eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 25/50

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2022-0014
121
2022
2550 Dronsch Strecker Vogel

Wie und warum ist der Jakobusbrief ins Neue Testament gekommen?

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2022
Matthias Klinghardt
znt25500085
1 Rainer Metzner, Der Lehrer Jakobus. Überlegungen zur Verfasserfrage des Jakobus‐ briefes, in: ZNW 104 (2012), 238-267; ders., Der Brief des Jakobus (ThHK 14), Leipzig 2017, 3-16. Wie und warum ist der Jakobusbrief ins Neue Testament gekommen? Der Jakobusbrief als kanonisches Pseudepigraph Matthias Klinghardt Die These, die in dieser Kontroverse zur Diskussion steht, lautet: Der Jakobus‐ brief (= Jak) ist ein kanonisches Pseudepigraph, d. h. er wurde von vornherein gezielt für die Kanonische Ausgabe verfasst und war von Anfang an ein integraler und unverzichtbarer Bestandteil des NT. Dies impliziert, dass die vielfältigen Bezüge zwischen Jak und anderen neutestamentlichen Texten weder zufällig sind noch lediglich auf „gemeinsame Tradition“ zurückgehen; stattdessen handelt es sich um beabsichtigte intratextuelle Kohärenzsignale. Diese These richtet sich sowohl gegen die Annahme, dass Jak ein echtes (orthonymes) Schreiben eines ansonsten unbekannten Jakobus sei, wie Rainer Metzner vermutet, 1 als auch gegen die sehr weit verbreitete Ansicht, die Jak für ein Pseudepigraph hält, über dessen Ursprung sich jedoch nichts Genaueres ausmachen lässt. Die These beantwortet die eine, entscheidende Frage, die sich die hier angedeuteten Positionen in der Regel gar nicht stellen: Wie und warum ist der Jak ins NT gekommen? Die Begründung erfolgt in zwei Schritten. Zunächst soll die methodische Grundlage knapp skizziert werden, danach werden die (materialen) Implika‐ tionen des Vorschlags angedeutet: Was erkennt man eigentlich, wenn man Jak als kanonisches Pseudepigraph versteht? Die Beobachtungen, die sich hier ergeben, erläutern, welches Interesse die Abfassung des Jak für die Kanonische Ausgabe verfolgt; sie fungieren daher auch als kumulative Begründungen für die Richtigkeit der These. Die Unterscheidung zwischen der Grundlegung des „Wie“ und den kumulativen Begründungen für das „Warum“ ist methodisch 2 David Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel (NTOA-31), Fribourg 1996. 3 Vgl. Matthias Klinghardt, Die Veröffentlichung der christlichen Bibel und der Kanon, in: ZNT-12 (2003), 52-57. 4 Vgl. zuletzt Jan Heilmann, Die These einer editio princeps des Neuen Testaments im Spiegel der Forschungsdiskussion der letzten zwei Jahrzehnte, in: Jan Heilmann / Mat‐ thias Klinghardt (Hg.), Das Neue Testament und sein Text im 2. Jahrhundert (TANZ 61), Tübingen 2018, 21-56. Heilmann hat gezeigt: Es gibt keine grundlegende Kritik an der These, einzelne strittige Aspekte stellen die Grundannahmen selbst dann nicht in Frage, wenn man sie konzedieren würde. erforderlich, um dem Vorwurf zu begegnen, dass die Durchführung ja doch nur ihre eigenen Voraussetzungen beweise. Dies ist nicht der Fall. 1 Methodische Begründung: Jak als Teil der Kanonischen Ausgabe Die grundlegende Voraussetzung dieser These ist sehr einfach. Sie geht von dem einzigen Datum aus, das wirklich gesichert ist und nicht auf Schlussfolgerungen beruht, und das ist die handschriftliche Überlieferung: Es „gibt“ den Jak nur als Teil des NT - oder gar nicht. Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass Jak (als einzelnes Schreiben oder als Teil einer Schriftensammlung) vor oder unabhängig von der Kanonischen Ausgabe existiert hätte. Jede Position, die für den Jak eine von dieser Kanonischen Sammlung unabhängige Vorgeschichte postuliert oder auch nur (was sehr viel häufiger der Fall ist) stillschweigend an‐ nimmt, ist angesichts des handschriftlichen Befunds begründungspflichtig: Sie müsste plausibel machen, dass Jak vor oder außerhalb des NT existierte. Diese Beweislast fällt in gleicher Weise der These zu, Jak sei ein orthonymes Schreiben eines unbekannten Jakobus wie den diversen Annahmen eines pseudonymen Schreibens. Die Ansicht, dass das NT nicht in einem langwierigen und ungesteuerten Auslese- und Sammlungsprozess entstanden ist, sondern durch eine planmäßige und wohldurchdachte Edition geschaffen wurde, geht auf David Trobisch zurück. 2 Sie ist der Leserschaft der ZNT seit geraumer Zeit bekannt 3 und wurde verschiedentlich so gründlich bestätigt, dass sich eine weitere Begründung an dieser Stelle erübrigt. 4 In der Zwischenzeit hat die These der Kanonischen Redaktion insofern deutlich an Profil gewonnen, als die für Marcion bezeugte Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0014 86 Matthias Klinghardt 5 Vgl. die Nachweise: für die Evangelien Matthias Klinghardt, Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien (TANZ 60), Tübingen 2 2020; für die Pau‐ lusbriefe: Alexander Goldmann, Über die Textgeschichte des Römerbriefs (TANZ 63), Tübingen 2020; Tobias Flemming, Die Textgeschichte des Epheserbriefes (TANZ 67), Tübingen 2022; sowie insgesamt z. B. Markus Vinzent, Christi Thora. Die Entstehung des Neuen Testaments im 2.-Jh., Freiburg 2022. 6 Vgl. z. B. Wolfgang Grünstäudl, Was lange währt. Die Katholischen Briefe und die Formung des neutestamentlichen Kanons, in: Early Christianity 7 (2016), 71-94, 87 ff.; David R. Nienhuis, Not by Paul Alone. The Formation of the Catholic Epistle Collection and the Christian Canon, Waco 2007, 68ff. 7 Das hat z.-B. Heilmann, These (s. Anm. 4) sehr profund gezeigt. Ausgabe von elf Schriften als Vorgängerausgabe der kanonisch gewordenen Ausgabe des uns bekannten NT erwiesen wurde. 5 Die Erkenntnis, dass unser NT die redaktionelle Bearbeitung und Ergänzung der älteren, marcionitischen Ausgabe ist, hat für unsere Fragestellung zwei wichtige Konsequenzen. Zunächst ist dadurch das Zeitfenster für die Entste‐ hung der Kanonischen Ausgabe im zweiten Drittel des 2. Jh. definiert, also etwa zwischen dem überlieferten Datum für Marcions „Ausschluss“ aus der römischen Gemeinde (144 n. Chr.) und Irenaeus, der die Kanonische Ausgabe kennt. Unter den genannten methodischen Prämissen ist dies auch der Zeitraum der Entstehung des Jak. Nun gibt es verschiedentliche Versuche, Jak (und die anderen Katholischen Briefe) erst ins 3. Jh. zu datieren, also deutlich später als zu dem hier vorausgesetzten terminus ad quem der Kanonischen Ausgabe. Zur Begründung werden die lange Zeit strittige „kanonische Anerkennung“ sowie die späte (handschriftliche bzw. direkte) Bezeugung angeführt. 6 Keines dieser Argumente trägt wirklich. Das erste verwechselt Ursache und Wirkung: Die altkirchlichen Diskussionen um die „Anerkennung“ von Schriften setzen jeweils die fertige Kanonische Ausgabe voraus, wie sich anhand von Origenes’ Diskussion des Hebr direkt beweisen lässt. Denn woher, wenn nicht aus der Kanonischen Ausgabe, hätte er von der paulinischen Verfasserschaft wissen (und sie dann bestreiten) können? Das Argument der späten Bezeugung dagegen schließt e-silentio aus der Nicht-Bezeugung auf Nicht-Existenz. Angesichts der fragmentarischen Überlieferungslage ist dieser Schluss zu kurz: Er kann die Annahme, dass Jak im Rahmen der Kanonischen Ausgabe entstanden ist, nicht falsifizieren. 