eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 25/50

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2022-0010
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2022
2550 Dronsch Strecker Vogel

Luther und der Jakobusbrief

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2022
Karl-Wilhelm Niebuhr
znt25500027
1 Der Beitrag geht zurück auf einen in englischer Sprache auf dem SBL International Meeting 2017 in Berlin gehaltenen Vortrag. 2 Vgl. dazu Volker Leppin, Martin Luther, Darmstadt 2006, 117-126; Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation, Frankfurt a. M.-/ -Leipzig 2009, 182f. 3 Нацыянальная Бібліятэка Беларусі / Раман С. Матульски, Книжная спадчина Францыска Скарины, Мінск 2013 [Nacional‘naja biblioteka Belarusi-/ -Raman-S.-Ma‐ tul’ski, Knižnaja spadčyna Francyska Skaryny, Minsk 2013 ff.]. 4 Zu Skaryna und der Druckgeschichte seiner Prager Bibeledition vgl. Илья Лемешкин, Портрет Франциска Скорины. К 550-летию со дня рождения книгоиздателя (1470-2020) [Ilja Lemeškin, Portret Franciska Skoriny. K 550-letiju so dnja roždenija knigoisdatelja (1470-2020)], Travaux du Cercle linguistique de Prague nouvelle série 10, Vilnius / Prague 2020 (russ.), sowie den Sammelband von Аляксандр І. Груша, Францыск Скарына: асоба, дзейнасць, спадчына, Мінск 2017 [Aljaksandr I. Gruscha (Hg.), Francysk Skaryna. Asoba, Dzejnasts, Spadchyna, Minsk 2017] (belaruss.). Zum Thema Luther und der Jakobusbrief Zur Diskussion um die „stroherne Epistel“ im frühen 16.-Jahrhundert Karl-Wilhelm Niebuhr 1 Vorbemerkungen - 1.1 Die Skaryna-Bibel (1517-1525) - eine östliche Perspektive Im Jahr 1517 1 nahm nicht nur in Wittenberg mit dem Thesenanschlag Martin Lu‐ thers, ob historisch oder fiktional, 2 die Reformation ihren Anfang. In demselben Jahr erschienen auch in Prag die ersten Bände der sogenannten Skaryna-Bibel, der ersten volkssprachlichen Bibelausgabe für orthodoxe Christen im ostslavi‐ schen Sprachraum. Skaryna war damit Luther um fünf Jahre voraus, der sein „Septembertestament“ erst 1522 herausbrachte. Ein Reprint der Skaryna-Bibel wird z. Z. von der Belarussischen Nationalbibliothek Minsk herausgegeben. 3 Francysk / Franzischak / František Skaryna (1486-1552) 4 war ein Buchdrucker 5 Vgl. zu seiner Biographie Hieorhij Halenčanka, Francysk Skaryna. Life, Activity, Heritage, in: Nacional‘naja biblioteka Belarusi / Matul’ski, Knižnaja spadčyna (s. Anm. 3), Bd.-1, 27-35. 6 Als ruthenisch bezeichnet man die ostslawische Sprache, die vom 14. bis ins 18. Jahr‐ hundert im Großfürstentum Litauen bzw. in Polen-Litauen verwendet wurde. Sie kann als Vorläuferin der gegenwärtigen belarussischen und ukrainischen Sprache angesehen werden. 7 Eine genaue Aufstellung der Kolophone der Erstdrucke in Prag (nur alttestament‐ liche Schriften) gibt Илья Лемешкин, Библия Пражская (1488) и Бивлия Руска Францыска Скoрины. Mестo печатания [Ilja Lemeškin, Biblija Praszhskaja i Biblija Ruska Francyska Skoriny. Mesto pečatanija], in: Gruscha, Francysk Skaryna (s. Anm. 4), 154-194. 8 Der in Anm.-3 angeführte Reprint bietet ausführliche wissenschaftliche Einführungen zu jedem biblischen Buch sowie den Text der Vorreden Skarynas in weißrussischer, russischer und englischer Sprache. Ich danke sehr herzlich dem Stellvertretenden Direktor der Belarussischen Nationalbibliothek Minsk, Herrn Dr. Aliaksandr Suša, für die freundliche Übermittlung wesentlicher Passagen der Einführungen und Herrn Dr. Svjastoslav Rogalsky, Dozent für Neues Testament am Institut für Theologie der Staatlichen Universität Minsk, für die Vermittlung des Kontakts zur Belarussischen Nationalbibliothek. 9 Apostol. Biblija ruska. Wilna 1525. Facsimile und Kommentar. Übersetzt von Franciscus Skorina. Herausgegeben von Hans Rothe und Friedrich Scholz unter Mitarbeit von Christian Hannick und Ludger Udolph, Biblia Slavica. Nachdrucke ältester Ausgaben aus Polazk / Polozk, einer Stadt im heutigen Belarus, die seinerzeit zum Großher‐ zogtum Litauen gehörte. 5 Nach seinem Studium in Krakau (1504) promovierte er in Padua zum Doktor der Medizin (1512) und siedelte später nach Prag über, wo er in den Jahren 1517 bis 1520 insgesamt 20 Bücher des Alten Testaments in einer ostslawischen Volkssprache publizierte, dem sogenannten Ruthenischen. 6 In den Folgejahren kehrte Skaryna nach Wilna / Vilnius zurück, wo er seine eigene Druckerei gründete und weitere Lieferungen seiner Bibel herausbrachte. Seine späteren Lebensjahre bis zum Tod 1551/ 52 verlebte er dann wieder in Prag, wo er auch begraben liegt. In den wenigen Jahren zwischen 1517 und 1525 hatte Skaryna eine große Anzahl 7 von Lieferungen seiner „vollständigen Ruthenischen Bibel“ herausgebracht, gedruckt in kyrillischen Lettern und versehen mit kurzen Einleitungen des Übersetzers und Herausgebers in die Gesamtausgabe wie in die einzelnen biblischen Bücher. 8 Ob tatsächlich am Ende alle biblischen Bücher des Alten und Neuen Testaments in der Skaryna-Bibel gedruckt vorlagen, ist nicht ganz klar. In Vilnius brachte er jedenfalls im Jahr 1525 auch einen „Apostol“ heraus, ein Lektionar für die Epistellesungen in der Göttlichen Liturgie. Auch davon gibt es ein modernes Faksimile mit Kommentar. 9 Eine wahrhaft europäische Vita und eine herausragende Leistung eines Gelehrten und Unternehmers in der frühen Neuzeit! Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 28 Karl-Wilhelm Niebuhr slawischer und baltischer Bibelübersetzungen, Serie III: Ostslawische Bibeln, Bd. 1, Paderborn 2002. 10 Die Hinweise zur Textgrundlage der Skaryna-Bibel verdanke ich Dr. Aleksandr Sizikov (Institut für Biblistik an der Philologischen Fakultät der Staatlichen Universität St. Petersburg), der mich dankenswerter Weise auch auf neuere Spezialliteratur in rus‐ sischer Sprache hingewiesen hat: А. І. Груша, Скoрина Франциск, Православна енциклопедија 64, Москва 2021, 273-277 [A. I. Gruscha, Skaryna Francysk, Orthodoxe Enzyklopädie, Orthodoxe Enzyklopädie 64, Moskau 2021]; А. І. Грищенко, Песнь песней в переводе Франциска Скорины: неожиданные текстуальные параллели, in: Л.А. Авгуль/ Н.В. Вдовина (Сост.) Берковские чтения - 2021. Книжная культура в контексте международных контактов. Материалы VI Международной научной конференции (Гродно, 26-27 мая 2021 г.), Минск/ Москва 2021, 94-98 [A. I. Grisch‐ chenko, Das Hohelied in der Übersetzung von Francysk Skaryna: Einige unerwartete Textparallelen, in: L. A. Avgul/ A. A.]; N. V. Vdovina (Hg.), Berkovski-Vorlesungen. Buchkultur im Kontext internationaler Kontakte. Materialien VI: Internationale wis‐ senschaftliche Konferenz (Grodno, 26.-27. Mai 2021), Minsk/ Moskau 2021]; A. A. Кожинова, Следы вульгаты в переводе Библии Франциска Скорины, in: О. В. Лапунова (отв. ред.) и др., Романия: языковое и культурное наследие - 2019. Материалы I Международной научно-практической конференции, Минск, 16 мая 2019 г., Минск 2019, 3-6 [A. A. Kozhinova, Spuren der Vulgata in der Bibel‐ übersetzung Francysk Skarinas, in: O. V. Lapunova (verantw. Hg.) u. a., Romania. Sprachliches und kulturelles Erbe - 2019. Materialien der I. Internationalen wissen‐ schaftlich-praktischen Konferenz, Minsk, 16. Mai 2019, Minsk 2019]. - Die Angaben bei Hans Rost, Die Bibel im Mittelalter. Beiträge zur Geschichte und Bibliographie der Bibel, Augsburg 1939, 378 (dort auch Nachweise zu Bibliotheksbeständen) müssen entsprechend aktualisiert werden. Auch Thomas Kaufmann, Bibeltheologie: Vorrefor‐ matorische Laienbibel und reformatorisches Evangelium, in: ders., Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung (SMHR 67), Tübingen 2 2018, 68-101: 71, stützt sich in seiner Aufzählung von volkssprachlichen Bibeldrucken im frühen 16. Jh. offenbar noch auf die überholten Angaben bei Rost. Textgrundlage für Skarynas Bibelausgabe war eine tschechische Bibel, die erste gedruckte slavische Bibelübersetzung überhaupt, und zwar wahrschein‐ lich deren als „Prager Bibel“ bezeichnete vierte Revision von 1488. Skarynas Text ist aber offenbar auch von der kirchenslavischen Manuskriptüberlieferung beeinflusst. Ob er direkt auf die Vulgata zurückgriff, die der tschechischen Bibel zugrunde liegt, ist unklar. 