eJournals Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa) 8/1

Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa)
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2366-0597
2941-0789
Francke Verlag Tübingen
10.24053/VvAa-2023-0008
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2024
81 Fischer Heilmann Wagner Köhlmoos

Ermächtigung zum Spielen

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2024
Michael Sommer
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1 Michael Sommer studierte Literaturwissenschaft in Freiburg und Oxford. In seiner Theaterkarriere war und ist er u. a. als Regisseur, Autor, und Dramaturg tätig. Seit 2015 betreibt er den YouTube-Kanal Sommers Weltliteratur To Go und unterrichtet seit 2016 an der Heimerer Fachakademie für Sozialpädagogik in München. Weitere Informationen finden sich unter https: / / sommers-weltliteratur.de/ michael-sommer/ . 2 Seit Oktober 2023 gibt es auch eine Live-Performance, die auf der Videoreihe basiert. 3 https: / / www.youtube.com/ @sommersweltliteraturtogo. Ermächtigung zum Spielen Überlegungen zu den didaktischen Zielen der Videoreihe Die Bibel to go Michael Sommer 1 Was ist Die Bibel to go? Von Oktober 2020 bis September 2021 habe ich die 66 Bücher der Lutherbibel in 66 kurzen Videos zusammengefasst, die jeweils eine Einführung bzw. einen Überblick über die Texte bieten. 2 Es handelt sich bei den Adaptionen um Inhaltsangaben, die freilich bei handlungsarmen oder kryptischen Originalen notwendigerweise eine bestimmte Interpretation vor‐ aussetzen. Hinzu kommt, dass die Handlungsträger der Filme normalerweise auf dem Kinderzimmerfußboden zuhause sind. Es handelt sich um Playmobil-Fi‐ guren. Sie sind der Kern der Vermittlungsarbeit meines Youtube-Kanals Som‐ mers Weltliteratur to go.  3 Im Folgenden werde ich zunächst auf die Arbeit an diesem Kanal eingehen, bevor ich auf das darauf basierende Projekt Die Bibel to go zurückkomme. Seit Anfang 2015 präsentiert Sommers Weltliteratur to go wöchentlich ein etwa 10-minütiges Video, in dem der Inhalt eines literarischen Werkes mit Hilfe von Playmobil-Figuren zusammengefasst wird. Dabei handelt es sich in der Regel um literarische Klassiker, oft um Schulstoffe, denn die meisten Nutzer: innen des Kanals sind Schüler: innen und Studierende, die einen Überblick über ein Werk suchen oder es vor der nächsten Klausur (oder dem schriftlichen Deutsch-Ab‐ itur) noch einmal wiederholen wollen. Die Videos sind keine Hochglanzanimati‐ DOI 10.24053/ VvAa-2023-0008 4 Huizinga, Homo ludens, 133. onslehrfilme, sondern eher eine Art Küchentisch-Kasperltheater. Diese flapsige Formulierung deutet bereits auf ein wichtiges Vermittlungsprinzip: Die Videos sollen niederschwellig, verständlich, aber vor allem auch unterhaltsam sein. Wieso unterhaltsam? Ist die Vermittlung von Inhalten der Hochkultur nicht eine ernsthafte Angelegenheit? In der Tat. Ich nehme Literatur sehr ernst, deshalb bemühe ich mich, sie so vielen Menschen wie möglich zu vermitteln, vor allem denjenigen, die ihr gegenüber Berührungsängste haben. Die größte Herausforderung dabei ist, dass Bücher einen schlechten Ruf haben. Unter anderem, weil der Literatur‐ unterricht an Schulen (und Hochschulen) häufig einem zentralen Charakteris‐ tikum von Geschichten nicht gerecht wird: Geschichten sollen den Lesenden Spaß und/ oder Freude bereiten. Aber selbst wenn Lehrkräfte große Fans der Geschichte sind, die sie gerade vermitteln wollen, merken die Lernenden oft nichts von deren potentieller Unterhaltsamkeit. Das Wort ‚Pflichtlektüre‘ macht das Problem deutlich. Wenn ich ein Buch lesen muss, dann wird das eher meinen Widerstand als meine Freude daran aktivieren. Es ist daher notwendig, Bildungserlebnisse so zu gestalten, dass sie jeweils so motivierend wie möglich für die Lernenden sind. Mein Leitbild dabei ist das spielerische Lernen; meine wichtigste Botschaft ist, dass Literatur selbst ein Spiel ist. Der Historiker Johan Huizinga schreibt in seinem 1938 veröffentlichen Werk Homo ludens: „[W]ährend Religion, Wissenschaft, Recht, Krieg