ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2022-0012
121
2022
2550
Dronsch Strecker VogelEin Ritter und ein Bettler
121
2022
Ingeborg Mongstad-Kvammen
znt25500069
1 Vgl. Fernando F. Segovia, Decolonizing Biblical Studies. A View from the Margins, Maryknoll 2000. 2 Vgl. Vernon K. Robbins, The Tapestry of Early Christian Discourse. Rhetoric, Society and Ideology, London-/ -New York 1996. 3 Vgl. Ingeborg Mongstad-Kvammen, Toward a Postcolonial Reading of the Epistle of James. James-2: 1-13 in its Roman Imperial Context (BINT-119), Leiden-/ -Boston 2013. Ein Ritter und ein Bettler Jakobus 2,1-4 in postkolonialer Perspektive Ingeborg Mongstad-Kvammen 1 Einführung Ich hatte das Privileg, im Jahr 2003 an der School of Mission and Theology, der heutigen VID Specialized University, ein Doktorandenstipendium zu erhalten. In den folgenden vier Jahren forschte ich über Jakobus 2,1-13. Es handelte sich um eine historische Lektüre des Textes aus einem postkolonialen Blick‐ winkel, der sich stark an Fernando Segovias Auffassung zum Verhältnis von Postkolonialismus und Bibelwissenschaft orientierte. 1 Methodisch fand ich die sozio-rhetorische Interpretation von Vernon K. Robbins hilfreich, 2 da ich in Anwendung seiner kombinierten Methodik historische, intertextuelle und ideologische Perspektiven leicht verbinden konnte. Im Jahr 2013 habe ich das Buch Toward a Postcolonial Reading of the Epistle of James veröffentlicht, eine überarbeitete Fassung meiner Dissertation. 3 Mein Hauptbeitrag zur Erforschung des Jakobusbriefes bestand darin, den anēr chyrsodaktylios in Jak 2,2 als römischen Ritter zu identifizieren, der ein politisches Amt anstrebt, sowie den ptōchos als einen Bettler, und diese beiden Beobachtungen zum Fokus meiner Interpretation zu machen. Vor diesem Hin‐ tergrund verstehe ich den Verfasser des Jakobusbriefes so, dass er die Gemeinde für ihr Verhalten kritisiert, das sie an den Tag legen, wenn gleichzeitig sowohl jener Ritter als auch der Bettler in der Gemeindeversammlung erscheinen. Seine Kritik richtet sich allem Anschein nach im Kern darauf, dass die Gläubigen in der 4 Der lateinische terminus technicus ist toga candida. Situation der Versammlung sich nach den sozialen und kulturellen Standards der römischen Umgangsformen und nicht entsprechend ihrer jüdisch-christlichen Prägung verhalten. Dadurch verraten sie eine Parteilichkeit, die nach Jakobus mit dem christlichen Glauben unvereinbar ist, und sie setzen ihr Vertrauen in einen römischen Ritter anstatt in Gott. Mein Hauptbeitrag zu einer postkolonialen Lektüre des Jakobus besteht a) in der Deutung des Ritters als eines Repräsentanten des römischen Imperiums, b) darin, dass ich gezeigt habe, dass das Hauptproblem in dieser Texteinheit tatsächlich ein Fall von hybriden Identitäten ist, und c) im Aufweis, dass der Text anhand mehrerer Beispiele das Problem der Binaritäten (binarities) namhaft macht: Kolonisator - Kolonisierte, Macht - Machtlose, Reich - Arm, Ehre - Schande, Zentrum - Rand und Zentren im Konflikt. Darüber hinaus habe ich gezeigt, dass eine der wichtigsten Prämissen des Jakobusbriefs das Konzept der Diaspora ist, ein Konzept, das in den postcolonial studies als eine Folge des Kolonialismus angesehen wird. Im Rahmen dieses Beitrages möchte ich einen kurzen Einblick in die Identi‐ fizierung des anēr chyrsodaktylios geben, eines Mannes, der einen goldenen Ring trägt, und des ptōchos, eines Bettlers. Außerdem möchte ich die Konsequenzen dieser Identifizierungen für die Interpretations des Textstücks skizzieren, u. zw. sowohl aus historischer wie auch aus postkolonialer Sicht. 2 Die Identifizierung anēr chyrsodaktylios und des ptōchos Zunächst der Text aus dem Jakobusbrief ( Jak 2,1-4), der uns nachfolgend beschäftigen wird: 1 Meine Brüder und Schwestern, ihr könnt nicht an unseren Herrn, den herrlichen Jesus Christus, glauben und Parteilichkeit zeigen. 2 Denn wenn ein Mann mit einem goldenen Ring und in glänzendem Gewand (anēr chyrsodaktylios en esthēti lampra) 4 und auch ein Bettler in schmutziger Kleidung (ptōchos en rhupara esthēti) zufällig in eure Versammlung kommen sollten, 3 und ihr seht denjenigen, der die helle Kleidung trägt, mit Wohlwollen an und sagt ihm: ,Du darfst hier sitzen, auf einem ehrenvollen Platz‘, während ihr dem Bettler sagt: ,Du darfst dort stehen oder neben meinem Fußschemel sitzen‘, 4 seid ihr dann nicht untereinander schwankend und zu schlecht denkenden Richtern geworden? (eigene Übersetzung). Vers 1 hat den Charakter einer ernsten Ermahnung. Der Verfasser stellt fest, dass der christliche Glaube mit Parteilichkeit unvereinbar ist. Er stützt sich Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0012 70 Ingeborg Mongstad-Kvammen 5 Ausführlich hierzu Mongstad-Kvammen, Toward a Postcolonial Reading of the Epistle of James (s. Anm. 3), 82-100. 