7 Aber selbst wenn die späte Bezeugung eine späte Entstehung nicht schlüssig begründen kann, könnte diese ja doch wenigstens theoretisch möglich sein. Aus diesem Grund ist die zweite Einsicht, die sich aus der Überarbeitung der marcionitischen durch die Kanonische Ausgabe ergibt, von Bedeutung. Denn diese Überarbeitung hat ein unüberhörbares Echo hervorgerufen: Der langanhaltende Streit zwischen den Vertretern der beiden Ausgaben (also Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0014 Wie und warum ist der Jakobusbrief ins Neue Testament gekommen? 87 8 Tatsächlich hat es einen vergleichbaren Eingriff in die gemeinsame Schriftgrundlage erst wieder im 16. Jh. gegeben; der war bekanntlich ebenfalls von erheblichem Getöse begleitet, vgl. Matthias Klinghardt, Die Schrift und die hellen Gründe der textkritischen Vernunft, in: ZNT-39/ 40 (2017), 87-104, 88 mit Anm. 6. zwischen „Marcioniten“ und „großkirchlichen Häresiologen“) zeigt, dass bereits im 2. Jh. ein redaktioneller Eingriff in die Schriftgrundlage nicht geräuschlos über die Bühne gehen konnte, sondern zu erheblichen kirchlichen Verwer‐ fungen geführt hat. 8 Hätte es spätere Veränderungen oder Ergänzungen oder konkurrierende Ausgaben gegeben, wie sie für die Vorstellung einer allmäh‐ lich wachsenden Sammlung konstitutiv sind, dann müssten die begleitenden Diskussionen irgendwelche Spuren hinterlassen haben. Aber die gibt es nicht. Nun ist dies letztlich auch nur ein argumentum e silentio. Aus diesem Grund bleibt der methodische Zwang zur Sparsamkeit bei der Hypothesenbildung so wichtig: Es ist methodisch unzulässig, den Jak (oder alle Katholischen Briefe) für eine spätere Ergänzung der Kanonischen Ausgabe zu halten, solange es keine zwingenden Gründe dafür gibt. Und die gibt es nicht. Erst in dieser Perspektive wird deutlich, wie schwer die Beweislast diejenigen drückt (genauer: drücken sollte), die den Jak nicht als kanonisches Pseudepi‐ graph verstehen. Denn sie müssten Fragen beantworten können, die in der Regel noch nicht einmal angemessen gestellt werden: Wer hat den Jak wann und warum abgefasst? Wo und was war der Jak, als er (noch) nicht Teil des NT war? Wie kann man sich eine Zirkulation des Jak außerhalb des NT vorstellen, wenn für einen ökumeneweiten offenen Brief („an die zwölf Stämme in der Zerstreuung“) weder überregionale Zeitungen noch die Möglichkeit weltweiter Kanzelabkündigungen zur Verfügung stehen? (Dieses Problem betrifft im Üb‐ rigen alle Katholischen Briefe.) Wer hat - wann, warum und wie - für seine „Aufnahme“ ins NT gesorgt? Auf die meisten dieser Fragen lassen sich zwar irgendwelche Antworten vorstellen („wäre immerhin denkbar …“, „ist nicht gänzlich unmöglich …“). Aber dass eine Antwort theoretisch denkbar ist, reicht nicht: Hier bedarf es schon belastbarer Anhaltspunkte. Solange es keine gibt, gewinnt die Einsicht grundlegendes methodisches Gewicht, dass Jak nur als Teil des NT existiert - und sonst eben nicht. Daher ist die mit sehr großem Abstand einfachste Theorie allen anderen vorzuziehen: Jak ist ein kanonisches Pseudepigraph. 2 Materiale Begründung: Kanonische Lektüre des Jak Auf dieser Grundlage lässt sich dann weiterfragen: Was ist eigentlich zu erkennen, wenn Jak als integraler Teil des NT verstanden wird? Zur Debatte Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0014 88 Matthias Klinghardt 9 Vgl. Karl-Wilhelm Niebuhr, „A New Perspective on James“? Neuere Forschungen zum Jakobusbrief, in: ThLZ-129 (2004), 1019-1044. 