10 Skaryna selbst zeichnet jedenfalls nicht bloß für die Erstellung dieser ‚Übersetzung‘ des kirchenslavischen Bibeltextes in (besser: Anpassung an) die zu seiner Zeit im Großfürstentun Litauen gesprochene Variante des Ruthenischen verantwortlich, sondern auch für die Einleitungen zur Bibelausgabe und zu den einzelnen biblischen Schriften. In seiner Vorrede zur ganzen Bibel bringt er seine Überzeugung zum Ausdruck, dass die Bibel nicht bloß auf den Schreibtischen von Gelehrten und Priestern liegen sollte, sondern Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 Luther und der Jakobusbrief 29 11 Introduction to the complete Ruthenian Bible by Doctor Francysk Skaryna from Polack, in: Nacional‘naja biblioteka Belarusi / Matul’ski, Knižnaja spadčyna (s. Anm. 3), Bd. 1, 69-73 (Zitate: 69 f.). auch von einfachen Leuten gelesen und verstanden werden will. In Anknüpfung an Offb 5,1 erklärt er dort: Indeed, for those who understand it, this book is written inside, spiritually, about the greatest celestial mysteries …. It is also written on the back that not only doctors and scientists are able to understand it, but each common and ordinary man, reading or listening to it, will see how to find salvation. Nachdem er die Bibel als Lehrbuch für alle Wissenschaften und Künste emp‐ fohlen hat (jeweils mit Hinweisen auf die dafür besonders geeigneten Bücher), stellt er abschließend fest: Knowing about the futility of all sciences, we, Christians, first of all need salvation. So let’s read the New Testament and in all our deeds take after our Saviour Jesus Christ. And with His help we shall achieve eternal life and the Kingdom of Heaven prepared by the man of God. 11 Wenn wir heute danach fragen, wie Luther im frühen 16. Jahrhundert mit der Bibel, speziell mit dem Jakobusbrief, umgegangen ist und welche Kategorien der theologischen Bewertung und Gewichtung er dabei anwandte, sollten wir im Blick haben, dass es in der frühen Neuzeit verbreitete lebendige Diskus‐ sionen zur Überlieferung, Lektüre und Interpretation der Bibel gab. Sie waren keineswegs auf das ‚westliche‘ Christentum eingegrenzt, sondern wurden auch in anderen europäischen Regionen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit geführt, die leider bis heute selten im Blickwinkel westlicher Bibelwis‐ senschaftler stehen. Es waren nicht nur die Reformation, Luther und Erasmus, die Anstöße zu einem reflektierten Umgang mit der Bibel gaben, und solche Impulse blieben auch nicht auf den zentraleuropäischen, deutschsprachigen Raum beschränkt, das sogenannte ‚Kernland der Reformation‘. Mindestens ebenso stark sind Anstöße und Neuorientierungen durch den ‚Renaissance-Hu‐ manismus‘ zu werten mit seinem Ruf: „Zurück zu den Quellen! “, die auch im östlich-orthodoxen Christentum der Zeit spürbar Wirkung zeigten. - 1.2 Luther und die „stroherne Epistel“ - stimmt das klassische Bild? Auch um den ‚kanonischen‘ bzw. ‚apostolischen‘ Status verschiedener Bestand‐ teile der biblischen Überlieferung wurde im frühen 16. Jahrhundert kräftig gestritten, und zwar nicht erst seit und wegen Luther. Zu erheblichen Teilen bezogen sich die Autoren dafür auf einschlägige Aussagen der Kirchenväter Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 30 Karl-Wilhelm Niebuhr 12 Sie sind heute leicht zugänglich in der Vulgata-Edition von Robert Weber / Roger Gryson (Hg.), Biblia Sacra. Iuxta Vulgatam Versionem. Editio Quinta, Stuttgart 2007. Zu Hieronymus als Bibelübersetzer und Exeget vgl. Alfons Fürst, Hieronymus. Askese und Wissenschaft in der Spätantike, Freiburg 2003, 80-114 (einige der Vorreden zur Vulgata werden auszugsweise im Anhang, a.-a.-O., 257-277, in deutscher Übersetzung geboten); zu mittelalterlichen Bibelvorreden vgl. Maurice E. Schild, Abendländische Bibelvorreden bis zur Lutherbibel, Gütersloh 1970. 13 Vgl. Karlfried Froehlich, Art. Glossa ordinaria, in: RGG 4 3 (2000), 1012. Die Glossa ordinaria ist heute online zugänglich über https: / / lollardsociety.org/ ? page_id=409 (letzter Zugriff am 27.08.2022). 14 Die Vorrede zum Jakobusbrief, deren modern-russische und englische Übersetzung mir freundlicherweise Herr Dr. Aliaksandr Suša schon vor Erscheinen des betreffenden Bandes der Faksimileausgabe zur Verfügung gestellt hat, beginnt mit einem kurzen Hinweis auf Jakobus, den Apostel Jesu Christi und Bischof von Jerusalem, und bietet dann eine knappe Inhaltsübersicht, wobei als einziger Satz Jak 2,26 wörtlich zitiert wird. Die Vorreden Skarynas mit anderen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bibelvorreden oder denen des Hieronymus in der Vulgata systematisch zu vergleichen, ist ein lohnendes Projekt. 15 Einen kurzen Überblick dazu gibt Dale C. Allison Jr., A Critical and Exegetical Com‐ mentary on the Epistle of James (ICC), Edinburgh 2013, 101-104. 16 Zu Luthers Bibelvorreden insgesamt vgl. Jörg Armbruster, Luthers Bibelvorreden. Stu‐ dien zu ihrer Theologie (AGWB 5), Stuttgart 2005, zur Vorrede zum Jakobusbrief speziell vgl. Gilberto da Silva, Luther und Jakobus - Beobachtungen zu einer spannenden Beziehung, in: LuThK 40 (2016), 25-45, 35-42. 17 Vorrede auf das Neue Testament 1546 (1522), WA DB-6, 10, 33f. der Spätantike. Zugang dazu boten für Leser im westlichen Christentum des 16. Jh. vorwiegend die auf Hieronymus zurückgehenden Vorreden in den Vulgata-Handschriften 12 und die Glossa Ordinaria, die spätmittelalterliche Stan‐ dardsammlung altkirchlicher Bibelauslegungen. 13 Wie das Beispiel Skaryna zeigt, blieben Bemühungen um den Text der Bibel und seine Auslegung im frühen 16. Jh. nicht ohne Auswirkung auf das östliche, in diesem Fall ostslavische Christentum. 14 Luthers z. T. abfällige Äußerungen über den Jakobusbrief sind bekannt. 15 Am prominentesten sind die kritischen Urteile in den Vorreden zum Septembertes‐ tament von 1522. 16 In einem Appendix zu seiner Vorrede zum Neuen Testament unter dem Titel „wilchs die rechten und Edlisten bucher des newen testaments sind“ erklärt Luther: Darumb ist sanct Jacobs Epistel eyn rechte stroern Epistel gegen sie (sc. im Vergleich zum Johannesevangelium, den Paulusbriefen und dem 1. Petrusbrief - KWN), denn sie doch keyn Euangelisch art an yhr hat. 17 Weniger bekannt ist freilich die Tatsache, dass dieser Appendix in Luthers vollständige deutsche Bibelausgabe von 1534 nicht übernommen wurde und Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 Luther und der Jakobusbrief 31 18 Notiert auch von da Silva, Luther und Jakobus (s. Anm. 16), 29; Armbruster, Luthers Bi‐ belvorreden (s. Anm. 16), 137 (vgl. zu den kritischen Urteilen Luthers zum Jakobusbrief insgesamt a. a. O., 140-149). Zu den Kriterien und Vorlieben Luthers bei der Beurteilung der Autorität neutestamentlicher Schriften und zu den verschiedenen Fassungen der Vorreden vgl. Karl-Wilhelm Niebuhr, Gerechtigkeit und Rechtfertigung bei Matthäus und Jakobus. Eine Herausforderung für gegenwärtige lutherische Hermeneutik in globalen Kontexten, in: ThLZ-140 (2015), 1329-1348, 1332-1335. 19 Theologische Interpretationen und Bewertungen der Haltung Luthers zum Jakobusbrief nehmen vor Inge Lønning, „Kanon im Kanon“. Zum dogmatischen Grundlagenproblem des neutestamentlichen Kanons (FGLP X/ 43), Oslo / München 1972, 99-105; da Silva, Luther und Jakobus (s. Anm. 16). 20 Für eine umfassende Untersuchung der Beurteilung des Jakobusbriefes bei Luther und im Luthertum des gesamten 16. Jh. ist jetzt grundlegend Jason D. Lane, Luther’s Epistle of Straw. The Voice of St. James in Reformation Preaching (Historia Hermeneutica. Series Studia 16), Berlin / Boston 2018 (dort 1-4 auch eine Zusammenstellung der wichtigsten Äußerungen Luthers zum Jakobusbrief); vgl. meine Rezension in ThLZ 147 (2022), 86-88. Besonders erhellend ist seine Analyse von zwei Kommentaren des Lutherschülers und Reformators in Brandenburg-Ansbach, Andreas Althamer (a. a. O., 28-53). Althamer (1500-1539) hatte in seinem ersten Kommentar von 1527 Luthers kritische Urteile über den Brief weitegehend übernommen, während Luther seinerseits sich durch den zweiten Kommentar Althamers von 1533, der den Brief deutlich positiver und mit pastoraler Intention kommentierte, zur Revision einzelner Jakobus-Stellen in der Ausgabe seiner deutschen Bibel von 1534 bewegen ließ. 21 Lediglich verwiesen sei auf die differenzierte Interpretation der Wendung „stroherne Epistel“ bei Lane, Luther’s Epistle of Straw (s. Anm. 20), 15-21, wonach der Ausdruck auf 1 Kor 3,10-17 anspielt; vgl. auch Jason D. Lane, Luther’s Criticism of James as a Key to his Biblical Hermeneutic, in: Christine Christ-von Wedel / Sven Grosse (Hg.), Auslegung und Hermeneutik der Bibel in der Reformationszeit (Historia Hermeneutica. Series Studia-14), Berlin-/ -Boston 2017, 111-124, 118-122. 22 Vgl. dazu Jennifer Powell McNutt, James, „The Book of Straw“ in Reformation Biblical Exegesis. A Comparison of Luther & the Radicals, in: Benjamin E. Reynolds / Brian auch in allen späteren Drucken des Neuen Testaments zu Luthers Lebzeiten fehlt. 18 Natürlich gibt es noch andere theologische Argumente in den Vorreden zur Bibel und weiteren Luther-Schriften aus der Zeit der Bibelübersetzung, die Luthers kritisches Urteil zum Jakobusbrief begründen und unterstreichen. 