Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa)
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2366-0597
2941-0789
Francke Verlag Tübingen
10.24053/VvAa-2022-0012
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Fischer Heilmann Wagner KöhlmoosHaltung und Methode
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Holger Pyka
This article asks for the unique contribution that academic exegesis is able to make to pastoral training in a Western, postmodern context. Current key challenges the church (and, therefore, pastoral training) is facing are identified according to those programmes and subjects, in which they are likely to be tackled: In homiletics and pastoral theology, the difficulty of transferring academic findings to the pulpit seems to be one of the more pressing issues. When it comes to church development, academic exegesis may help to develop a curious, explorative attitude, which vicars may find helpful in a time in which church life faces profound changes. Pastoral care is able to include new exegetical findings and approaches into its theories and practices and, in turn, deepen the understanding of Biblical texts. When performing weddings, funerals, and other religious rites, Biblical perspectives achieved through cross-textual exegesis by topic can help vicars facing challenges in post-modern times. Finally, digital theology would benefit strongly, if exegetes took a more active part in current discussions.
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1 Für kollegialen Austausch und weiterführende Hinweise danke ich den Seminarkolleg: innen Anke Gödersmann (Wuppertal), Stefan Günther (Wittenberg), Dr. Matthias und Dr. Alexa Wilke (Loccum) und Juliane Hartmann (Zürich), sowie Dr. Ferenc Herzig (Leipzig). Die Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen sowie evtl. Sachfehler verantworte ich natürlich selbst. 2 Holger Pyka ist Dozent am Seminar für pastorale Ausbildung Wuppertal. Haltung und Methode Chancen der exegetischen Ausbildung aus Sicht der zweiten Ausbildungsphase 1 Holger Pyka 2 Für Achim Reinstädtler zum Abschied aus dem Dienst This article asks for the unique contribution that academic exegesis is able to make to pastoral training in a Western, postmodern context. Current key challenges the church (and, therefore, pastoral training) is facing are identified according to those programmes and subjects, in which they are likely to be tackled: In homiletics and pastoral theology, the difficulty of transferring academic findings to the pulpit seems to be one of the more pressing issues. When it comes to church development, academic exegesis may help to develop a curious, explorative attitude, which vicars may find helpful in a time in which church life faces profound changes. Pastoral care is able to include new exegetical findings and approaches into its theories and practices and, in turn, deepen the understanding of Biblical texts. When performing weddings, funerals, and other religious rites, Biblical perspectives achieved through cross-textual exegesis by topic can help vicars facing challenges in post-modern times. Finally, digital theology would benefit strongly, if exegetes took a more active part in current discussions. 3 Kafka, Amerika, 345. 4 Vgl. Beyer, Theologiestudium, 170-179; Bukowski, Erwin; Lehnert, Dimension; Claaß, Theologie. 5 Aus Gründen der Übersichtlichkeit folge ich dabei dem in den meisten Predigersemi‐ naren üblichen Fächerkanon und füge ihm ein weiteres Stichwort hinzu. Alternativlos ist diese Aufteilung nicht, an einzelnen Ausbildungsstätten werden mittlerweile andere, entsäulte Modelle erprobt, vgl. Friedrichs, Kirchenreform; Friedrichs, Elementar und flexibel. Dass die Homiletik einen breiten Raum einnimmt, verdankt sich weniger ihrer Frontstellung in der Ausbildung, die schon in der traditionellen Bezeichnung Predigerseminar deutlich wird, als vielmehr dem Arbeitsschwerpunkt des Autors. 6 Vgl. Becker, Generation; Ruck-Schröder/ Erichsen-Wendt, Pfarrer: in, 70-103. 7 Ruck-Schröder/ Erichsen-Wendt, Pfarrer: in, 71. 