eJournals Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa) 7/2

Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa)
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2366-0597
2941-0789
Francke Verlag Tübingen
10.24053/VvAa-2022-0015
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2022
72 Fischer Heilmann Wagner Köhlmoos

Eine (un-)wissenschaftliche Response

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2022
Jörg Freyhttps://orcid.org/0000-0001-6628-8834
The following response reflects on the status of exegesis within theological education from a personal stance. The respondent positions himself not only as an engaged teacher and researcher of New Testament exegesis, but also as an active part of a congregation in the Swiss Reformed Church. Looking back on his own journey through life in university and church, as well as on the ever-changing history of the connections between theory and praxis, he covers three main fields of attention: The altered circumstances of theological faculties and churches in the German speaking world, the dynamics of change in the field of Biblical Studies, and observations from his own teaching experience.
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Eine (un-)wissenschaftliche Response Bemerkungen eines Hochschullehrers zur Situation der Exegese in der theologischen Ausbildung Jörg Frey (orcid.org/ 0000-0001-6628-8834) The following response reflects on the status of exegesis within theological education from a personal stance. The respondent positions himself not only as an engaged teacher and researcher of New Testament exegesis, but also as an active part of a congregation in the Swiss Reformed Church. Looking back on his own journey through life in university and church, as well as on the ever-changing history of the connections between theory and praxis, he covers three main fields of attention: The altered circumstances of theological faculties and churches in the German speaking world, the dynamics of change in the field of Biblical Studies, and observations from his own teaching experience. Gerne komme ich der Bitte nach, auf die drei Beiträge aus dem kirchlichen Ausbildungsbereich zu antworten. Ich tue dies aus einer mehrfachen Perspek‐ tive: Seit 30 Jahren lehre ich Neues Testament, erst als Assistent in Tübingen, dann auf Professuren in Jena, München und Zürich. Ich habe selbst das Vikariat absolviert, bin ordiniert, predige regelmäßig und habe Teil am Leben der Gemeinde, in der meine Frau als Pfarrerin wirkt. Für mich selbst glaube ich zu beanspruchen, hochkarätige Wissenschaft im internationalen Rahmen zu betreiben - ohne im sprichwörtlichen Elfenbeinturm zu leben. Ich bin begeistert von meinem Fach, dem Neuen Testament, ich liebe meinen Beruf und weiß auch, dass der Pfarrberuf eine wunderbare, erfüllende Tätigkeit sein kann, existentiell, ganzheitlich und Menschen zugewandt - wenn denn die Rahmenbedingungen stimmen. Seit meinem Studium in den 80er-Jahren hat sich vieles verändert. Die Stel‐ lung der Kirche in der Gesellschaft wurde marginaler und ebenso die Stellung der Theologie an Universitäten. Bildungspolitische Vorgaben haben sich geän‐ dert (Bologna), und der theologische Bildungsmarkt hat sich dadurch erheblich pluralisiert, was auch die Zugänge zum Pfarramt betrifft. Die Perspektiven des Pfarrberufs und auch die Voraussetzungen und (kirchlich-religiösen) Hin‐ tergründe der Studierenden haben sich ebenfalls verändert. Auch die Exegese ist anders geworden, weniger monolithisch auf Textentstehung konzentriert, stärker narratologisch, methodologisch pluraler und internationaler. Es hat keinen Sinn, einer alten ‚Herrlichkeit‘ nachzuträumen, als die Theo‐ logie noch ‚intakt‘ war, die Zahl der Studierenden noch höher und die Kirche noch ‚im Dorf ‘. Ich möchte auch nicht das strukturell depressive Mantra nachbeten, dass die Kirche immer ‚älter, kleiner, ärmer‘ wird, und auch nicht das Ende der Theologie an Universitäten vorwegnehmen, sondern im Glauben an die Kraft des Geistes sowohl für die Kirche (in welcher institutionellen Form auch immer) als auch für die Theologie hoffen. Berufspessimismus ist fehl am Platz. Es gilt, die Herausforderungen anzunehmen. Ich kommentiere im Folgenden einige der spannenden Überlegungen und Wünsche der Kolleg: innen zunächst aus der Reflexion der (veränderten) Rah‐ menbedingungen, dann aus Beobachtungen zur gegenwärtigen exegetischen Wissenschaft, und schließlich aus der eigenen Erfahrung in Unterricht und Betreuung. 