTZ sche Pressungsverteilung und Geometrie der elastisch deformierten Kontaktkörper 0 0,2 0,4 0,6 0,8 1 1,2 1,4 1,6 2 -1,5 -1,00 -0,50 0,00 0,50 1,50 z/ a τ/ p 0 xx yy zz V M τ max σ/ p 0 Bild 2: Spannungskomponenten entlang der z-Achse im Zentrum des Kontaktes TuS_2_2021.qxp_TuS_Muster_2021 08.06.21 10: 18 Seite 8 Bild 2 zu entnehmen ist, in die Tiefe sehr rasch ab. Hervorzuheben ist eine kleine Zone im oberflächennahen Randbereich des Kontaktes, in welcher Zugspannungen vorliegen. Obgleich die Zugspannungen betragsmäßig klein sind, stellen sie, insbesondere für spröde Werkstoffe, einen möglichen Ort von Schädigung ausgehend von der Oberfläche dar [1, 4]. Die Normalspannungskomponente σ zz ist auch im kartesischen Koordinatensystem rotationssymmetrisch um die z-Achse. Der Maximalwert liegt im Zentrum an der Oberfläche mit dem Wert der maximalen H ERTZ schen Pressung p 0 . Mit den betragsmäßig höchsten Spannungen wird der Kontakt von der Normalspannungskomponente in z-Richtung dominiert. Die Schubspannungskomponenten τ xy , τ xz und τ yz sind unterhalb des Kontaktzentrums Null, weshalb sie in den klassischen Darstellungen, vergleiche Bild 2, nicht auftreten. Die Schubspannungskomponente τ xy ist an der Oberfläche am Rand des Kontaktes mit einem Wert von etwa 0,12 p 0 maximal, besitzt aber unter der Oberfläche weitere kleinere lokale Maxima, die keulenförmig verteilt sind. Auch fällt auf, dass sowohl positive wie auch negative Schubspannungen auftreten. Die Schubspannungskomponenten τ xz und τ yz sind abgesehen von einer 90° Drehung um die z-Achse identisch. Auch hier treten sowohl positive als auch negative Schubspannungen auf. Ihr Maximum mit einem Wert von etwa 0,21 p 0 liegt unter der Oberfläche. Es ist eine achsensymmetrische Verteilung in Keulenform zu erkennen. Verdeutlicht man sich, dass alle betrachteten Komponenten des Spannungstensors zusammen den Spannungszustand definieren und folglich „überlagert“ wirken, so wird die starke Inhomogenität und die Mehrachsigkeit des eigentlich simpel erscheinenden Punktkontaktes deutlich. Alle Diagramme aus Bild 3 lassen sich unter https: / / elibrary.narr.digital/ article/ 10.24053/ TuS-2021-0007 herunterladen und interaktiv im Browser ansehen, zoomen und drehen. Reibungsfreie Überrollung Handelt es sich um einen überrollten Kontakt, so wird der Spannungszustand zeitabhängig - es liegt also für jeden Punkt eine Historie des Spannungstensors vor. Bei reibungsfreier Überrollung treten keine zusätzlichen Schubbeanspruchungen durch Reibungskräfte auf, weshalb die Spannungsverteilung des statischen Kontaktes gültig bleibt. Die Achse in Rollrichtung - hier die x-Achse - kann mit der Zeit gleichgesetzt werden, wodurch Bild 3 auch als Darstellung des dynamischen Spannungszustands interpretiert werden kann. An dieser Stelle wird der Sinn der eher ungewöhnlichen Wahl eines kartesischen Koordinatensystems deutlich. Zur genaueren Betrachtung und Visualisierung der Beanspruchungshistorie soll nun die Einschränkung auf Spannungs-Zeitverläufe an drei diskreten Positionen erfolgen. Die erste Position (Position A) liegt im Zentrum des Kontaktes an der Oberfläche, während Position B Aus Wissenschaft und Forschung 9 Tribologie + Schmierungstechnik · 68. Jahrgang · 2/ 2021 DOI 10.24053/ TuS-2021-0009 Bild 3: Komponenten des Spannungstensors in Form von spannungsisometrischen Flächen TuS_2_2021.qxp_TuS_Muster_2021 08.06.21 10: 18 Seite 9 spannung wird als maßgebend für die Wälzermüdung angesehen und wird in der genormten Lebensdauerberechnung von Wälzlagern verwendet [6]. Verlagert sich der Betrachtungspunkt in etwa gleicher Tiefe unter der Oberfläche nun aus dem Zentrum