ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2022-0011
121
2022
2550
Dronsch Strecker VogelDer Jakobusbrief und die antike literarische Bildung
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2022
Sugurvin Lárus Jonsson
znt25500051
1 Vgl. Sigurvin Lárus Jónsson, James among the Classicists. Reading the Letter of James in Light of Ancient Literary Criticism, Göttingen / Bristol 2021. Vgl. auch die Rezension von John S. Kloppenborg, in: NT-64 (2022), 409-411. 2 Die Arbeit wurde von Prof. Dr. Eve-Marie Becker (Neues Testament) betreut; Zweitbe‐ treuer war Associate Professor Dr. George Hinge (Klassische Philologie). Der Jakobusbrief und die antike literarische Bildung Sigurvin Lárus Jónsson Die Monographie James among the Classicists: Reading the Letter of James in Light of Ancient Literary Criticism 1 ist meine überarbeitete Dissertation, die ich 2019 an der Universität Aarhus verteidigt habe. 2 Das Buch befasst sich in erster Linie mit der Sprache und dem Stil des Jakobusbriefes, wobei eine Hypothese über seinen rhetorischen Zweck im Vordergrund steht. Sie konzentriert sich darauf, was wir über den Autor des Jakobusbriefes erfahren können, wenn wir den Text im Licht einer leitenden Forschungsfrage lesen: Wie erzeugt und behauptet der Autor Autorität? Die Arbeitshypothese lautet, dass der Jakobusbrief am besten als Charakterrede (Ethopoeia) zu verstehen ist, die implizit durch Sprachkompetenz und Verweise auf die Schrift Ethos aufzubauen unternimmt. Der Autor setzt diese erzieherische oder literarische Autorität für eine Reihe von Zwecken ein, von denen einer darin besteht, sozioökonomische Ungleichheit anzusprechen - ein wichtiges Anliegen des Autors. Ein Schwerpunkt der Untersuchung liegt darauf, wie der Verfasser Autorität erzeugt. In den einzelnen Kapiteln wird dargestellt, wie der Jakobusbrief die Autorität des Autors begründet. Der Jakobusbrief ist ein autoritatives Doku‐ ment, was sich z. B. in seinem imperativischen Duktus zeigt, wie auch in dem unerschütterlichen Vertrauen, das der Verfasser in seine Worte zu setzen scheint. Wie neuere Forschungen gezeigt haben, geht er dabei durchaus Wege abseits dessen, was uns von Paulus bekannt ist: Wenn Jakobus göttliche Inspiration in Anspruch nimmt, so geschieht dies anders als bei Paulus verschleiert und implizit, und er führt auch nicht ausdrücklich seine ethische Überlegenheit ins Feld, auch nicht seine Verbindung zu Jesus oder seinen Status als Leiter der Jerusalemer Gemeinde. Stattdessen präsentiert der Autor eine Charakterrede in 3 Vgl. Stephen Usher, Dionysius of Halicarnassus. Critical Essays (LCL 465f.), Cambridge 1974‒1975. 4 Vgl. Nicolas Wiater, The Ideology of Classicism. Language, History, and Identity in Dionysius of Halicarnassus, Berlin 2011. 5 Vgl. Casper C. de Jonge, Between Grammar and Rhetoric. Dionysius of Halicarnassus on Language, Linguistics and Literature, Leiden 2008. 6 Vgl. Wiater, Ideology of Classicism (s.-Anm.-4), 2f. 7 Die Zitate in diesem Beitrag sind hier und im Folgenden aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Vgl. hier Casper C. de Jonge, Rezension von Nicolas Wiater, The Ideology of Classicism, in: Bryn Mawr Classical Review 6 (2012): http: / / www.bmcrevi ew.org/ 2012/ 06/ 20120641.html (letzter Zugriff am 12.12.2022). Briefform, um sein Ethos zu begründen (Kapitel 2), er verwendet ein Vokabular und einen Stil, mit dem er implizit seine Bildung signalisiert (Kapitel 3 und 4), und er schreibt sich explizit die Rollen des Weisen, des Lehrers und des Exegeten zu (Kapitel 5). Meine Hypothese lautet, dass die Begründung von Ethos auf Bildung eine gemeinsame Basis zwischen dem Autor und denjenigen schaffen soll, die das wirtschaftliche Privileg genießen, Bildung und Reichtum zu besitzen. Von diesem Standpunkt aus kann Jakobus die Reichen als Gleiche ansprechen, sie zurechtweisen und Reiche wie Arme gleichermaßen ermahnen, Gottes Weisheit anzunehmen und den gemeinschaftlichen Frieden, den sie bringt, anzunehmen (Kapitel-6). Das Eröffnungskapitel meines Buches ordnet den Jakobusbrief in das weite Feld der antiken Literaturgeschichte ein. Mein Interesse richtet sich darauf, wie im weiten Spektrum der gesamten Antike Griechen und Römer die Texte von Dichtern und Prosaikern interpretierten, analysierten und sich zu Eigen machten. Innerhalb dieses weiten Rahmens habe ich mich auf die Zeitspanne nach Aristoteles bis in die neutestamentliche Zeit hinein konzentriert, u. zw. auf Literaten, die griechisch schrieben. Näher befasst habe ich mich mit Demetrius, Libanius, Longinus und Philodemus, wobei das Hauptaugenmerk auf den rheto‐ rischen Abhandlungen des Dionysius von Halikarnass 3 liegt, der mir in meinem Buch zum wichtigsten Diskussionspartner geworden ist. Wegweisend waren mir dabei zwei Monographien zu den rhetorischen Schriften des Dionysius: Ni‐ colas Wiaters Untersuchung The Ideology of Classicism 4 und Casper C. de Jonges Studie über Sprache und Literatur bei Dionysius mit dem Titel Between Grammar and Rhetoric. 5 Wiater untersucht in seinem Buch die klassizistische Ideologie, die seine Werke durchdringt, und die damit verbundene Auseinandersetzung mit der Kultur des römischen Imperiums. Für Wiater ist ein linguistischer Ansatz unzureichend, wenn er sich nicht mit dem soziokulturellen Kontext befasst, 6 und er richtet sein Augenmerk darauf, „warum Dionysius und seine Leser solch glühende Anhänger der klassischen griechischen Literatur sind.“ 7 Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0011 52 Sigurvin Lárus Jónsson 8 Wiater, Ideology of Classicism (s.-Anm.-4), 348. 9 Vgl. Wiater, Ideology of Classicism (s.-Anm.-4), 117-119. 10 Vgl. de Jonge, Rezension zu Wiater (s.-Anm.-7). 11 Vgl. Oda Wischmeyer, Scriptural Classicism. The Letter of James as an Early Christian Literary Document Between Classicistic Emulation and Invention, in: Eve-Marie Becker / Sigurvin Lárus Jónsson / Susanne Luther (Hg.), Who Was James? Essays on the Letter’s Authorship and Provenance (WUNT 485), Tübingen 2021, 277-312. 12 Wischmeyer, Scriptural Classicism (s.-Anm.-11), 290. 13 Wischmeyer, Scriptural Classicism (s.-Anm.-11), 307. Die Antwort liegt sowohl in der Weltanschauung, die Dionysius mit seiner „Gemeinschaft von Elite-Literaten“ 8 teilt, als auch in seiner Auseinandersetzung mit der augusteischen Kultur, die Griechen und Römer trennt 9 (oder Brücken zwischen ihnen baut). 