10 Zu diesen Zufällen würde in erster Linie die Identifizierung des ansonsten unbekannten Jakobus mit dem Herrenbruder gehören: Dazu waren erstaunlicherweise alle patristi‐ schen Zeugen ohne Probleme in der Lage. Der allergrößte Zufall wäre indes, dass keiner dieser Zeugen eine Vorstellung von der wahren Identität des Autors hatte; das aber heißt, dass der unbekannte (orthonyme) Jakobus genau das ist: unbekannt, weil es keinen Hinweis auf seine Existenz gibt. stehen also Fragen wie die nach der „pseudepigraphen Intention“, nach der Identität von „Jakobus“ oder - das ist natürlich der Elefant im Diskursraum - nach dem Verhältnis zu Paulus. Hier ist zunächst auf ein Grundproblem hinzuweisen: Pseudepigraphie er‐ fordert Kontext. Jede literarische Fälschung (und nichts anderes ist Pseudepiga‐ phie) benötigt zwingend einen Rahmen, in den sie sich einschreibt und der ihr Plausibilität und Autorität verleiht. Das wird auch weithin vorausgesetzt, wenn auch nur stillschweigend: Wer der Ansicht ist, dass „Jakobus“ der Herrenbruder ist oder wer einen Bezug des Jak zu Paulus sieht, impliziert bereits eine kanonische Perspektive; will sagen: versteht den Jak von Voraussetzungen her, die sich überhaupt nur aus dem NT ergeben. Dass dies nur möglich ist, wenn Jak ein integrales Element der Kanonischen Ausgabe ist (mithin: ein kanonisches Pseudepigraph), ist gerade deutlich geworden. Insofern verfahren große Teile der Jak-Forschung inkonsequent, weil sie diesen kanonischen Rahmen einer‐ seits voraussetzen, ihn andererseits aber leugnen, sofern sie implizieren oder postulieren, dass Jak unabhängig von diesem Rahmen entstanden sei. Diese In‐ konsequenz ist noch gravierender, wenn man eine Beziehung zwischen Jak und Paulus leugnet, wie es die „New Perspective on James“ der letzten Jahrzehnte tut. 9 Denn in diesem Fall wird Jak nicht nur literarisch ortlos, sondern auch theologisch. Strenggenommen lässt sich ein solcherart dekontextualisierter Jak überhaupt nicht als Pseudepigraph verstehen. Im Vergleich zu diesen Versu‐ chen ist Metzners Vorschlag, auf die Autorfiktion „Herrenbruder“ komplett zu verzichten und einen völlig unbekannten Jakobus als Verfasser anzunehmen, wenigstens im Grundsatz deutlich konsequenter. Aber dieser Vorschlag ist teuer erkauft. Denn alle Berührungen mit anderen Teilen des NT bleiben dann koinzidentiell und entziehen sich einer kontrollierten Interpretation. 10 Diesen Preis sind die meisten nicht zu zahlen bereit. Sie nehmen Pseudepigra‐ phie an und substituieren als Interpretationsrahmen die Kanonische Ausgabe, auch wenn sie die Entstehung des Jak nicht mit ihr in Verbindung bringen (wollen) und sich um die daraus resultierenden Folgefragen gar nicht kümmern. Das Ergebnis ist allerdings reichlich divers, das Spektrum der angenommenen pseudepigraphen Intentionen denkbar breit. 11 Exemplarisch lässt sich dies an Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0014 Wie und warum ist der Jakobusbrief ins Neue Testament gekommen? 89 11 Vgl. Gerd Theißen, Die pseudepigraphe Intention des Jakobusbriefes, in: Petra von Gemünden / Matthias Konradt / Gerd Theißen (Hg.), Der Jakobusbrief. Beiträge zur Rehabilitierung der „strohernen Epistel“, Münster 2003, 54-82, 56-58, hat gleich sechs verschiedene „Hypothesen“ unterschieden und dabei noch nicht alles abgedeckt. 12 Z. B. Martin Hengel, Der Jakobusbrief als antipaulinische Polemik, in: ders., Paulus und Jakobus. Kleine Schriften III (WUNT-141), Tübingen 2002, 511-548 (zuerst 1987). 