1 Veränderte Rahmenbedingungen Theologische Fakultäten im deutschsprachigen Raum stehen derzeit unter Rah‐ menbedingungen, die die Studienorganisation und die Studieninhalte vielfältig beeinflussen: 1. Die staatskirchenrechtliche Absicherung theologischer Fakultäten und Lehrstühle in Deutschland ist international einzigartig. Sowohl aus dem Ausland wie auch von kirchenfern gewordenen Universitätsleitungen wird sie nur noch mit Unverständnis als ein Relikt der Vergangenheit betrachtet, und es ist absehbar, dass sich dieser Sonderstatus nicht auf immer halten lassen wird. Wann und in welchem Maße Fakultäten verklei‐ nert oder fusioniert werden müssen, ist offen. Der Platz der Theologie an öffentlichen Universitäten wird sachlich nur dadurch gestützt, dass sich diese kompetent ins interdisziplinäre Gespräch einbringt, mit Philologie, Geschichte, Sprach- und Kulturwissenschaften, Religionswissenschaft, Psychologie etc. Dies geschieht in gemeinsamen Forschungsprojekten, Exzellenzclustern etc. und beeinflusst auch die Lehre. Damit tritt aber oft die innertheologische Interdisziplinarität, der im deutschen Studiengang DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 62 Jörg Frey seit Schleiermacher traditionelle Bezug der Exegese auf Kirchengeschichte, Systematische und Praktische Theologie, eher zurück. Was aus Belangen der kirchlichen Ausbildung wünschenswert bleibt, ist universitätspolitisch oder im Blick auf Drittmittelprojekte weniger hilfreich. Momentan sind wir gefordert, beides zugleich im Blick zu haben: Ich biete gemeinsame Lehrveranstaltungen mit Systematikern und Praktischen Theologinnen an und praktiziere die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Klassischer Philologie, Judaistik und Religionswissenschaft. Wie lange geht das alles zugleich? Ich finde, gerade aus der Erfahrung in der Schweiz, wo wir keine so luxuriöse Absicherung der Theologie haben, dass die interdisziplinäre Verankerung in der Universität der Theologie gut tut, und sie ist auch im Blick auf die öffentliche Relevanz der Kirche unverzichtbar. Es gibt gute Gründe dafür, dass sich die Theologie nicht in das Abseits von ei‐ genen kirchlichen Seminaren oder frommen Privatinstituten zurückzieht, sondern sich ohne Angst dem breiten gesellschaftlichen Diskurs und dem öffentlichen Wahrheitsbewusstsein stellt. Wissenschaftliche Theologie ge‐ hört an Universitäten, hier muss sie sich bewähren, ohne ihre Theologizität und ihren Bezug auf die konkreten Kirchen und das gelebte Christentum preiszugeben. 2. Abgesehen von der Absicherung einzelner Lehrstühle ist auch in Deutsch‐ land die personelle Grundausstattung in kleinen Fächern wie der Theologie zunehmend in Frage gestellt. Alles ist ökonomisiert, dem Wettbewerb untergeordnet. Gibt es noch Mittelbau-Stellen für gute Lehre? Oder gibt es sie nur kurzzeitig und auf Antrag, je projektorientiert? Die Forderung nach stetiger Drittmitteleinwerbung und das in Deutschland bundesweit politisch verordnete Wettrennen um den Status einer Eliteuniversität binden Kräfte, die dann oft der Lehre und der Lehrentwicklung entzogen werden. Die ‚Leuchttürme‘ zählen, der Rest ist den Bildungspolitikern egal. Die Universität soll aber nicht nur ein ‚Ausbildungsprodukt‘ liefern, sondern Menschen bilden. Hier braucht es persönlichen Einsatz und auch politisches Bemühen, damit nicht nur die Statistik, sondern primär die Begleitung der Studierenden hinreichend Beachtung erfährt. 3. Der Bildungsmarkt ist durch ‚Bologna‘ - politisch gewollt - pluralisiert, auch in der Theologie. Es gibt nicht mehr nur Pfarramts- und Lehramts‐ studiengänge, sondern vielfältige Optionen, auf Bachelor- und Master‐ ebene, mit Fächerkombinationen in Major und Minor. Dies führt nicht nur intern zu sehr inhomogenen Gruppen in Lehrveranstaltungen, deren Teilnehmende ganz unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen, die aber miteinander (mit und ohne alte Sprachen, auf unterschiedlichen Ni‐ DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 Eine (un-)wissenschaftliche Response 63 veaus) zu unterrichten sind. Extern führt die Pluralisierung zu vermehrter Konkurrenz: Den Theologischen Fakultäten stehen nicht nur die Institute für Lehramtsstudien, sondern weitere, z. T. private Institutionen gegenüber. Aus manchen früheren ‚Bibelschulen‘ sind nun akkreditierte Hochschulen geworden, die z. T. auf andere Berufsfelder hin ausbilden. Aber die Grenzen verfließen, und zunehmend stellt sich die Frage, unter welchen Bedin‐ gungen Kirchen deren Absolvent: innen oder auch Bewerber: innen mit ausländischen Abschlüssen ins Pfarramt übernehmen. Und ungeachtet des universitären Selbstbewusstseins ist oft zuzugestehen, dass auch diese vieles mitbringen und manches sogar besser gelernt haben, als es an unseren Fakultäten möglich ist. Umgekehrt stellt sich die Frage, was das ‚Proprium‘ der universitär ausgebildeten Theolog: innen sein kann, auch im Spektrum der kirchlichen Berufe. 