8 Hermelink, Kirche, 243. „Und welchen Zweck hatte sein Studium gehabt! Er hatte ja alles vergessen“, sagt der Erzähler in Franz Kafkas Roman Amerika über die Hauptfigur Karl. 3 Manche frisch Examinierten mögen sich in diesen Selbstzweifeln wiedererkennen, wenn sie kurz nach dem Ersten Theologischen Examen feststellen, dass nur wenig ‚Bulimielernstoff ‘ den Weg ins mittlere Langzeitgedächtnis gefunden hat. Einen anderen Eindruck erhält man, wenn man die regelmäßigen Beiträge zur Kenntnis nimmt, die - aus der Perspektive des Gemeindepfarramts, der zweiten Ausbildungsphase oder der Kirchenleitung 4 - Anfragen an das Theologiestu‐ dium formulieren: Sie erwecken den Anschein, dass die Theolog: innen das, was sie im Vikariat vertiefen und anwenden sollen, oft gar nicht erst gelernt haben. Um dem mehrstimmigen, dabei letztlich wenig polyphonen Klagechor nicht einfach eine weitere Stimme hinzuzufügen, versucht der vorliegende Beitrag, vor allem die Chancen der exegetischen Ausbildung herauszustellen. Dazu sind zunächst exemplarische Herausforderungen zu beschreiben, die in den einzelnen Lernfeldern 5 derzeit dominieren und die natürlich Herausforderungen der kirchlichen Praxis widerspiegeln, z.-T. auch vorwegnehmen. 6 1 Pastoraltheologie „Pastoraltheologie boomt“, 7 stellen Adelheid Ruck-Schröder und Friederike Erichsen-Wendt in ihrer 2022 erschienenen Kompaktschrift zur Pastoraltheo‐ logie fest. Wenn auch 2010 in einer Befragung des pastoralen Personals der Nordkirche 74 % der Befragten „biblischen Leitbildern“ 8 einen hohen Stellenwert hinsichtlich ihrer eigenen beruflichen Orientierung einräumen, spielen biblischtheologische Überlegungen eine eher marginale Rolle in der deutschsprachigen evangelischen Pastoraltheologie, die in den letzten Jahrzehnten stärker von funktionalen Faktoren bestimmt scheint. Gleichwohl scheint, auch angesichts gesellschaftlicher Spiritualitätstrends, konsensfähig: „Die Rolle des pastoralen DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 10 Holger Pyka 9 So Proksch, Identität, 69, unter Rekurs auf Albrecht Grötzinger. 10 Vgl. Nicol, Weg, 292. 11 Vgl. Deeg, pastor. 12 Brown-Taylor, Life, 59 f. Vgl. ähnliche Forderungen einer kontinuierlichen Bibellektüre bei Kraus, Predigt, 61, und Schibilsky, Trauerwege, 214. 13 Engemann, Einführung, 76. 14 Vgl. Ruck-Schröder/ Erichsen-Wendt, Pfarrer: in, 115-118. 15 Vgl. Pätzold, Konstruktivismus. 16 Proksch, Identität, 80. 17 Meyer-Blanck, Kirche, 43. Amtes besteht heute in einer gestaltenden Reflexion sowie gestaltenden Ziel‐ führung religiöser Praxis.“ 9 Geht man davon aus, dass evangelische religiöse Praxis im weitesten Sinne schriftgebunden ist, 10 kommt die Pfarrperson im Wesentlichen als pastor legens 11 in den Blick. Eine pastorale Beschäftigung mit der Schrift soll dabei weit über den Umgang mit den Predigtperikopen hinausgehen und eine professionstypisch habitualisierte, identitätsformende Tätigkeit darstellen: „[M]y own experience has taught me the value of regular and intentional study. My relationship with the Bible is not a romance but a marriage, and one I am willing to work on in all the usual ways: by living with the text day in and day out, by listening to it and talking back to it […]. The Bible is […] a partner, whose presence […] affects everything I do.“ 12 Es geht, mit Wilfried Engemann in Anschluss an Otto Haendler etwas weiter ge‐ fasst, darum, „Theologie und Biographie unter den konkreten Bedingungen der eigenen Person in ein wechselseitiges Wahrnehmungsverhältnis zu bringen“, 13 was unter den Subjektivitäts- und Authentizitätsdiktaten der (Post-)Moderne zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. 14 Das Herausbilden einer solchen pastoralen Identität braucht neben entsprechenden Lernerfahrungen auch Vor‐ bilder 15 und „unterstützende Impulsgeber“, 16 und hier liegt eine große Chance der exegetischen Ausbildung im Theologiestudium. An den Lehrstühlen be‐ gegnen den Studierenden Menschen, die ihr ganzes berufliches Leben (und oft nicht nur das) der Erforschung der Schrift widmen, ganze Monografien über einzelne Wörter der Bibel schreiben und das Buch der Bücher bis ins kleinste Detail kennen, ohne jemals damit abzuschließen. Um diese Chance verstärkt wahrzunehmen, bedürfte es m. E. einer größeren Auskunftsbereitschaft der Leh‐ renden und Forschenden über eben diese Wechselwirkungen zwischen Theo‐ logie (in Form eigener Forschungsergebnisse) und Biografie. Das ist natürlich eine Gratwanderung zwischen zwei „Systemlogiken“ 17 - wie die Predigt nicht zu einer exegetischen Vorlesung werden soll, soll die exegetische Vorlesung DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 Haltung und Methode 11 keine Predigt werden. Aber ebenso wenig, wie die Predigt sich traditionsbedingt eines (wie