des Kontaktes hinaus zu Position C, treten auch die Schubspannungskomponenten τ xy und τ yz auf. Der Betrag von τ yz liegt in der gleichen Größenordnung wie σ yy , während die Komponenten τ xy sowie τ xz nur etwa halb so groß sind. Hervorzuheben ist das dynamische Verhalten der einzelnen Komponenten. τ yz sowie alle Normalspannungen wirken rein schwellend, die Schubspannungen τ xy und τ xz aber wechselnd. Es lässt sich zusammenfassen, dass bereits in verschiedenen Tiefen im Zentrum des Kontaktes deutlich unterschiedliche Spannungs-Zeit-Verläufe vorliegen. Noch größer wird der Unterschied abweichend der Zentralebene. Es wird deutlich, dass die Normalspannungskomponenten überwiegend druckschwellend wirken (mit Ausnahme von σ xx , wechselnd mit Mittelspannung im Druckbereich an Position A), während die Schubspannungskomponenten zeitgleich überwiegend wechselnd wirken. Die Spannungskomponenten sind somit weder synchron noch proportional, was eine intuitive Bewertung erschwert [7]. Hauptspannungen mit Orientierung Die Betrachtung des Spannungszustands erfolgte bisher für ein kartesisches Bezugskoordinatensystem (BKS) mit fester Orientierung. Wird das BKS gedreht, verändern sich die Komponenten des Spannungstensors. Sind alle Schubspannungskomponenten Null spricht man vom Hauptspannungssystem. Es liegen nur noch Normalspannungen vor, welche nach Betrag absteigend durchnummeriert bezeichnet werden. Aus Wissenschaft und Forschung 10 Tribologie + Schmierungstechnik · 68. Jahrgang · 2/ 2021 DOI 10.24053/ TuS-2021-0009 weiterhin im Zentrum, jedoch unter der Oberfläche an der Stelle der global maximalen VON M ISES -Spannung liegt. Die Stelle der global maximalen Schubspannungskomponenten τ yz wird als Position C gewählt. Letztere ist besonders interessant, da diese zwar in einer ähnlichen Tiefe wie Position B, aber nicht im Zentrum des Kontaktes liegt. In Bild 4 sind alle Spannungskomponenten über der Zeit beziehungsweise der x-Achse für die drei Positionen A, B und C gegenübergestellt. Durch die gemeinsame Achsenskalierung lassen sich die Spannungsbeträge direkt vergleichen. An Position A an der Oberfläche im Zentrum des Kontaktes liegen keine Schubkomponenten vor. Bereits bekannt, hier noch einmal gut erkennbar, sind die Normalspannungen σ xx und σ yy mit gleichem Maximalwert von 0,8 p 0 , während die Spannung σ zz mit einem Maximalwert von p 0 dominiert. Besser als in Bild 3 sind für die Spannung σ xx , neben den überwiegenden Druckspannungen, auch die Bereiche der Zugspannungen am Kontaktrand zu erkennen. Im Zeitverlauf führen diese Zugbereiche für σ xx zu einer druckwechselnden Belastung von 1,5 Perioden je Überrollung, während die anderen Komponenten rein schwellendem Druck unterliegen. Wandert der Betrachtungspunkt unter die Oberfläche zu Position B, so dominiert weiterhin die schwellend wirkende Normalspannung σ zz . Die Normalspannungskomponenten σ xx und σ yy haben in dieser Tiefe bereits deutlich abgenommen. Neu hinzugekommen ist die Schubkomponente τ xz , die betragsmäßig in der gleichen Größenordnung wie die Normalspannungen σ xx und σ yy liegt. Da Position B weiterhin im Kontaktzentrum liegt, sind die Schubspannungskomponenten τ yz und τ xy Null. Während die Normalspannungen alle rein druckschwellend wirken, zeigt die Schubkomponente eine rein wechselnde Beanspruchung. Dieses Wechseln der Schub- -1,2 -1 -0,8 -0,6 -0,4 -0,2 0 0,2 0,4 0,8 -2 -1 0 2 Pos. A x/ a oder t -2 -1 0 2 Pos. B x/ a oder t -2 -1 0 2 Pos. C x/ a oder t σ / p 0 τ / p 0 xx yy zz xy xz yz M Bild 4: Spannungskomponenten und VON M ISES -Vergleichsspannung über der Zeit beziehungsweise x-Koordinate des überrollten Kontaktes