19 Auf der anderen Seite wird aber meist übersehen, dass Luther buchstäblich zur gleichen Zeit auch sehr positive Urteile über den Jakobusbrief treffen konnte, um z. B. sein Verständnis von Glaube und Werken biblisch zu untermauern, und dass darüber hinaus der Jakobusbrief im Luthertum des 16. Jh. insgesamt zunehmend positiv bewertet und als wesentlicher Teil des biblischen Zeugnisses angesehen wurde. 20 Ich übergehe im Folgenden die bekannten kritischen Urteile aus Luthers Bibelvorreden 21 und konzentriere mich stattdessen auf die weniger bekannten Aussagen zum Brief und zu dessen Autor in den theologischen Schriften und Predigten Luthers zum Jakobusbrief. 22 Sie finden sich verstreut Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 32 Karl-Wilhelm Niebuhr Lugioyo / Kevin J. Vanhoozer (Hg.), Reconsidering the Relationship between Biblical and Systematic Theology in the New Testament (WUNT II/ 369), Tübingen 2014, 157- 176, die besonders auf die überaus zahlreichen Zitate aus dem Jakobusbrief in Luthers Werken verweist. 23 Zum mittelalterlichen Kontext der reformatorischen Schriftauslegung vgl. Stephen J. Chester, Reading Paul with the Reformers. Reconciling Old and New Perspectives, Grand Rapids 2017, 63-103. 24 Zur Rezeptionsgeschichte des Jakobusbriefes im westlichen Christentum der Antike und des Mittelalters vgl. Luke T. Johnson, How James Won the West. A Chapter in the History of Canonization, in ders., Brother of Jesus, Friend of God. Studies in the Letter of James, Grand Rapids-/ -Cambridge 2004, 84-100. 25 WA 2, 391-435; vgl. dazu Leppin, Martin Luther (s. Anm. 2), 144-151; Bernd Moeller, Luther und das Papsttum, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 2 2010, 106-115, 111f. über die ganze Dauer von Luthers Wirken, vom Beginn des zweiten Jahrzehnts bis in die späten dreißiger Jahre des 16. Jh. Erst im letzten Abschnitt komme ich dann noch einmal zusammenfassend auf die theologischen Begründungen für Luthers Urteile über den Jakobusbrief aus den Vorreden zurück. Wer nach der Stellung des Jakobusbriefes im Bibelkanon im frühen 16. Jahr‐ hundert fragt, betritt also ein ‚Sturmzentrum‘ theologischer und historischer Debatten, das sich nicht auf das westliche europäische Christentum begrenzen lässt, 23 sondern ebenso das östliche, nicht weniger europäische Christentum, wie es durch die Skaryna-Bibel repräsentiert wird, betrifft. 24 Im Folgenden illustriere ich diese Debatte, indem ich zunächst solche Aussagen näher betrachte, die dem üblichen Bild von Luthers Ablehnung des Jakobusbriefes nur teilweise entsprechen (2.). Im folgenden Teil werde ich weitere zeitgenössische Stimmen zum Jakobusbrief heranziehen und mich dabei auf Karlstadt, Erasmus and Bullinger konzentrieren (3.). Schließlich werde ich im letzten Teil die Frage nach dem Kanon als historischem, hermeneutischem und theologischem Problem noch einmal aufgreifen (4.). 2 Luthers Beurteilung des Jakobusbriefes in theologischen Schriften und Predigten - 2.1 Verweise auf den Jakobusbrief in Schriften der frühen reformatorischen Periode In den Resolutiones Lutherianae super propositionibus suis Lipsiae disputatis, einer Verteidigung seiner Thesen zur Disputation mit Johannes Eck in Leipzig 1519, 25 verbindet Luther einen kritischen Kommentar zur Autorität des Jakobusbriefes mit einer positiven Aussage über das rechte Verständnis des Glaubens. Bezug nehmend auf jene, die für diese Debatte Jak 2,17.26 heranziehen („Glaube ohne Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 Luther und der Jakobusbrief 33 26 WA 2, 425,10-13: Quod autem Iacobi Apostoli epistola inducitur ‚Fides sine operibus mortua est‘, primun stilus epistulae illius longe est infa Apostolicam maiestatem nec cum Paulino ullo modo comparandus, deinde de fide viva loquitur Paulus. Nam fides mortua non est fides, sed opinio. In seinem Kommentar zum Galaterbrief (1531/ 32) hat Luther in Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Theologen in ähnlicher Argumentation auch Jak 2,19 für sein Verständnis eines lebendigen Glaubens herangezogen; vgl. dazu Chester, Reading Paul with the Reformers (s. Anm. 23), 181 f. 197-201, unter Berücksichtigung der mittelalterlichen Diskussionen zum Problem der fides caritate formata. 27 WA-2, 425,13-16. 28 Martin Luther, Deutsch-Deutsche Studienausgabe [DDS], Bd. 1: Glaube und Leben, hg. v. Dietrich Korsch, Leipzig 2012, 512. 29 WA 6, 84-98. Bei Martin Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe [LDS], Bd. 2: Christusglaube und Rechtfertigung, hg. u. eingel. v. Johannes Schilling, Leipzig 2006, 91-95, sind nur die propositiones, nicht die resolutiones aufgenommen. Zum Kontext und zur Überlieferung vgl. Johannes Schilling, Einleitung, a. a. O., IX-XXXIX, hier XVIf., sowie Martin Brecht, Andreas Bodenstein von Karlstadt, Martin Luther und der Kanon der Heiligen Schrift, in: Ulrich Bubenheimer / Stefan Oehmig (Hg.), Querdenker der Reformation. Andreas Bodenstein von Karlstadt und seine frühe Wirkung, Würzburg 2001, 135-150, 141f. Werke ist tot.“), stellt Luther fest, dass der Stil (stilus) des Briefes im Vergleich mit den Aposteln von weit geringerer Autorität sei (longe infra Apostolicam maiestatem), und mit den Paulusbriefen gar nicht vergleichbar, erklärt dann aber sogleich, dass auch Paulus über den lebendigen Glauben spricht (de fide viva), denn „toter Glaube ist gar kein Glaube, sondern bloße Meinung“ (opinio). 26 Anschließend polemisiert Luther gegen Theologen, die diesen einen biblischen Satz aus dem Zusammenhang reißen und ihn gegen die ganze übrige Schrift stellen, die doch Glauben ohne Werke lehre. 27 In einem ähnlichen Argumentationsgang im Sermon vom unrechten Mammon (1522) zitiert Luther Jak 2,17, um sein Verständnis des rechten Glaubens zu belegen, diesmal ohne jeden kritischen Ton: Das meynet S. Iacobus yn seyner Epistel / da er spricht. Der glawb on werck ist todt. Das ist / weyll die werck nicht folgen / ists eyn gewisz tzeychen / das keyn glaub da sey / szondern eyn todter gedancke vnd trawm / den sie falschlich glawben nennen. 28 An den Propositiones und den Resolutiones disputationis de fide infusa et acquisita (1520), kann man sehen, dass Luther auch im Jakobusbrief selbst das rechte Verständnis des Glaubens bezeugt finden konnte. Der Text geht auf eine Wittenberger Promotionsdisputation zum Problem der fides infusa zurück, die am 3. Februar 1520 abgehalten wurde. 29 In einer seiner Thesen zitiert Luther zustimmend Jak 2,26: „Der Glaube ohne Werke ist tot“, und fügt erklärend hinzu: Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 34 Karl-Wilhelm Niebuhr 30 Nach WA-6, 84-98 ist es These 15, nach der Quelle der LDS dagegen These 14. 31 WA-6, 95 (eigene Übersetzung). 32 WA-6, 95 f. Auch in der Disputation De Iustificatione (1536), die über unseren Untersu‐ chungszeitraum hinausführt, geht Luther auf Jak 2,17.26 ein, um einen Widerspruch zwischen Paulus und Jakobus zu bestreiten (WA 39/ I, 78-126: 106; vgl. dazu Lane, Luther’s Epistle of Straw [s. Anm. 20], 19 f.; ders., Luther’s Criticism of James [s. Anm. 21], 123 f.). 33 Vgl. zum historischen Kontext Kaufmann, Geschichte der Reformation (s. Anm. 2), 163-170, sowie Wilfried Härle, Einleitung, in: Martin Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1: Der Mensch vor Gott, hg. v. Wilfried Härle, Leipzig 2006, XI-XLII, XIX-XXII. 34 Zur Bedeutung von Jak 1,18 für Luther vgl. Powell McNutt, James, „The Book of Straw“ (s. Anm. 22), 161-168, sowie ausführlich Johann Haar, Initium creaturae Dei. Eine „ja, er ist gar nicht Glaube“. 30 In seiner resolutio zu dieser These erklärt er dann weiter: Daher muss man, was Jakobus über diesen toten Glauben sagt, von der fides acquisita verstehen, die heuchlerisch und eine Art von fides infusa ohne Tugend ist. Denn die fides infusa ist ein lebendiger Geist (spiritus vivens), was nichts bedeutet, wenn nicht Hoffnung und Liebe zugleich mit ihr einhergehen. Jakobus will also nicht sagen, dass die fides infusa auch ohne Tugend existieren könnte, wie jene meinen, sondern er wollte (zum Ausdruck bringen), dass die Rechtfertigung erwiesen wird durch den Beweis des Glaubens aus den Werken des Gerechtfertigten (fidei probationem ex operibus iustificari), nicht weil der Mensch vor Gott aus Werken gerechtfertigt wird, sondern weil der Glaube, durch den der Mensch bei Gott gerechtfertigt wird, am Zeugnis der Werke erkannt wird.“ 31 In seiner anschließenden Argumentation verweist Luther auf den offenkun‐ digen Widerspruch zwischen Jak 2,24 und Röm 4 (quia expresse contradicit Rom. 4), erklärt diese Differenz aber sogleich mit dem Argument, Jakobus spreche von Werken des Glaubens (de operibus fidei), die den Glauben beweisen und aufzeigen sollen (fides probetur et ostendatur), was sich aus dem Wortlaut des Briefes selbst ergebe, wonach der Glaube sich durch gute Werke gegenüber bedürftigen Brüdern und Schwestern erweisen müsse (vgl. Jak-2,15-17). 