6 Vgl. Richard Salle, Status and Patronage, in: Alan K. Bowman / Peter Garnsey / Dominic Rathbone (Hg.), The Cambridge Ancient History. The High Empire, A. D. 70-192, Cambridge 2000, 817-854, 822. dabei auf jüdisch-christliche Traditionen, die in einer christlichen Gemeinde, die sowohl aus jüdischen wie auch aus nichtjüdischen Gläubigen besteht, bekannt sind. Da sie jedoch in einer römischen Gesellschaft leben, steht der kulturelle Kontext, wie anzunehmen ist, in direktem Konflikt mit der jüdisch-christlichen Tradition. Mutmaßlich ist es dieser Konflikt, den die Ermahnung des Briefes berechtigterweise anspricht. Wie sah aber dieser kulturelle Kontext aus? Der römische Verhaltenskodex war determiniert durch soziale Rang- und Statusunterschiede, die sich auf individueller wie überindividueller Ebene vielfältig niederschlugen. 5 Auf der überindividuellen Ebene spielte die Geographie eine Rolle. Völker und Nationen, die nicht zum Imperium gehörten, waren weniger wichtig als Völker des römischen Reiches. Darüber hinaus gab es innerhalb des Reiches einen deutlich ausgeprägten Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Rom und dem Rest des Reichsgebietes, zwischen Städten und ländlichen Regionen. Auf individueller Ebene spielte das römische Bürgerrecht eine Rolle. Eine der wichtigsten Unterscheidungen bestand darin, ob jemand dieses Bürgerrecht besaß oder nicht. Es brachte Privilegien mit sich, die andere nicht hatten. Ein weiterer wichtiger Unterschied bestand darin, ob eine Person Sklave oder frei war. Die große Mehrheit der Bürger waren Plebejer. Die Elite bestand aus den vierzehn patrizischen Clans (meist Senatoren), dem Rest der senatorischen Ordnung (der ersten Ordnung), der Ritterordnung (der zweiten Ordnung) und möglicherweise einigen Freigelassenen, die aufgrund von Reichtum und umfangreicher Wohltätigkeit einen hohen gesellschaftlichen Status erhalten hatten. Diese Rangunterschiede gingen Hand in Hand mit Parteilichkeit und Usurpation. 6 Am privilegierten Ende finden wir den Kaiser und die ersten beiden Ordnungen. Am nichtprivilegierten Ende finden wir Plebejer, Nichtbürger, Sklaven, Frauen und die Armen. Die ungleiche Behandlung je nach Rang und Stellung in der Gesellschaft war den römischen Umgangsformen tief eingeschrieben. In Vers 2 betreten zwei Personen die Versammlung: ein Mann, der einen gol‐ denen Ring und helle Kleidung trägt, und ein Bettler in schmutziger Kleidung. Der Bettler muss stehen oder neben jemandes Schemel sitzen, während der Mann mit dem goldenen Ring einen ehrenvollen Platz erhält. Die Reaktion Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0012 Ein Ritter und ein Bettler 71 7 Vgl. etwa Rudolf Hoppe, Der theologische Hintergrund des Jakobusbriefes (FzB 28), Würzburg 1977, 78; Martin Dibelius, Der Brief des Jakobus (KEK 15), Göttingen 1964, 164; Pedrito U. Maynard-Reid, Poverty and Wealth in James, Maryknoll 1987, 57 f.; Patrick J. Hartin, James and the Q Sayings of Jesus ( JSNTSup 47), Sheffield 1991, 90; Matthias Ahrens, Der Realitäten Widerschein oder Arm und Reich im Jakobusbrief. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung, Berlin 1995, 63.115; David Hutchinson Edgar, Has God not Chosen the Poor? The Social Setting of the Epistle of James ( JSNTSup 206), Sheffield 2001, 167f. 8 Die wichtigsten Quellen hierzu sind Plinius, Cassius Dio und Sueton; Nachweise bei Mongstad-Kvammen, Toward a Postcolonial Reading of the Epistle of James (s. Anm. 3), 86-88. 9 Nachweise aus Sueton, Livius, Cicero, Tacitus und Plinius bei Mongstad-Kvammen, Toward a Postcolonial Reading of the Epistle of James (s. Anm. 3), 91-94. 10 Vgl. Mongstad-Kvammen, Toward a Postcolonial Reading of the Epistle of James (s. Anm. 3), 88-91. 11 Vgl. Henry George Liddell / Robert Scott / Henry Stuart Jones (Hg.), A Greek-Eng‐ lish Lexicon, Oxford 9 1940 (Nachdr. 1978), s. v. lampros. Ausführlicher hierzu Mongstad-Kvammen, Toward a Postcolonial Reading of the Epistle of James (s. Anm. 3), 88-91. der Versammlung auf den Besuch besteht mithin darin, sich entsprechend den römischen Umgangsformen parteiisch zu zeigen. Die Gläubigen tun damit genau das, was der Verfasser in 2,1 als unvereinbar mit dem christlichen Glauben bezeichnet. Wer sind nun die beiden Personen, die die Versammlung betreten, und welchen Rang haben sie? Die meisten Ausleger gehen davon aus, dass es sich bei dem anēr chyrsodaktylios in 2,2 um einen sehr reichen Mann handelt. 7 Dies ist aber keine hinreichend genaue Identifizierung, da es im Text drei Hinweise darauf gibt, dass der Mann mit dem goldenen Ring ein Mitglied des Ritterstandes ist. Erstens war der goldene Ring im römischen Reich des 1. Jh. ein Insignienring des Ritterstandes. 8 Zweitens waren Ritter ebenso wie Senatoren bei der Sitzordnung in öffentlichen Versammlungen privilegiert. 