13 Z. B. Martin Dibelius, Der Brief des Jakobus (KEK 15), Göttingen 12 1984; Franz Mußner, Der Jakobusbrief (HThK 13), Freiburg 1964; Friedrich Avemarie, Die Werke des Gesetzes im Spiegel des Jakobusbriefes. A Very Old Perspective on Paul, in: ZThK 98 (2001), 282-309; Wiard Popkes, Der Brief des Jakobus (ThHK-14), Leipzig 2001, 37. 14 Margaret M. Mitchell, The Letter of James as a Document of Paulinism? , in: Robert T. Webb / John S. Kloppenborg (Hg.), Reading James with New Eyes. Methodological Reassessments of the Letter of James (LNTS-342), London-/ -New York 2007, 75-98. 15 Z. B. Ernst Baasland, Der Jakobusbrief als neutestamentliche Weisheitsschrift, in: StTh 36 (1982), 119-139, 127-133; Matthias Konradt, Der Jakobusbrief im frühchrist‐ lichen Kontext, in: Jacques Schlosser (Hg.), The Catholic Epistles and the Tradition (BETL-176), Leuven 2004, 171-212, 172-190. dem prominentesten Aspekt zeigen, dem Verhältnis zu Paulus. Hier reicht das Spektrum der Ortsbestimmung des Jak von „Antipaulinismus“ 12 über „Kritik an einem missverstandenen oder ‚verwilderten‘ Paulinismus“ 13 bis hin zu „Pau‐ linismus“; 14 dazu kommt noch die Ansicht, dass Jak von Paulus bzw. paulinischer Theologie unabhängig sei. 15 Ein wesentlicher Grund für diese insgesamt unbefriedigende Diversität liegt darin, dass diese Positionen zwar die Aussagen des Jak auf Paulus beziehen, aber den Jak insgesamt nicht als integralen Teil des NT verstehen. Denn in der Perspektive der Kanonischen Ausgabe sind die 27 Schriften des NT nicht eine Sammlung von Einzeltexten, sondern Teile eines Textes, deren Kohärenzsignale es den Lesern erlauben, sie sehr eng aufeinander zu beziehen. Anders gesagt: Sie stehen nicht wie einzelne Beiträge in einer Zeitschrift oder einem Sammelband nebeneinander, sondern beziehen sich aufeinander wie die Kapitel einer Mono‐ graphie oder eines Romans. Es reicht daher nicht, den propositionalen Gehalt einzelner Aussagen miteinander zu vergleichen (z. B. Jak 2,17 mit Röm 3,28 usw.). Vielmehr ist es erforderlich, die kompletten Einzeltexte auf das Ganze der Kanonischen Ausgabe zu beziehen. Und da zeigt sich, dass das NT ein kohärentes Narrativ kommuniziert, dessen Handlungsgerüst am leichtesten durch die Abfolge von Evangelien und Apostelgeschichte konstituiert wird. Alle anderen Schriften, also die Briefe und Offb, fungieren dabei als „dokumentari‐ sche“ Belege für die Richtigkeit der Grunderzählung. Darüber hinaus liefern sie zusätzliche Informationen, mit deren Hilfe die Leserinnen das Grundgerüst durch kleine Details anreichern, Zusammenhänge erschließen, Widersprüche auflösen, narrative Lücken füllen und so ein komplexes Gesamtverständnis Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0014 90 Matthias Klinghardt 16 Das Konzept ist kurz skizziert: Matthias Klinghardt, Inspiration und Fälschung. Die Transzendenzkonstitution der christlichen Bibel, in: Hans Vorländer (Hg.), Transzen‐ denz und die Konstitution von Ordnungen, Berlin-/ -New York 2013, 331-355. 17 Dass „autorfiktionale Elemente im Jak fehlen“, wie Metzner, Der Lehrer Jakobus (s. Anm. 3), 262, behauptet, kann ich angesichts der Fülle der Verbindungen zwischen Jak und dem Rest des NT beim besten Willen nicht nachvollziehen. Seine Folgerung, dass deswegen naheliege, „dass der Autor unter seinem eigenen Namen schreibt“ (ebd.), halte ich nicht nur aus diesen Gründen für obsolet. 