auch immer verstandenen) Bildungsauftrags gänzlich entledigen könnte, kann sich die Exegese vollständig vom (wie auch immer verstandenen) kirchlichen Verkündigungsauftrag ausnehmen - zumindest solange sie, auch an staatlichen Fakultäten, unter dem Dach der Theologie stattfindet. Das ist auch eine Frage der didaktischen und literarischen Kompetenz und des akademischen Habitus: Schon unter Predigenden ist das Reden in der ersten Person Singular immer noch umstritten 18 und wenig eingeübt, und im Kontext akademischer Lehre wäre das Ich auf der (universitären) Kanzel noch einmal gänzlich neu durchzubuchstabieren. Dazu kommt, was Karin Girgensohn an dieser Stelle vor einiger Zeit festgestellt hat: „Fachlehrende verstehen sich meist eher als Vermittler von Fachinhalten […]. Und obwohl sie, dem Prinzip der Einheit von Lehre und Forschung verpflichtet, auch selbst schreiben und publizieren, thematisieren sie ihr eigenes Vorgehen beim Schreiben selten in der Lehre, auch wenn diese durchaus auf eigenen Forschungsergebnissen und Erkenntnissen basiert.“ 19 Der in Deutschland mangelnde Fokus auf die kommunikative Qualität univer‐ sitärer Textproduktion bringt es mit sich, dass Forschungsergebnisse schon rein sprachlich schwer zugänglich sind (ganz abgesehen davon, dass auch opensource-Praktiken sich in der Theologie noch nicht flächendeckend durchgesetzt haben). 20 Während Wissenschaftssprache im Allgemeinen und die Fachjargons einzelner Disziplinen schon seit Längerem Gegenstand sprachkritischer Unter‐ suchungen sind, 21 liegt erst seit letztem Jahr eine Monografie zur theologischen Fachsprache vor. Joachim Gerdes, Germanist an der Universität Genua, sieht die Theologie, „insbesondere in ihrer akademisch-institutionalisierten Manifes‐ tation, einem immer stärkeren Rechtfertigungsdruck ausgesetzt“, 22 auf den ihre Vertreter: innen mit „defensiven Reflexen unterschiedlichster Art“ reagierten, DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 12 Holger Pyka 18 Vgl. Josuttis, Ich. 19 Girgensohn, Schreibschwierigkeiten, 75. Bislang hat es von Seiten der Exegese m. W. keine Versuche gegeben, Forschungen zur Verschriftlichung religiöser Texte und den theologischen Implikationen des Übergangs von der Oralität zur Literalität in die Schreibforschung einzubringen, ebenso, wie das Schreiben als religiöse Praxis bislang kaum Gegenstand der Theologie gewesen ist (vgl. Pyka, Schreiben, 356 f.). 20 Ich erinnere mich an eine (an sich überaus inspirierende) exegetische Vorlesung aus meiner eigenen Studienzeit, in der der Dozent vor einem bestimmten Kommentar warnte: Dieser sei zwar inhaltlich erstklassig, aber leider „viel zu populärwissenschaft‐ lich geschrieben“. 21 Vgl. grundlegend Niederhauser, Wissenschaftssprache. 22 Gerdes, Glaube, 306. „die sich auch in der Fachsprache manifestieren.“ 23 Zu diesen verschiedenen sprachlichen Reaktionsmustern zählt Gerdes eine „virulente Tendenz zur ratio‐ nalisierenden Verwissenschaftlichung“, 24 die das Ziel einer „Übereinstimmung eines rational-wissenschaftlichen Gegenwartsweltbildes und des religiös-theo‐ logischen Denkmodus“ 25 verfolge, dabei aber zu „Rückzugsbewegungen in überholte, scheinwissenschaftliche und hermetisch-kryptische Fachidiome“ 26 führe. Ob man Gerdes’ mit beißender Schärfe vorgetragene Analysen im Einzelnen teilt und ob man allen Prämissen seiner Untersuchung ungeteilt zustimmt, sei dahingestellt - ganz von der Hand weisen wird man seine Beobachtungen gerade mit Blick auf die Exegese nicht. 27 Das Problem liegt aus homiletischer Sicht dabei m. E. nicht in einer oft befürchteten und manchmal beklagten Durchsetzung der Predigtsprache mit theologischen Fachbegriffen, 28 sondern in dem Umstand, dass Sprache bekanntlich das Denken formt. Wenn die Exegese sich primär einer abstrahierenden Fachsprache bedient, in der „Emotionalität und ein direkter Erfahrungsbezug […] ausgeblendet“ 29 werden, dann bleiben entsprechende Wirkungspotenziale biblischer Texte unentdeckt. 30 Die Problematik zieht sich bis in den Aufbau exegetischer Arbeiten: Von Studierenden wird in der Regel sinnvollerweise erwartet, dass sie am Ende einer Hausarbeit den Blick weiten und eine Einschätzung „der theologischen Relevanz des Textes im gesamtbiblischen Horizont und für Fragen der Gegenwart“ 31 wagen. In exegetischen Veröffentlichungen dagegen taucht dieser Punkt selten auf, selbst bei Themenstellungen, die dies nahelegen würden. Von wem aber sollen Studierende lernen, solche Wechselwirkungen zwischen Text und Text‐ analyse, eigenem theologischen Profil und gesellschaftlichen Fragestellungen zu reflektieren und zu versprachlichen, wenn sich Lehrende und Forschende DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 Haltung und Methode 13 23 Gerdes, Glaube, 333. 