32 In seiner Assertio omnium articulorum von 1520 ebenso wie in der Schrift „Grund und Ursach aller Artikel“ aus demselben Jahr (die allerdings keine Übersetzung des lateinischen Traktats ist, sondern eine eigenständige deutsche Version von Luthers Verteidigung gegen die päpstliche Bannandrohungsbulle), 33 bezieht sich Luther mehrmals auf den Jakobusbrief, und zwar ohne jegliche negative Qualifikation von dessen Autorität. Von besonderer Bedeutung für seine Argumentation ist dabei Jak 1,18: „Er hat uns geboren durch das Wort der Wahrheit, so dass wir würden eine Art Erstlingsfrüchte seiner Schöpfung.“ 34 Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 Luther und der Jakobusbrief 35 Untersuchung über Luthers Begriff der „neuen Creatur“ im Zusammenhang mit seinem Verständnis von Jakobus-1,18 und mit seinem „Zeit“-Denken, Gütersloh 1939. 35 LDS 1, 112 f. Auch in De Fide, einer Thesenreihe, die zu den Disputationsthesen über Röm 3,28 aus den Jahren 1535-1537 gehört (vgl. dazu Johannes Schilling, Einleitung, LDS 2, XXII-XXIV), verwendet Luther die Wendung initium creaturae Dei, die auf Jak-1,18 zurückweist (De Fide-68, LDS-2, 410). 36 WA 7, 309-457; hier zitiert nach: Otto Clemen (Hg.), Luthers Werke in Auswahl, Berlin 1950, Bd. 2, 74 f. (= WA 7, 337 f.): „Darumb sanct Jacob spricht Jaco. 1 Got hat unß geporen durch sein wort / auß lautter gnedigem willen on unßer vordienst / auff das wyr eyn anfang seyen seynes wercks odder creaturn / alß solt er sagen / wyr seyn eyn angefangen werck gottis / aber noch nit volnbracht / die weil wyr hie auff erden / yn de glawben seins worts lebenn.“ 37 Vgl. Sermon von den guten Werken, DDS 1, 164-167 (im weiteren Zusammenhang auch ein Zitat von Jak 5,16, a. a. O., 178-181); De captivitate Babylonica, LDS 3, 240 f. (auch dort ein Verweis auf Jak-5,16); LDS-3, 366 f. (auch dort ein Verweis auf Jak-5,15). Schon im zweiten Artikel der Assertio spielt Luther offenbar auf diesen Satz aus dem Jakobusbrief an, in Kombination mit Titus 3,5 („Er hat uns errettet nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hätten, sondern nach seiner Barmherzigkeit durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist.“), und zwar als biblischer Belegtext für sein Verständnis von Gnade und Barmherzigkeit Gottes: Denn eben dies ist die Gnade des Neuen Testaments und die Barmherzigkeit Gottes, dass, weil wir durch das Wort der Wahrheit geboren und durch die Taufe wiederge‐ boren sind (geniti sumus verbo veritatis et renati baptismate, ut simus initium aliquod creaturae eius), damit wir ein Anfang seiner [neuen] Kreatur seien, inzwischen die Gunst Gottes uns aufnimmt und uns erträgt, indem sie nicht zum Tode anrechnet, was an Sünde in uns übrig ist, wiewohl es wahrhaftig Sünde ist und angerechnet werden könnte, bis wir vollkommen zur neuen Kreatur gebildet werden. 35 Gott nimmt demnach die Glaubenden an und trägt sie, indem er ihre Sünden nicht anrechnet, die noch in ihnen sind. Im Rahmen einer ähnlichen Argumen‐ tation in „Grund und Ursach aller Artikel“ zitiert Luther Jak 1,18 als Beleg für den Glauben, der in den Gläubigen noch nicht vollkommen sei, weil noch Sünde in ihnen ist. 36 Gleichwohl werden sie nach dem Tod vollkommen sein durch Gottes vollkommenes Werk, dann nämlich ohne jegliche Sünde oder Schwachheit. Ein weiteres beliebtes Zitat Luthers aus dem Jakobusbrief ist Jak 1,6: „Er bitte aber im Glauben und zweifle nicht“. Luther verwendet es mehrfach, oft im Zusammenhang mit einem Hinweis auf die Gebetsparänese Jak 5,13-18, um die rechte Art des Betens zu erläutern. 37 So versteht er in „Grund und Ursach aller Artikel“ die ganze Passage Jak 1,5-8 als Illustration für den Glauben, der die rechte Haltung beim Empfang der Sakramente bestimmt. 38 Noch mehrmals Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 36 Karl-Wilhelm Niebuhr 38 Clemen, Luthers Werke, Bd.-2, 66,1-16. 39 Vgl. Clemen, Luthers Werke, Bd.-2, 68,4; 69,12. 40 LDS-1, 144f. 41 LDS-1, 204f. 42 Sie sind erst in jüngster Zeit gründlich und systematisch ausgewertet worden durch Lane, Luther’s Epistle of Straw (s. Anm. 20), 54-89. 43 Nur eine von Luthers Jakobus-Predigten wurde in eine gedruckte ‚Postille‘ aufge‐ nommen, die über Jak 1,17-21 zum Sonntag Kantate, 14.5.1536 (WA 21, 351 f. = WA-41,578-590). 44 Vgl. dazu Herwarth von Schade, Perikopen. Gestalt und Wandel des gottesdienstlichen Bibelgebrauchs (RGD 11), Hamburg 1978, 73-83. Die Predigten Luthers zum Jakobus‐ brief sind leicht auffindbar über das „Register über sämtliche Predigten“ Luthers in WA 22, XLI-LXXXIX. Diese und weitere Hinweise zur Predigtpraxis Luthers verdanke ich Herrn PD-Dr.-Roland-M.-Lehmann. in diesem Traktat spielt Luther auf diese Stelle an als Beleg für einen Glauben ohne Zweifel. 39 Auch in der Assertio zitiert er den Vers neben 1 Kor 4,4, Röm 3,26 und 14,24, um auf die rechte Vorbereitung zum Empfang der Eucharistie zu verweisen. 40 An einer anderen Stelle zitiert er noch Jak 1,17 („der Vater des Lichts, bei dem keine Veränderung ist noch Wechsel von Licht und Finsternis“) als Argument in der Auseinandersetzung um die Willensfreiheit. Weil alle menschlichen Dinge (wie auch der freie Wille) durch Instabilität getäuscht werden, sollen die Gläubigen ihre Augen zu Gott erheben, „um die Dinge über den Dingen in Gott zu erkennen“ (ut res supra res in deo cognoscerent). 41 - 2.2 Predigten zum Jakobusbrief aus der späteren Wirkungszeit Luthers Eine weitere wichtige Quelle für Luthers Verständnis des Jakobusbriefes sind seine Predigten zu Perikopen aus diesem Brief. 42 Auf den ersten Blick scheint es auffällig, dass in dem riesigen Predigtwerk Luthers nur insgesamt fünf Predigten zu Texten aus dem Jakobusbrief überliefert sind. Alle fünf erhaltenen Predigten über Jakobus wurden zudem zu nur zwei Perikopen aus dem ersten Kapitel des Briefes gehalten ( Jak 1,17-21 und 1,22-27); sie stammen alle aus den Jahren 1535 bis 1539. 43 Allerdings ist dieser Befund auf den zweiten Blick weniger überraschend, denn Luther hielt sich bei der Auswahl seiner Predigttexte in der Regel an die traditionelle Perikopenordnung für die Sonn- und Wochentage. 44 Abschnitte aus den Katholischen Briefen kamen da insgesamt nur selten vor, und Jakobustexte waren auf die beiden aufeinander folgenden Sonntage Kantate und Rogate in der Osterzeit beschränkt. Wenn man Luthers Auslegungen der Jakobustexte in diesen Predigten näher untersucht, findet man an verschiedenen Stellen auch kritische Kommentare zum Briefautor, meist zu Beginn der Predigten. So bemerkt Luther in seiner Predigt zu Jak 1,17-21 vom 29. April 1537, 45 der Autor mag vielleicht ein Schüler Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 Luther und der Jakobusbrief 37 45 WA-45, 77-81. 46 WA 45, 77: „Es laut wol seltsam et apparet, quod non reim auff ein ander, das man wol spurt, quod auditor Apostolorum et cum eis conversatus et eorum verba audivit, quae locutus extra conciones, quae congessit, ut hic stehen, quia credibile, quod non solum praedicarunt in publico, sed domi.“ (Wiedergabe der Predigt in modernem Deutsch auch bei Hartmut Günther / Ernst Volk [Hg.], D. Martin Luthers Epistel-Auslegung [MLEpA], Bd. 5: Der erste Brief des Paulus an Timotheus. Der erste Brief des Paulus an Titus. Der erste Brief des Petrus. Der erste Brief des Johannes. Der Brief an die Hebräer. Der Brief des Jakobus, Göttingen 1983, 440-442). 47 WA-47, 742-748; MLEpA 442-446. 48 MLEpA 742; WA 47, 742: „Istam Epistolam scripsit Iacob sive Apostolus sive alius eo tempore, quo hadder angieng mit dem Euangelio, ubi Apostoli praedicabant verbum Christi de remissione peccatorum et gratia et quod nemo per opera et legem salvari.“ 49 MLEpA 449-456; WA-47, 748-756. 50 MLEpA 455; WA 47, 756: „Est Iacobiticum. Er wil schier decem praecepta auff dis ziehen. Sed condonemus ei. Non habuit spiritum Apostolicum. Ideo nec mirum, quod non habet idem acumen.