4. Seitens der Kirchen beobachte ich derzeit eine gewisse Panik angesichts des drohenden Personalmangels und der seit der Corona-Zeit noch einmal massiv eingebrochenen Studierendenzahlen. Nachdem Quereinsteiger- Studiengänge schon länger laufen, wird nun mancherorts erwogen, Absol‐ venten anderer Institutionen ins Pfarramt zu übernehmen. Das Erfordernis der 1. Theologischen Dienstprüfung bzw. (in der Schweiz) eines MA der Theologie wackelt. Manche der von kirchlichen Verantwortlichen geäu‐ ßerten Ideen sind recht unausgegoren. So wurde erwogen, Interessenten schon nach dem BA ins Vikariat aufzunehmen, andere wünschen, dass die Universitäten einen ‚praxisorientierten‘ Studiengang anbieten sollten, in dem nur das gelehrt wird, was auch im Pfarramt ‚benötigt‘ wird. „Schnell in die Praxis“ ist das Mantra - im Hintergrund steht wohl gelegentlich die eigene Bildungsgeschichte von Verantwortlichen, die negative Erinne‐ rungen an das eigene Studium oder eine skeptische Aversion gegenüber der Theorie weitertragen. Wenn der Wert der Theologie schon in Kirchen‐ leitungen nicht mehr gesehen wird, hat sie wirklich eine düstere Zukunft. 5. Ich erlaube mir, den ‚schwarzen Peter‘ zurückzugeben: Der Personalmangel ist nicht nur eine Frage, wie das Studium attraktiver oder ‚studierbarer‘ ge‐ macht werden kann, sondern zugleich eine Frage, wie das Berufsbild Pfarr‐ person bzw. die Kirche als Arbeitgeberin attraktiv gehalten oder gemacht werden können. Oft geht es auch um den Umgangston, das Miteinander in der Kirchengemeinde und den Respekt gegenüber den Bewerber: innen. Wenn eine Vikarin im Landeskirchenamt im paternalistischen Ton von oben herab behandelt wird, lässt sie sich das heute eben nicht mehr gefallen und geht - in eine andere Landeskirche oder einen anderen Beruf. Wenn Pfarrbezirke einfach von drei auf fünf Dörfer erweitert werden, so dass bei DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 64 Jörg Frey den Beschäftigten der nächste Burnout absehbar ist, dann wird der Beruf unattraktiv. Ich kenne mehr als eine Handvoll guter Theolog: innen, die sich aufgrund verschlechterter Bedingungen oder konsistorialer Bocksbeinig‐ keit aus der betreffenden Landeskirche oder überhaupt dem Beruf haben vertreiben lassen und andere Wege gewählt haben. Die ‚heilige Kuh‘ der deutschen Beamtensicherheit hält vor allem die weniger Flexiblen und Sicherheit Suchenden; die Guten, Kreativen und Ideenreichen lassen sich durch ein System aus dem 19. Jahrhundert nicht mehr binden. Die Kirche muss hier als Arbeitgeberin bzw. ‚Dienstherrin‘ in ihrer Personalführung beträchtlich umdenken, sonst sind alle Studienreformen vergeblich. 6. Ein wichtiger Aspekt wird sein, dass den theologisch gut ausgebildeten Pfarrpersonen auch die Möglichkeit gegeben wird, das zu tun, wozu sie ausgebildet sind, und dass diese nicht - wie so häufig - durch allzu viele andere Aufgaben von Verwaltung, Personalmanagement und Bauaufsicht, für die sie nicht ausgebildet sind, absorbiert werden. Wenn Pfarrpersonen bei Fortbildungsangeboten eher Beschwerdemanagement und Friedhofs‐ verwaltung nachfragen, vielleicht noch Kurse in Spezialseelsorge, die für die eigene Berufslaufbahn Türen öffnen können, dann zeigt sich darin die Krise, in der das gegenwärtige Berufsbild steht. Geschäftsführende Pfarr‐ personen kommen kaum mehr dazu, das zu tun, wozu sie ausgebildet sind, viele der Verwaltungsaufgaben könnten besser und schneller von anderen übernommen werden. Hier ist die Struktur der kirchlichen Berufsbilder zu überdenken, um diejenigen, die Fachleute in Theologie sind, eben das sein zu lassen. Viele Aufgaben in Unterricht, Sozialdiakonie und Verwaltung könnten besser von anderen ausgefüllt werden. Vielleicht würde der Pfarrberuf wieder neu attraktiv, wenn das Berufsbild, das ‚Dienstrecht‘ und die Anstellungsbedingungen im Ganzen flexibler würden, wenn die Tätig‐ keiten in Teams gabenorientierter verteilt werden könnten und nicht mehr das Ideal einer ‚eierlegenden Wollmilchsau‘ die Vorstellungen dominieren würde. 2 Wandlungen der Exegese Ich lese mit Freude und Zustimmung, dass alle Beitragenden zu dieser Ausgabe die Bedeutung der Bibelexegese für die evangelische Theologie und die pfarr‐ amtliche Praxis hoch einschätzen. Auch wenn Pfarrpersonen in der Praxis nur noch wenig zu genauer exegetischer Textlektüre kommen und die Predigtarbeit oft unter Zeitdruck und mit wenigen Hilfsmitteln erfolgen muss, ist es doch klar, dass die gute Kenntnis der biblischen Texte und eine realistische Einschätzung DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 Eine (un-)wissenschaftliche Response 65 dessen, was sie bieten können (und was nicht), für die gemeindliche Praxis in vielen Praxisfeldern wichtig ist. Bibelkundliches Wissen, eine Kenntnis des geschichtlichen Umfeldes und eine Vorstellung von der Entstehung der Texte sind die Grundlage, hermeneutische Reflexion muss dazu kommen, und je besser die Einübung ist, der ‚schnelle Blick‘, um an Texten Wesentliches zu ihrer literarischen Form, ihrer Argumentationsstruktur oder ihrem theologischen Gehalt zu erkennen, desto besser können solche Beobachtungen dann auch in der Predigtarbeit fruchtbar gemacht werden. 1. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Bibelexegese nicht nur interna‐ tional, sondern auch im deutschsprachigen Raum erheblich verändert. Neuere exegetische Methodenbücher dokumentieren diese Veränderung. Während ältere Darstellungen noch ganz auf die Fragen der Textentste‐ hung und die Bestimmung des ursprünglichen Textsinns konzentriert waren, stehen in aktuelleren Methodenlehren und in der verbreiteten Praxis von Proseminaren narratologische und rezeptionsorientierte An‐ sätze viel stärker im Vordergrund, und auch ‚engagierte‘ Methoden der Bibellektüre werden zumindest ergänzend berücksichtigt. Auch wenn der naive Glaube an literarkritische Logik an manchen deutschen Fakultäten noch begegnet, ist Exegese heute nicht mehr primär an der Rekonstruk‐ tion der Textentstehung und der bloßen Erhebung historischer Fakten interessiert. Texte werden stärker in ihrer überlieferten Endgestalt, ihrer literarischen Kunst und kommunikativen Wirkung wahrgenommen. Und wo Prozesse der Fortschreibung und Überlieferung thematisiert werden, sieht man darin nicht mehr in erster Linie die Verfälschung von etwas Ursprünglichem, sondern umgekehrt das Wirkungspotential der Stoffe und Texte. Nachdem die historisch-kritische Exegese in der protestantischen Theologie bisweilen geradezu als ‚Ersatzpapst‘ fungierte, weil sie (wenn‐ gleich oft nur hypothetisch) den ‚ursprünglichen‘ Sinn der biblischen Texte zu offenbaren beanspruchte, ist exegetische Arbeit heute bescheidener geworden, realistischer im Blick auf die eigenen Erkenntnismöglichkeiten und sicher auch pluralitätsoffener. Der ein-eindeutige Textsinn, den meine Tübinger Lehrer noch durch die ‚richtige‘ Anwendung von Grammatik und Konkordanz zu erheben wähnten, ist einem Verständnis der Offenheit von metaphorischer Sprache und von Lektüreprozessen gewichen. Das führt nicht zur Beliebigkeit eines ‚anything goes‘. Es gibt auch in einem rezeptionssensiblen Thema durchaus ‚Grenzen der Interpretation‘ (U. Eco). Aber ich sehe meine eigene Aufgabe als Exeget - etwa in der Kommentie‐ rung des Johannesevangeliums - weniger in der eindeutigen Fixierung des Textsinns, als vielmehr in der verstehenden Beschreibung des Weges durch DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 66 Jörg Frey den Text, in der Beschreibung von Sinnlinien und Welten, die der Text seiner Leserschaft eröffnet. 2. Diese Veränderungen in der Exegese stellen uns bei der exegetischen Arbeit zunächst in die Solidarität mit allen Bibelleser: innen, die ohne viel Hintergrundwissen und Hilfsmittel und mit wachem Verstand viele Beobachtungen selbst machen können, die eine vom Gesamttext ausge‐ hende oder narratologisch orientierte Exegese zusammenträgt. Ohne dass damit der kritische Blick auf die Texte vermindert oder verhindert würde, kann eine solche Vorgehensweise doch die oberlehrerhafte Konfronta‐ tion vermeiden, mit der die klassisch-deutsche Exegese zuweilen meinte, dem Glauben der Gemeinde die ‚richtige‘ Wahrheit der Wissenschaft entgegensetzen zu müssen. Dies ist nicht zuletzt für die Arbeit mit der Bibel in Predigt, Unterricht und anderen gemeindlichen Praxisfeldern von großer Bedeutung, denn nur so können interessierte Gemeindeglieder für bibelwissenschaftliche Beobachtungen und Denkbewegungen gewonnen werden. Auch Studierende lassen sich aus einer solchen Perspektive wohl besser ‚abholen‘ und in neue Dimensionen der Wahrnehmung führen. In äl‐ teren Studienkonzepten wurde gelegentlich noch konfrontativ vermittelt, die Studierenden sollten „ihren Glauben an der Garderobe ablegen, weil jetzt ‚Wissenschaft‘ betrieben“ werde. Solche Entgegensetzungen führen bei ‚fromm‘ geprägten Studierenden eher zu Abwehr und Oppositionshal‐ tungen, und in manchen Kreisen wurde dann durchaus nicht ohne Grund vor dem ‚Glaubensverlust‘ im Studium gewarnt. M.-E. sind die skizzierten Gegenüberstellungen wissenschaftsdidaktisch naiv und wenig hilfreich. Eine exegetische Lehre und Praxis, die auch für die Persönlichkeit und Spiritualität der eigenen Person wie auch der zu Unterrichtenden sensibel ist, funktioniert anders. Sie ermöglicht Beobachtungen und Textwahrneh‐ mungen und reflektiert deren historische und theologische Relevanz. Sie nimmt auch Ängste und Vorbehalte der Studierenden gegenüber einem ihnen bislang ungewohnten Umgang mit der Bibel ernst und versucht, ihnen die Erfahrung zu vermitteln, dass der genaue Blick auf die Texte, die Einsicht in historische Kontexte und Prozesse zu einer vertieften Ein‐ sicht führt, die letztlich auch für einen praktizierten christlichen Glauben keine Gefahr ist, sondern eine existentiell und kirchlich-theologisch trag‐ fähige(re) Position zu gewinnen hilft. 