18 Grundlegend und methodisch bahnbrechend: Nathanael Lüke, Über die narrative Kohärenz zwischen Apostelgeschichte und Paulusbriefen (TANZ-62), Tübingen 2019. erlangen. Die Anforderungen an die Leser bei der Sinnkonstitution sind an‐ spruchsvoll, unterscheiden sich aber nicht grundsätzlich von dem, was von jeder anderen Lektüre auch zu erwarten ist. 16 Für das Verständnis des Jak hat dieses „kanonische“ Lektürekonzept eine Reihe von Konsequenzen. Grundlegend ist zunächst die Identifizierung des fingierten Verfassers. Sie ist ganz eindeutig: „Jakobus“ ( Jak 1,1) ist natürlich der „Herrenbruder“ (Gal 1,19). Zwar wäre die Identifizierung noch einfacher, wenn etwa beim Schwurverbot ( Jak 5,12) stünde: „… wie schon mein Bruder in seiner berühmten Bergpredigt ausgeführt hat.“ Aber eine solche Vereindeutigung ist nicht nur unnötig, sie würde auch das Lesevergnügen schwer beeinträchtigen, und zwar auf dieselbe Weise, wie die Erklärung einer Pointe den besten Witz ruiniert: Sie würde den Kern von Leselust und -leistung zerstören, nämlich die kreative Herstellung von Verbindungen zwischen (scheinbar) Unverbundenem. Die Elemente zur Identifizierung des „Verfassers“ sind zahlreich vorhanden 17 und ergeben sich völlig zwanglos, und zwar schon aus dem formalen Rahmen, der üblicherweise gar nicht als Teil des Textes und folglich auch nicht für erklärungsbedürftig wahrgenommen wird: Die Abfolge der Katholischen Briefe reflektiert ja die Abfolge der „Säulenapostel“ (Gal 2,9). So, wie der Hebr ausschließlich durch die formalen Vorgaben der Kanonischen Ausgabe (Titel‐ gestaltung; Stellung) ganz eindeutig als Paulusbrief gekennzeichnet ist, sind auch die Verfasser der Katholischen Briefe eindeutig zu identifizieren. So, wie der Hinweis auf die Verklärungserzählung durch „Petrus“ (2 Petr 1,16ff.) nicht nur ein allgemeines Kohärenzsignal ist, so soll auch Jak 5,12 nicht nur das Schwurverbot bestätigen, sondern die Leserinnen zu einer Vermutung anregen, wie „Jakobus“ zu dieser Kenntnis gelangt sein könnte. Der Rahmen, der zum Verständnis von Pseudepigraphie notwendig ist, ist allerdings noch sehr viel stabiler. Die Kohärenz der narrativen Welt des NT zeigt sich in dem durch alle Einzelschriften konstituierten Handlungsverlauf des Gesamtnarrativs. So, wie die Leser des NT die Paulusbriefe mit der in Apg erzählten Geschehensfolge korrelieren können, 18 so können sie auch den Jak in Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0014 Wie und warum ist der Jakobusbrief ins Neue Testament gekommen? 91 19 Vgl. Matthias Klinghardt, Das Aposteldekret als kanonischer Integrationstext: Kon‐ struktion und Begründung von Gemeinsinn, in: Markus Öhler (Hg.), Aposteldekret und antikes Vereinswesen. Gemeinschaft und ihre Ordnung (WUNT 280), Tübingen 2011, 91-112, 97f. 20 Theodor Zahn, Einleitung in das Neue Testament I, Leipzig 1906 (= Ndr. hg. v. R. Riesner), Wuppertal / Zürich 1994, 52-108, 103; vgl. 104: Jak sei „wenige Jahre, vielleicht nur ein Jahr früher im eigenen Namen“ verfasst als der Dekretsbrief (Act 15,23ff.); die (formalen) Anklänge zwischen beiden Briefen „bestätigen immerhin die Überlieferung, wonach beide Briefe der gleichen Zeit und dem gleichen Kreise entstammen“ (85); usw. 21 Diese These wurde schon früher aufgestellt, vgl. z. B. Joseph B. Mayor, The Epistle of James, London 2 1897 (bes. xci-xciv, mit Blick auf Röm-3f.). die Geschichte der apostolischen Zeit einordnen. Am leichtesten verständlich wird ihnen Jak als (unbeabsichtigter) Auslöser des antiochenischen Konflikts. Die Leser können die Abfassung des Briefs also zwischen den Ereignissen von Apg 12,17 (die erste Erwähnung des Herrenbruders) und Apg 15,1 einordnen. Denn die „Brüder“, die in Antiochia von den Heiden die Beschneidung fordern (Apg 15,2) und diese „mit ihren Reden beunruhigt“ und ihre „Gemüter erregt hatten“, waren dazu von Jakobus „nicht beauftragt“ (15,24). Mit dieser kleinen, so gut wie nie registrierten Bemerkung dementiert „Jakobus“ in der Apg einen Vorwurf, der nur in Gal gegen ihn erhoben wird (Gal 2,12: „einige von Jakobus“) - aber das können nur die Leserinnen des gesamten NT erkennen. 