für die drei Positionen A, B und C TuS_2_2021.qxp_TuS_Muster_2021 08.06.21 10: 18 Seite 10 In Bild 5 sind, äquivalent zu Bild 4, die Hauptspannungs- Zeit-Verläufe der drei Positionen A, B und C aufgetragen. Bis auf die erste Hauptspannung σ 1 an Position A, zeigen alle Verläufe ein rein druckschwellendes Verhalten. Da im Hauptspannungssystem definitionsgemäß alle Schubspannungskomponenten Null sind, scheint die Auswertung des Spannungszustands einfacher zu sein. Was in den Diagrammen nicht dargestellt ist, jedoch beachtet werden muss, ist die Orientierung des BKS. Im Zeitverlauf der Überrollung rotiert das BKS teils um mehrere Achsen. Der nichtsymmetrische und nichtproportionale Beanspruchungszustand, der bei ortsfestem BKS insbesondere durch die Schubspannungskomponenten sichtbar wird (vergleiche Bild 4), zeigt sich bei Darstellung als Hauptnormalspannungen durch die Rotation des BKS [7, 8]. In Bild 6 sind die Orientierungen für das BKS für je sieben Zeitpunkte beziehungsweise x-Koordinaten einer Überrollung dargestellt. Zur besseren Verfolgbarkeit sind die Achsen der Orientierungen als Pfeile dargestellt. Tatsächlich sind die Orientierungen aber vorzeichenlos, die Pfeilrichtung also irrelevant. Deutlich ist für die drei betrachteten Positionen eine unterschiedliche Verdrehung des BKS zu erkennen. An Position A an der Oberfläche bleibt die Orientierung konstant. An Position B rotiert das BKS um die y-Achse, während es in Position C in unterschiedlichem Maße um zwei Achsen rotiert. Diese Rotation muss für eine korrekte Bewertung des Aus Wissenschaft und Forschung 11 Tribologie + Schmierungstechnik · 68. Jahrgang · 2/ 2021 DOI 10.24053/ TuS-2021-0009 -1,2 -1 -0,8 -0,6 -0,4 -0,2 0 0,2 0,4 0,8 -2 -1 0 2 Pos. A x/ a oder t -2 -1 0 2 Pos. B x/ a oder t -2 -1 0 2 Pos. C x/ a oder t σ / p 0 M σ 1 σ 2 σ 3 σ m Bild 5: Hauptspannungen, Mittelspannung und VON M ISES -Vergleichsspannung über der Zeit beziehungsweise x-Koordinate des überrollten Kontaktes für die drei Positionen A, B und C Bild 6: Orientierungen des Bezugskoordinatensystems über der Zeit beziehungsweise x-Koordinate des überrollten Kontakts für die Positionen A, B und C TuS_2_2021.qxp_TuS_Muster_2021 08.06.21 10: 18 Seite 11 [14] in ihren verschiedenen Versionen stellt ein Beispiel für ein Verfahren der integralen Anstrengung dar. Wie N OVOSHILOV in [15] gezeigt hat, kann die VON M ISES - Vergleichsspannung auch als quadratischer Mittelwert der Schubspannungen in allen Schnittebenen interpretiert werden und ist somit ein Sonderfall der SIH. Als Vergleichsspannungshypothese aus jüngster Zeit sollte zudem die modifizierte M OHR -M ISES -Hypothese (MMMH) [16] genannt werden, welche sich explizit mit den Schwächen von quadratischen Vergleichsspannungshypothesen auseinandersetzt. Bereits die große Anzahl unterschiedlicher Festigkeitshypothesen und deren intensive Diskussion in der wissenschaftlichen Fachliteratur zeigt, dass eine pauschal richtige Hypothese nicht gefunden werden kann. Abhängig von der jeweiligen Problemstellung kann nur die Auswahl einer Hypothese erfolgen, die die Schädigung möglichst korrekt abbildet. Mit dieser Problematik beschäftigt sich eine Vielzahl von Veröffentlichungen [7, 17, 18]. An dieser Stelle soll deshalb bewusst keine Empfehlung gegeben werden oder ein Vergleich verschiedener Hypothesen erfolgen, sondern vielmehr am Beispiel der populären GEH aufgezeigt werden, dass jede Hypothese definitionsbedingt mehr oder weniger Informationsverlust mit sich bringt, dessen man sich bei der Auswahl und Verwendung bewusst sein sollte. Ein Rückschluss von einer Vergleichsspannung auf den tatsächlichen Spannungszustand ist