“ der Apostel gewesen sein, der nicht deren öffentliche Lehrverkündigung, sondern nur ihre häusliche Lehre kennengelernt habe. 46 Deshalb sei sein Brief ohne rechte Ordnung und klares Ziel. In einer anderen Predigt über denselben Text vom 4. Mai 1539 47 fragt Luther hinsichtlich des Autors, „ob er nun ein Apostel war oder ein anderer“, fährt dann aber mit einer Beschreibung der ursprünglichen Abfassungssituation des Briefes fort, als der Hader anging mit dem Evangelium, wo die Apostel das Wort Christi von der Vergebung der Sünden und der Gnade verkündigten und daß niemand durch Werke und Gesetz selig wird. 48 In der Predigt über Jak 1,21-27 vom 11. Mai 1539 49 begegnet eine kritische Bemerkung zum Autor erst am Schluss mit Blick auf die Wendung „Gesetz der Freiheit“ ( Jak-1,25). Diese Formulierung sei, so erklärt Luther, ganz des Jakobus Ausdruck. Er will schier die zehn Gebote darauf ziehen. Aber wir wollen es ihm nachsehen. Er hat nicht den rechten apostolischen Geist gehabt. Darum ist es nicht verwunderlich, daß er nicht denselben scharfen Verstand hat. 50 Allerdings bleiben solche kritischen Bemerkungen meist ohne erkennbare Auswirkung auf Luthers Auslegung des Textes. Im Gegenteil, ohne jegliche Einschränkung kann Luther in den Predigten Argumente aus dem Jakobusbrief heranziehen, um sein eigenes, spezifisches Verständnis des Evangeliums darauf aufzubauen und zu entfalten. So interpretiert er in der einzigen gedruckten Predigt über Jak 1,17-21, die in die „Sommerpostille“ aufgenommen wurde, zunächst die parallelen Ausdrücke „gute Gabe“ und „vollkommenes Geschenk“ Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 38 Karl-Wilhelm Niebuhr 51 WA 41, 581: „Gute gaben wollen wir zum unterscheid deuten, die güter, so wir alhie inn dieser welt haben, Volkomene gaben, die wir zu warten haben im zukünfftigen leben.“ 52 WA 41, 587: „Aber Gott hat ein ander newe Creatur und geschepff, welche heisst daher also, das sie von im geschaffen ist und sein eigen werck, on alles menschlichs zuthun und vermögen“. 53 WA 41, 590: „Und hie mercke, das er dem mündlichen wort oder gepredigtem Euangelio die krafft gibt, das es kan unser seelen selig machen, gleich wie es auch Sanct Paulus zun Römern am ersten Capitel mit gleichen worten preiset“. 54 MLEpA 444; WA 47, 746: „Sed non est das recht volkomene stück, quae est Euangelium et Christus Dei filius. 1 gab zeigt, quid nos facere debeamus, und leuchtet, quid faciendum, quid non. Sed ex dono videmus, quod non facimus. Ideo mus komen perfecta donatio, quae alles ausrichtet. Per legem vides, quid debeas, et sentis, quid non. Sed Christus venit in mundum, ut peccatores etc.“ (dosis agathē kai … dōrēma) einerseits als Verweise auf die guten Dinge, die wir schon hier in dieser Welt haben, und die vollkommenen Geschenke, auf die wir für das künftige Leben zu warten haben. 51 Jedoch seien die jetzt schon zur Verfügung stehenden Güter nicht irdische, vergängliche, wie Luther herausstellt, sondern geistliche, ewige Güter, die wir in Christus empfangen haben, insbesondere durch seine Auferstehung (eine Anspielung auf den Kon‐ text im Kirchenjahr). Im zweiten Teil derselben Predigt interpretiert Luther dann Jak 1,18 („Erstlinge der Kreatur“) im Sinne seines Verständnisses der Rechtfertigung durch Glauben ohne eigene Werke. 52 Am Ende verweist er schließlich zu Jak 1,21 („empfangt das eingepflanzte Wort, das eure Seelen selig machen kann“) noch ausdrücklich auf Paulus in Röm 1,16 als innerbiblische Parallele zu diesem Gedanken des Jakobus. 53 Denselben Doppelausdruck „gute Gabe und vollkommenes Geschenk“ erklärt Luther in der anderen oben schon zitierten Predigt über Jak 1,17-21 vom 4. Mai 1539 allerdings ganz anders. Dort nimmt er die parallele Formulierung bei Jakobus zum Anlaß für eine allegorische Interpretation, um den Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium zu demonstrieren. Das Gesetz sei eine gute Gabe Gottes, um die Gläubigen zu lehren, ihre Sünden zu erkennen. Aber das ist nicht das rechte vollkommene Stück; das ist das Evangelium und Christus, der Sohn Gottes. Die erste Gabe zeigt, was wir tun sollen, und gibt Licht, was zu tun ist, was nicht. Aber aus dieser Gabe sehen wir, was wir nicht tun. Darum muß ein vollkommenes Geschenk kommen, das alles ausrichtet. Durch das Gesetz erkennst du, was du tun sollst, und fühlst, was du (doch nicht tust). Aber Christus ist in die Welt gekommen, daß er die Sünder (selig mache). 54 In ganz ähnlicher Weise interpretiert Luther dann denselben Ausdruck am folgenden Sonntag in seiner Predigt zu Jak 1,22-27. Wieder erklärt er dort: „Das Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 Luther und der Jakobusbrief 39 55 MLEpA 451; WA 47, 750: „Lex ostendat et peccatum et indicet, Sed Euangelium remittit peccata et dat gnad und barmherzigkeit, ut faciamus.“ 56 Zu den Kontexten und Hintergründen in Debatten um den Bibelkanon im Spätmittel‐ alter und im Renaissance-Humanismus vgl. umfassend Lønning, „Kanon im Kanon“ (s. Anm. 19), 50-72. 57 Zur Leipziger Disputation vgl. Moeller, Luther und das Papsttum (s. Anm. 25), 111 f.; Kaufmann, Geschichte der Reformation (s. Anm. 2), 233-243; zum dahinter stehenden Schriftverständnis Luthers vgl. Reinhard Schwarz, Martin Luther. Lehrer der christli‐ chen Religion, Tübingen 2 2016, 27-73; Albrecht Beutel, Die Formierung neuzeitlicher Schriftauslegung und ihre Bedeutung für die Kirchengeschichte, in: Friederike Nüssel (Hg.), Schriftauslegung (ThTh 8), Tübingen 2014, 141-177 (154-163); ders., Theologie als Schriftauslegung, in: ders. (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 2 2010, 444-449. Gesetz enthüllt die Sünde und zeigt sie an, aber das Evangelium vergibt die Sünde und schenkt Gnade und Barmherzigkeit, daß wir (das Gesetz) tun.“ 55 Luther leitet also in seinen Predigten über den Jakobusbrief sein eigenes, spezifisches Verständnis von Gesetz und Evangelium direkt aus den Aussagen des Briefes ab. Er kann dazu die Ausdrücke „gute Gabe“ und „vollkommenes Geschenk“ aus 1,17 auch allegorisch deuten, um den Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium herauszustellen. In dem Ausdruck „vollkommenes Geschenk“ findet er das Heilsgeschehen in Jesus Christus ausgedrückt, der sein Leben hingab, um die Sünder zu erlösen. Gelegentliche kritische Bemerkungen über den Autor des Briefes ändern nichts daran, dass Luther dessen Aussagen in den Predigten in seinem Sinn theologisch interpretiert. Im Gegenteil, indem er auf parallele Aussagen bei Paulus oder in anderen biblischen Schriften verweist, erkennt er den Jakobusbrief als legitime Stimme im kanonischen Zeugnis des christlichen Bibelkanons an. 3 Die Diskussion um den Jakobusbrief im frühen 16.-Jahrhundert - 3.1 Andreas Bodenstein von Karlstadt Die Urteile Luthers zum Jakobusbrief und seinem Platz im Neuen Testament stehen im theologischen Umfeld seiner Zeit nicht isoliert da. 56 Schon in der Leipziger Disputation mit Johannes Eck im Jahr 1519, die Luther gemeinsam mit Andreas Bodenstein von Karlstadt bestritten hatte, war die Frage des biblischen Kanons und seiner Autorität zu einem zentralen Gegenstand der Diskussion geworden. 57 Unmittelbar danach, im Frühjahr 1520, kam es aber zu einem erbitterten Konflikt zwischen Luther und Karlstadt über den Ursprung und die Autorität des Jakobusbriefes. 58 Wie sich aus den Bemerkungen in Karlstadts Traktat De canonicis scripturis libellus und in einem Brief an Georg Spalatin vom 8. Mai 1520 59 ergibt, hatte es während einer Wittenberger Vorlesung von Karl‐ Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 40 Karl-Wilhelm Niebuhr 58 Zu Karlstadt und seiner Bibelhermeneutik vgl. Martin Keßler, Andreas Bodenstein von Karlstadt. De canonicis scripturis libellus, 1520, in: Oda Wischmeyer u. a. (Hg.), Handbuch der Bibelhermeneutiken, Berlin-/ -Boston 2016, 301-316. 59 Abgedruckt bei Hermann Barge, Andreas Bodenstein von Karlstadt, II. Teil: Karlstadt als Vorkämpfer des laienchristlichen Puritanismus, Leipzig 1905, 545. 60 Zu diesem Zwischenfall vgl. Brecht, Andreas Bodenstein von Karlstadt (s. Anm. 29), 143 f., sowie Keßler, Andreas Bodenstein von Karlstadt (s. Anm. 58), 307 f.; da Silva, Luther und Jakobus (s. Anm. 16), 30-34. 61 Ich stütze mich im Folgenden auf die Ausführungen von Keßler, Andreas Bodenstein von Karlstadt (s. Anm. 58), 309-316, und Brecht, Andreas Bodenstein von Karlstadt (s. Anm. 29), 135-140. Textgrundlage ist die Edition der latinischen Fassung von De canonicis scripturis libellus bei Karl A. Credner, Zur Geschichte des Kanons, Halle 1847, 291-412. 62 Vgl. o., S. 33. stadt über den Jakobusbrief einen Zwischenfall gegeben. Ein „milder Priester“ im Auditorium hatte, wohl beeinflusst durch Luthers Verdikt, sein Missfallen und seine Geringschätzung über den Brief zum Ausdruck gebracht. Infolge dieses Ereignisses war offenbar die Anzahl der Hörer Karlstadts merklich zurückge‐ gangen. 60 Allerdings ist weder Karlstadts Vorlesung überliefert, noch lässt sich der Fortgang der Affäre in Wittenberg genau rekonstruieren. Immerhin kann man an Karlstadts Traktat von 1520 und dessen wesentlich überarbeiteter und erweiterter deutscher Übersetzung, die ein Jahr später erschien, die Hauptlinien seiner Argumentation im Blick auf die Bewertung des Kanons erkennen. 