3. All die Bemühungen, die Denkbewegungen der exegetischen Arbeit, die historischen Methoden und ihre Praxis nachvollziehbar und attraktiv zu gestalten, können jedoch nicht verbergen, dass die historisch-philologische und kritische Exegese gelegentlich ‚lästig‘ ist. Sie distanziert die Texte, DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 Eine (un-)wissenschaftliche Response 67 die im kirchlichen und persönlichen Bibelgebrauch oft unmittelbar gehört werden. Sie stört bei allzu eilfertigen Vereinnahmungen der Texte für ge‐ genwärtige, persönliche, religiöse oder politische Interessen und stellt die Fremdheit der impliziten Vorstellungen, die Distanz zwischen der dama‐ ligen Welt und uns heute heraus. Sie öffnet die Augen für problematische Machtstrukturen, patriachalische Bilder, zeitbedingte Werte und Maßstäbe und für unfaire Polemik gegen ‚andere‘. Sie kratzt an den traditionellen und frommen Vorurteilen und agiert unerbittlich als Anwältin der Texte in ihrer Fremdheit und bisweilen auch jener Stimmen, die in den uns überlieferten Texten nur marginalisiert oder in polemischer Verzerrung er‐ kennbar sind. Sie fungiert nicht einfach nur bestätigend, sondern zunächst und in erster Linie infragestellend. Es ist in der Tat eine theologische Grundentscheidung, dass eine evangelische Kirche ihre verantwortlichen und mit der öffentlichen Predigt beauftragten Mitarbeiter: innen diesem Feuer der Kritik ausgesetzt wissen will. Dieser selbstkritische Habitus unterscheidet evangelische Theologie von einer wie auch immer ‚funda‐ mentalistischen‘, zur Selbstkritik unfähigen Ideologie ebenso wie von der ökonomisch orientierten, marktschreierischen Art, in der religiöse Werbung von manchen Gruppen betrieben wird. Nur so kann die Kirche sich und anderen gegenüber glaubwürdig bleiben. Gewiss braucht es dann auch das Bemühen, dass nach der Infragestellung der mitgebrachten Vorurteile auch eine neue, historisch und theologisch reflektierte Position entwickelt wird. Das hermeneutische Gespräch über die Tragweite und Bedeutung der historischen Einsichten, die Verknüpfung von exegetischen und systematisch-theologischen Fragen, die Integration der Einsichten in eine persönliche Glaubens- und Lebenspraxis und später in eine pastorale Praxis sind unverzichtbar. Innertheologische Interdisziplinarität ist für eine erfolgreiche Integration der exegetischen Arbeit in das Studium der Theologie von erheblicher Bedeutung. 4. Von hier aus stellt sich noch einmal die Frage, wie das exegetische Wissen erworben, strukturiert, hermeneutisch reflektiert und eingeübt werden kann, so dass es sich in der späteren Praxis als hilfreich erweist. Es geht nicht nur darum, Fachmodule wie die Proseminararbeit oder dann die Klausur im ersten theologischen Examen zu bestehen, sondern die Frage stellt sich, wie bereits im Studium (und angesichts der Rahmenbe‐ dingungen, die das Studium immer mehr ‚effizient‘ zu gestalten versuchen) ein angemessener und reflektierter Umgang mit biblischen Texten eingeübt werden kann, und zwar ebenso fachlich wie existentiell. Die Übung, die zu erwerben ist, betrifft nicht nur (und vielleicht nicht primär) das Übersetzen DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 68 Jörg Frey von Texten, auch nicht primär das Abarbeiten von Methodenschritten, die am ausführlichsten und ‚schulmäßig‘ in einer Proseminararbeit, aber danach vielleicht nie mehr in dieser Breite, durchgeführt werden. Auch das Auswendiglernen von Essaythemen für eine Examensklausur mag oft als ‚Bulimiewissen‘ erscheinen, das bald nach dem Examen vergessen ist und nicht mehr weiterträgt. Ob sich im Studium eine exegetische Praxis einüben lässt, ein regelmässiger, historisch und theologisch informierter Umgang mit Texten, hängt auch an der Frage, ob die biblischen Texte für die Studierenden überhaupt eine relevante Bezugsgröße sind, mithin an der je eigenen Spiritualität und theologischen Prägung. Diese wird von manchen schon ins Studium ‚mitgebracht‘, aber sie verändert sich auch im Lauf des Studiums. Andere, die vielleicht ohne eine kirchlich-religiöse Prägung das Studium beginnen, sollten die Gelegenheit bekommen, in dieser Zeit auch einen eigenen existentiellen Zugang zu gewinnen. Und es braucht Foren, Übungsräume und Gesprächsangebote, um diese Fragen persönlich und gemeinschaftlich zu erörtern und Formen der Bibel-Spiritualität in großer Vielfalt und Weite auszuprobieren. 5. Einiges hängt daran, ob auch Lehrende der Exegese diese existentiellspirituelle Dimension mit einzubeziehen bereit sind. Können wir vermit‐ teln, dass die biblischen Texte existentiell und theologisch relevant sind und dass es nicht nur im Blick auf zu absolvierende Studienleistungen, sondern darüber hinaus lohnend und fruchtbar ist, sich mit ihnen ausein‐ anderzusetzen. Kann ich meinen ‚Professoren-Habitus‘ der wissenschaft‐ lichen Unanfechtbarkeit und ‚Absicherung‘ gelegentlich fallen lassen und meine Studierenden spüren lassen, dass ich mit ihnen selbst auf dem Weg bin, in einer Solidarität der Lesenden und Lernenden, ja auch in der Gemeinschaft der gerechtfertigten Sünder? Das im deutschsprachigen Raum gelegentlich noch zu findende Verständnis von ‚Wissenschaft‘, das die Dimension der persönlichen und existentiellen Betroffenheit völlig ausklammert, ist für die hier anstehenden Lernprozesse m. E. eher nicht hilfreich. Natürlich sind nicht alle Lehrenden gleichermaßen bereit, auch Einblicke in ihren eigenen persönlichen Umgang mit biblischen Texten zu geben. Die eigene ‚Religiosität‘ ist für viele ‚Privatsache‘, und sie steht unter dem Verdikt ‚unwissenschaftlich‘ zu sein. Im angelsächsischen Raum und in anderen Weltgegenden ist die Hemmnis gegenüber solchen