24 Gerdes, Glaube, 305. 25 Gerdes, Glaube, 306. Als Kronzeugen für dieses Reaktionsmuster um die Jahrtausend‐ wende nennt Gerdes Ulrich Barth, Gerd Lüdemann und Notger Slenczka, im weiteren Sinne auch Wolfhart Pannenberg. 26 Gerdes, Glaube, 333. 27 Ganz ähnliche Formulierungen finden sich immerhin auch bei Backhaus, Aufgegeben. 28 Vgl. Engemann, Einführung, 272 f. Der gegenwärtige Befund müsste dabei womöglich präzisiert werden: Ich entdecke in Predigten zwar häufig abstrakte, jedoch keine ausdrücklich wissenschaftliche Fachsprache. Häufiger nehme ich wahr, was Engemann „religiöse Phraseologie“ nennt, die allerdings weniger von kirchensprachlichen Flos‐ keln als von spätmoderner Coaching- und Selfcareterminologie geprägt ist. 29 Klessmann, Pastoralpsychologie, 176. 30 Vgl. grundlegend zu homiletischer und bibelwissenschaftlicher Auslegung Greifenstein, Text, 219-246. 31 Bührer. Proseminararbeit, 23. 32 S. die Übersicht, aber auch die berechtigte Kritik bei Hoffmann, Exegese, v. a. 28- 32. Ob die von ihr festgestellte „zunehmende Entfernung“ (28) zwischen Homiletik und Exegese dabei wirklich, wie ihre Darstellung zumindest andeutet, nur einseitig verschuldet ist, wäre zu diskutieren. Backhaus’ Hinweis auf das Risiko einer intradis‐ ziplinären Isolierung der Exegese (Aufgegeben, 260) wird man hier nicht ganz von der Hand weisen können. 33 Vgl. etwa https: / / www.kirchenrecht-ekm.de/ document/ 9814#s637240018. 34 Roth, Genesis, 346. 35 Hoffmann, Exegese, 26 (Anm. 2). 36 Dass die beiden Studien methodisch nur bedingt vergleichbar sind, ergibt sich nicht nur aus den unterschiedlichen konfessionellen Kontexten und der quantitativ höchst un‐ terschiedlichen Quellenbasis, sondern auch aus den Textgrundlagen der untersuchten Predigten: Roth hat mit der Akedah eine Perikope gewählt, bei der es kein Wunder ist, dass Predigende verstärkt die Hilfe der Exegese in Anspruch nehmen, zumal dann, wenn die Predigten zur schriftlichen Veröffentlichung konzipiert sind. Hoffmann dagegen hat Predigten an einem Tag untersucht, an dem, wie sie selbst zurecht feststellt, die Tendenz zu „Predigten mit starkem Traditionsbezug“ (Hoffmann, Exegese, 26) sehr stark ist. dieser Aufgabe entziehen und sie an die theologischen Nachbardisziplinen oder die zweite Ausbildungsphase delegieren? 2 Homiletik Die Angewiesenheit der Kirche und damit auch des Pfarramts auf die Exegese ist in der Predigt und in ihrer Reflexion in der Homiletik besonders augenfällig. Eine Predigt ist in aller Regel Auslegung einer biblischen Perikope, und in homi‐ letischen Lehrbüchern 32 und Prüfungsordnungen 33 wird vorausgesetzt, dass der Predigt exegetische Vorarbeiten zugrunde liegen. Zwei jüngere Untersuchungen kommen dabei zu diametral verschiedenen Ergebnissen, was den Stellenwert exegetischer Forschung in Predigten angeht: Johannes Roth stellt anhand von 23 (katholischen) Predigten zu Gen 22 fest, „dass […] exegetische Erkenntnisse und Potentiale berücksichtigt werden, und zwar nahezu in ihrer gesamten Bandbreite.“ 34 Christine Wenona Hoffmann zeigt dagegen an einer ungleich breiteren Quellenbasis (235 Reformationstagspredigten), „wie marginal die Orientierung am biblischen Text, besonders aber an (neuerer) Exegese in der ge‐ genwärtigen Predigtpraxis ist.“ 35 Wie auch immer man diese Ergebnisse deutet, 36 so deuten sie zumindest an, dass eine verstärkte Transferleistungen zwischen wissenschaftlicher Exegese und homiletischer Praxis wünschenswert wäre. Dies lässt sich konkretisieren anhand von häufigen Predigtschwierigkeiten, deren Bearbeitung bzw. Prophylaxe bereits in der ersten Ausbildungsphase angelegt sein könnten: DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 14 Holger Pyka 37 https: / / austinkleon.com/ category/ newspaper-blackout-poems/ . 38 Vgl. die Fastenaktion des damaligen Zentrum für evangelische Predigtkultur in Witten‐ berg: https: / / www.ohne-grosse-worte.de. 39 Von Rad, Exegese, 12. 