61 Für Karstadt gibt es demnach drei Ordnungen von biblischen Büchern, die entsprechend ihrer Autorität hierarchisch voneinander abgehoben sind. Den höchsten Rang nehmen die Evangelien ein, da sie Christus am nächsten stehen. Den Paulusbriefen als Ausdruck des apostolischen Zeugnisses von Jesus Christus weist Karlstadt den zweiten Rang zu. Die Katholischen Briefe und die Offenbarung gehören zur dritten, am wenigsten autoritativen Ordnung, werden allerdings noch zu den kanonischen Büchern gerechnet, während die „Apocrypha“ (wie z. B. der Laodizenerbrief, der immerhin in der Vulgata als Appendix überliefert war) ganz aus der Bibel auszuschließen seien. Demnach sind nach Karlstadt die Katholischen Briefe zwar von geringerem Rang und theologischer Bedeutung, werden aber gleichwohl dem Kanon zugerechnet. Allerdings hielt Karlstadt speziell im Blick auf den Jakobusbrief auch an dessen Herkunft vom Apostel Jakobus fest (für ihn der Herrenbruder). Nach der oben erwähnten Episode in seiner Vorlesung bezog sich die Polemik des Priesters auf den ‚Stil‘ des Briefes, was als Anspielung an Luthers Kritik am Jakobusbrief zu verstehen sein dürfte, der ja in seinen Resolutiones Lipsiae dis‐ putationis, wie schon gesehen, eine ganz ähnliche Bemerkung gemacht hatte. 62 Karlstadt allerdings war davon überzeugt, dass der Stil des Briefes nicht gegen Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 Luther und der Jakobusbrief 41 63 So auch Brecht, Andreas Bodenstein von Karlstadt (s. Anm. 29), 144: „Bodenstein hat die Problematik der kanonischen Autorität des Jakobusbriefes also formalistisch in der Sparte der Schriften unsicherer Autoren biblischer Schriften verhandelt. Welche Brisanz dem inneren Kriterium der Rechtfertigungskehre innewohnte, war ihm anscheinend nicht aufgegangen.“ Vgl. auch die differenzierte Beurteilung der Kriterien, nach denen Luther und Karlstadt über den Jakobusbrief urteilten, bei da Silva, Luther und Jakobus (s. Anm. 16), 34. 64 Vgl. o., S. 31. 65 Weitere näher zu betrachtende Autoren wären Zwingli, von dem eine Brevis et luculenta Huldrychi Zuinglii in epistolam beati Iacobi Expositio aus dem Jahr 1539 (in: Daniel Bollinger [Hg.], Huldreich Zwinglis Sämtliche Werke, Bd. 21/ 9, Zürich 2013, 357-418) sowie von Leo Jud gesammelte Scholien zum Jakobusbrief unter dem Titel In epistolam divi Jacobi appostoli scolia ex ore Huldrici Zwinglii collecta per Leonem Iude Thiguri anno 1531 (in: Bollinger, Zwinglis Sämtliche Werke, a. a. O., 419-460) überliefert sind, und Melanchthon, der nach einem Überblick von Timothy J. Wengert, The Biblical Commentaries of Philip Melanchthon, in: Irene Dingel u. a. (Hg.), Philip Melanchthon. Theologian in Classroom, Confession, and Controversy (Refo500 Academic Studies 7), Göttingen 2012, 43-76, 63 f., ab dem Wintersemester 1518 (nach einem Universitätsan‐ schlag und einer brieflichen Notiz an Johannes Lang) fortlaufend Vorlesungen über den griechischen Text der neutestamentlichen Briefe hielt, vielleicht auch über den Jakobusbrief; überliefert ist von diesen Vorlesungen allerdings nichts. 66 Zum Novum Instrumentum des Erasmus von 1516 insgesamt vgl. Martin Wallraff / Sil‐ vana Seidel Menchi / Kaspar von Greyerz (Hg.), Basel 1516. Erasmus’ Edition of the New Testament (SMHR 91), Tübingen 2016; zum Schriftverständnis des Erasmus vgl. seinen apostolischen Ursprung spricht. Andererseits hat Karlstadt, soweit wir sehen, Aussagen des Jakobusbriefes nicht in Sinne des paulinischen Verständ‐ nisses von Glaube und Rechtfertigung interpretiert. Sein Lösungsvorschlag des Kanonproblems war also im Unterschied zu Luther eher formal gedacht, nicht theologisch-sachkritisch. 63 Das zeigt sich auch an seiner Abwertung aller Katholischen Briefe als von geringerem Rang, also auch des 1. Petrusbriefes, den Luther gerade zusammen mit Paulus am höchsten schätzte. 64 Die Entwicklung eines ‚kritischen‘ und doch zugleich ‚traditionellen‘ Um‐ gangs mit dem Kanonproblem verbindet Karlstadt nicht nur mit Luther, sondern mit noch weiteren zeitgenössischen Theologen, unter denen Erasmus von Rot‐ terdam und Heinrich Bullinger als die bedeutendsten hier besprochen werden sollen. 65 Allerdings kann ich in diesem Rahmen auf Details ihrer Positionen zum Kanon nicht näher eingehen, sondern verweise nur kurz auf die Annotationen und die Paraphrasen zur Edition des Neuen Testaments durch Erasmus und auf zwei Werke Bullingers aus den Jahren 1527/ 28 und 1537. - 3.2 Erasmus von Rotterdam In den Annotationes zu seinem Novum Instrumentum, 66 der Textausgabe des Neuen Testaments von 1516, hat Erasmus kritische Diskussionen zur Textgestalt Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 42 Karl-Wilhelm Niebuhr grundlegend Peter Walter, Theologie aus dem Geist der Rhetorik. Zur Schriftauslegung des Erasmus vom Rotterdam (TSTP 1), Mainz 1991; zum Vergleich mit Luther vgl. Chris‐ tine Christ-von Wedel, Erasmus und Luther als Ausleger der Bibel, in: dies. / Grosse, Auslegung und Hermeneutik der Bibel (s. Anm. 21), 367-380. 67 Kritische Edition der Annotationes zum Jakobusbrief in M.-L.-van Poll-van de Lisdonk (Hg.), Annotationes in Novum Testamentum (Pars Sexta) (ASD VI/ 10), Amsterdam 2014, 387-428. Zum Verhältnis von Annotationes und Bibeltext im Novum Instrumentum des Erasmus vgl. M. L. van Poll-van de Lisdonk, Die Annotationes in Novum Testamentum im Rahmen von Erasmus’ Werken zur Bibel, in: Wallraff / Seidel Menchi / von Greyerz, Basel 1516 (s. Anm. 66), 175-186. Grundlegend für die Erforschung der Annotationes ist Erika Rummel, Erasmus’ Annotations on the New Testament. From Philologist to Theologian (ErasSt 8), Toronto 1986. 68 So auch in der annotatio zu Jak 1,1. S. dazu u., S. 47f., zu Bullinger. Vgl. zum Urteil des Erasmus zum Jakobusbrief Lønning, „Kanon im Kanon“ (s. Anm. 19), 57 f.; Schild, Abendländische Bibelvorreden bis zur Lutherbibel (s. Anm. 12), 164f. 69 Kritische Edition des Jakobusbriefes aus dem Novum Instrumentum in Andrew J. Brown (Hg.), Novum Testamentum ab Erasmo Recognitum, IV Epistolae Apostolicae (Secunda Pars) et Apocalypsis Iohnannis (ASD VI/ 4), Amsterdam 2013, 349-386. 70 Kritische Edition der Paraphrasen zum Jakobusbrief in John J. Bateman (Hg.), Para‐ phrasis D. Erasmi Roterodami in omneis epistolas apostolicas, Pars Tertia (ASD VII/ 6), Amsterdam 1997, 107-160. Eine englische Übersetzung mit Anmerkungen bietet John J. Bateman, Collected Works of Erasmus. New Testament Scholarship, Toronto 1993, 131-170.319-337 (dort in der Translator’s Note, a. a. O., xiii-xviii, auch Hinweise zum Entstehungskontext der Paraphrasen zum Jakobusbrief). Zum Verhältnis der verschiedenen Werke des Erasmus zum NT zueinander vgl. van Poll-van de Lisdonk, Die Annotationes in Novum Testamentum (s. Anm. 67), 177-184. 71 Bateman, Paraphrases (s. Anm. 70), 135: „James was the bishop of Jerusalem and in that capacity writes also to the other Jews, who lived scattered among all nations, to instruct and shape their lives through various precepts.“ In mittelalterlichen Vul‐ gata-Handschriften wurde anstelle einer Vorrede zum Jakobusbrief das 2. Kapitel aus seiner Edition gesammelt, die von altkirchlichen Zeugnissen bis in die aktuellen theologischen Kontroversen mit Opponenten seiner neuen Ausgabe reichen. 67 Auf dieser Grundlage hatte der fromme Gelehrte aus Rotterdam auch seine kritische Sicht zur Identifikation der Autoren der einzelnen Schriften entwickelt und begründet. Allerdings hat Erasmus am Ende in der Regel seine eigenen Zweifel an den traditionellen Zuschreibungen zurückgestellt und sich den kirchlichen Entscheidungen in Vergangenheit und Gegenwart angeschlossen. 68 In diesem Sinn hat er auch den Jakobusbrief als autoritativen Teil der Heiligen Schrift anerkannt. 69 In der Kommentierung des Jakobusbriefes in der Paraphrasis in Novum Testa‐ mentum (1520) beschränkt sich Erasmus darauf, den Brief allgemeinverständlich zu erklären. 70 Im der Auslegung vorangestellten ganz kurzen argumentum setzt er die Verfasserschaft des Herrenbruders voraus, der nach dem Zeugnis des Hieronymus zum Bischof von Jerusalem geweiht worden sei. 71 Anstelle Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 Luther und der Jakobusbrief 43 Hieronymus’ De viris illustris überliefert, das diese Zuschreibung an Jakobus, den ersten Bischof von Jerusalem, bietet, aber auch kritische Urteile zur Verfasserschaft des Briefe enthält. Vgl. dazu Schild, Abendländische Bibelvorreden bis zur Lutherbibel (s. Anm. 12), 62-64. 72 Zu ihm vgl. Bateman, Paraphrases (s. Anm. 70), 319. 73 Bateman, a.-a.