9 Arme, Frauen, Freigelassene, Gladiatoren und Sklaven saßen in den hinteren Reihen oder mussten stehen. Drittens wurde die Zugehörigkeit zum Ritterstand durch die Kleidung zum Ausdruck gebracht. Die Ritter hatten das Recht, den angustus clavus, ein schmales Purpurband, zu tragen. Sie waren teilweise auch aussichtsreiche Kandidaten für politische Ämter. Bewarb sich ein Ritter um ein politisches Amt, durfte er die toga candida tragen. 10 Jak 2,2-4 verwendet mit esthēs lampra das griechische Äquivalent. 11 In Jak 2,2-4 gibt es mithin drei klare Hinweise darauf, dass es sich bei dem Mann, der einen goldenen Ring trägt, um einen Ritter und damit um einen Angehörigen des zweithöchsten ordo im römischen Reich handelt, u. zw. um jemanden, der ein politisches Amt anstrebt: Er trägt einen goldenen Ring, er erhält einen ehrenvollen Sitz in der Versammlung, und er trägt die toga candida. Laws, Tamez, Moo und Hartin Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0012 72 Ingeborg Mongstad-Kvammen 12 Vgl. Sophie Laws, A Commentary on the Epistle of James (BNTC), London 1980, 23; Douglas J. Moo, The Letter of James, Grand Rapids 2000, 103; Elsa Tamez, The Scandalous Message of James. Faith Without Works Is Dead, New York 2002, 23; Patrick J. Hartin, James (SaPaSe 14), Collegeville 2003, 117 f. Hartin meint freilich, dass „der Kontext des Jakobusbriefes eine derartige spezifische Identifikation nicht nahelegt“. Zur Identifikation des Reichen als Senator vgl. Bo Reicke, The Epistles of James, Peter, and Jude (AB-37), Garden City 1964, 27. 13 Vgl. Brent D. Shaw, Rebels and Outsiders, in: Bowman / Garnsey / Rathbone (Hg.), The Cambridge Ancient History (s. Anm. 6), 361-404, 389. 14 Vgl. etwa den Gebrauch von ptōchos bei Dio Chrysostomos 7,32,3; 9,8,6; 9,9,5; 11,15,4; 13,11,2; 14,22,2; 14,22,4; 19,4,2; 66,3,7; 66,20,5; 66,20,58; 71,3,7 und Epiktet, Dissertationes 3,11,4,4; 4,1,43,3; 17,1,2; Fragmente 1,9. Relevant ist auch Lukian, der an einer Stelle doulos, penēs und ptōchos in der Bedeutung „Sklave“, „Armer“ und „Bettler“ verwendet, vgl. Lucian in eight volumes (LCL), Bd.-4, Cambridge 1969, 96 f. (Menippos-14,9). 15 Ich übernehme die Unterscheidung zwischen „relativ Armen“ und „absolut Armen“ aus Ekkehard W. Stegemann / Wolfgang Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart 1995, 88ff. 16 Vgl. Stegemann-/ -Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte (s. Anm. 15), 89. 17 Vgl. Stegemann-/ -Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte (s. Anm. 15), 91. 18 Vgl. Bruce J. Malina, The New Testament World. Insights from Cultural Anthropology, Louisville 1993, 106. 19 Edgar zeigt auf, dass die „Armen“ des Jakobusbriefes als Marginalisierte der Jesusbe‐ wegung nahestehen, vgl. Edgar, Has God not Chosen the Poor? (s. Anm. 7), 111-114. schlagen diese Identifizierung des anēr chyrsodaktylios ebenfalls vor, doch bleibt dies für ihr eigenes Textverständnis ohne Bedeutung. Dagegen sieht Reicke in jenem anēr chyrsodaktylios sogar einen Senator. 12 Wenn der anēr chyrsodaktylios ein Ritter ist, was ist dann mit der zweiten Person, die die Versammlung betritt, dem ptōchos? In der sozialen Hierarchie des römischen Reiches gehörte die Gruppe der ptōchoi zu den untersten Rängen. Nur Frauen, Gladiatoren und Sklaven waren rangniedriger. 13 Der deutsche Ausdruck „bettelarm“ fasst ihre Situation sehr gut zusammen. Eine TLG-Recherche zu ptōchos macht deutlich, dass der Aspekt des Bettelns auch in der klassischen Literatur dominierend ist. 14 Die Gruppe der ptōchoi waren die absolut Armen. 15 Sie lebten entweder am Existenzminimum oder darunter, verfügten über kei‐ nerlei Einkünfte und waren daher auf Almosen angewiesen. 16 Nicht selten lebten sie regelrecht als Bettler. Witwen und Waisen gehörten oft zu dieser Gruppe, ebenso wie Kranke, Blinde, Gelähmte, usw. 17 In Jak 2,2 deutet die schmutzige Kleidung (rhupara esthēs) darauf hin, dass die Person zu den absolut Armen gehört. Zusätzlich zu diesem ökonomischen Aspekt wird die These vertreten, dass der Begriff nicht nur die absolute Armut, sondern auch den Verlust der Ehre umfasst. 18 Ein ptōchos war demzufolge eine arme und sozial ausgegrenzte Person. 19 Der krasse Gegensatz zwischen dem anēr chyrsodaktylios und dem Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0012 Ein Ritter und ein Bettler 73 20 So auch Laws, A Commentary on the Epistle of James (s. Anm. 12), 99. In eine andere Richtung geht die Deutung des Armen in einem religiösen Sinn („geistlich arm“), vgl. den Exkurs zu arm und reich im Jakobusbrief bei Dibelius, Der Brief des Jakobus (s. Anm. 7), 58-66. 21 Übereinstimmend auch Edgar, Has God not Chosen the Poor? (s. Anm. 7) Obwohl sich seine Deutung des ptōchos und des anēr chyrsodaktylios von meiner unterscheidet, zieht er den Schluss, dass die Gläubigen sich dem reichen Patron anvertrauen anstatt Gott. Eine ähnliche Sicht vertritt Hengel: Der Jakobusbrief kritisiere die christlichen Gemeinden für ihre weit verbreitete Abhängigkeit von reichen Gönnern und Mäzenen, vgl. Martin Hengel, Der Jakobusbrief als antipaulinische Polemik, in: ders., Paulus und Jakobus. Kleine Schriften III (WUNT-141), Tübingen 2002, 544-546. 