40 Einen wichtigen Beitrag zur Abhilfe verspricht hier ein 2023 erscheinendes, überaus vielfältiges Methodenbuch von Ann-Kathrin Knittel und Christina Wenona Hoffmann, das die klassischen historisch-kritischen Arbeitsschritte als Anlass für kreative Schreib‐ impulse nimmt. Eine besondere Herausforderung scheint für Vikar: innen die Epistelpredigt darzustellen. In Predigtentwürfen ist regelmäßig eine homiletische Strategie anzutreffen, die man in Anlehnung an Austin Kleons (bezeichnenderweise in einer Schaffenskrise entwickeltes) poetisches Konzept 37 als ‚Black-Out-Exegese‘ bezeichnen könnte: Der größte Teil des Textes wird gedanklich geschwärzt, ein oder zwei übriggebliebene bedeutungsschwere Begriffe (oft die berühmten großen Worte 38 des Christentums) bilden die Grundlage für eine mehr oder weniger durchdachte Themenpredigt. Möglich und nötig wird eine solche Verlegenheitshomiletik dort, wo es an Bereitschaft, aber auch an methodischer Kompetenz fehlt, die im liturgischen Kalender oft mit einiger Verve kupierten Textabschnitte in den größeren argumentativen Zusammenhang eines Briefs einzuordnen. Über Episteln hinaus (ein ähnliches Vorgehen lässt sich bei Pre‐ digten über prophetische Texte beobachten) ist damit auch die Frage nach Einlei‐ tungswissen und nach Hypothesen zur Entstehungsnotwendigkeit und antiken Alltagsrelevanz eines biblischen Textes tangiert. Wenn es, wie Gerhard von Rad 1973 feststellte, in der Predigt vor allem darum geht, „die Aussage der Bibel in unserer Sprache genauso konkret (so konkret ad hominem) weiter[zu]geben, wie sie in der Bibel gemeint war“, 39 dann brauchen Predigende entsprechend konkrete exegetische Erkenntnisse, die ihnen diesen Transfer ermöglichen. Unklarheiten bestehen auch in hermeneutischen Fragen (die dann im Examen zu handfesten Problemen werden), etwa bei der am Ende des Vikariats gestellten Unsicherheit: Wie verhält sich eine mutmaßlich ursprüngliche Textgestalt, die ein: e Vikar: in in den Vorarbeiten zur Examenspredigt nach allen Regeln der text- und literarkritischen Kunst rekonstruiert hat, zur kanonisch überlieferten Version, die im Perikopenbuch vorgeschrieben ist? Diese Frage scheint im Studium regelmäßig unbeantwortet zu bleiben, was im schlechtesten Fall dazu führt, dass einzelne exegetische Arbeitsschritte, schlimmstenfalls das gesamte historisch-kritische Methodenrepertoire als art pour l’art wahrgenommen und als Möglichkeit zur eigenen theologischen Positionsfindung ausgeschlossen werden. 40 Die Problematik unklarer theologischer (und in einem weiteren Schritt homiletischer) Konsequenzen exegetischer Zwischenergebnisse betrifft DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 Haltung und Methode 15 41 Nicol/ Deeg, Wechselschritt, 134. 42 Ein positiver Effekt des verspäteten Skandals um Notger Slenczkas Thesen zum Stellenwert des Alten Testaments (ab 2015) war ohne Zweifel der innertheologische Rechenschafts- und Klärungsprozess, der daraus entstand. 43 Das Fach taucht in der deutschsprachigen Seminarlandschaft, wie in der Literatur, in unterschiedlichen Bezeichnungen mit je unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen auf: Gemeindeaufbau, Gemeindeleitung, Kybernetik u.-ä. 44 Vgl. Ruck-Schröder/ Erichsen-Wendt, Pfarrer: in, 31-40. 45 https: / / www.ekd.de/ zwoelf-leitsaetze-zur-zukunft-einer-aufgeschlossenen-kirche-601 02.htm. 46 Backhaus, Hebräerbrief, 31. 47 Backhaus, Hebräerbrief, 27. nicht nur eine klassische historisch-kritische Dekonstruktion biblischer Texte, sondern auch neuere Perspektiven kontextueller Exegese. Schließlich umfasst auch die Frage nach der christlichen Predigt alttestament‐ licher Texte wichtigere und grundlegendere Probleme als nur die stilistischen Schwierigkeiten der berüchtigten „Jesus-Kurve“ 41 am Ende einer Predigt. Diese Frage allein in der Homiletik zu verhandeln, beraubt die Diskussion der spezi‐ fischen Perspektive der Exeget: innen. 42 3 Gemeindeentwicklung 43 Vikar: innen, die derzeit die zweite Ausbildungsphase durchlaufen, werden auf eine kirchliche und gemeindliche Wirklichkeit hin ausgebildet, von der niemand wirklich sagen kann, wie sie sich gestalten und wie sie gestaltbar sein wird. Spätestens seit der Freiburger Studie (2019) 44 haben auch kirchenleitende Stellen ihre allzu optimistischen und in Folge der EKD-Programmerklärung Kirche der Freiheit (2006) häufig formulierten Wachstumserwartungen korrigiert. An die Stelle des Schlagworts vom ‚Wachsen gegen den Trend‘ ist die Einsicht getreten: „Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Einsicht, dass die Kirchen in Deutschland zukünftig weniger Mitglieder und weniger Ressourcen haben werden. Strukturen und Angebote können nicht im jetzigen Umfang fortgeführt werden.