-O., 132 f.; Paraphrasis (s. Anm. 70), 117f. 74 Bateman, a. a. O., 133 (Paraphrasis [s. Anm. 70], 118: Iam quaedam etiam hiare videtur vt in connectendo nonnihil fuerit negocii). An der entsprechenden Stelle seiner Auslegung geht Erasmus auf die Spannung zwischen Jakobus und Paulus aber nicht noch einmal ein, vgl. a. a. O., 151-153. Zur mittelalterlichen Debatte um diese Stelle vgl. Chester, Reading Paul with the Reformers (s. Anm. 23), 85f. 75 Vgl. Keßler, Andreas Bodenstein von Karlstadt (s. Anm. 58), 307, der in Anm. 34 eine Passage aus der Erstausgabe des Novum Instrumentum von 1516 zitiert: „Nec enim referre videtur usquequaque majestatem illam et gravitatem apostolicam. Nec hebraismi tantum, quantum ab apostolo Iacobo, qui fuerit episcopus Hierosolymitanus expectaretur.“ einer Vorrede steht vor der Paraphrase zum Jakobusbrief ein Widmungsbrief an Matthias Schiner, Bischof von Sion in der Schweiz, 72 in dem Erasmus die Verfasserfrage gar nicht berührt und stattdessen eine knappe Übersicht über einige Aussagen des Briefes gibt, mit der bezeichnenden Charakterisierung: „James almost confines himself to commonplaces“ (Iacobus fere versatur in locis communibus). Nachdem Erasmus eine Reihe solcher „commonplaces“ aufgezählt hat, schließt er mit dem Kommentar: „… and much else of the same kind, which cannot present very much difficulty in the exposition, though they are most difficult in the performance“ (aliaque id genus, in quibus non potest admodum esse multum difficultatis in explicando, cum plurimum sit in preastando). 73 Immerhin räumt Erasmus ein, dass er mit manchen Stellen doch zu ringen hatte, so mit der Aussage in Jak-2,17.20, dass Glaube ohne Werke tot bzw. wertlos sei, while Paul argues on the other side that it happened to Abraham not by works but by faith that he was accounted righteous before God (non ex factis sed ex fide contigisse vt iustus haberetur apud Deum) and was called the friend of God. There also seem to be some gaps, so that I have had some trouble in establishing connections. 74 Man meint auch hier - wie bei Karlstadt - ein Echo auf Luthers Kritik am Jako‐ busbrief herauszuhören, aber vielleicht war es ja auch umgekehrt, und Luther hat einen Teil seiner kritischen Argumente gegen den Brief stillschweigend von Erasmus bezogen. 75 Jeder gebildete Bibelleser seiner Zeit konnte jedenfalls durchaus etwas über verschiedene Grade von und Debatten über ‚Apostolizität‘ und ‚Authentizität‘ neutestamentlicher Schriften (im Sinne des 16. Jh.) wissen, und zwar nicht bloß aus den in mittelalterlichen Manuskripten und frühen Druckausgaben der Vulgata überlieferten Vorreden des Hieronymus, sondern darüber hinaus Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 44 Karl-Wilhelm Niebuhr 76 Vgl. dazu Martin Wallraff, Paratexte der Bibel. Was Erasmus edierte außer dem Neuen Testament, in: Wallraff / Seidel Menchi / von Greyerz, Basel 1516 (s. Anm. 66), 145-173. 77 Kritische Edition von Luca Baschera (Hg.), Heinrich Bullinger, Kommentare zu den neutestamentlichen Briefen. Hebräerbrief - Katholische Briefe (Heinrich Bullinger Werke III/ 9), Zürich 2019, 371-429. Ich danke dem Herausgeber herzlich für die Übermittlung der entsprechenden Passagen bereits vor Abschluss der Drucklegung. 78 Peter Stotz (Hg.), Heinrich Bullinger, Studiorum Ratio - Studienanleitung. Heinrich Bullinger Werke, Sonderband in zwei Teilbdn., 1. Teilbd.: Text und Übersetzung, Zürich 1987. 79 Zum hermeneutischen Programm Bullingers in der Studiorum Ratio vgl. Samuel Vollenweider, Paulus in Zürich. Zur Briefauslegung von Heinrich Bullinger, ZThK 114/ 2017, 1-20, 3-7; zu Bullingers Hermeneutik und Schriftauslegung vgl. auch Irena D. Backus, Bullinger als Neutestamentler. Sein Kommentar zu den Paulusbriefen und den Evangelien, in: Zwing. 31 (2004), 105-131, bes. 105-114. 80 Qui libri sacrae sripturae - Welches die Bücher der Heiligen Schrift sind, Studiorum Ratio (s. Anm. 78), 62-65. auch aus den ‚Paratexten‘, die Erasmus seinen Editionen des Neuen Testaments beigegeben hatte. 76 Doch solche höchst differenzierten Ansichten über den Ursprung biblischer Schriften wie den Jakobusbrief mussten hochgebildete Theologen wie Erasmus keineswegs dazu bringen, dessen kanonischen Cha‐ rakter zu bestreiten, wenngleich sie bisweilen, wie wir auch schon bei Karlstadt gesehen hatten, durchaus Einschränkungen oder Abstufungen hinsichtlich der Qualität vornehmen konnten. - 3.3 Heinrich Bullinger Von Heinrich Bullinger (1504-1575), dem Nachfolger Huldrych Zwinglis in Zürich, gibt es nicht bloß eine allgemeinverständliche Auslegung des Jakobus‐ briefes (erschienen 1537), 77 sondern auch eine „Einführung in die Methode des Studierens“ (Studiorum Ratio, 1527/ 28), in der Bullinger auch auf die Stellung des Jakobusbriefes im Kanon eingeht. 78 In unserem Zusammenhang soll uns allein dieser Aspekt der Hermeneutik Bullingers beschäftigen. 79 In der Studiorum Ratio gibt es nämlich einen Paragraphen mit der Überschrift „Welches die Bücher der Heiligen Schrift sind“, in dem Bullinger auf Fragen der Echtheit biblischer Schriften und ihrer Zugehörigkeit zum Kanon eingeht. So aber, wie es in allen Künsten und wissenschaftlichen Fächern gewisse unechte Schriften gibt, oder doch solche, die nicht bis ins Letzte vollkommen und als gültig anerkannt sind, so gibt es auch im geistlichen Bereich einige Bücher, die nicht gleichviel Ansehen genießen wie die übrigen und wie der größere Teil. Daher kommt es darauf an, von Anfang an zu wissen, welche biblischen Bücher echt und in Wahrheit kanonisch sind. 80 Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 Luther und der Jakobusbrief 45 81 A.-a.-O., 65. 82 „Doch schon der heilige Hieronymus hat gesagt: ‚Was immer über diese hinausgeht, ist den Apokryphen beizuzählen.‘“ (a.-a.-O., 65). 83 De scripturis apocryphis - Über die apokryphen Schriften, a. a. O., 64-67. Zur Interpre‐ tation dieser Passage vgl. Stotz, in: Studiorum Ratio (s. Anm. 78), 2. Teilbd.: Einleitung, Kommentar, Register, 164-174. 84 A.-a.-O., 65. Anschließend zählt er unter Verweis auf Josephus (Contra Apionem), Origenes (nach Eusebius) und Melito (in seinem Brief an Onesimus) die Alt- und Neutes‐ tamentlichen Bücher einzeln auf. Die Liste der neutestamentlichen Schriften enthält (in einer merkwürdigen Reihenfolge) die meisten, aber nicht alle tradi‐ tionell kanonischen Schriften. Sie charakterisiert Bullinger folgendermaßen: Diesen Büchern der Heiligen Schrift beider Testamente ist ohne allen Widerspruch Glauben zu schenken, und sie sind die lebendigen Quellen, aus denen man die Geheimnisse des Wortes Gottes und der heiligen Lehre schöpfen soll. 81 Es folgt unter Berufung auf Hieronymus 82 ein Paragraph „Über die apokryphen Schriften“. 83 Zu diesen „außerhalb des Kanons stehende(n) Apokryphen, das heißt ausgeschiedene oder verborgene Bücher, mithin solche(n), die in den Kir‐ chen nicht gelesen werden sollen“, gehören nach Bullinger im Neuen Testament „die Evangelien des Petrus, des Thomas, des Nikodemus, der ‚Hirt‘, der Brief des Jakobus und zweie des Johannes“. 84 Einerseits hält Bullinger also an der paulinischen Autorschaft des Hebräer‐ briefes und an der Kanonizität des 2. Petrusbriefes und der Johannesoffenbarung in Auseinandersetzung mit abweichenden, oft schon altkirchlich bezeugten Mei‐ nungen ausdrücklich fest. Andererseits erwähnt er aber von den Katholischen Briefen im ersten Paragraphen nur einen Johannesbrief, zusammen mit dem Evangelium des Johannes, und zwei Petrusbriefe, übergeht also den Jakobus- und den Judasbrief ebenso wie die beiden kleinen Johannesbriefe. Im zweiten Paragraphen schließt er dann den Jakobus- und den 2. und 3. Johannesbrief explizit aus dem Kanon aus, nennt freilich an dieser Stelle den Judasbrief (versehentlich? ) gar nicht. In diesem Zusammenhang erwähnt Bullinger auch die Empfehlung des Rufin, diese Schriften in den Kirchen wenigstens zu lesen, ohne Lehrmeinungen in Glaubensdingen von ihnen abzuleiten, distanziert sich aber implizit von dieser Empfehlung. Mit Blick auf den Jakobusbrief verweist Bullinger auf Eusebius und zitiert dessen kritischen Kommentar über die Ablehnung des Briefes bei vielen, lässt allerdings dabei die ausdrückliche Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 46 Karl-Wilhelm Niebuhr 85 A. a. O., 67; zur altkirchlichen Debatte um den Jakobusbrief mit den dazu gehörenden Quellenbelegen vgl. Karl-Wilhelm Niebuhr, Art. Epistles, Catholic. I. New Testament (EBR 7), 2013, 1086-1092; ders., Die Apostel und ihre Briefe. Zum hermeneutischen und ökumenischen Potential des Corpus Apostolicum im Neuen Testament, in: Heike Omerzu / Eckart D. Schmidt (Hg.), Paulus und Petrus. Geschichte - Theologie - Rezeption (ABG 48), Leipzig 2016, 273-292. 86 So Stotz, Studiorum Ratio (s. Anm. 83), 166. 87 Zur Entstehung des Kommentars zum Jakobusbrief vgl. Baschera, Heinrich Bullinger, Kommentare (s. Anm. 77), XXIV-XXVI, der auf Bullingers Predigten zu den ersten vier Kapiteln des Briefes im Jahr 1529 in Bremgarten verweist (a.-a.-O., XXIV). 