19 Da sie in diesem Kontext aber auch Jak lesen, werden sie verstehen: Jakobus hat mit seinem (keineswegs spalterischen und durchweg zustimmungsfähigen) Brief und seiner Hochschätzung des „vollkommenen Gesetzes der Freiheit“ offensichtlich ein Missverständnis ausgelöst, das die „Brüder“ von Apg 15,1 zu ihrer überzogenen Aktion verleitet hat: In der narrativen Welt des NT geht Jak allen Paulusbriefen voran; er präsentiert sich damit als der früheste christliche Text. Theodor Zahn, in der Beurteilung von Einleitungsfragen ebenso scharfsinnig wie konservativ (er hielt Jak für ein authentisches Schreiben des realen Herrenbruders), hat das übrigens sehr klar gesehen: Er behandelt Jak, „dieses älteste Stück christlicher Literatur“, in seiner Einleitung als erste Schrift. 20 Für die klassische Frage nach dem Verhältnis Jakobus-Paulus heißt das: Jak wurde den Paulusbriefen wie ein Prequel vorangestellt, so dass diese (auch) als Reaktion auf Jak gelesen werden können und sollen. 21 Die Absicht dieses Ver‐ fahrens (also: die „pseudepigraphe Intention“) ist klar: Die Leser sollen disparate Informationen aus verschiedenen Textteilen ( Jak, Gal, Apg) als Elemente einer kohärenten Geschichte verstehen, in der die Differenzen beider Akteure (Gal 2) als Folge eines Missverständnisses Dritter (Apg 15) verständlich werden und im Verhältnis beider folgenlos bleiben (Apg 21). Diese Strategie bezieht sich nicht Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0014 92 Matthias Klinghardt 22 Vgl. dazu ausführlicher Klinghardt, Inspiration (s. Anm. 18). 23 Vgl. dazu Matthias Klinghardt, Abraham als Element der Kanonischen Redaktion, in: Heilmann / Klinghardt, Das Neue Testament und sein Text (s. Anm. 4), 223-258. Dass Röm 4 sekundär ist, hat Goldmann, Textgeschichte (s. Anm. 7) überzeugend nachgewiesen. nur auf Jakobus und Paulus, sondern auf das gesamte Narrativ der Kanonischen Ausgabe. 22 Die Funktionsweise dieses Konzepts der kanonischen Lektüre lässt sich an wenigen Beispielen zeigen: In 1 Kor 16,5f. teilt Paulus seine Reisepläne für das ganze folgende Jahr mit, schränkt aber (mit einem einzigen Wort: tychon) ein: „wenn’s passt.“ Wer nur diese Information hat, kann sich viele gute Gründe für diesen Planungsvorbehalt vorstellen. Wer die Kanonische Ausgabe vor sich hat, liest in Jak 4,13-17 eine ausführliche und theologisch gut begründete Warnung vor den langfristigen Planungen großsprecherischer Geschäftemacher. Die Warnung erinnert erkennbar an Lk 12,16ff. (natürlich kennt „Jakobus“ die Lehre seines „Bruders“) und empfiehlt, Planungen unter die conditio Jacobaea zu stellen: „Wenn der Herr will, werden wir leben und dann …“ Ob Paulus seine Pläne aus den von Jak 4 genannten Gründen unter Vorbehalt stellt oder an ganz andere Dinge denkt, bleibt offen. Solche Offenheit ist beabsichtigt, schließlich sollen die Leserinnen sich selbst Gedanken machen; Eindeutigkeit (etwa in Form eines genauen Zitats) wäre kontraproduktiv. Am einfachsten funktioniert dieses Konzept, wenn Jakobus und Paulus mit anderen Worten das gleiche sagen. Etwa, wenn sie ihre Freude über Anfech‐ tungen und Bedrängnisse zum Ausdruck bringen (diese Hochschätzung von Anfechtungen scheint wichtig zu sein, denn die haben sie mit dem dritten