persönlichen Fragen deutlich geringer, das deutsche Wissenschaftsethos erscheint hier besonders steif. Doch ist genau dieser Hiat zu überwinden, sowohl im Ausbildungsbereich wie dann auch in der gemeindlichen Praxis. Die eigene Person, die eigene Biographie und vielfältige persönliche Erfahrungen sind DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 Eine (un-)wissenschaftliche Response 69 unwillkürlich in unsere theologische Arbeit und auch in unsere Lehre involviert, und es ist aufrichtiger und im Blick auf die Kommunikation in der Lehre auch wichtig, dies in gewissem Maße offenzulegen. So sehr klar ist, dass die exegetische Vorlesung keine Predigt ist, so wollen Studie‐ rende doch auch wissen, wie der Exeget, der die Texte in der Vorlesung historisch nach allen Regeln der Kunst analysiert, dann über diese Texte predigt. Und so sehr bei Studienarbeiten darauf zu achten ist, dass der Sprachmodus der historischen Deskription eingehalten und nicht durch applikativ und predigthafte Floskeln durchsetzt sind (z. B. im Stil: „damit sagt uns Jesus“, oder „deshalb sollten wir alle auch…“), mag es nützlich sein, wenn Studierende als Appendix einer Proseminararbeit dann auch einen (nicht zu bewertenden) Versuch der eigenen Applikation (Andacht, Unterrichtsidee, Lied, gegenwartsbezogene Reflexion) anfügen und so ggf. erkennen, dass die genaue Arbeit am Text sie nützliche neue Dinge zu sehen gelehrt hat. 6. Solche Reflexion und Einübung könnte helfen, die im Bibelgebrauch bei Pfarrpersonen gelegentlich auftretenden Probleme präventiv zu ver‐ meiden. Die im exegetischen Studium erlernten kritischen Einsichten sollen ja in der theologischen Praxis weder verschämt verschwiegen werden (aus der Angst, die Gemeinde nicht zu ‚verunsichern‘), noch sollen sie ungefiltert und unbarmherzig in Predigt und Unterricht über die Gemeinde ausgeschüttet werden. Nicht alles im Studium Gelernte oder Gelesene ist für die jeweiligen Gemeindeglieder verdaulich. Histori‐ sche Exkurse in der Predigt dienen manchmal eher der intellektuellen Selbstrechtfertigung der Predigerin oder des Predigers als der gelingenden Kommunikation mit der Gemeinde. Andererseits ist eine Predigt, in deren Vorbereitung die historischen Probleme wahrgenommen und hermeneu‐ tisch reflektiert wurden, gewiss anders, als wenn diese Reflexionen aus Bequemlichkeit oder Unvermögen übergangen worden wären. Eine Predigt zum Heiligabend muss nicht die Geburtsgeschichten historisch-kritisch dekonstruieren, aber sie sollte genauso wenig naiv-historisierend einfach nur davon reden, dass diese ganzen Geschichten eben alle so geschehen sind. Ich muss in einer Predigt über die Pastoralbriefe nicht in aufklä‐ rerischem Habitus deren Abfassungsverhältnisse erklären. Solche Erörte‐ rungen wären besser in einem Bibelseminar untergebracht, wo dann auch Nachfragen und Diskussion möglich sind. Aber ich muss mir überlegen, ob und ggf. wie ich von Paulus rede, auch wenn ich weiß, dass der zu predi‐ gende Brieftext nicht von Paulus selbst stammt, sondern einen ‚erinnerten Paulus‘ repräsentiert. Hier ist die hermeneutische Reflexion vonnöten, was DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 70 Jörg Frey die (hypothetisch, mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit) rekonstru‐ ierten Sachverhalte und Kontexte bedeuten. Wo diese Reflexion fehlt, wird das exegetische Wissen entweder zum überflüssigen Ballast, oder anderer‐ seits zum Mittel, durch das sich die Pfarrperson in problematischer Weise als Expert: in geriert und so Fach-Autorität reklamiert. Beides wäre im Blick auf die Predigt- und Gemeindetätigkeit unangemessen. Ein angemessener Umgang mit diesen Sachverhalten ist aber nicht erst im Vikariat einzuüben, sondern schon im Studium zu reflektieren. Lehrpersonen, die dies für sich selbst reflektiert haben, können dabei im Sinne einer ‚best practice‘ Anstoß und Vorbild sein. 3 Erfahrungen in der Lehre Nach diesen, z. T. eher programmatischen Überlegungen zur exegetischen Ar‐ beit und ihrer Relevanz für die kirchliche Praxis möchte ich abschließend noch einige Beobachtungen aus der konkreten Lehr- und Prüfungspraxis benennen. 1. Die theologische Lehre, die Vermittlung dessen, was mich fachlich faszi‐ niert und was mir existentiell bedeutsam ist, ist eine herausfordernde und erfüllende Aufgabe. Aber auch hier haben sich die Bedingungen verändert. Wo meine eigenen Lehrer in der Vorlesung noch ein Buchmanuskript regelrecht vorgelesen haben, ist heute ein freier Vortrag, die Unterstützung durch Powerpoints, und eine dialogische Unterrichtsgestaltung selbstver‐ ständlich geworden. Und während ich in den 1980ern in Seminaren mit 50 bis 80 Studierenden saß, in denen man den Professor nur schwer greifen konnte, ist heute durch kleinere Gruppengrößen ein anderes kommunika‐ tives Umfeld geschaffen. Das ist gut so. Denn Theologie lässt sich nicht lehren wie Mathematik oder irgendeine bloße Faktenwissenschaft. Sie braucht das Gespräch, die Diskussion. Sie braucht Begegnungsflächen, das Sich-Reiben an Personen und Positionen. Nur so wird das vermittelt und habitualisiert, was dann am Ende eine ‚theologische Existenz‘ ausmacht. Das gilt gerade auch da, wo der Umgang mit der Bibel und Fragen der persönlichen Lebens- und Glaubenspraxis berührt sind. Weit über die bloße Vermittlung einer exegetischen ‚Technik‘ ist es hier notwendig, mit den Studierenden ins Gespräch zu kommen und ein Vertrauen aufzubauen, in dem dann auch persönliche Fragen und Vorbehalte thematisiert werden können. 