nicht möglich. Die Gestaltänderungsenergiehypothese (GEH) nach VON M ISES ist weit verbreitet und zeigt für duktile metallische Werkstoffe gute Übereinstimmung im empirischen Abgleich. Wie der Name verrät, wird als Versagenskriterium die Gestaltänderungsenergie herangezogen. Gemäß Gleichung 1 kann die GEH aus dem Tensor des Spannungsdeviators s ij oder gemäß Gleichung 2 in Komponentenschreibweise direkt aus dem Spannungstensor berechnet werden. mit Spannungsdeviator (Gl. 1) (Gl. 2) Aus den Gleichungen ist direkt ersichtlich, dass die VON M ISES -Spannung immer einen positiven skalaren Wert liefert, also potentiell ein Vorzeichenverlust auftritt. Dieser ist in Bild 4 und Bild 5 zu erkennen. Dass der Kontakt von Druckspannungen beherrscht wird und ein Richtungswechsel bei den Schubspannungen in der Zeithistorie vorliegt, ist aus dem Vergleichsspannungswert nicht erkennbar. Dies verdeutlicht, dass die VON M ISES - Spannung nur eine Aussage über den Betrag der äquivalenten Beanspruchung, nicht jedoch über die Richtung Aus Wissenschaft und Forschung 12 Tribologie + Schmierungstechnik · 68. Jahrgang · 2/ 2021 DOI 10.24053/ TuS-2021-0009 Beanspruchungsverlaufs berücksichtigt werden. Die Umrechnung auf Hauptnormalspannungen stellt also für eine dynamische Beanspruchung nur eine scheinbare Vereinfachung zur Bewertung des Spannungszustands dar. Soll kein Informationsverlust auftreten, muss der mehrachsige zeitabhängige Spannungszustand stets durch die Komponenten des Spannungstensors sowie der Orientierung des zugehörigen BKS beschrieben werden. Vergleichsspannungshypothesen Für die Bewertung eines überrollten Kontaktes, zum Beispiel im Hinblick auf die Lebensdauer eines Wälzlagers, existieren unterschiedliche Ermüdungsmodelle [6, 8 bis 12]. Gemein haben diese Ansätze, dass in der Regel der mehrachsige Spannungszustand in Form eines skalaren Wertes verarbeitet wird. Der vorliegende mehrachsige Spannungszustand wird für die Bewertung in einen skalaren, äquivalenten Vergleichswert, die sogenannte Vergleichsspannung, umgerechnet. Diese Umrechnung erfolgt auf Basis einer Festigkeitshypothese, welcher ein bestimmter Schädigungsbeziehungsweise Ermüdungsmechanismus zu Grunde liegt. Die Vergleichsspannung führt dabei theoretisch zur gleichen Schädigung wie der ursprüngliche, mehrachsige Beanspruchungszustand. Da verschiedene Randbedingungen, wie zum Beispiel der Werkstoff selbst sowie die Belastungsart und -dynamik, unterschiedliche Schadensmechanismen aufweisen, gibt es eine Vielzahl verschiedener Festigkeitshypothesen variierender Komplexität. Die klassischen Festigkeitshypothesen wurden ursprünglich für den Tragfähigkeitsnachweis unter statischer Beanspruchung entwickelt. Hierzu gehören zum Beispiel die Hauptnormalspannungshypothese nach R ANKINE , die Schubspannungshypothese nach T RESCA oder die Gestaltänderungsenergiehypothese (GEH) nach VON M ISES . Für dynamische, mehrachsige Beanspruchungen wurden diese unter Anderem weiterentwickelt zu den Methoden der kritischen Ebene oder den Methoden der integralen Anstrengung. Bei den Methoden der kritischen Ebene werden aus dem Spannungstensor die in diskreten, unterschiedlich orientierten Ebenen wirkenden Normal- und Schubspannungsamplituden sowie Mittelspannungen berechnet. Aus diesen wird abhängig von der gewählten Hypothese für jede Ebene eine zugehörige Vergleichsspannung berechnet. Die Ebene, in der die maximale Vergleichsspannung auftritt, wird als kritisch betrachtet und für die Schädigung als maßgeblich angesehen. Zu den Methoden der kritischen Ebene gehört zum Beispiel die Hypothese nach D ANG V AN [13]. Der Ansatz der kritischen Ebene kann weitergeführt