und Politik in höher organisierten Formen der Gesellschaft die Berührungen mit dem Spiel, die sie in frühen Stadien der Kultur offenbar in so reichlichem Maße hatten, nach und nach zu verlieren scheinen, bleibt das Dichten, das in der Spielsphäre geboren ist, immerfort in dieser zu Haus. Poiesis ist eine Spielfunktion. Sie geht in einem Spielraum des Geistes vor sich, in einer eigenen Welt, die der Geist sich schafft. Dort haben die Dinge ein anderes Gesicht als im ‚gewöhnlichen Leben‘ und sind durch andere Bande als logische aneinandergebunden. [Dichtung] steht jenseits vom Ernst, auf jener ursprünglichen Seite, wo das Kind, das Tier, der Wilde und der Seher hingehören, im Felde des Traums, des Entrücktseins, der Berauschtheit und des Lachens.“ 4 Für Huizinga ist das Spiel der Ursprung aller menschlicher Kultur, aber während die eingangs genannten Lebensbereiche im Laufe ihrer Entwicklung bestimmte Merkmale des Spiels verloren haben, nimmt die Dichtung eine Sonderstellung ein, weil sie immer in vollem Umfang Spiel bleibt. Literatur ist nicht von der Logik oder den Zwängen der Realität abhängig, sondern schafft sich ihre DOI 10.24053/ VvAa-2023-0008 94 Michael Sommer Welt im menschlichen Geist, wo andere Spielregeln gelten. Nicht zufällig assoziiert Huizinga Kinder und Lachen mit der Dichtkunst, denn als Kinder haben wir alle eine große Kompetenz darin, die Welt, die Menschen und uns selbst durch Geschichten spielerisch zu erkunden. Das geschieht in Rollen- und Puppenspielen und (seit 1974) auch mit Playmobil-Figuren. Das kindliche Sich-Erspielen der Welt mit Hilfe von Figuren ist der Königsweg des Lernens. Zwischen 2006 und 2014 war ich als Schauspieldramaturg am Theater Ulm tätig und habe viele Experimente zum Thema Theatervermittlung (die immer auch Literaturvermittlung ist) durchgeführt. Zu meinen Methoden gehörten Livestreaming (damals noch weitgehend unbekannt) und die Entwicklung einer Augmented-Reality-App, aber auch analoge Spiele wie Kochen mit dem Publikum, der Einsatz von Barbie-Puppen und Playmobil-Figuren. 2013 hatte ich die Aufgabe, eine extrem handlungsarme Inszenierung von Büchners Dantons Tod zu vermitteln. Um den Ablauf des Stückes zu erklären, verwendete ich bei einer Veranstaltung Playmobil- und andere Figuren, die ich vor einer Kamera agieren ließ, die an einen Videobeamer angeschlossen war. Hinterher stellte ich die Aufzeichnung der kleinen Performance zu Youtube, wo sich innerhalb kurzer Zeit viele Schüler: innen das Video anschauten - weil Dantons Tod in Baden-Württemberg zu diesem Zeitpunkt gerade eine Pflichtlektüre für das schriftliche Deutschabitur war. Gerade im Kontext von schulischem Druck und Zwang, so schien es, war es für die Nutzer: innen wichtig, auf einen Content zugreifen zu können, der dem ‚Ernst des Lebens‘ eine kindliche, spielerische Art des Zugangs entgegensetzte - und dabei dennoch Inhalte vermittelte. Ich nahm diese Erfahrung zum Anlass, Anfang 2015 Sommers Weltliteratur to go ins Leben zu rufen. Insgesamt wurde etwa 35 Millionen Mal auf die seither veröffentlichten Videos zugegriffen; 46 % meiner (registrierten) Nutzer: innen sind unter 25 Jahren alt. Für einen Youtube-Kanal sind diese Zahlen nicht sehr groß, für einen kulturellen Inhalt und ein junges Publikum jedoch un‐ gewöhnlich. Einerseits orientiere ich mich an meiner Zielgruppe, indem ich Schullektüren behandle, andererseits ist der Kanal durchaus auch ein Selbstbil‐ dungsprojekt und ich versuche mich Schritt für Schritt der vollmundigen Be‐ hauptung anzunähern, der Kanal präsentiere ‚Weltliteratur‘. Angesichts dessen war abzusehen, dass ich mich irgendwann auch mit der Bibel auseinandersetzen würde, deren kulturelle und historische Bedeutung auch jenseits des religiösen Bereichs schwer zu übertreffen ist. Aus dem bisher Gesagten sollte deutlich geworden sein, dass ich kein Religi‐ onspädagoge bin. Andererseits ist meine Motivation für die Auseinandersetzung mit der Bibel keineswegs rein parodistisch oder monetär. Der primäre Zweck meiner Videos ist es, jeweils