22 Vgl. Bill Ashcroft / Gareth Griffiths / Helen Tiffin (Hg.), The Empire Writes Back. Theory and Practice in Post-colonial Literatures, London 2 2003, 217. ptōchos ist mithin im Blick auf den ptōchos dahingehend zu konkretisieren, dass es sich um einen Bettler handelt, der im reichsrömischen Spektrum das genaue Gegenteil des Ritters darstellte. 20 In 2,2-4 begegnet uns eine Person aus der untersten Schicht der Gesellschaft und eine Person aus der höchsten Schicht. Der Kontrast zwischen den beiden ist enorm. Was geschieht? Die versammelten Gläubigen behandeln ihre Besucher entsprechend den römischen Sozialstan‐ dards. Sie geben dem Ritter einen ehrenvollen Sitzplatz. Der Bettler hingegen muss entweder stehen oder sich neben einen Schemel setzen. An christlichen Umgangsformen gemessen ist dies grundlegend falsch. Die Jesustradition ist hierzu sehr eindeutig, vgl. Mt 23,6; Mk 12,38-40; Lk 11,43; 20,45-47. Mit ihrer Ehrung des Ritters bringen die versammelten Gläubigen zum Ausdruck, dass sie ihr Vertrauen in einen römischen Patron setzen statt in Gott. 21 3 Postkoloniale Perspektiven Aus einer postkolonialen Perspektive können wir feststellen, dass eine wesent‐ liche Voraussetzung des Textes das Konzept der Diaspora ist. Außerdem weist der Text mit der Nennung des anēr chyrsodaktylios eine konkrete imperiale Referenz auf. Außerdem wird das Problem der hybriden Identitäten greifbar, ebenso dasjenige binärer Strukturen. Gehen wir etwas näher auf diese Begriffe ein. - 3.1 Diaspora Eine der Folgen des Kolonialismus ist das Phänomen der Diaspora. Dieses Phänomen ist eine wesentliche Grundlage für den Jakobusbrief insgesamt, da er „an die zwölf Stämme in der Diaspora“ gerichtet ist (1,1: Iakōbos theou kai kyriou Iēsou doulos tais dōdeka phulais tais en tē diaspora chairein). Was bedeutet der Zustand der Diaspora für den Einzelnen? 22 Vertreibung kann unterschiedliche Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0012 74 Ingeborg Mongstad-Kvammen 23 Vgl. Bruce W. Frier, Demography, in: Bowman / Garnsey / Rathbone (Hg.), The Cambridge Ancient History (s. Anm. 6), 787-816, 810. 24 Vgl. Frier, Demography (s. Anm. 23), 812. Gründe haben, wie z. B. Sklaverei, Schuldknechtschaft, Handel, Ansiedlungen usw. Die römische Welt unterschied sich in Bezug auf die Diaspora nicht von modernen Imperien. Sklaverei war weithin bekannt, und Sklaven wurden von außerhalb des Reichs und aus den neuen Kolonien eingeführt. 23 Es ist schwer zu sagen, wie viele Sklaven es im römischen Reich zu einem bestimmten Zeitpunkt gab, aber der Bedarf an Sklaven stieg anerkanntermaßen mit der Zeit. Frier geht davon aus, dass etwa 15 % der Bevölkerung während der Kaiserzeit Sklaven waren. Das entspräche bis zu 7 Millionen. 24 Dies gibt uns auch einen Hinweis auf den Anteil von Sklaven an der Gesamtbevölkerung im späten 1. Jh. Entsprechend hoch war die Anzahl der Menschen, die allein aufgrund ihres Sklavendaseins unter den Bedingungen einer Diapora lebten. Ein anders gelagerter Grund für ein Leben in der Diaspora im römischen Reich war der Handel oder die Wirtschaft. Die bekannte Welt wurde durch das Imperium in ähnlicher Weise globalisiert, wie wir es in der heutigen Welt beobachten können. Auch die Geschäftswelt des Imperiums war in ähnlicher Weise globalisiert wie die heutige Geschäftswelt. Handwerker zogen damals wie heute innerhalb des Reiches umher und waren insofern ebenfalls Teil einer Diaspora. Drittens sind Ansiedlungen bei der Gründung neuer Kolonien zu nennen. Römische Bürger wurden aus Rom in die Kolonien umgesiedelt. Römische Beamte dienten in den Kolonien. Diese Situation ist vergleichbar mit jeder modernen Kolonialverwaltung. Die Diaspora des Römischen Reiches hatte, ähnlich wie die Diaspora der modernen Imperien, verschiedene Gesichter. Die manifeste Unterdrückung durch die Sklaverei führte zu einer Form der Diaspora, bei der der Gegensatz zwischen Macht und Ohnmacht von Bedeutung war und bei der die Diaspora selbst ein Unterdrückungsinstrument war. Handel und Wirtschaft führten da‐ mals wie heute zu Diasporagemeinschaften, die auf Freiwilligkeit beruhten und innerhalb des Imperiums Handel trieben. Die Subjekte dieser Diaspora waren hauptsächlich freie Männer, und obwohl das Leben in der Diaspora Folgen für das Verständnis von Ort, Heimat und Selbst hatte, nutzten die Händler vor allem die positiven Möglichkeiten, die ihnen die Omnipräsenz des Imperiums bot. Das Diaspora-Dasein in den Kolonien war konstitutiv für die koloniale Verwaltung in der Hand römischer Bürger, die sich in der binären Opposition von Zentrum und Peripherie bewegten. Es waren Römer, die ein Diaspora-Leben fern von der Hauptstadt führten. Sie waren römische Beamte, die im Auftrag Roms unterwegs waren, aber im Großen und Ganzen nicht am