werden zu den Methoden der integralen Anstrengung. Hier werden entweder mehrere oder alle zuvor berechneten Ebenen berücksichtigt und wiederum zu einem skalaren Vergleichswert zusammengefasst. Die Schubspannungsintensitätshypothese (SIH) ij ij 3 2 v s s v 2 2 2 2 2 2 xx yy zz xx yy xx zz yy zz xy xz yz 3( ) ij ij ij M s TuS_2_2021.qxp_TuS_Muster_2021 08.06.21 10: 18 Seite 12 und auch nicht über den vorliegenden Grad der Mehrachsigkeit treffen kann. Aus Gleichung 1 wird ebenfalls deutlich, dass die mittlere Normalspannung σ M - auch als hydrostatischer Druck bezeichnet - nicht in den Wert der Vergleichsspannung eingeht. Dies wird in Bild 5 sichtbar. Obwohl an Position A alle Normalspannungen in ihrem Betrag größer sind als an Position B und C, ist die Vergleichsspannung an dieser Stelle geringer. Dies erklärt sich durch den deutlich höheren hydrostatischen Druck an Position A, der als resultierende Volumenänderung nicht in die Gestaltänderung und damit nicht in die Vergleichsspannung eingeht. Je ähnlicher die drei Hauptspannungskomponenten sind, desto höher der hydrostatische Druck. Die Überlagerung eines beliebig hohen hydrostatischen Drucks würde somit zu keiner Veränderung der VON M ISES -Spannung führen. Aus Sicht der GEH ist dies korrekt, da eine Volumenänderung nicht zum Fließen des Werkstoffes führt, wohl aber kann bei einem entsprechend hohen Beanspruchungszustand ein anderes Schadenskriterium kritisch sein. Dies verdeutlicht, dass die Wahl einer passenden Vergleichsspannungshypothese maßgeblich ist, da ihr nur ein bestimmtes Schadenskriterium zugrunde liegt und andere Schädigungsmechanismen somit unter Umständen nicht bewertet werden können. Verallgemeinert man die am Beispiel der GEH diskutierten Erkenntnisse, so wird deutlich, dass die Nutzung einer Vergleichsspannung die Bewertung eines inhomogenen, mehrachsigen und dynamischen Spannungszustandes anhand von skalaren Grenzwerten erlaubt. Dies ist jedoch definitionsbedingt durch die Reduktion auf einen skalaren Wert mit einem Informationsverlust verbunden. Dieser Informationsverlust ist abhängig von der Festigkeitshypothese unterschiedlich groß. Hat man die für den Schadensmechanismus signifikante Hypothese ausgewählt und bewegt sich in deren Gültigkeitsgrenzen ist dies zunächst nicht kritisch. Betrachtet man nur den Vergleichsspannungswert besteht jedoch die Gefahr, die vorliegende Beanspruchung und die daraus resultierende Schädigungsart aufgrund des Informationsverlustes unvollständig oder falsch einzuschätzen. Zusammenfassung und Fazit Am Beispiel des prominenten H ERTZ schen Kontaktes Kugel/ Ebene wird gezeigt, dass bereits bei einem solchen einfachen Kontakt, inhomogene mehrachsige Spannungsfelder vorliegen. Bei Überrollung werden diese zudem zeitabhängig, wobei die Spannungskomponenten weder synchron noch proportional wirken. Dies wird durch die volumetrische Darstellung der Spannungsfelder sowie eine vergleichende Diskussion des Zeit-Spannungsverlaufs an drei diskreten Punkten untermauert. Am Beispiel der Gestaltänderungsenergiehypothese wird gezeigt, dass Vergleichsspannungshypothesen, welche zur Bewertung eines mehrachsigen Spannungszustands genutzt werden, einem Informationsverlust im Bezug zum vollständigen mehrachsigen Spannungszustand unterliegen. Dies sollte bei der Auswahl und Anwendung berücksichtigt werden. Literatur [1] Hertz, H.: Über die Berührung fester elastischer Körper. Journal für die reine und angewandte Mathematik (1882) 92, S. 156-171 [2] Johnson, K. 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Jahrgang · 2/ 2021 DOI 10.24053/ TuS-2021-0009 TuS_2_2021.qxp_TuS_Muster_2021 08.06.21 10: 18 Seite 13