eine Zugangsmöglichkeit zu einer Geschichte DOI 10.24053/ VvAa-2023-0008 Ermächtigung zum Spielen 95 zu schaffen und einen Überblick über die Figuren und die Handlung eines Buches zu geben. Dadurch, dass meine Methode figurenbasiert ist, steht die Mechanik von Handlungen immer im Vordergrund. Die Stärke meiner Methode ist es, Figuren, ihre Probleme und Problemlösungsstrategien einprägsam und prägnant erzählen zu können; die Schwäche meiner Methode ist es, dass ich Faktoren wie sprachliche Schönheit oder Stilistik nur beschreiben kann, ohne sie wirklich erfahrbar machen zu können. Hinzu kommt, dass der Text zu meinen Videos einen bestimmten Stil aufweist: Er ist grundsätzlich einfach und erklärend, oft aber auch ironisch, nimmt Anleihen an der Jugendsprache, ver‐ wendet Sprachspiele und inszenierte Versprecher. Die sprachliche Gestaltung dient also einerseits der guten Verständlichkeit, andererseits aber auch der Unterhaltsamkeit. Ich bin grundsätzlich der Überzeugung, dass die Attraktivität und damit auch Unterhaltsamkeit von Medien im Bereich der Didaktik an erster Stelle stehen muss, denn der beste Inhalt nützt nichts, wenn die Nutzer: innen ihn nicht rezipieren - und das müssen sie (spielerisches Prinzip) freiwillig tun. Der sekundäre Zweck meiner Arbeit ist es, Imagewerbung für Literatur und für das Lesen zu machen. Ich habe weiter oben schon von einem Problem des Literaturunterrichts gesprochen, der leider viele junge Menschen eher vom Lesen abschreckt. Hinzu kommt, dass Lesen im Vergleich zu anderen (gerade digitalen) Formen der Unterhaltung viel kognitive Energie erfordert. Ein Faktor, der Playmobil-Figuren für den Einsatz in meinen Videos hervorragend geeignet macht, ist das Image dieses Spielzeugs. Es ist sehr bekannt, viele Menschen haben als Kinder damit gespielt, und sie assoziieren nichts Negatives damit. Playmobil verkörpert in nahezu idealer Weise die Merkmale des Spiels, die auch Huizinga aufzählt: Zweckfreiheit, So-Tun-Als-Ob, Freiheit und Freiwilligkeit, Autonomie, Freude. Pragmatisch kommt noch hinzu, dass die Figuren eine gute Größe für die Handhabung vor einer Kamera haben, dass sie heutzutage zwar in extremer Diversität vorhanden sind, trotzdem aber (als Puppenspielzeug) noch sehr neutrale Projektionsflächen für die Zuschauer: in sind. Gerade der Kontrast zwischen Hochkultur (oder in diesem Fall religiösem Text) und Kinderzimmer‐ fußboden scheint das Publikum zum Zuschauen und Zuhören zu motivieren. Ein dritter Zweck meiner Arbeit ist die Frage der Ermächtigung zum Umgang mit Geschichten. Im Deutschunterricht werden bestimmte ‚legitime‘ Techniken vermittelt, wie man als Erwachsene: r mit Texten umgehen darf: Inhaltsangaben, Interpretationen und Kommentare sind in Ordnung, aber bitte nicht zu fanta‐ sievoll und deutlich voneinander getrennt. So sinnvoll und notwendig der Grund für diese Herangehensweise ist, gerät der kindlich-spielerische Zugang zu Geschichten daneben oft ins Hintertreffen. Ihn jedoch gilt es zu stärken. Indem ich vermeintlich unpassende Elemente miteinander kombiniere und mir DOI 10.24053/ VvAa-2023-0008 96 Michael Sommer so Hochkultur aneigne, vermittle ich, dass dies eine ebenso legitime Art des Zugangs zu Literatur ist. Wenn daher Lehrkräfte mit ihren Klassen eigene Videos drehen (oder etwas ganz anderes machen), was von meiner Arbeit inspiriert ist, dann ist dies für mich ein Erfolg. Sowohl in der religiösen Praxis als auch im Religionsunterricht hat der Einsatz unterschiedlicher Formen von Theater, Rollenspielen und auch Figuren‐ theater eine lange Tradition. Die Bibel to go reiht sich diese lange Tradition ein, aktiviert Kindheitserinnerungen und sucht sich ihre Bühne an einem Ort, an dem junge Menschen viel Zeit verbringen - Youtube. Literatur Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek 24 2015. https: / / sommers-weltliteratur.de/ michael-sommer/ . Letzter Zugriff 26.08.2024. https: / / www.youtube.com/ @sommersweltliteraturtogo. Letzter Zugriff: 26.08.2024. DOI 10.24053/ VvAa-2023-0008 Ermächtigung zum Spielen 97