stadtrömischen Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0012 Ein Ritter und ein Bettler 75 25 Vgl. Ashcroft-/ -Griffiths-/ -Tiffin, The Empire Writes Back (s. Anm. 22), 218. Leben teilnehmen konnten. Die Diaspora der Händler konnte sowohl aus römischen Bürgern wie auch aus Nichtbürgern bestehen. Die Diaspora der Sklaven war ganz klar eine solche der Unterdrückung. Die verschiedenen Gesichter der Diaspora zeigen, dass Diaspora aus verschiedenen Perspektiven verstanden werden kann. Sie kann aus der Perspektive des Zentrums oder aus der Perspektive des Randes verstanden werden. Das Leben in der Diaspora kann eine Möglichkeit sein, mit dem Imperium Handel zu treiben, oder ein Mittel zur manifesten Unterdrückung. Aus beiden Perspektiven beeinflusst das Leben in der Diaspora Identität, Erinnerung und Heimat. 25 Was bedeutet Heimat in der Diaspora, und was hat die Unsicherheit darüber, was Heimat bedeutet, mit der Identität des Einzelnen zu tun? Das Phänomen der Diaspora wirft ein Licht auf die binären Relationen „wir und die anderen“, „Zentrum und Peripherie“, „Macht und Machtlose“, „Sklaven und Freie“, „Reiche und Arme“, um nur einige zu nennen. Das Phänomen beleuchtet auch das postkoloniale Konzept der Hybridität. Dies kann eine Folge des Lebens in der Diaspora sein. Die Diaspora ist grundlegend für den gesamten Jakobusbrief, da er an die „zwölf Stämme der Diaspora“ gerichtet ist. Die Diaspora, an die Jakobus seinen Brief richtet, kann sowohl als geografische Diaspora als auch als religiöse oder ideologische Diaspora verstanden werden. Die Ermahnungen des Briefes befassen sich mit den Herausforderungen des Diasporalebens, denen man sich bewusst sein muss, wie Binarität, Hybridität, Unterdrückung und Fremdbestim‐ mung. Wir stoßen im Jakobus außerdem noch auf eine andere Form der Diaspora als die, die in der Ansprache beleuchtet wird, nämlich die der kolonialen Verwaltung. Ich nenne dies „imperiale Präsenz“ und meine damit die Tatsache, dass ein römischer Beamter eine der Hauptfiguren in Jak-2,1-13 ist. - 3.2 Imperiale Präsenz Eines der auffälligsten Merkmale von Jak 2,1-13 in postkolonialer Perspektive ist die Anwesenheit eines römischen Beamten, d. h. die imperiale Präsenz, im Text. Der Mann mit dem goldenen Ring (anēr chyrsodaktylios), der eine toga candida (esthēs lampros) trägt, ist als Ritter kenntlich, der für ein politisches Amt kandidiert. Historisch verhält es sich nach Fergus Millar so, dass der ordo equester von Augustus neu organisiert worden war und innerhalb der kaiserli‐ chen Verwaltung im Laufe des 1. Jh. an Bedeutung gewann. Es entwickelte sich ein regelrechter ritterlicher Staatsdienst. 26 Am Ende des Jahrhunderts war der ordo equester ein fester Bestandteil der reichsweiten Verwaltung, etwa bei den Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0012 76 Ingeborg Mongstad-Kvammen 26 Vgl. Fergus Millar, Rome, the Greek World, and the East. The Roman Republic and the Augustan Revolution (Studies in the History of Greece and Rome-1), Chapel Hill 2002, 75. 27 Wiederholt wurde die Auffassung vertreten, dass die christlichen Gruppen als frei‐ willige Vereine im Kontext einer römischen Stadt verstanden werden könnten, vgl. u. a. Wayne O. McCready, Ekklesia and Voluntary Associations, in: John S. Kloppen‐ borg / Stephen G. Wilson (Hg.), Voluntary Associations in the Graeco-Roman World, London 1996, 59-73, 61-63; Wayne A. Meeks, The First Urban Christians. The Social World of the Apostle Paul, New Haven 2 2003, 77-80. Finanzen, der Steuererhebung, der Getreideversorgung (praefectus annonae), aber auch bei der Verwaltung des kaiserlichen Privatbesitzes. Die direkte imperiale Präsenz in Jak 2 lässt die Argumentation unseres Abschnitts in neuem Licht erscheinen und zeigt beispielhaft, wie koloniale Prozesse und Strukturen sich auf die Lebenssituation der frühen Jesusgemeinden auswirkten und sich in den Texten der frühen Jesusbewegung niederschlagen. Die kolonialen Lebens‐ bedingungen affizierten das Leben der Jesusgemeinden direkt und tiefgreifend und mussten angesprochen werden. Die naheliegende Frage, warum ein Ritter, der für ein politisches Amt kandidierte, eine christliche Versammlung besuchen sollte, ist mit dem Hinweis auf die Hybridität dieser Gruppen zu beantworten. Wir haben es in Jak 2,1-13 mit einer Versammlung von Jesusgläubigen in irgendeiner römisch geprägten Stadt des Imperiums zu tun. Die Gläubigen haben sich der römischen Lebensweise so weit angepasst, dass sie von außen als Verein wahrgenommen wurden. Das machte sie interessant als politische Gefolgsleute innerhalb eines patron-client Beziehungsgefüges. 