“ 45 Die Chancen der exegetischen Ausbildung sind groß in einer Zeit, in der die Kirchen der westlichen Welt auf eine Minderheitenposition zusteuern und sich in den Gemeinden vielerorts eine „lebenspraktische Spielart ‚negativer Theologie‘, die sich in Unanschaulichkeit, Erfahrungslosigkeit, Ungreifbarkeit des Glaubens niederschlägt“, die die Glaubenden „zermürbt.“ 46 An den neutes‐ tamentlichen Briefen ließe sich etwa exemplarisch zeigen, wie eine Kirche „im eigenen Selbstbewusstsein als Minderheit legitimiert werden [kann], damit die christlichen Widerstandskräfte wachsen.“ 47 In der Exegese erworbenes literar‐ DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 16 Holger Pyka 48 Vgl. Witt u.-a., Fresh X. 49 Moynagh, Church, 3-28. 50 Faix/ Reimer, Welt, 25. 51 Die Idee, städtische Räume als Texte zu „lesen“, spielt eine zentrale Rolle in wissen‐ schaftlich-ästhetischen Grenzgebieten wie der Promenadologie und der Psychogeo‐ grafie; vgl. die Hinweise bei Roßbach, Zeit-Räume, v.-a. 168. 52 Vgl. Freuding, Art. Othering. kritisches und redaktionsgeschichtliches Wissen über die intentionsgeleitete Konstruktion identitätsprägender Narrative könnte angehende Pfarrpersonen dazu inspirieren, solche Erzählungen, die es im Gemeindeleben auch gibt und die Transformationsprozesse behindern oder fördern können, buchstäblich historisch-kritisch anzugehen. In der fresh-x-Bewegung, 48 die als Reaktion auf kirchliche Relevanz- und Ressourcenkrisen nach der Jahrtausendwende in der Church of England ent‐ standen ist und z. T. Erkenntnisse und Praktiken der emerging-church-, sowie der church-planting-Bewegung weiterführt, ist die Bedeutung kontextsensibler Ge‐ meindeformen hervorgehoben worden, die in einer mixed economy traditionelle parochiale Gemeindemodelle ergänzen. Für diese Bewegung ist die paulinische Missionstätigkeit von zentraler und inspirierender, damit durchaus praktischer Bedeutung, wie Michael Moynagh in seinem Grundlagenwerk Church for Every Context von 2012 durchbuchstabiert hat. 49 Das Wegbrechen vieler alter Strukturen und Vergemeinschaftungsformen schafft die Notwendigkeit, aber auch die Möglichkeit für Kirche und Gemeinde, neu in das Quartier vor Ort „loszuziehen, um zuzuhören, um zu lernen, um zu empfangen“. 50 Eine solche suchende, explorative Grundhaltung im Erschließen eines Sozialraums scheint der Einstellung vergleichbar, die es zur exegetischen Begehung eines biblischen Textraums braucht: Ich rechne damit, etwas zu erleben oder zu erfahren, das ich noch nicht wusste. 51 Die Studierenden können also in der Exegese wiederum einen Arbeitsmodus bzw. vielmehr eine Haltung kennen und einüben lernen, die sie im pastoralen Alltag noch häufig gebrauchen werden - wahrscheinlich wird ihnen dieses Lernen leichter fallen, wenn solche Transfermöglichkeiten schon in der ersten Ausbildungsphase explizit benannt werden. Ähnliches gilt für den Umgang mit Diversität und Pluralität, die pastorales Arbeiten bereits in der Gegenwart herausfordern: In der exegetischen Forschung haben sich kontextuelle und inter- oder transkulturelle Hermeneutiken längst etabliert. Wenn es gelänge, etwa biblische Othering-Strategien 52 den Studierenden so zu vermitteln, dass sie zu einem machtkritischen Blick auf kirchliche Kom‐ munikations- und Vergemeinschaftungsformen anregen, könnte die Exegese DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 Haltung und Methode 17 53 Vgl. den schon etwas älteren Überblick bei Ziemer, Seelsorgelehre, 51ff. 54 Vgl. besonders Nauer, Seelsorge, 65-72. 55 Bukowski, Bibel. 56 Baumgartner, Pastoralpsychologie, 139-142. Bei Baumgartner wie Nauer handelt es sich bezeichnenderweise um römisch-katholische Theolog: innen. 57 Vgl. Poser, Ezechielbuch. 58 Vgl. Gärtner/ Schmitz, Resilienznarrative. 59 Meyer-Blanck, Ansichtssache, 338. einen wichtigen Beitrag zu notwendigen gemeindlichen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen leisten. 4 Seelsorge In der poimenischen Literatur ist zumindest der Rückgriff auf biblische Vor‐ bilder, mitunter auch auf exegetische Fachliteratur mittlerweile 53 verbreitet. Das beginnt bei dem Versuch, einem Seelsorgekonzept einen biblisch qualifi‐ zierten Seelen-Begriff zugrunde zu legen 54 und geht weiter mit pragmatischen Vorschlägen, „die Bibel ins Gespräch [zu] bringen“, 55 bis hin zu dem Versuch, das poimenische Gesamtkonzept als Nachvollzug biblischer Handlungsdyna‐ miken zu entfalten. 