10 Oda Wischmeyer interessierte sich dafür, ob Jakobus als „biblischer Klassizismus“ (scriptural classicism) 11 charakterisiert werden kann, zumindest metaphorisch im Sinne von Wiaters Definition, die „über Stilfragen hinausgeht und die Frage der kulturellen Identität berührt.“ 12 Wischmeyer bejaht die von ihr gestellte Frage insofern, als diese unsere Interpretation über die bloße Auflistung von Parallelen und Intertextualität hinausführt und […] neue Wege öffnet zum Verständnis von Texten […] als Beispielen für eine Literatur, die die religiöse und moralische Weltsicht griechischsprachiger Mitglieder der neuen christusgläubigen Gemeinschaften formt. 13 Die altgriechische Literatur ist reich an Zitaten aus und Verweisen auf grund‐ legende Literaturwerke ihrer Zeit, seltener sind dagegen ausdrückliche Dis‐ kussionen über Methodik und Weltauffassung. Die Arbeitshypothese meines Buches lautet, dass Dionysius explizit literarische und rhetorische Phänomene beschreibt, die wir implizit auch im hellenistischen Judentum und im frühen Christentum finden. Was den Jakobusbrief betrifft, so entscheidet die Gattungsfrage wesentlich über das Gesamtverständnis der Schrift. Im zweiten Kapitel lege ich dar, dass der Jakobusbrief am besten als Ethopoeia zu verstehen ist, als eine Ausprägung der Charakterrede, die darauf abzielt, Ethos auf der Grundlage von Sprachkom‐ petenz zu erzeugen. Diese Auffassung stützt sich auf drei Beobachtungen: Erstens, dass die Zuschreibung des Briefes an Jakobus nur im übertragenen Sinn plausibel ist, zweitens, dass die Selbstdarstellung des Autors paideutisch ist, was einen Kontext voraussetzt, in dem Bildung eine bedeutende Rolle spielt, und schließlich, dass der Autor seine Autorität durch den Gebrauch von Sprache begründet. Auf der Grundlage dieser Beobachtungen sind wir in der Lage, den Jakobusbrief eine Charakterrede zu verstehen, die den ethischen Charakter oder das Ethos (ēthos) auf der Grundlage der literarischen Bildung erzeugt (poieō) und Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0011 Der Jakobusbrief und die antike literarische Bildung 53 14 Vgl. Sigurvin Lárus Jónsson, The Letter of James as Ethopoeia, in: Becker / Jónsson / Lu‐ ther, Who Was James? (s.-Anm.-11), 371-390. 15 Vgl. Koen de Temmerman, Ancient Rhetoric as a Hermeneutical Tool for the Analysis of Characterization in Narrative Literature, in: Rhetorica 28 (2010), 34: „Im weitesten Sinn bezieht sich ἠθοποιία auf die Konstruktion (poiia) von Ethos im Allgemeinen (direkte oder indirekte Charakterisierung durch Handlung oder Rede). In diesem Sinne erscheint der Begriff als Synonym für notatio […] Auch Quintilian übernimmt den Begriff in diesem Sinne und definiert ihn als (informative) Mimesis des Ethos (mos) durch Handlung und Rede (,et in factis et in dictis‘)“; vgl. Quintilian, Inst. 2.15.34, 9.2.58. 16 Vgl. de Temmerman, Ancient Rhetoric as a Hermeneutical Tool (s.-Anm.-15), 35: Diese Bedeutung „bezieht sich auf eine rhetorische Gedankenfigur (schēma tēs dianoias / fi‐ gura sententiae), in der der Redner bzw. Autor die Worte einer anderen Person bzw. eines anderen Charakters in direkter Rede repräsentiert. Als eine emotive Figur ist ethopoeia eines der Stilmittel, die fiktionale Emotionen zum Ausdruck bringen. Insofern gehört sie zu den sechs Varianten der metathesis nach Phoebammos, der die Eignung dieses Stilmittels für die Transposition (methistēsis) einer Äußerung auf die Ebene eines anderen Sprechers hervorhebt.“ 17 Vgl. de Temmerman, Ancient Rhetoric as a Hermeneutical Tool (s.-Anm.-15), 35. 18 Dionysius von Halikarnass, Lysias-8. 19 Dionysius von Halikarnass, Lysias-8. in diesem Sinne eine Ethopoeia (ēthopoiia) sowohl im wörtlichen als auch im metaphorischen Sinne ist. 14 Die Betrachtung Jakobus als Beispiel für ēthopoiia schließt die Authentizität des Jakobusbriefes nicht aus, denn der Begriff wird in der antiken Diskussion in vier verwandten Bedeutungen gebraucht: Als Konstruktion des Ethos, 15 als progymnasmata-Übung, als Charakterrede in einer Schrift 16 und schließlich als Fähigkeit eines Autors, sich in der Rede als Autorität und als gerecht darzustellen. 17 Diese letzte Bedeutung findet sich bei Dionysius von Halikarnass etwa in seinen Ausführungen zu Sprache und Stils des Lysias, wo er ihm in Bezug auf eine von ihm gehaltene Rede „jene höchst angenehme Eigenschaft“ zuschreibt, „die man allgemein Charakterisierung (ēthopoiian) nennt.“ 18 Wichtig ist, dass er weiter ausführt, dass es „drei Bereiche oder Aspekte gibt, in denen sich diese Qualität manifestiert, [nämlich] Gedanken, Sprache und Kompositionen.“ 19 Im dritten Kapitel von James among the Classicists habe ich die Sprache des Jakobusbriefes hinsichtlich des Wortschatzes und des Stils untersucht. Dabei habe ich mich auf das Eröffnungskapitel konzentriert und Wörter untersucht, die entweder überhaupt selten sind oder jedenfalls in jüdischen Schriften nicht vorkommen, sowie Wörter, die erstmals im Jakobusbrief bezeugt sind, außerdem Variationen in der Wortwahl. Ein Beispiel ist das beschreibende Wortpaar in Jak 1,6 anemizomenō kai hripizomenō („vom Wind gepeitscht und dahin und dorthin getrieben“): anemizō ist vor dem Jakobusbrief nicht bezeugt und hripizō ist zumal in jüdischen Quellen selten. 20 Die späteren Belege für anemizō deuten Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0011 54 Sigurvin Lárus Jónsson 20 Eine TLG-Recherche zu hripizō etc. ergibt 21 Belege, die älter als das NT sind, darunter Dan-2,35; EpArist-70; Philo, De aeternitate mundi-125; De Josepho-124. 21 Vgl. Dale C. Allison, James. A Critical and Exegetical Commentary (ICC), London 2013, 87; 183 Anm.-140. 22 Der TLG nennt als älteste Belege: Basilius von Caesarea, Epistulae 42.4.52; Johannes von Antiochia, Expositiones in Psalmos 55.154.6 und Kyrill von Jerusalem, Commentarii in Lucam 72.848, die letzten beiden zitieren den Jakobusbrief. 23 TLG: epi skepas ēn anemoio entha ēn skepē pros to mē anemizesthai. Wilhelm Dindorf (Hg.), Scholia Graeca in Homeri Odysseam, Oxford 1855, XII.336. 24 TLG: EpArist 75; 4Reg 9,20; Josephus, Antiquitates iudaicae 15.245. Vgl. Henry George Liddell-et al., A Greek-English Lexicon, Oxford 9 1961, 1316 s.