88 Zitiert nach Baschera, Heinrich Bullinger, Kommentare (s. Anm. 77), XXV (vgl. Anno‐ tationes in Jac. [s. Anm. 67], 388: Verum superuacuum arbitror anxie de autore digladiari, rem potius amplectamur et spiritum sacrum autorem exosculemur.). Zur Bedeutung des Erasmus für die Bibelexegese von Bullinger vgl. C. Christ-von Wedel, Zum Einfluss von Erasmus von Rotterdam auf Heinrich Bullinger, in: E. Campi / P. Opitz (Hg.), Heinrich Bullinger. Life - Thought - Influence, Zurich, Aug. 25-29, 2004. International Congress Heinrich Bullinger (1504-1575), Bd. 1, Zürich 2007, 407-424; zur Nachwirkung des Erasmus auf die Zürcher Reformatoren vgl. auch dies., Die Nachwirkung des Neuen Testamentes von Erasmus in den reformatorischen Kirchen, in: Wallraff / Seidel Menchi-/ -von Greyerz, Basel 1516 (s. Anm. 66), 291-310. Bemerkung des Euseb weg, wonach er gleichwohl in vielen Kirchen gelesen werde. 85 Trotz all dieser kritischen Urteile begann Bullinger nur kurze Zeit später, über die Katholischen Briefe Vorlesungen zu halten, wohl auch über den Jakobusbrief, möglicherweise unter dem Einfluss Zwinglis, der zur gleichen Zeit in einer Berner Disputation, bei der Bullinger anwesend war, positiv Stellung zu diesem Brief bezogen hatte. 86 In seinem Jakobuskommentar, der zehn Jahre später er‐ schien, hat Bullinger dann auch den Inhalt des Briefes verteidigt, obwohl er über dessen Autor nach wie vor Zweifel hegte. 87 Im Vorwort geht er ausführlich auf die Autorschaft ein (De autore epistolae) und referiert zunächst die altkirchlichen Debatten um Kanonizität und Authentizität, sodann die Frage der Identifikation das Autors mit einem der aus dem Neuen Testament bekannten Namensträger. Am Ende entscheidet er sich zwar für die Lösung des Hieronymus (Autor = Herrenbruder = Jakobus Alphäi = Sohn der Maria des Kleopas = „der Gerechte“), erklärt aber die ganze Debatte für zweitrangig und zitiert dafür Erasmus, der schon in seinen Annotationes treffend betont habe: „Es ist überflüssig, über den Autor kümmerlich zu streiten; lasst uns vielmehr uns der Sache annehmen und dem Heiligen Geist als Autor unser Lob erteilen“, 88 ein Lob, das dem Jakobusbrief Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 Luther und der Jakobusbrief 47 89 In seinem der fortlaufenden Auslegung vorangestellten Argumentum epistolae erklärt er u.-a.: „Erant, qui impure loquebantur de sancta et iusta dei providentia omnem peccati culpam reiicientes in deum. Idem iactabant fidem, sed operibus fructibusque fidei carebant, homines vani et irreligiosi. … Hos aliosque his similes errores corrigit apostolica severitate, adhortans pios ad patientiam, … Fidem enim semper esse feracem bonorum operum, imo hanc non posse esse sine bonis operibus.“ (zitiert nach Baschera, Heinrich Bullinger, Kommentare [s. Anm. 77], 374 f.). 90 Vgl. dazu umfassend Armbruster, Luthers Bibelvorreden (s. Anm. 16), 110-134; Lønning, „Kanon im Kanon“ (s. Anm. 19), 72-96. in seiner Rezeptionsgeschichte, insbesondere in reformatorischer Tradition, nur selten zuteilgeworden ist! 89 4 Jakobus im Kanon Im letzten Teil möchte ich die erhobenen Befunde aus einer kanonischen Perspektive knapp zusammenfassend auswerten. Immerhin belegen die hier untersuchten Zeugnisse, dass Luthers spezifischer Zugang zur Heiligen Schrift Teil einer lebendigen Debatte über die Bedeutung und Autorität der Bibel im frühen 16. Jh. war. Luthers kritische Kommentare wie die Art und Weise, wie er mit biblischen Belegen im Rahmen seiner theologischen Argumentationen umging, belegen sicher die Originalität, um nicht zu sagen Genialität seines theologischen Denkens. Gleichzeitig können wir aber, wenn wir zeitgenössische Zugänge zur Bibel in Betracht ziehen, durchaus ähnliche oder zumindest verwandte Argumentationen finden, die auf ein Milieu hindeuten, in dem sich auch Luthers Theologie herausbildete. Debatten über die Autorschaft und die apostolische Autorität biblischer Schriften wurden im frühen 16. Jh. oft in Aufnahme von Argumenten aus dem antiken Christentum geführt, die über die Vulgata, ihre Vorreden und Kommentierungen überliefert sind. Luthers kritische Urteile auf dem Gebiet, das wir heute „Einleitungsfragen“ nennen, erscheinen auf diesem Hintergrund eher moderat. Luthers theologische Bewertung der Autorität biblischer Schriften, auch des Jakobusbriefes, ist allerdings weniger von solchen kritischen Urteilen aus der Tradition bestimmt als vielmehr von seiner spezifischen Interpretation des biblischen Zeugnisses im Zusammenhang seiner reformatorischen Theo‐ logie. Dieser an sich gut bekannte Befund, der vor allem in den Vorreden zu Luthers Bibelübersetzung zum Ausdruck kommt, 90 gewinnt ein differenzierteres Profil, wenn er mit dem konkreten Umgang Luthers mit Texten aus dem Jakobusbrief in aktuellen theologischen Debatten und in seinen Predigten in Beziehung gesetzt wird. Ein noch deutlicheres Bild würde sich ergeben, wenn auch Luthers exegetische Vorlesungen systematisch untersucht würden, in Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 48 Karl-Wilhelm Niebuhr 91 Einen ersten Zugang bietet die Zusammenstellung zahlreicher Belegstellen bei Powell McNutt, James, „The Book of Straw“ (s. Anm. 22), 171-174. 92 Vgl. dazu Bernhard Lohse, Entstehungsgeschichte und hermeneutische Prinzipien der Lutherbibel, in: ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation, Göttingen 1988, 194-210, 200f. denen er öfters auf den Jakobusbrief Bezug nimmt, obwohl er eine eigene Vorlesung über diesen Brief nie gehalten hat - eine Arbeit, die hier nicht geleistet werden kann. 91 Auch für Luther blieb der Jakobusbrief Bestandteil der Bibel. Luther las und verstand ihn als Gottes Wort, in dem Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in Jesus Christus offenbart wird. Mehr noch, Luther konnte auch das Zeugnis des Jakobusbriefes dafür heranziehen, um sein eigenes Verständnis von Glauben und Rechtfertigung zu begründen, obwohl er sich dessen bewusst war, dass Ja‐ kobus und Paulus sich in dieser Hinsicht wesentlich voneinander unterscheiden. Luther hat eben alles, was in der Bibel steht, auch das, was Jakobus geschrieben hat, von seinem eigenen Verständnis des Evangeliums her interpretiert, wie es seines Erachtens am klarsten bei Paulus, im Johannesevangelium und im 1.-Petrusbrief zum Ausdruck kommt - jedenfalls so, wie Luther diese Schriften interpretierte. Dementsprechend konnte er auch im Jakobusbrief, in dieser Perspektive gelesen und verstanden, sein eigenes, also das rechte Verständnis von Glauben und Werken des Gesetzes oder von Gesetz und Evangelium wiederentdecken. Verglichen mit zeitgenössischen Zugängen war Luthers Umgang mit dem Ja‐ kobusbrief einerseits außerordentlich kritisch. Ohne jeden Anhalt an Vorbildern der kirchlichen Bibelüberlieferung veränderte er in seinem Septembertestament dessen Platz im Aufbau der neutestamentlichen Schriftensammlung, löste ihn aus der Sammlung der Katholischen Briefe heraus, rückte ihn zusammen mit dem Hebräerbrief und dem Judasbrief ganz ans Ende des Neuen Testaments, unmittelbar vor die Offenbarung, und degradierte ihn ostentativ noch dadurch, dass er die Durchzählung der neutestamentlichen Bücher vor diesen vier letzten Schriften des Neuen Testaments abbrach. 92 Diese Stellung behielt der Brief in allen Lutherbibeln bis heute, was sicher nicht folgenlos für seine Auslegung blieb und Ausdruck konfessioneller Schriftauslegung ist, die kritischer hermeneuti‐ scher Reflexion bedarf. Andererseits schloss Luther aber, anders als Bullinger in seiner Studiorum Ratio, den Jakobusbrief nicht aus dem Kanon aus, sondern hielt an ihm als Teil des biblischen Zeugnisses fest, wenngleich mit geringerer theologischer Autorität im Vergleich zu Paulus, Johannes und Petrus. Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 Luther und der Jakobusbrief 49 © Johannes U. Beck Karl-Wilhelm Niebuhr studierte Evangelische Theologie in Halle. Von 1981 bis 1994 war er Wis‐ senschaftlicher Assistent bei Traugott Holtz an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Univer‐ sität Halle-Wittenberg und wurde dort 1986 promo‐ viert. Nach seiner Habilitation (1991) war er 1992/ 93 Feodor-Lynen-Stipendiat der Alexander von Hum‐ boldt-Stiftung und Visiting Fellow at Clare Hall Cam‐ bridge (UK) und wurde 1994 als Professor für Biblische Theologie (evan‐ gelisch) an die Technische Universität Dresden berufen. Von 1997 bis 2022 war er Professor für Neues Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wo er seit seiner Pensionierung weiter als Seniorprofessor tätig ist. Seine Forschungsschwerpunkte liegen beim griechischsprachigen antiken Judentum, bei Paulus und beim Jakobusbrief. Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0010 50 Karl-Wilhelm Niebuhr