2. Als ich nach meinem Vikariat in Tübingen als Wissenschaftlicher Assistent Proseminare zu unterrichten hatte, gewann ich den Eindruck, dass auch ein Proseminar letztlich nichts anderes ist als ‚Konfirmandenunterricht DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 Eine (un-)wissenschaftliche Response 71 auf anderem Niveau‘. Bei allen Unterschieden geht es in beiden Fällen darum, Menschen in einer prägenden Phase ihres Lebens zu begleiten. Ge‐ rade im Proseminar sind die wissenschaftlichen Fragen der Studierenden oft mit Fragen der eigenen Existenz, der persönlichen und spirituellen Lebensorientierung und der späteren Berufsperspektive verknüpft. Als Lehrender bin ich Zeuge dafür, dass man dieses Studium ‚schaffen‘ und durchstehen kann, ohne Schiffbruch zu erleiden, ich bin Trainer, der hilft, gewisse Denkvollzüge und Darstellungsweisen einzuüben, und ich bin manchmal auch Seelsorger, der in persönlichen Fragen und Notlagen ins Vertrauen gezogen wird. Dies gilt nicht zuletzt bei den Fragen nach dem Verhältnis von wissenschaftlicher Exegese und persönlicher Spiritualität oder bei Fragen nach der eigenen Studien- oder Berufsperspektive, die besonders in Situationen des Misserfolgs, nach misslungenen Prüfungen oder schwachen Seminararbeiten, zu thematisieren sind. 3. Mit den oben skizzierten veränderten Rahmenbedingungen treten auch in der Lehre neue Probleme zutage. Vielerorts sind inzwischen die altsprach‐ lichen Kenntnisse von Studierenden sehr viel geringer geworden. Das bisher in Deutschland noch geforderte, aber derzeit wieder stärker infrage gestellte Niveau des staatlichen Latinums bzw. Graecums ist schon länger nur noch ein Ideal, dem die Wirklichkeit weithin nicht mehr entspricht. Für viele sind auch die alten Sprachen ein ‚Bulimiewissen‘, das für die Sprachprüfung und dann erst wieder für das Examen gepaukt wird, aber sich nie wirklich ‚setzen‘ kann. Im exegetischen Seminar mit Studierenden Texte zu übersetzen ist oft illusorisch bzw. würde zu viel von der knappen zur Verfügung stehenden Zeit von anderen, wichtigeren Sachverhalten und Themen abziehen. Aber mit der Fähigkeit, mit den neutestamentlichen Texten im griechischen Text umzugehen, geht mehr verloren. Studierende und Pfarrpersonen sind den gebotenen Übersetzungen ausgeliefert, bleiben im eigenen Urteil unselbständig und unsicher. Eine Eigenständigkeit des Urteils, die dem reformatorischen Konzept des Pfarramts entspräche, ist dann kaum mehr zu erreichen. An dessen Stelle tritt die Abhängigkeit von allerlei neuen ‚Päpsten‘ und von der Trivialität des im Internet gerade Verfügbaren. Die wohlfeile Reduktion der intellektuellen Ansprüche für das Theologiestudium droht die Kirche in die Trivialität zu stürzen. 4. Die Probleme betreffen bei weitem nicht nur die alten Sprachen. Nicht we‐ nige Studierende kommen auch mit enormen Schwächen der sprachlichen Aufnahme- und Ausdrucksfähigkeit an die Universität: In Proseminaren braucht es schon viel Training, bis sprachlich korrekt Textphänomene beschrieben werden können und nicht nur der Text ‚nacherzählt‘ wird. In DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 72 Jörg Frey Studienarbeiten werden oft Zitate aus der Literatur zusammengekleistert, ohne dass wirklich ein eigener Gedankengang entwickelt würde. Man könnte hier den ‚Schwarzen Peter‘ der Schule zuschieben, die uns an der Universität zunehmend schlechtere Abiturient: innen hinterlässt, die zwar als ‚digital natives‘ mit Google, Handy und bald auch KI-Maschinen umgehen können, aber deren Fähigkeit, Texte zu verstehen oder selbst nuanciert zu formulieren, oft sehr gering ist. Für einen Beruf, in dem der differenzierte Umgang mit Worten überall notwendig ist, sind das schlechte Voraussetzungen, für die Exegese natürlich auch. 5. Was vielen Studierenden heute schwerer fällt als noch vor 20 Jahren, ist eigenständiges Denken. Der Ruf nach Verschulung des Studiums entspringt nicht nur einer ökonomisierten Bildungspolitik, sondern auch aus der schulisch antrainierten Unselbständigkeit. Eine Schule, die nur noch Re‐ produktion belohnt und kreative Eigenständigkeit bestraft, bereitet wenig auf ein Studium vor, in dem es eigentlich darum ginge, sich umfassend kompetent zu machen. Studierende der Anfangssemester tun sich schwer damit, den Habitus von ‚Schule‘ auf ‚Studium‘ umzustellen, sie erwarten immer noch, bei allen kleinen Schritten an die Hand genommen und sicher geführt zu werden. In manchen Evaluationen wird dies dann noch als ‚gute Lehre‘ gelobt, weil so der ‚Erfolg‘ sichergestellt wird und alle, auch die Schwächsten letztlich das Modul erfolgreich bestehen. Im Wertesystem der ‚Bologna-Bildungsfabrik‘, in das sich die Universitäten von den alles bestimmenden Ökonomen haben zwingen lassen, steht die Erfolgsstatistik an der Spitze, nicht die intellektuelle Herausforderung, die Eigenständig‐ keit oder die Kreativität. 