-v. parallagē. 25 Der TLG nennt zu hē tropē 971 Belege, die älter sind als der Jakobusbrief, davon 11 Belege in der LXX, 111-bei Philo und 21-bei Josephus. 26 Der TLG nennt zu to aposkiasma etc. 2 Belege, die älter sind als der Jakobusbrief, nämlich Demokrit, Testimonia 90.2 und Theopomp, Fragmenta 2b.115F.400. Nach dem 1. Jh. gibt es 156-Belege, meist in Schriften der Kirchenväter. 27 Der TLG gibt für aposkiazō etc. insgesamt 22 Belege. Der älteste ist Platon, Poli‐ teia 7.532C, dann Cassius Dio, Historia romana 36.49.7 und nach Origenes vor allem Schriften der Kirchenväter. 28 Dionysius von Halikarnass, De compositione verborum-12.59-61. darauf hin, dass der Autor den Ausdruck geprägt haben könnte, 21 da sie alle von patristischen Autoren stammen, 22 mit einer interessanten Ausnahme in einer Scholie zur Odyssee. 23 Ein Beispiel für ein neutestamentliches als auch ein Septuaginta-Hapaxlegomenon ist das Verb eoika (eoiken, Jak 1,6.23), das bei Homer und den attischen Autoren sehr häufig vorkommt und auch bei Philo und Josephus weit verbreitet ist. Jak 1,17 enthält eine interessante Phrase, die drei neutestamentliche Hapaxle‐ gomena aufweist: par᾽ hō ouk eni parallagē ē tropēs aposkiasma („bei dem es keine Veränderung und nicht die Spur eines Wandels gibt“). Das Substantiv parallagē ist in der jüdischen Literatur nur dreimal belegt, 24 bezieht sich aber meist auf eine Lageveränderung, z. B. in der Astrologie. Der zweite Teil der Metapher, tropēs aposkiasma, verbindet das gewöhnliche Substantiv hē tropē 25 in Aufnahme der astrologischen Metaphorik mit dem seltenen to aposkiasma. Das Substantiv aposkiasma findet sich nur zweimal vor Jakobus, nämlich in Fragmenten von Demokrit und Theopomp, 26 und das verwandte Verb aposkiazō findet sich vor dem 1. Jh. nur einmal bei Platon, wurde aber später von patristischen Autoren verwendet. 27 Zusammengenommen deuten die Beispiele auf einen Autor hin, der nicht ausschließlich über Schriftkenntnisse verfügt und der darauf bedacht ist, die Breite seines sprachlichen Repertoires unter Beweis zu stellen. Ein letzter interessanter Aspekt ist die abwechslungsreiche Wortwahl, um, so Dionysius, „die Monotonie durch die geschmackvolle Einführung von Variationen (metabolē) zu mildern.“ 28 Beispiele dafür gibt es zuhauf, sowohl in Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0011 Der Jakobusbrief und die antike literarische Bildung 55 29 Vgl. Kathryn J. Gutzwiller, Literary Criticism, in: James J. Clauss / Martine Cuypers (Hg.), A Companion to Hellenistic Literature, Malden 2010, 340. 30 Vgl. de Jonge, Between Grammar and Rhetoric (s. Anm. 5), 354 Anm. 106: „Die Ansicht, dass ein poetischer Stil zur Unklarheit führt (asapheia), stimmt mit den Einwänden des Aristoteles gegen eine poetische Diktion in der Prosa überein. Dionysius wendet sich vor allem gegen den poetischen Stil von Gorgias und Thukydides, und er meint, dass Platon die gleichen Fehler begeht wie diese Schriftsteller, wenn er versucht, sich auf großartige und außergewöhnliche Weise auszudrücken“. 31 Dionysius von Halikarnass, De compositione verborum-25.47f. 32 Dionysius von Halikarnass, De compositione verborum-25.199. pleonastischen Wiederholungen als auch in Synonymen wie apokuō („zur Welt bringen“) und tiktō („gebären“) in 1,15. Das vierte Kapitel stellt die Sprache des Jakobusbriefes in den Kontext der Literaturkritik der hellenistischen Ära, die, beginnend mit Platon und Aristoteles, ein Misstrauen gegenüber poetischen Elementen in Prosatexten hegten. Sie stellten eine scharfe Dichotomie auf, wonach das Ziel von in Prosa verfasster didaskalia („Lehre“) darin bestand, Wahrheit (alētheia) und moralische Grundsätze zu vermitteln, während die Poesie, die sich mit psychagōgia („Seelenführung“) befasste, der Unterhaltung diente und somit die Unwahrheit (pseudos) vermittelte. 29 Die Originalität des Dionysius von Halikarnass besteht darin, dass er zwar die aristotelische Unter‐ scheidung zwischen Poesie und Prosa und die Vorbehalte gegen die angeblich überflüssige Poesie teilt, aber dennoch der Poesie eine gewisse Bedeutung für Prosatexte einräumt, wenn diese denn eingängig sein und ihre Wirkung nicht verfehlen sollen. 30 Dionysius stellt fest, dass poetische Elemente in Form von „unaufdringlich eingeführten Metren und Rhythmen“ 31 notwendig sind, „wenn man Werke von bleibender Bedeutung (erga syntattomenos aiōnia) verfasst.“ 32 Poetische Elemente wie z. B. Alliteration, Assonanz und Reim sind im ersten Kapitel des Jakobusbriefes reichlich vorhanden. Ein deutliches Beispiel findet sich in Jak 1,15-18: In Vers 15 gibt es eine bemerkenswerte Assonanz, hamartian … hamartia … apotelestheisa … apokuei und Vers 16 enthält Wörter, die mit p und a beginnen, dazu Alliterationen (planasthe … agapētoi … pasa … pan … patros … par’ … parallagē … aposkiasma … apekuēsen … aparchēn) und Assonanzen (adelphoi … agapētoi … anōthen … aposkiasma … apekuēsen … alētheias … aparchēn), die die Verse 16-18 durchziehen. In Vers 18 finden wir auch eine stilisierte Gegenüberstellung von apekuēsen hēmas und hēmas aparchēn, die den rhythmischen Abschnitt abrundet. Jak 1,17 enthält den einzigen daktylischen Hexameter im Neuen Testament und wäre als solcher von einem gebildeten Publikum leicht zu erkennen: Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0011 56 Sigurvin Lárus Jónsson 33 George Hinge, The Hexameter in James 1: 17. Metrical Forms in Graeco-Roman Prose Literature Between Emulation and Quotation, in: Becker-/ Jónsson / -Luther, Who Was James? (s.-Anm.-11), 261. 34 Dionysius von Halikarnass, De Thukydide-22. Pasa dosis agathē kai pan dōrēma teleion u u ǀ--- u u ǀ------ǀ --- ---ǀ--- u ǀ --- u George Hinge hat überzeugend gezeigt, dass der Hexameter weder zufällig noch fehlerhaft ist, wie man in der Forschung lange Zeit meinte. Des Verfassers bewusster Einsatz von clausulae lässt die Möglichkeit, dass der Hexameter zufällig ist, höchst unwahrscheinlich erscheinen, und dies wird nach Hinge noch deutlicher, wenn die Häufigkeit nach Versfüßen untersucht wird. Seine Schlussfolgerung lautet, dass [d]ie Statistiken keinen Zweifel daran lassen, dass Jakobus eine klare Vorliebe für bestimmte clausulae hat, und da dieselben clausulae auch bei anderen Autoren bevorzugt werden, ist es plausibel anzunehmen, dass der Autor darin geschult war, dieses Stilmittel zu verwenden. […] Dio Chrysostomus, ein Vertreter der zweiten Sophistik, verwendet diese clausulae vergleichbar gern und häufig. 