27 Die adressierte Gemeinde hat sich durch Assimilation (Mimikry) teilweise oder vollständig von der jüdisch-christlichen Existenz als Randgruppe im weiteren Kontext des römischen Reiches entfernt und ist äußerlich von anderen Vereinen nicht zu unterscheiden. Der Ritter hat also höchstwahrscheinlich deshalb die christliche Versammlung besucht, weil er sich von dieser Gruppe eine Unterstützung seiner politischen Kandidatur erhoffte. Wenn diese Sicht zutrifft, wird deutlich, wie tiefgreifend das Diaspora-Konzept des Jakobusbriefes und die imperiale Präsenz im Text die Argumentation von Jak 2,1-13 bestimmen. Die Gläubigen führen sowohl geografisch als auch im Blick auf ihre Weltauffassung eine Diaspora-Existenz in der Weise, dass ihre Identitäten hybrid geworden sind. Der Ritter lebt im Lebenszusammenhang der imperialen Verwaltung seinerseits in einer Diaspora-Situation. Der Diskurs unseres Textes bewegt sich auf dem Feld von imperialer Präsenz, Diaspora und Hybridität. Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0012 Ein Ritter und ein Bettler 77 28 Vgl. Bill Ashcroft / Gareth Griffiths / Helen Tiffin, Post-Colonial Studies. The Key Concepts, London 2 2000, 118-121. 3.3 Hybride Identitäten Hybride Identitäten und das Konzept der Hybridität bezeichnen den kultu‐ rellen Zwischenraum innerhalb der durch Kolonialismus und Imperialismus entstandenen Kontaktzone. 28 Es ist der kulturelle Schnittpunkt zwischen Kolo‐ nisator und Kolonisierten, Zentrum und Peripherie. Hybridität ist Ausdruck des kulturellen Wandels und damit der Veränderung der Identität sowohl der Kolonisatoren als auch der Kolonisierten. Dabei besteht die der kulturelle Effekt der Kolonisierung oft darin, dass sich die Kultur der Kolonisierten der Kultur der Kolonisatoren einander angleicht. Dies kann eine Überlebensstrategie sein. In Jak 2,1-13 lernen wir die hybriden Identitäten der christlichen Gemeinde kennen. Wenn sie sich in der geschilderten Situation automatisch und unhinter‐ fragt nach den geltenden römischen Umgangsformen verhalten, dann zeigt dies eine christliche Gemeinschaft, die ihre Identität von einer christlich geprägten kulturellen Identität zu einer römisch geprägten Identität verschoben hat. Der Verfasser des Briefes hält dies für außerordentlich problematisch. Er wirft der Gemeinde vor, dass sie zu römisch ist. Er unterzieht die Konsequenzen ihrer Hybridität einer scharfen Kritik. In 2,1-4 sind hybride Identitäten der Hauptgrund für die vom Briefverfasser abgelehnte Bevorzugung des Ritters. Die Gläubigen verhalten sich unwillkürlich als Römer, wenn sie einem römischen Beamten gegenüberstehen. Dies ist auf ihre hybride Identität zurückzuführen. Sie sind so stark in die römische Gesellschaft integriert, d. h. so hybrid, dass sie ihr Handeln nicht einmal als problematisch empfinden. Der Vorwurf des Verfassers lautet, dass sie die Grundsätze aus ihrem jüdisch-christlichen Hintergrund beiseitelassen, sobald sie mit einem Ritter konfrontiert werden. Die hybride Identität der Gläubigen lässt sie zu „bösen Richtern“ werden. Sie sind so sehr in die römische Gesellschaft integriert, dass sie als wichtige Akteure innerhalb dieser Gesellschaft angesehen werden. Es ist ihnen gelungen, einen einflussreichen Gönner für sich zu gewinnen. Er sieht sie offensichtlich als potenzielle politische Unterstützer. Für ihn ist es wichtig, ein gutes Verhältnis zu ihnen zu pflegen, denn das wird sie dazu bringen, ihn bei den Wahlen zu unterstützen. Sie wiederum haben ein Interesse daran, ein gutes Verhältnis zu ihm zu haben. Als Patron kann er sie finanziell unterstützen. Aber noch wich‐ tiger ist seine mögliche offizielle Position innerhalb der Verwaltung. Ein gutes Verhältnis zu einem römischen Beamten hätte den erheblichen Vorteil, dass man in mehrfacher Hinsicht geschützt wäre. Bei einer Hungersnot hätte man leichteren Zugang zu den Getreidevorräten. Bei Gerichtsverfahren hätte man Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0012 78 Ingeborg Mongstad-Kvammen 29 Ich vertrete die Auffassung, dass der Jakobusbrief etwa in die Regierungszeit Domitians zu datieren ist; vgl. Mongstad-Kvammen, Toward a Postcolonial Reading of the Epistle of James (s. Anm. 3), 18-28. 30 Vgl. Ashcroft / Griffiths / Tiffin, Post-Colonial Studies. The Key Concepts (s. Anm. 28), 24. möglicherweise bessere Chancen bei einflussreichen und mächtigen Freunden. Bei Verfolgungen würde man - durch einen Beamten als Gönner - bereits gute Beziehungen zu einem Vertreter des Reiches haben und auf diese Weise geschützt sein. Wir wissen, dass die Verfolgungen unter Kaiser Domitian weit verbreitet waren, und deshalb konnte es besonders unter seiner Herrschaft eine Frage von Leben und Tod sein, ob man sich mit seinen Beamten gut verstand oder nicht. 