ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
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Dronsch Strecker VogelFeministische Diskurse zu Theologie, Religion und Politik im Gespräch
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Christian Strecker
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Kontroverse Feministische Diskurse zu Theologie, Religion und Politik im Gespräch Einleitung in die Kontroverse Christian Strecker „Situiertes Wissen“ ( situated knowledge ) - so lautet der Titel eines programmatischen erkenntnistheoretischen Aufsatzes, den die feministische Wissenschaftstheoretikerin und Philosophin Donna Haraway im Jahr 1988 in der amerikanischen Zeitschrift Feminist Studies publizierte. 1 Haraway wendet sich darin gegen die klassische Bestimmung wissenschaftlicher Objektivität als Produkt eines körper-, kontext- und standortlosen Wissenschaftssubjektes, das vermeintlich universal gültige Einsichten formuliert. Mit der Rede vom „situierten Wissen“ markiert sie ein epistemologisches Alternativkonzept partialer, feministischer Objektivität, das gezielt die Situationsgebundenheit aller Wissensproduktion herausstellt, das die etablierte methodische Strategie einer allumfassenden, perspektivfreien Erkenntnisgewinnung als unlauteren ‚göttlichen Trick‘ entlarvt, das Objekte des Wissens bewusst auch als Agenten begreift und überdies Verantwortung für die eigenen Sprach-, Präsentations- und Wissensformen einfordert. Haraways Aufsatz und seine breite Rezeption dokumentieren, dass femi- 1 Dt. Übersetzung: Donna J. Haraway, Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive, in: Dies. (Hg.), Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs, Frauen, Frankfurt a. M. 1995, 73-97. Zeitschrift für Neues Testament 25. Jahrgang (2022) Heft 49 DOI 10.24053/ ZNT-2022-0005 80 Christian Strecker nistische Forschung sich von jeher kritisch gegen jenes androzentrisch geprägte Verständnis von Wissenschaft wendet, das die persönliche Rolle Forschender im Prozess der Wissensgenerierung ausblendet und deren Verstrickungen in Machtverhältnisse und Formen epistemischer Gewalt konsequent ignoriert. Dieser bedeutende wissenschaftstheoretische Diskurs der internationalen Frauen- und Geschlechterforschung, an dem sich neben Haraway viele weitere namhafte Theoretikerinnen beteiligten, bildet den Hintergrund, vor dem die beiden bewusst autobiographisch und persönlich geprägten Beiträge von Ute E. Eisen und Meltem Kulaçatan zu verstehen sind. Die Autorinnen führen keine Kontroverse untereinander, als feministisch forschende Wissenschaftlerinnen führen sie in Anbetracht einschlägiger Erfahrungen in der akademischen Welt vielmehr gemeinsam einen Schlagabtausch zur Kritik an androzentrischen und zudem einseitig westlich geprägten wissenschaftlichen Denkmustern und Gepflogenheiten. Bei den beiden Autorinnen der Kontroverse handelt es sich um zwei Wissenschaftlerinnen unterschiedlicher Fachdisziplinen und Generationen, die ihre feministischen Anliegen aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Laufbahn als Neutestamentlerin und unter Rekurs auf allgemeine Entwicklungen im wissenschaftlichen Geschlechterdiskurs führt Ute E. Eisen die Dynamik der feministischen exegetischen Forschung der letzten Jahrzehnte vor Augen. Sie geht auf frühe bahnbrechende exegetische Forschungen zur Frauengeschichte ein, stellt die Bedeutung der Studie In Memory of Her von Elisabeth Schüssler Fiorenza und ihres Konzeptes des Kyriarchats heraus, sie erläutert die Vertiefung der feministischen Forschung durch das Konzept kritischer Intersektionalität, reflektiert auf Einsichten der feministischen Selbstkritik, geht Fragen der gendergerechten Sprache in Übersetzungen und in Gottesprädikaten nach, weist auf Forschungen zur Hinterfragung des natürlichen biologischen Geschlechts und beklagt schließlich die Nonchalance mit der sie viele Einsichten der feministischen Forschung im wissenschaftlich Mainstream übergangen sieht, um am Ende zu fordern, dass die nach wie vor aktuellen Anliegen des Feminismus auch in der exegetischen Wissenschaft ausgeprägter aufgenommen werden müssten. Die eine Generation jüngere Religionspädagogin, Erziehungs- und Politikwissenschaftlerin Meltem Kulaçatan forscht empirisch zu Gegenwartsfragen im Kontext des Islam. Dementsprechend bietet sie einen noch deutlicher intersektional ausgerichteten Zugriff auf das Thema feministischer Forschung. Sie schildert die vielen Herausforderungen, vor die sie sich als Tochter der Generation sog. Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter zunächst in ihrer Schullaufbahn und dann auch an der Universität gestellt sah, sie berichtet von dem für sie verstörend unkritischen Umgang mit den Thesen Samuel Huntingtons in DOI 10.24053/ ZNT-2022-0005 Feministische Diskurse zu Theologie, Religion und Politik im Gespräch 81 einem politikwissenschaftlichen Proseminar, sie legt die Dilemmata dar, in die sie in einem Workshop für eine Gruppe junger jüdischer Frauen zu Menschenbildern im Judentum und Islam bei der Genderfrage geriet, sie benennt Chancen der auf feministischen Theorien fußenden intersektionalen Analyse, weist auf den Fortschritt, dass die Themen Gender Sexualität und Islam inzwischen zu einem festen Bestandteil der Wissensproduktion geworden sind und plädiert schließlich dafür, die religionsübergreifenden Synergien unter feministischen Forscherinnen weiter zu stärken, ein Anliegen, das in dieser Kontroverse ein Stück weit eingelöst wird. DOI 10.24053/ ZNT-2022-0005