33 Schließlich können Dionysius’ Kriterien für einen kunstvollen Stil bei der Untersuchung der Frage helfen, wie die Zeitgenossen des Jakobusbriefes dessen Sprache bewertet haben könnten. Dionysius steht in einer Tradition der Stilkunst, die auf Aristoteles und Theophrastus zurückgeht und von den antiken Literaten unterschiedlich rezipiert wurden. Dionysius unterscheidet zwischen wesentlichen Vorzügen (anagkaiai), die „in jeder Schrift vorhanden sein sollten“, und zusätzlichen oder „nachgeordenten [Stileigenschaften], die in ihrer Wirkung vom Vorhandensein der primären Vorzüge abhängen.“ 34 Seine Zusammenfassung der Stilkriterien im Brief an Gnaeus Pompeius nennt zunächst drei Faktoren: (1) die Reinheit des griechischen Vokabulars und Stils, (2) die Klarheit (saphēneia) und (3) die Prägnanz. An vierter Stelle nennt er dann die Lebendigkeit (enargeia) „als die erste der nachgeordenten Stileigenschaften“ - was bedeutet, dass die ersten drei essentiell und die folgenden ornamental sind. Die übrigen Tugenden sind (5) Nachahmung (mimēsis) von Charakterzügen (ēthos) und Gefühlen (pathos), (6) Erhabenheit (megas) und Eindrücklichkeit (thaumastos) in der Komposition (kataskeuē), (7) Kraft (ischus), Intensität (tonos) und ähnliche Eigenschaften, (8) Vergnügen (hēdonē) und Überzeugungskraft (peithō), die den Leser erfreuen (tepsis), (9) Wortwahl und schließlich und vor allem (10) Anstand (prepon). Für unsere Fragestellung sind diese Kategorien zum einen deshalb nützlich, weil Dionysius damit eine Systematik zur Verfügung Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0011 Der Jakobusbrief und die antike literarische Bildung 57 35 Vgl. Jónsson, James among the Classicists (s.-Anm.-1), 132-192. 36 Casper C. de Jonge, Dionysius of Halicarnassus and the Method of Metathesis, in: CQ 55 (2005),-480. 37 Dionysius von Halikarnass, De compositione verborum-10. stellt, und zum anderen deshalb, weil wir auf diese Weise nachvollziehen können, wie ein Autor von seinem Publikum bewertet worden sein mag. In meinem Buch habe ich ein besonderes Augenmerk auf die Kategorien der Prägnanz und Klarheit, der Anschaulichkeit und der Rolle von Ethos und Pathos gelegt. 35 Die Ergebnisse dieser Lektüre zeigen, dass die von den Literaten erör‐ terten stilistischen Vorzüge einer gelungenen Komposition mit den literarischen Mitteln übereinstimmen, die wir im Jakobusbrief finden. Für Dionysius ist das Ziel immer ein praktisches, „nämlich den Leser zu lehren, wie man in einem korrekten und überzeugenden Stil schreibt,“ 36 und: „Die zwei wichtigsten Wirkungen, die diejenigen, die Gedichte oder Prosa schreiben, anstreben sollten, sind Anziehungskraft (hēdonē) und Schönheit (kalon).“ 37 Auch wenn unser Brief wohl nicht den Maßstäben der Literaten gerecht wird, wird doch deutlich, dass Jakobus implizit literarische Mittel einsetzt, die Dionysius ausdrücklich mit der Autorität des Autors in Verbindung bringt. Das fünfte Kapitel meines Buches untersucht das Bild des impliziten Autors im Jakobusbrief im Hinblick auf seine konstruierten Rollen als Lehrer und Exeget - ausgehend von der Einsicht der vorangegangenen Kapitel, dass der Autor eine Charakterrede schreibt, die Ethos und Autorität in erster Linie über die Signalisierung von Bildung durch Sprachkompetenz und Stil aufbaut. Deutlich wird dabei eine starke Ähnlichkeit zwischen der rhetorischen Absicht des Jakobusbriefes, der seine Bildung einsetzt, um sich mit den Reichen in seiner Gemeinde auseinanderzusetzen, und dem 1. Korintherbrief. Der Verfasser des Jakobusbriefes tut dies sowohl explizit, nämlich in seiner Selbstbeschreibung als Lehrer (3,1) und im Rekurs auf die Bildungskategorien „weise und gelehrt“ (3,13), als auch implizit in der Darstellung seiner Sprachkompetenz und seiner exegetischen Fähigkeiten. Sprachkompetenz ist eine Form der Darstellung des sozialen Status, und im Jakobusbrief ist sie für den Autor eine Methode, um die Reichen aus einer gleichberechtigten Position heraus zurechtzuweisen. Ist die sozioökonomische Ungleichheit im 1. Korintherbrief ein Hauptanliegen - vgl. 1Kor 4,8.11: „ihr seid reich geworden (eploutēsate) […] wir sind hungrig (peinōmen) und durstig (dipsōmen) und nackt (gumniteuomen) und werden geschlagen (kolaphizometha) und vertrieben (astatoumen)“ - so trifft dies auf den Jakobusbrief in noch höherem Maße zu. Die Charakterisierungen der gesellschaftlichen Elite sind ausführlicher als bei Paulus, und der Parteienstreit wird als wirtschaftliche Gewalt gegen die Armen dargestellt. Obwohl wir nicht Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0011 58 Sigurvin Lárus Jónsson 38 Vgl. hierzu William R. Baker, Personal Speech-Ethics in the Epistle of James (WUNT 2/ 68), Tübingen 2 2019, 123-138 und Susanne Luther, Sprachethik im Neuen Testament. Eine Analyse des frühchristlichen Diskurses im Matthäusevangelium, im Jakobusbrief und im 1.-Petrusbrief (WUNT 2/ 394), Tübingen 2015, 135-170. 39 Allison, James (s.-Anm.-21), 524. 40 Vgl. etwa Matt A. Jackson-McCabe, Logos and Law in the Letter of James. The Law of Nature, the Law of Moses and the Law of Freedom (NT.S 100), Leiden 2000, 243: „Der Kerngedanke der Soteriologie des Jakobusbriefes ist nicht ein ,Evangelium‘, durch das man wiedergeboren werden kann, sondern ein Logos, der von Gott bei der Schöpfung in alle Menschen eingepflanzt wurde und der in der Tora seinen schriftlichen Ausdruck findet“, sowie John S. Kloppenborg, Didache 1.1-6.1, James, Matthew, and the Torah, in: Andrew F. Gregory / Christopher M. Tuckett (Hg.), Trajectories Through the New Testament and the Apostolic Fathers, Bd.-2, Oxford 2005, 210 f. 41 Vgl. Kloppenborg, Didache 1.1-6.1 (s. Anm. 40), 202f.: „Jakobus warnt, dass Lehrer nach strengeren Maßstäben beurteilt werden (3,1) und schlägt eine Verhaltensprüfung vor, die auf dem Lebenswandel (anastrophē) derer beruht, die behaupten, weise zu sein (3,13-18). Solche Bedenken sind bei Matthäus noch ausgeprägter, der die Lehrer vor den Gefahren einer Lehre warnt, die im Widerspruch zur Tora steht (5,19f.) […] [und] einen ähnlichen Verhaltenstest für Lehrer vorschlägt-(7,15-20).