29 Der Verfasser des Jakobusbriefes formuliert einen starken Appell an die Ge‐ meinde: Er ruft sie zu ihrem ursprünglichen Glauben zurück. Im weiteren Sinne ist dies ein Aufruf zur Abkehr von ihrer Hybridität, weg von den römischen Umgangsformen zurück zu ihrer jüdisch-christlichen religiösen Prägung. Dieser Appell hat zur Folge, dass sie sich wieder am Rand der römischen Gesellschaft positionieren müssen. Sie müssen ihrem Glauben an Gott in ihrem konkreten Verhalten Ausdruck verleihen und sich im Hinblick auf die römischen kultu‐ rellen Umgangsformen gegenkulturell verhalten. Ein solches gegenkulturelles Verhaltensmuster bedeutet nach dem Liebesgebot zu leben, und es hat zur Folge, dass die Gemeinde Personen von Rang und Stand nicht bevorzugt behandeln darf. Sie muss alle gleich behandeln. - 3.4 Binarismus oder Zentren und Peripherien Das Konzept des Binarismus (binarism) in den postcolonial studies hat mit der binären Logik des Imperialismus zu tun, in der binäre Oppositionen ein Verhältnis der Dominanz geschaffen haben. 30 Der Binarismus lässt sich in jedem Abschnitt von Jak 2,1-13 beobachten. Vorliegend konzentriere ich mich auf 2,1-4. V. 1 adressiert mit dem Begriff der prosōpolēmpsia die Binaritäten „Kolonisator - Kolonisierte“, „Macht - Machtlose“ und „Zentrum - Peripherie“. Namentlich der Gegensatz „Kolonisator - Kolonisierte“ ist grundlegend für das, worum es dem Verfasser geht, wenn er von prosōpolēmpsia spricht. Inwiefern und von dem konnte die kritisierte Ungleichbehandlung überhaupt als Problem angesehen werden? Aus der Sicht des Kolonisators sicher nicht. Es handelte sich einfach um das kulturell Vertraute und Geforderte, wenn es darum ging, hochstehenden Personen die geschuldete Ehre zu erweisen. Dagegen war aus der Perspektive der Kolonisierten mit prosōpolēmpsia der alltägliche Ausdruck der imperialen Unterdrückung bezeichnet. Damit kommen wir zum binären Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0012 Ein Ritter und ein Bettler 79 Gegensatz „Macht - Machtlose“. Es ist offensichtlich, dass die Macht beim Kolonisator lag, d. h. bei den Römern. Stellt man die römischen Umgangsformen dem jüdisch-christlichen Glauben in der Frage der Ungleichbehandlung gegen‐ über, so wird deutlich, dass die Definitionsmacht im römischen Reich auch hinsichtlich der prosōpolēmpsia beim Kolonisator lag. Dagegen waren die An‐ hänger des jüdisch-christlichen Glaubens machtlos. Was tut nun der Verfasser des Jakobusbriefes? Er versucht tatsächlich, die Machtverhältnisse in dieser Frage zu verschieben. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die jüdisch-christliche Tradition, genauer: auf die Lehren Jesu über Gleichheit und Gleichbehandlung. Aus einer postkolonialen Perspektive können wir feststellen, dass er versucht, das binäre Verhältnis von Macht und Ohnmacht zu verändern, indem er die Aufmerksamkeit der Gläubigen auf das Zentrum ihres Glaubens, auf Jesus Christus lenkt. Ihr Glaube soll ihr Handeln bestimmen, nicht die Römer. Das geographische und ideologische Zentrum des Reiches war die Stadt Rom mit dem Kaiser, dem Senat und dem Stadtvolk. Die Peripherie war alles andere, u. zw. in geografischer, ideologischer, kultureller und religiöser Hinsicht. Wenn der Verfasser des Jakobusbriefs versucht, die binäre Beziehung zwischen Macht und Ohnmacht zu verändern, versucht er auch, die binäre Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie zu ändern. In Jak 2,2-4 fordert er frank und frei, dass das Zentrum für die Gläubigen nicht Rom sein kann, sondern ihr eigener Glaube. Dieser Glaube hat Konsequenzen für die Art und Weise, wie sie ihr Leben im römischen Reich führen. Ihr Glaube muss Konsequenzen haben, wenn es darum geht, wie sie andere und einander behandeln. Rom war der spezifische geografische Ort, der die imperialen Werte symbolisierte, gegen die der Jakobusbrief argumentiert. Repräsentanten Roms waren überall, und Rom beeinflusste alles. Verglichen mit Rom war alles andere randständig und von minderem Wert und Rang. Der Autor des Jakobusbriefs stellt dem jedoch ein anderes Zentrum entgegen, das Zentrum der jüdisch-christlichen Tradition. In einem direkten geographischen Sinne ist Jerusalem die Stadt, von der aus sich die Jesusbewegung ausbreitete. Es ist das religiöse Zentrum der Gemeinden, an die Jakobus schreibt. Die Gemeinde in Jerusalem war auch diejenige, an die man sich wandte, wenn es in einer anderen Gemeinde zu einem Konflikt kam. Das bekannteste Beispiel hierfür ist der in Apg 15 berichtete Konflikt. Jerusalem ist das Zentrum, dessen Verhaltenskodex im Gegensatz zu den römischen Umgangsformen steht. Es ist das religiöse Zentrum der christlichen Gemeinden. Von Jerusalem aus betrachtet befindet sich alles andere religiös gesehen in einer Randlage. Die beiden Zentren können geografisch aufgefasst werden als die beiden Städte Rom und Jerusalem, zugleich aber auch symbolisch in kulturellem Sinn bzw. als Zentrum der religiösen Tradition. Als kulturelles Zentrum wird Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0012 80 Ingeborg Mongstad-Kvammen 31 1 Petr 5,13; Offb 14,8; 16,19; 17,5; 18,2.10.21. In 1 Petr 1,1 steht „Babylon“ im Parallelismus mit „Zerstreuung“ (diaspora). Rom im Neuen Testament oft symbolisch als Unterdrücker verstanden, etwa im 1. Petrusbrief oder der Johannesoffenbarung. 