6. In der exegetischen Praxis zeigen sich die Folgen. Studierende fühlen sich sicher, wenn sie aus irgendeinem gedruckten (oder online bezogenen) Buch zitieren können. Und so werden Zitate zuammengekleistert, oft ohne die Rückfrage, woher und aus welchem Diskurs diese Aussagen kommen, manchmal werden auch Positionen zusammengefügt, die eigentlich gar nicht passen. Es ist dann nicht leicht, ein kritisches Bewusstsein dafür zu vermitteln, wie viel auch in gedruckten Büchern unsinnig ist und kritisch reflektiert werden müsste. Oft fehlt auch die Zeit für solche Metareflexion. Wer sich für Nachbesprechungen von Studienarbeiten Zeit nimmt, kennt diese Probleme. Hier besteht die Aufgabe, das Vertrauen in die eigenen Beobachtungen zu stärken und dazu zu ermutigen, daraus auch - vorsichtig - eigene Schlüsse zu ziehen. Es ist besser, eine falsche These zu wagen, als viele Richtigkeiten nur abzuschreiben. Auch in Examensklausuren, die ich nach wie vor für eine deutsche Landeskirche korrigiere, zeigen sich die DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 Eine (un-)wissenschaftliche Response 73 analogen Probleme. Exegetische Arbeitsschritte werden da ‚schulmäßig‘ durchgeführt, manchmal auch an Texten, an denen der jeweilige Metho‐ denschritt wenig sinnvoll ist, aber der Ertrag der Beobachtungen zu Syntax und Wortfeldern, zu narrativen und rhetorischen Gestaltungselementen, zur Argumentation oder zu Quellen- und Traditionsverwendung wird oft nicht für die Interpretation fruchtbar gemacht. Nach allen Arbeitsschritten ist die ‚Vers-für-Vers-Exegese dann oft wieder eine Nacherzählung, für die es die methodischen Arbeitsschritte nicht gebraucht hätte. Dann zeigt sich, dass im Studium verpasst wurde, etwas einzuüben, das nicht nur in der Examensklausur, sondern auch in der späteren pastoralen Praxis notwendig wäre: eine Praxis der exegetischen Methoden, die nicht nur in der Ausführlichkeit einer Proseminararbeit funktioniert, sondern auch in einer zeitlich begrenzten Textbetrachtung. Wenn eine solche Technik eingeübt ist, wenn gelernt wurde, in begrenzter Zeit am Text Wesentliches zu entdecken und diesen Beobachtungen zu trauen, dann wird dies auch für die Predigtvorbereitung nützlich sein. Wenn Studierende nur mit dem Ideal entlassen werden, dass sie der geforderten Detailliertheit ohnehin nie gerecht werden können, dann lassen sie die Exegese später links liegen und arbeiten unselbständig und mit dem, was im Netz steht. 7. Die Herausforderungen an die exegetische Arbeit im Studium sind groß. Die Wunschlisten aus der Praxis der zweiten Ausbildungsphase sind vielleicht noch größer. Doch ist ein Mehr an Methoden - alternative, engagierte, postkoloniale etc. Methoden, praktische Formen wie Bibliolog, Bibliodrama etc. - im immer kürzer getakteten Zeitbudget des heutigen Studiums kaum unterzubringen. Die Zeit ist ohnehin knapp für das zu vermittelnde Wissen aus den verschiedenen Dimensionen der exegetischen Fächer. Was ich unterstreichen möchte, ist die Bedeutung der innertheolo‐ gischen Interdisziplinarität, der hermeneutischen Reflexion und - soweit möglich - die Reflexion der Wechselwirkungen zwischen Theologie und Biographie, die für einen reflektierten eigenen Umgang mit Bibeltexten im Studium und darüber hinaus von zentraler Bedeutung ist und die auch uns Lehrenden im Wissenschaftsbetrieb gut ansteht. Dieser Herausforderung nachzukommen, ist bei aller Mühe eine faszinierende und erfüllende Aufgabe. Wenn es gelingt, in der Vorlesung Begeisterung für die Texte, ihre literarische Kunst und ihre theologische Tiefe zu vermitteln, wenn engagierte Studierende in ihren Arbeiten eigene Wege wagen und eigene Fragen entwickeln, wenn in der exegetischen und theologischen Arbeit die gespannte Freude auf die pastorale Praxis wächst und wenn später ehemalige Studierende berichten, was ihnen das Studium des Neuen Testaments für ihren weiteren Weg DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 74 Jörg Frey und ihre jetzige Praxis bedeutet, dann kann nicht alles falsch gelaufen sein. Das geschieht, trotz der veränderten Rahmenbedingungen, auch trotz ‚Bologna‘, und ungeachtet der negativen Schlagzeilen der Kirche und der negativen Rhetorik des ‚kleiner, älter, ärmer‘. Ich möchte darin gerne auch ein Zeichen der Kraft des Geistes sehen, der Faszination der Texte, die die christliche Kirche bis heute begleiten, immer neu infrage stellen und zugleich weitertragen. Und ich bin dankbar, dass ich diese Texte einer neuen Generation von Theolog: innen vermitteln darf. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 Eine (un-)wissenschaftliche Response 75