“ genügend historische Informationen haben, um den sozialen Status oder die Bildung des tatsächlichen Verfassers festzustellen, deuten die Beschreibungen der Reichen im Jakobusbrief auf die Präsenz der römischen Elite in der Gemeinde hin (z. B. Jak 2,1f.). Der implizite Autor signalisiert seinen sozialen Status, ob real oder rhetorisch, durch seine Bildung, um diese Themen anzusprechen. Jak 3,1 gibt uns einen seltenen Einblick in das Selbstverständnis des Autors. Dort verwendet er die 1. Pers. Plural mit Bezug auf die didaskaloi in den Kreisen seines impliziten Publikums. Die Aussage leitet den langen Abschnitt 3,2-12 ein, in dem es höchst anschaulich um die Tugend geht, die eigene Zunge im Zaum zu halten. 38 Sie beginnt mit der Ermahnung, ein „vollkommener Mann“ (teleios anēr) zu werden (3,2). Die 1. Pers. Plural gibt uns einen Einblick, wie der Verfasser Ethos erzeugt: Zusammen mit anderen ist er mit der Rolle des didaskalos betraut und steht als solcher unter einem härteren Urteil (meizon krima 3,1). Außerdem reiht er sich implizit in die Kategorie „vollkommener Mann“ ein, während er explizit seine Fehlbarkeit anerkennt. Dadurch „zeigt er Demut und vergrößert die rhetorische Kraft.“ 39 Drei Faktoren sind für unser Verständnis des Rekurses auf die didaskaloi im Jakobusbrief wichtig: (1) Lehrer besaßen in der frühen Kirche Autorität und stellten Instanzen dar, die von den Gemeinden unterstützt wurden. (2) Das Amt des Lehrers beruhte auf Bildung, im Falle des Jakobus mit Bezug auf die Heilige Schrift (graphē) bzw. die Tora (logos, nomos). 40 (3) Es handelte sich um ein begehrtes Amt, für das der Lehrer sich einer Prüfung unterziehen musste und das strengeren Maßstäben unterlag als die Funktionen anderer Mitglieder der Gemeinschaft. 41 Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0011 Der Jakobusbrief und die antike literarische Bildung 59 42 Vgl. Donald A. Russell, De imitatione, in: David West / Tony Woodman (Hg.), Creative Imitation and Latin Literature, Cambridge 1979, 3: „Das Korpus der maßgeblichen Schriften wird als ,die Bücher‘, ta biblia ([Dionysius] Ars rhetorica 298.1) bezeichnet - eine interessante pagane Parallele zur jüdischen und christlichen Bezeichnung für die Heilige Schrift. Die rhetorische Kultur der ersten vier Jahrhunderte unserer Zeitrechnung war in der Tat eine Zivilisation der ,Bücher‘.“ 43 Vgl. Lee Martin McDonald, Hellenism and the Biblical Canons. Is There a Connection? , in: Stanley E. Porter / Andrew W. Pitts (Hg.), Christian Origins and Hellenistic Judaism. Social and Literary Contexts for the New Testament (Texts and Editions for New Testament Study-10), Leiden 2013, 13-49. 44 Vgl. Wiater, Ideology of Classicism (s.-Anm.-4), 77. 45 Vgl. Jónsson, The Letter of James as Ethopoeia (s.-Anm.-14). Für den Jakobusbrief ist die Septuaginta der grundlegende Bezugspunkt der Argumentation. Er bezeichnet die griechische Bibel als graphē (2,8.23; 4,5f.). Der Autor erwartet von seinen idealen Lesern Kenntnis der Schrift (graphē), wobei er explizite Zitate mit impliziten Anspielungen und der Nacherzählung biblischer Traditionen kombiniert. Beispiele dafür sind Zitate (2,8; 2,23; 4,6), Anspielungen auf Figuren und Erzählungen der Septuaginta (2,21-25; 5,11, 17 f., u. a.) und Appelle an das gemeinsame Wissen durch die Verben ginōskō (1,3; 2,20; 5,20), oida (3,1; 4,4.17), epistamai (4,14) und akouō (5,11) sowie durch rhetorische Fragen. Dies deutet auf ein soziales Umfeld des Jakobus hin, in dem der Autor eine führende Rolle als Lehrer einer Gemeinschaft von literarisch gebildeten Schriftkundigen einnimmt. Verweise auf die Autorität der Schrift waren ein allgemeines Phänomen im hellenistischen Judentum und im frühen Christentum, aber auch in der griechisch-römischen Literatur, wo der Kanon der „Schrift“ (biblia) 42 aus dem klassischen Korpus der Schriften seit Homer be‐ stand. 43 Der Verfasser des Jakobusbriefes und Dionysius von Halikarnass haben die gleichen Erwartungen an die literarische Bildung ihrer idealen Leser, obwohl sich die betreffenden Kanones grundlegend unterscheiden. Wie Dionysius seine Autorität von den literarischen Meistern der attischen Klassiker herleitet, so gründet Jakobus seine Autorität auf historische Personen der Schrift, die unter dem Bekenntnis zu seinem kurios, Jesus Christus, schreiben (1,1). Wichtig für unsere Fragestellung ist, dass Dionysius ausführlich die Techniken der Nachahmung von alten Texten beschreibt, die für die Vergegenwärtigung der Vergangenheit im Medium der Literatur Anwendung finden. 44 Die literarische Nachahmung funktioniert im Jakobusbrief auf mindestens drei Ebenen: (1) Aus der Anrede (1,1) wissen wir, dass es sich um ein Schreiben des Jakobus in Briefform handelt, das als Charakterrede (ēthopoiia) angesehen werden kann. 45 Koen de Temmerman hat auf die enge Verbindung zwischen der Ethopoeia und der Metathese (metathesis) hingewiesen: Unter den Arten der Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0011 60 Sigurvin Lárus Jónsson 46 Koen De Temmerman, Ancient Rhetoric as a Hermeneutical Tool (s. Anm. 15), 35. De Temmerman zitiert Phoebammos aus Leonard Spengel, Rhetores Graeci, Bd. 3, Leipzig 1853, 52f. 47 Vgl. z. B. Dean B. Deppe, The Sayings of Jesus in the Epistle of James, Diss. Amsterdam 1989; Patrick J. Hartin, James and the Q Sayings of Jesus ( JSNTS 47), Sheffield 1991; Wesley Hiram Wachob, The Voice of Jesus in the Social Rhetoric of James (MSSNTS 106), Cambridge 2000. 48 Theon, Progymnasmata-74,8; 80,10; 85,31; 86,4f.; 101,3.6.32; 107,24; 119,14.31. 49 Vgl. Quintilian, Institutio oratoria 10.5.5: „Auch möchte ich nicht, dass die Paraphrase (der Dichtung) nur eine Übersetzung liefert, sondern es soll um die gleichen Gedanken ein Wettkampf und Wetteifern (atque aemulationem) stattfinden“. Zitiert aus: Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners. Zweiter Teil, Herausgegeben und über‐ setzt von Helmut Rahn, Darmstadt 3 1995, 517. 