31 Jerusalem ist dagegen ein Symbol der Erlösung. Es ist die Stadt, mit der jüdische und jüdisch-christliche eschatologische Erwartungen verbunden sind. Von Jerusalem aus sollen Heil und Erlösung in die Welt und auf die Erde kommen. Mein Verständnis von Rom und Jerusalem als gegensätzlichen Zentren verbindet den geografischen und den symbolischen Aspekt. Rom ist sowohl Hauptstadt des Reiches als auch Symbol der Unterdrückung. Ebenso ist Jerusalem Gründungsstadt der Jesusbewegung wie auch Stadt der Erlösung. Wenn Rom das Zentrum ist, dann bildet Jerusalem die Randlage. Ist aber Jerusalem das Zentrum, dann steht diesem Zentrum Rom als Randlage gegenüber. In Jak 2,1-13 stehen diese beiden Zentren in einem offensichtlichen Konflikt. Wenn die versammelte Gemeinde sich entsprechend den römischen Umgangsformen verhält, entehrt sie unweigerlich die Auserwählten Gottes, handelt gegen das Liebesgebot und wird zum böswilligen Richter. Dies alles widerspricht ihrer eigenen religiösen Tradition mit Jerusalem als Zentrum. Orientiert sich die Gemeinde jedoch an Jerusalem und bleibt ihrer jüdisch-christlichen Prägung treu, wird dies zur Folge haben, dass sie Barmherzigkeit zeigt, dass sie nach dem Liebesgebot lebt, dass sie also keine Rangunterschiede macht und deshalb den Bettler und den Ritter gleich behandelt. Dadurch wird ihnen selbst Barmherzigkeit zuteil. Wenn sie dies alles tun, wird die Folge auch sein, dass sie gegen Rom als Zentrum handeln, weil sie gegen die römischen Umgangsformen verstoßen. Das tun sie, sobald sie dem Ritter die ihm angeblich zustehenden Ehrenbezeugungen verweigern und damit seine Ehre beschädigen. Das kann Verfolgung und Unterdrückung nach sich ziehen. 4 Die Strategie des Jakobusbriefes in-2,1-13 Es ist offensichtlich, dass der Verfasser des Jakobusbriefs eine klare Strategie verfolgt, nämlich die den Gläubigen klarzumachen, dass ihre hybride Identität ihre Verurteilung als Übertreter des Gesetzes Gottes nach sich ziehen wird. Er appelliert an sie, dass sie sich wieder auf das Zentrum ihres Glaubens besinnen sollen. Welche Folgen hätte diese Verhaltensänderung für die Gemeinde? Wenn sie entsprechend ihrer jüdisch-christlichen Tradition leben würden, würden sie nach dem Liebesgebot leben. Auf der Grundlage ihres eigenen religiösen Hintergrundes, insbesondere der Jesustradition, könnten sie keinesfalls einen Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0012 Ein Ritter und ein Bettler 81 32 Nach dem in den Quellen vorherrschenden Domitian-Bild war dieser Kaiser, in dessen Regierungszeit ich den Jakobusbrief datiere (s. o. Anm. 29) ziemlich paranoid und verfolgte jeden, von dem er glaubte, dass er seine Autorität als Kaiser untergraben würde. Dazu gehörten politische Gegner, aber auch Philosophen. © Dan Aksel Jacobsen Ranghöheren bevorzugen. In der in Jak 2,2-4 beschriebenen Situation heißt das konkret, dass sie den Ritter nicht anders als den Bettler hätten behandeln dürfen und den Bettler nicht anders an den Ritter. Die unterschiedliche Behandlung des Ritters und des Bettlers war entsprechend den römischen Umgangsformen keine Schande für den Bettler. Er wurde ebenso wie der Ritter nach seinem Rang behandelt. Insofern kann man sagen: Beiden wurde das ihnen zustehende Maß an Ehre zuteil. Aus Sicht der jüdisch-christlichen Tradition stellt jedoch die Ungleichbehandlung des Bettlers und des Ritters eine Beschämung des Bettlers dar. Die Aufforderung an die Gemeinde, sich entsprechend ihrer religiösen Prägung zu verhalten und beide gleich zu behandeln, würde jedoch aus Sicht der für den Ritter fraglos gültigen römischen Umgangsformen für ihn eine manifeste Entehrung nach sich ziehen. Ihn zu entehren, käme einer Entehrung des Kaisers selbst gleich, da er für ein politisches Amt kandidierte und damit den Kaiser repräsentierte. Dies hätte absehbar dramatische Folgen für die Gemeinde. Sie wussten bereits etwas von Unterdrückung (2,6). Ein Verhalten, das der Ritter zwangsläufig als ehrverletzend auffassen musste, würde fast ebenso zwangsläufig zu Verfolgungen und Repressionen führen. 32 Was der Verfasser des Jakobusbriefes von den Gemeinden „in der Diaspora“ verlangt, ist dies, dass sie sich sehenden Auges einer solchen Situation aussetzen, in der ihnen Verfolgung, Unterdrückung oder gar Martyrien drohen. Ingeborg Mongstad-Kvammen ist derzeit Seel‐ sorgerin bei der Königlichen Norwegischen Ma‐ rine. Sie war Forschungsstipendiatin an der School of Mission and Theology in Stavanger, Norwegen, Generalsekretärin der Norwegischen Bibelgesell‐ schaft und Direktorin für akademische Angele‐ genheiten an der VID-Fachhochschule. Der vor‐ liegende Artikel wurde zum Teil während ihrer Tätigkeit an der VID-Fachhochschule und zum Teil während ihrer Tätig‐ keit bei der norwegischen Militärseelsorge verfasst. Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0012 82 Ingeborg Mongstad-Kvammen