56 Die Möglichkeiten des interdisziplinären Gesprächs gehen dabei noch viel weiter: Eine psychologisch informierte und inspirierte Ex‐ egese kann biblische Textproduktion, -redaktion und -tradition als religiöse coping-Strategien identifizieren und mit ihren Ergebnissen ihrerseits die pasto‐ ralpsychologische Theoriebildung und das poimenische Methodenrepertoire wieder bereichern, wie sich an Ruth Posers traumatheoretischer Studie zum Buch Ezechiel und ihrer Rezeption in der Praktischen Theologie eindrucksvoll zeigen lässt. 57 Auch andere biblische Erkundungen aus seelsorglich relevanten Perspektiven wie jener der Resilienz 58 versprechen eine Intensivierung des exegetisch-poimenischen Diskurses. Bislang scheinen solche inter- und trans‐ diszplinären Entdeckungsreisen vor allem auf Tagungen stattzufinden, was sie für Studierende nicht unbedingt zugänglicher macht. 5 Kasualien Das Fach Kasualien gehört zu denjenigen Kursen, deren Bedeutung Vikar: innen unmittelbar einleuchtet: Kasualien als „Ernstfall volkskirchlicher Interaktion und Inszenierung“ 59 genießen einen hohen Stellenwert, die erste eigene Taufe oder die erste Beerdigung im Vikariat stellen wichtige Passageriten im Prozess der Ausbildung einer eigenen pastoralen Identität dar. Praktische Übungen zur liturgischen Präsenz sorgen für unmittelbare Erfolgserlebnisse bei der DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 18 Holger Pyka 60 Vgl. grundsätzlich Handke, Momente. 61 Hauschildt, Unterhaltungsmusik, 295. 62 Vgl. Döhling, Fremden. 63 Vgl. Geiger, Fremde. eigenen Ritualkompetenz. Zugleich wird bei der Diskussion der systemischen Faktoren jedoch ebenso unmittelbar deutlich, vor welchen Herausforderungen die volkskirchliche Kasualpraxis in der Gegenwart steht. 60 Die kirchlichen Amtshandlungen werden von einem Großteil der Bevölkerung (und der Kir‐ chenmitglieder) nicht mehr selbstverständlich in Anspruch genommen, sie stehen außerdem in direkter Konkurrenz zu den Angeboten frei- oder nicht‐ religiöser Akteure. Zunehmende Traditionsabbrüche und die Konfrontation mit eventuell befremdenden Gestaltungswünschen stellen hohe Anforderungen an die theologische Deutungs- und Elementarisierungsfähigkeit der Ausfüh‐ renden: Nach dem Motto „Interpretation statt Konfrontation“ 61 gilt es, religiöse und existenzielle Bedürfnisse hinter einem Wunsch zu identifizieren und in eine Form zu überführen, die mit dem liturgischen Rahmen und christlichen Glaubenstraditionen kompatibel ist. Damit solches postmoderne Ritualdesign nicht nur dramaturgisch stimmig, sondern auch biblisch-theologisch fundiert ist, bedürfte es mehr Lehrveranstaltungen, die neben den spezifischen Eigen‐ heiten einzelner Schriften auch Lebensthemen wie Krankheit und Tod, (religiöse) Biografie oder Glaube und Zweifel, aber auch etwa Flucht und Migration 62 ge‐ samtbiblisch durchdenken. Auch Veranstaltungen zu den biblischen Grundlagen des Kirchenjahres (und warum nicht zu den Dauerbrennern unter den Tauf-, Konfirmations- und Trausprüchen? ) müssten keineswegs an die Praktische Theologie delegiert werden. Es gilt für die universitäre Exegese, aufmerksam für gesellschaftliche Religionstrends zu sein und fachlich fundiert darauf zu reagieren, wie es etwa bei der seit einiger Zeit andauernden „Engel-Renaissance“ mit großem Gewinn geschehen ist. 63 Da sich die Öffentlichkeit bei der Wahl ihrer Gesprächsthemen nicht um die interne Organisation theologischer Fakultäten schert, ist damit natürlich eine Anfrage an die Versäulungstendenzen speziell innerhalb der Exegese impliziert. 6 Digitalität und Virtualität Vikar: innen, die im Frühjahr 2020 ihre ersten praktischen Erfahrungen sam‐ meln sollten, sahen sich mit einem jähen und fast vollständigen Abbruch traditioneller gemeindlicher Kommunikationsstrukturen und Vergemeinschaf‐ tungsformen konfrontiert. Bei der durch Lockdowns erzwungenen Entwicklung digitaler Verkündigungsformate standen vor allem technische, ästhetische und DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 Haltung und Methode 19 64 Vgl. Haberer, Theologie. 65 Vgl. Beck u.-a. (Hg.), Theologie. 66 An dem voluminösen Sammelband Theologie und Digitalität haben v. a. Praktische und Systematische Theolog: innen mitgeschrieben, das Stichwort ‚Exegese‘ taucht im Volltext überhaupt nicht auf. 67 Büsch, Geschöpf, 204. 