50 Vgl. John S. Kloppenborg, The Emulation of the Jesus Tradition in the Letter of James, in: Robert L. Webb / John S. Kloppenborg (Hg.), Reading James with New Eyes, New York 2007; John S. Kloppenborg, The Reception of the Jesus Tradition in James, in: Robert W. Wall / Karl-Wilhelm Niebuhr, Catholic Epistles and Apostolic Tradition. A New Perspective on James to Jude, Waco 2009. Ethopoeia in rhetorischen Abhandlungen nennt er „rhetorische Denkfiguren […] in direkter Rede […], Metathese […], Transposition (methistēsis) einer Äußerung auf die Ebene eines anderen Sprechers.“ 46 Diese Stilmittel dienen dem Zweck der Neuschreibung von Worten, die auf eine autoritative Figur zurückgeführt werden. (2) Eine zweite Ebene der Nachahmung bezieht sich auf das Vermächtnis Jesu, das in Jak 1,1 und 2,1 explizit genannt wird und dessen Lehren sich durch den gesamten Brief ziehen. 47 John Kloppenborg hat die Rezeption von Jesustradition im Jakobusbrief untersucht und ist dabei auf das rhetorische Stilmittel der Rezitation oder Wiederholung (apaggelia) gestoßen, wie es sich bei Aelius Theon findet, 48 sowie auf die von Quintilian beschriebene Paraphrase und die Nachahmung (aemulatio). 49 Hieraus gewinnt er ein überprüfbares Modell für eine rhetorische Analyse der Jesustradition im Jakobusbrief. 50 (3) Auf der dritten Ebene der Nachahmung geht es um die Verwendung von Material aus der Septuaginta, das sowohl aus expliziten Zitaten als auch aus impliziten Anspielungen und der Umarbeitung von Texten besteht, ganz in Übereinstimmung mit den rhetorischen Kategorien der Nachahmung und des Umschreibens. Schwerpunktmäßig war dies in meinem Buch anhand von Abschnitten zu untersuchen, die explizite Schriftverweise enthalten (2,8-13; 4,1-10), sowie im Blick auf Passagen, in denen sich der Verfasser biblischer exempla bedient (2,21-25 und-5,10f.17f.). Im letzten Kapitel habe ich untersucht, welchem rhetorischen Zweck die Selbstinszenierung des Verfassers als autoritative Figur gedient haben könnte. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass sozioökonomische Ungleichheit und Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0011 Der Jakobusbrief und die antike literarische Bildung 61 51 Vgl. Mariam Kamell, The Economics of Humility. The Rich and the Humble in James, in: Bruce W. Longenecker / Kelly D. Liebengood (Hg.), Engaging Economics. New Testament Scenarios and Early Christian Reception, Grand Rapids 2009, 166-168. 52 Vgl. Jónsson, James among the Classicists (s.-Anm.-1), 122-124. 53 Vgl. Jónsson, James among the Classicists (s.-Anm.-1), 87-90. 54 Die Kombination von orphanos und chēra ist in der jüdischen Literatur als Sammel‐ begriff für Hilfsbedürftige weit verbreitet, findet sich aber in der paganen Literatur nicht. Der TLG nennt zu orphanos, -ē, -on + chēra 38 Belege in der Septuaginta (35 innerhalb eines Abstands von 5 Wörtern), 10 bei Philo sowie einen Beleg bei Jose‐ phus, Antiquitates iudaicae 4.241. Unter den Ergebnissen sind einige pagane Autoren, wie Sophokles, Ajax 653; Lysias, Epitaphius 71.6; und Dionysius von Halikarnass, Antiquitates Romanae-VIII.51.3, jedoch nirgends als Bezeichnung für Hilfsbedürftige. 55 Vgl. David Hutchinson Edgar, Has God Not Chosen the Poor? The Social Setting of the Epistle of James ( JSNTS-206), Sheffield 2001, 122f. 56 Vgl. Oda Wischmeyer, Jak 3,13-18 vor dem Hintergrund von 1Kor 1,17-2,16. Frühchrist‐ liche Weisheitstheologie und der Jakobusbrief, in: ASE 34 (2017), 403-430. Konflikte innerhalb der Gemeinde im Mittelpunkt der Botschaft des Jakobus an die Synagoge(n) (2,2) und die Versammlung(en) (5,14) stehen, an die er sich wendet. Das Eröffnungskapitel des Jakobusbriefes führt wichtige Themen ein, die der Autor im Hauptteil des Briefes weiter ausführt. Das Thema Reichtum wird in Jakobus 1,9-11 eingeführt, wo die Kategorien der Demut und des Reichtums einander gegenübergestellt 51 und die Reichen in der Sprache von Jesaja 40 vor dem bevorstehenden Gericht gewarnt werden. 52 In der abschlie‐ ßenden Zusammenfassung des ersten Kapitels wird ein prophetisches Ethos der Frömmigkeit (thrēskos / thrēskeia, 1,26-27) als Fürsorge für die sozioökonomisch Bedürftigen begründet: 53 „Reine und unbefleckte Frömmigkeit […] ist dies: Sich der Waisen (orphanous) und der Witwen (chēras) in ihrer Bedrängnis anzunehmen“ (1,27). 54 Die erste direkte Erwähnung von Gewalt finden wir in Kapitel 2, wo das zentrale Thema die Bevorzugung (prosōpolēmpsia, 2,1) der Reichen in der Gemeinschaft (synagōgē, 2,2) ist. Der Autor behauptet unmissverständlich, dass die Armen in ihrer Stellung bei Gott Vorrang vor den Reichen haben (2,2), und im Fortgang der Argumentation tadelt er die Gemeinde (hymeis de) dafür, dass sie die Armen entehrt (atimazō) haben (2,6). Der Autor stellt dann eine rhetorische Frage: „Sind es nicht die Reichen, die euch unterdrücken (katadynasteuō)? Sind sie es nicht, die euch vor Gericht zerren (helkō)? “ (2,6). Dieser Rekurs auf Gewalt bezieht sich auf wirtschaftliche Unterdrückung und Ausbeutung, 55 und beide transitiven Verben, katadynasteuō und helkō, beschreiben Handlungen, die ohne Einverständnis der Betroffenen ausgeführt werden. Die wichtigste neutestamentliche Parallele findet sich im 1. Korintherbrief, 56 wo Paulus in ähnlicher Weise wie Jakobus auf der Seite der Schwachen gegen die Starken Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0011 62 Sigurvin Lárus Jónsson 57 Vgl. Oda Wischmeyer, Zwischen Gut und Böse. Teufel, Dämonen, das Böse und der Kosmos im Jakobusbrief, in: Jan Dochhorn / Susanne Rudnig-Zelt / Benjamin Wold (Hg.), Das Böse, der Teufel und Dämonen (WUNT-2/ 412), Tübingen 2016, 153-168. 58 Edgar, Has God Not Chosen the Poor (s. Anm. 55), 190 kommt zu dem Ergebnis, dass, „diese Formulierung eher als bildlicher, rhetorisch überspitzter Ausdruck von Uneinig‐ keit zu verstehen [ist], denn als Verweis auf tatsächliche Taten militärischer Gewalt.“ Allison, James (s. Anm. 21), 596 Anm. 34 erkennt dagegen die Minderheitsposition derjenigen Exegeten an, die für buchstäbliche Kriege oder körperliche Gewalt plädieren, wobei einige neuere Ausleger einen zelotischen Kontext annehmen, vgl. etwa Michael J. Townsend, James 4.1-4. A Warning against Zealotry, in: ET 87 (1976), 211-13 und Ralph P. Martin, James (WBC-48), Waco 1988, 144-147. 59 Allison, James (s. Anm. 21), 600 weist auf die Ähnlichkeit mit den militärischen Formulierungen bei Paulus (2Kor-10,3-6; Röm-7,23) und in 1Petr-2,11 hin. steht (1Kor 1,26-29). Um Gewalt geht es sodann in Jak3,13-18, wo die friedlichen Früchte der himmlischen Weisheit (hē anōthen sophia) als Heilmittel gegen den Streit innerhalb der Gemeinde vorgestellt werden ( Jak 3,17-18) und der Ursprung dieses Streits ist der Einfluss der konträren irdischen, weltlichen, dämonischen Weisheit (sophia … epigeios, psychikē, daimoniōdēs, 3,15). 57 Die Weisheitstheologie des Jakobus weist ihrerseits eine Affinität zum 1. Korinther‐ brief auf, wo Paulus die Weisheit Gottes (theou sophian, 1Kor 2,7) als Heilmittel gegen die Spaltungen in der Gemeinschaft (schismata, 1Kor 1,10) darstellt. In Jak 3,16 ist der beschriebene Streit mit Unordnung (akatastasia) und Bosheit (pan phaulon pragma) verbunden, die aus Neid und egoistischem Ehrgeiz (zēlos kai eritheia) resultieren. Jak 4,1-6 ist das deutlichste Beispiel für gruppeninterne Gewalt, obwohl die Ausleger diese Sprache im Allgemeinen als metaphorisch betrachtet haben. 58 Nachdem er die Ursache des Streits (zēlos kai eritheia, 3,16) und die Heilung (hē anōthen sophia, 3,17) angesprochen hat, fragt der Autor weiter, warum es Kriege (polemoi) und Kämpfe (machai) unter seinen impliziten Lesern (en humin) gibt, wobei er egoistische Begierden (hēdonē) als Ursache benennt ( Jak 4,1). Die Ausleger haben polemos und machē im Allgemeinen metaphorisch interpretiert, unter Hinweis auf die folgende militärische Metapher, wobei hēdonē als Kampf (strateuomenōn) unter den Gliedern (en tois melesin humōn) der implizierten Leser verstanden wird (4,1). 59 Eine wörtlichere Auslegung von machē in 4,1 kann durch den folgenden Vers gestützt werden, der wiederum die impliziten Leser anklagt (4,2): „Ihr tötet (phoneuete) und ihr eifert (zēloute) und könnt nicht erlangen. Ihr streitet (machesthe) und führt Kriege (polemeite).“ Auch hier geht es bei den Konflikten um egoistisches Verlangen (epithumeō, 4,2) und Begehren (hēdonē, 4,3), und das Ergebnis ist ein realer gewaltsamer Konflikt. Nimmt man den sprachlichen Rekurs auf Gewalt für bare Münze, dann werden die impliziten Leser mit dem Vorwurf konforntiert, dass sie tatsächlich einen Mord begehen, Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0011 Der Jakobusbrief und die antike literarische Bildung 63 60 Mt-12,37; Lk-6,37. 61 Vgl. Jónsson, James among the Classicists (s.-Anm.-1), 42f. 62 Vgl. Troels Engberg-Pedersen, The Concept of Paraenesis, in: James Starr / Troels Engberg-Pedersen (Hg.), Early Christian Paraenesis in Context (BZNW 125), Berlin und eine solche Interpretation passt gut zur Sprache des Konflikts im unmit‐ telbaren Sachzusammenhang dieser markanten Phrase. Die Ermahnungen an die Reichen in der Gemeinde finden ihre Fortsetzung in 5,1-6, wo der Autor erneut hoi plousioi-(5,1) an die Strafe erinnert, die sie zu erwarten haben, wenn sie in den letzten Tagen Schätze unrechtmäßig aufbewahren-(5,3). Die Reichen werden beschuldigt, den Lohn ihrer Arbeiter gestohlen zu haben, deren Schreie die Ohren des Herrn der Heere (kuriou sabaōth, 5,4), erreicht haben. Diese Anklage gipfelt im Vorwurf des Mordes: „Ihr habt den Gerechten (ton dikaion), der euch nicht widersteht (antitassetai), verurteilt (katedikasate) und ermordet (ephoneusate)“ (5,6). Das Verb katadikazō ist ein juristischer Begriff, der in der synoptischen Tradition interessanterweise etwas mit der Zurückhaltung im verurteilenden Sprechen zu tun hat. 60 Im Kontext des Jakobusbriefes kann er als Reflex der Anklage aus 2,6 gesehen werden, dass die Reichen die Armen vor Gericht zerren. Dann geht es in 5,6 sowohl um wirtschaftliche Ungerechtigkeit als auch um rechtswidriges Töten. Die sprachlichen Rekurse des Jakobusbriefes auf Gewalt konzentrieren sich auffallend auf das Thema der sozioökonomischen Ungleichheit, und obwohl den Armen eine herausragende Stellung eingeräumt wird (2,5), richtet sich die Rhe‐ torik gegen die Wohlhabenden. Der Autor geht zwar nicht explizit auf die soziale Stellung der Reichen innerhalb der Gemeinde ein, aber er spricht sie wiederholt an, und seine Rhetorik macht wenig Sinn, wenn er nicht davon ausgeht, dass sie zu seinem Zielpublikum gehören. Die Reichen werden gewarnt, dass sie verwelken werden wie eine Blume in der brennenden Sonne (1,9-11), dass sie keine Privilegien in der Gemeinde erwarten können (2,1-5), dass ihr Glaube nichts nützt, wenn sie ihren Reichtum nicht mit den Armen teilen (2,14-18) und dass ihnen ihr Reichtum in den letzten Tagen zur Strafe gereichen wird (5,1-3). Die Gewalt geht entweder direkt von den Reichen aus, die die Armen entehren, unterdrücken und vor Gericht zerren (2,6), aus Habgier töten (4,2-3), ihre Arbeiter betrügen (5,4) und die Gerechten ermordet haben (5,6), oder aber sie sind durch ihre irdische Weisheit (3,14-16) und ihr Gewinnstreben (4,13-14) indirekt daran schuld. Der Verfasser adressiert die gruppeninterne Gewalt und sozioökonomische Ungleichheit in Form eines autoritativen ethopoetischen Briefes, 61 der weitest‐ gehend in einem imperativischen Duktus geschrieben ist. 62 Zugleich legt er mit der betonten Verwandtschaftsmetaphorik - so zuerst in 1,2 „meine Brüder“ Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0011 64 Sigurvin Lárus Jónsson 2004, 53. In 108 Versen verwendet der Jakobusbrief 54 imperativische Verben sowie eine Reihe von Konjunktiven (und futurischen Formen) mit imperativischer Bedeutung. 63 Das Substantiv adelphos (adelphoi) kommt im Jakobusbrief-19 Mal vor. 64 Vgl. Jónsson, James among the Classicists (s.-Anm.-1), 152. 65 D. h. die Beherrschung der Zunge in 3,2-12 und die Warnung vor den Gefahren selbstsüchtiger Begierde (hēdonē) in-4,2-4. 66 Vgl. Jónsson, James among the Classicists (s.-Anm.-1), 96 f. 67 Vgl. Jónsson, James among the Classicists (s.-Anm.-1), 74f. 68 Vgl. Jónsson, James among the Classicists (s.-Anm.-1), 152f. (adelphoi mou) 63 - den diskursiven Rahmen für das, was nun als Bruderkonflikt und Brudermord ansichtig wird. Damit schafft er zugleich die Voraussetzung für ein Ethos der Versöhnung. 64 Das rhetorische Ziel der ethischen Lehre(n) 65 wie auch der Weisheitstheologie (hē anōthen sophia) ist es, Frieden in der Gemeinschaft der Brüder zu stiften (3,18). Die Autorität des Verfassers beruht auf seiner Bildung, die implizit durch seine Sprachkompetenz, seinen Status als Lehrer und seine Rolle als Empfänger der göttlichen Weisheit dargestellt wird. Er demonstriert seine Sprachkompetenz im Eröffnungskapitel durch verschiedene Mittel wie Metrum, 66 Alliteration und Assonanz (1,11.21) und originellen Wortgebrauch (z. B. anemizomai, 1,6; thrēskos, 1,26). 