68 Bauer, Gott. 69 Stalder, Kultur, 95. 70 Büsch, Geschöpf, 204. medienrechtliche Fragen im Vordergrund, die theologische Grundsatzfragen überlagerten. In Teilen war dies sicherlich einem hohen Innovationsdruck ge‐ schuldet, was jedoch nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass die Diskurslage Anfang 2020 noch sehr übersichtlich war. Breiter rezipierte deutschsprachige Publikationen der 2010er Jahre hatten vorwiegend medientheoretische Themen oder, manchmal recht banal, ethische Fragen des „Neulands“ Internet 64 ver‐ handelt. Im Kielwasser der Pandemie und der sprunghaften Digitalisierung kirchlichen Lebens hat sich die Debatte seitdem deutlich ausdifferenziert. 65 An der Suche nach spezifisch theologischen Interpretationen von Digitalität und Virtualität haben sich Exeget: innen bislang m. W. kaum beteiligt. 66 Dort, wo von nicht-exegetischer Seite auf die Schrift rekurriert wird, geschieht dies eher schlagworthaft und dient vor allem der Konstruktion bipolarer Realitäten: Die Bibel erscheint (paradoxerweise) als Zeugnis einer paradigmatisch prämedialen Kultur, 67 digitale Innovation als Anfrage an biblische Menschenbilder. 68 Die Chancen für die Exegese können an dieser Stelle nur angedeutet werden: So nennt etwa der Medienwissenschaftler Felix Stalder Referentialität und Ge‐ meinschaftlichkeit als zwei zentrale Kennzeichen digitaler Kultur. 69 Exegetische Einsichten in die Kompilationsleistungen der biblischen Redaktoren und ihre Funktionen für antik-religiöses Communitybuilding könnten medientheoreti‐ sche Diskurse bereichern, die Exegese ihrerseits neue methodische Perspektiven daraus gewinnen. Der Rekurs auf biblische Zeit- und Raumvorstellungen könnte Debatten über virtuelle Gemeinschaften vertiefen, die nicht selten auf ein wie auch immer verstandenes Ideal der Gleichzeitigkeit in Form „zeitlicher und räumlicher Kopräsenz“ 70 fixiert scheinen. Die universitäre Exegese würde damit einen Beitrag dazu leisten, dass Theolog: innen bereits mit einem geklärten biblisch-theologisch fundierten Digitalitätsbegriff den praktischen Teil ihrer Ausbildung beginnen und sich davon ausgehend digitale Handlungsspielräume erschließen. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 20 Holger Pyka 7 Letzte An- und Rückfragen „Haltung und Methode“, mit diesem aus der Themenzentrierten Interaktion stammenden Begriffspaar 71 sind die hier formulierten Chancen der Exegese aus Sicht der zweiten Ausbildungsphase überschrieben und zusammengefasst. Verantwortliches pastorales Handeln braucht, neben anderem, auch exegetische Methoden, die, wie hoffentlich deutlich geworden ist, auf viele gemeindliche Arbeitsbereiche übertragbar sind. Es liegt an den Lehrenden der exegetischen Fächer, diesem Berufsziel, das unter den Studierenden an den Fakultäten domi‐ niert, Rechnung zu tragen und zu derartigen Transferleistungen zu ermutigen. Damit verbunden ist die Notwendigkeit einer Haltung und eines beruflichen Selbstverständnisses, das die eigene Rolle und die eigene Verantwortung als Auszubildende und hoffentlich Inspirator: innen angehender Geistlicher ernst nimmt. Keine Wissenschaft findet im sterilen Raum weltanschaulicher Neutra‐ lität statt, und an theologischen Fakultäten erschiene es fast grotesk, eine solche für sich zu reklamieren. Zum Schluss: Es ist keine große Leistung, aus fachfremder Sicht ein Wunsch‐ konzert anzustimmen. Groß ist dagegen das Risiko, dabei ein karikaturesk verzerrtes Bild der angesprochenen Disziplinen zu zeichnen. Meine Vermutung ist, dass viele der hier formulierten Desiderate bereits Berücksichtigung in der akademischen Lehre finden. Damit stellt sich aber die Frage, warum sich Vikar: innen trotzdem wie Franz Kafkas Karl fühlen oder zumindest so verhalten. Natürlich liegt es auch an den Lehrenden in der zweiten Ausbildungsphase, exemplarisch die Bedeutung ihrer eigenen exegetischen Kenntnisse für die seminaristischen Lehrinhalte und Lernprozesse und ferner für die kirchliche Praxis aufzuzeigen. Vor allem aber dürfte der Ball bei den EKD-Gliedkirchen liegen: Die landesspezifisch konstruierten Studien- und vor allem Examensord‐ nungen müssten der notwendigen Inter- und Transdisziplinarität Rechnung tragen und in Themenstellung, Prüfungsarchitektur und Bewertungsrichtlinien zu solchem Arbeiten ermutigen. Literatur Backhaus, Knut: Aufgegeben? 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