67 Die Lehrerrolle kommt implizit in der Ermahnung zur Geltung, dass die Adressaten nicht so zahlreich nach der Autorität eines Lehrers streben sollen (didaskaloi, 3,1), gefolgt von seiner Auslegung der Schrift (hē graphē, 2,23), in der er u. a. Abraham (2,23f.) und Hiob (5,1) als ethische Vorbilder (exempla) präsentiert. 68 Die Rolle als Empfänger von Weisheit klingt in der Verheißung an, dass diejenigen, die Weisheit suchen, diese freigiebig und großzügig empfangen werden (1,5). Der Empfang der anōthen sophia (3,17), die ein gutes Leben bewirkt (3,13), bildet die Argumentationsgrundlage für den impliziten Autor: Jakobus hat diese Weisheit empfangen und kann daher aufgrund seines eigenen Beispiels andere ermahnen, sie zu suchen. James among the Classicists schließt mit einer Reflexion über die Möglich‐ keiten und Wahrscheinlichkeiten der Interpretation des Briefes. Die Unterschei‐ dung zwischen dem, was historisch nachweisbar ist, und dem, was anhand von Textbeobachtungen vermutet werden kann, bildet die Grundlage für eine Reihe von Schlussfolgerungen, die Plausibilität beanspruchen dürfen. Drei davon sollen hier eigens angesprochen werden: (1) Die erste betrifft die Bildung des Verfassers. Wir können zwar nicht mit Sicherheit sagen, welche literarische Bildung Jakobus genossen hat oder wo er solch einen Unterricht erhalten haben könnte, aber unsere Lektüre hat gezeigt, dass der Verfasser bestrebt ist, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, und zwar durch ein breites Repertoire an Vokabeln, durch Variation in der Wortwahl, Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0011 Der Jakobusbrief und die antike literarische Bildung 65 69 Vgl. Jónsson, James among the Classicists (s.-Anm.-1), 144. 70 Vgl. Jónsson, James among the Classicists (s.-Anm.-1), 152f. 71 Aristoteles, Ars rhetorica-1.2.5 (1356A-18f.). durch pleonastische Wiederholungen und poetische Mittel. Daraus ziehen wir den Schluss, dass der Autor seine Bildung signalisieren will und dass dies ein wichtiger Teil seiner rhetorischen Agenda ist. (2) Eine zweite Beobachtung bezieht sich auf den antiken Zusammenhang zwischen Sprache und Ethos als Mittel zur Erzeugung von Autorität. Wenn der Autor auf Jakobus von Jerusalem anspielt, können uns eine Reihe von Texten Hinweise auf dessen historischen Status und sein Nachleben geben, aber hierzu verlautet von unserem Autor explizit nichts. Klar ist, dass der Jakobusbrief ein autoritatives Dokument ist, was sich in der Vorliebe des Verfassers für Imperative, seinem Vertrauen in seine Behauptungen und seinem Absolutheitsanspruch bei moralischen Forderungen zeigt. Daraus ziehen wir den Schluss, dass Autorität für Jakobus ein zentrales Anliegen ist, obwohl sein Ethos und seine Autorität (meist) implizit begründet sind. (3) Die letzte Hypothese betrifft die rhetorische Absicht des Briefes, die, wie sich zeigte, auf eine sozioökonomische Kluft innerhalb der adressierten Ge‐ meinden betrifft. Auch hier ist es schwierig, über die tatsächlichen Verhältnisse ohne einen Zirkelschluss Näheres zu sagen, aber die Vorherrschaft des Themas Reichtum und Gewalt deutet auf ein wichtiges Anliegen unseres Autors hin. Zusammengenommen scheinen diese Faktoren auf ein Umfeld hinzudeuten, in dem Bildung wichtig und wohlhabende Personen in nicht geringer Zahl Mitglieder-(sic) der Gemeinden sind. Der Jakobusbrief beginnt mit einem emotionalen Aufruf zur Freude, 69 was kontraintuitiv erscheint - sowohl angesichts der folgenden Warnung des Autors vor Prüfungen (peirasmois peripesēte poikilois, 1,2) als auch angesichts seiner Beschreibungen innergemeinschaftlicher Konflikte, der Gewalt gegen die Armen und der Strafe, die die Reichen erwartet. 70 Dennoch ist die freudige Hoffnung die Geisteshaltung, die der Autor den idealen „Hörern, […] die zu Gefühl(en) (pathos) geführt werden,“ 71 vorgibt. Entsprechend schließt der Brief mit einem Versprechen: Wer auch nur einen einzigen (ean tis humin, 5,19) Sünder (hamartōlon, 5,20), der von der Wahrheit abgeirrt ist (planēthē apo tēs alētheias, 5,19) wieder auf den rechten Weg bringt, wird nicht nur seine Seele retten (sōsei psuchēn, 5.20), sondern auch eine Vielzahl von Sünden bedecken (kalupsei plēthos hamartiōn, 5,20). Jakobus verwendet sowohl am Anfang als auch am Ende des Briefes ein pathetisches Überzeugungsmuster, dem er durch Alliterationen (1,2) und Assonanzen (5,19f.) eine poetische Note verleiht. Diese Stilmittel ziehen sich durch den gesamten Brief und lassen in der Summe auf eine Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0011 66 Sigurvin Lárus Jónsson bestimmte Absicht schließen. Das Ziel des Autors ist es, seine Zuhörer davon zu überzeugen, diesem Weg zu folgen, der letztlich zu Weisheit (sophia, 1,5; 3,13-18) und Vollkommenheit (teleios, 1,4; 3,2) führt. Um sein Ziel zu erreichen, begründet und behauptet Jakobus seine Autorität durch die literarischen Techniken, die von einem poetischen Stil bis hin zu aristotelischen Figuren der Argumentation reichen. Der Zugang zur frühchristlichen Literaturproduktion über Dionysius von Halikarnass führt uns den Verfasser des Jakobusbriefes als kundigen Autor vor. Er ist in den literarischen Trends der hellenistischen Kultur bewandert, die einer Schrift Autorität und Überzeugungskraft verleihen. Der Jakobusbrief zeigt beispielhaft, wie ertragreich die Interpretation zahlreicher antiker jüdischer wie christlicher Texte auf diesem Hintergrund zu sein verspricht. Sigurvin Lárus Jónsson studierte evangelische Theo‐ logie und Neues Testament an der Universität Island und promovierte im Jahr 2019 an der Universität Aarhus (Dä‐ nemark). Er ist derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am neutestamentlichen Seminar an der Evangelisch-Theo‐ logischen Fakultät der WWU Münster. Zu seinen For‐ schungsinteressen zählen antike Literaturtheorie und Literaturgeschichte. Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0011 Der Jakobusbrief und die antike literarische Bildung 67