Hauptapostel gemein: Jak 1,2ff.; Röm 5,3ff.; 1 Petr 1,6f.). Oder wenn sie in intellektueller Einmütigkeit die Funktion der wahren, göttlichen Weisheit zur Streitvermeidung betonen ( Jak-3,13ff.; 1-Kor-1,18ff.; 3,18ff.): Diese Gemeinsam‐ keit kann und soll jede aufmerksame Leserin erkennen. Etwas anspruchsvoller ist es, wenn beide zwar nicht dasselbe, aber doch Ähnliches sagen (hier würde ich die Entsprechungen zwischen Jak 2 und Röm 3 verorten). Oder wenn sie zeigen, dass sie dasselbe Schriftverständnis haben (und beispielsweise Rahab neben Abraham als Exempel für den tätigen Glauben nennen: Jak 2; Hebr 11), selbst wenn sich ihre Auslegung derselben Schriftstelle in charakteristischen Nuancen unterscheidet, wie das Abrahambeispiel ( Jak 2; Röm 4) zeigt. Letzteres ist ein besonderer Kunstgriff, weil Röm 4 von derselben Hand in den vorkanoni‐ schen Röm eingefügt wurde, die auch Jak 2 verfasst hat: Es handelt sich um eine Zwillingsfälschung, deren Ambiguität - wird Abraham durch seinen Glauben oder durch seine Tat gerettet? - beabsichtigt, aber lässlich ist. 23 Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0014 Wie und warum ist der Jakobusbrief ins Neue Testament gekommen? 93 Auf diese Weise verbindet Jak verschiedene Elemente der Kanonischen Ausgabe zu einer kohärenten Einheit und gibt durch Querverweise sublime Lektürehilfen. Dass sich diese Signale nicht nur auf andere Textteile innerhalb der Ausgabe beziehen, sondern auch die textexterne Lebenswelt seiner Leser betreffen, zeigt die scharfe Invektive gegen die Schwerreichen, auf die „Qualen zukommen“ und deren Reichtum „als Zeuge gegen sie auftreten“ wird (5,1.3). Der einzige Reiche, den wir aus der Welt der Kanonischen Ausgabe kennen, ist Marcion: Man müsste einen wie ihn, der „den hohen Namen lästert“ (2,7), als impliziten Referenten erfinden, wüssten wir nicht schon längst, dass er der Hauptgegner ist, gegen den sich die Kanonische Ausgabe richtet. 3 Einige Folgerungen Diese wenigen Andeutungen müssen genügen, um zu zeigen, dass und wie eine kanonische Lektüre des Jak nicht nur viele seit langem strittige Fragen beantworten kann. Sie lassen erkennen, welches Potential - für das Verständnis nicht nur des Jak, sondern des gesamten NT! - eine Auslegung ungenutzt lässt, die Jak als isolierten Einzeltext versteht, der nur zufällig ins NT gelangt ist. Dabei ist die Ökonomie dieser Erklärung nicht das geringste Argument für ihre Richtigkeit. Am Ende stehen einige Folgerungen. 1. Die Annahme, dass Jak als kanonisches Pseudepigraph für das NT in der uns bekannten Form verfasst wurde, ist die einfachste und die nächstliegende Erklärung. Alle alternativen Erklärungen machen (bewusst oder unbewusst) ungedeckte und überflüssige Voraussetzungen. Am wichtigsten: Sie implizieren, dass Jak vor oder unabhängig von der Kanonischen Ausgabe existierte. Damit produzieren sie zahlreiche Folgefragen, auf die eine valide Antwort beim besten Willen nicht vorstellbar ist. Neben den zahlreichen Erklärungen, die von Pseudonymität ausgehen, trifft dieser Vorwurf in besonderer Weise die Annahme, dass Jak das orthonyme Schreiben eines unbekannten Verfassers sei: Sie setzt diese vom NT unabhängige Existenz des Jak direkt voraus. 2. Da Jak ein integraler Teil der Kanonischen Ausgabe ist, lässt sich die Identität des fingierten Verfassers anhand der zahlreichen intratextuellen Ver‐ flechtungen problemlos und ganz eindeutig identifizieren. Gerade darin erweist sich die hohe Kohärenz des Narrativs, das die Einheit des NT überhaupt erst konstituiert. Die engen Verflechtungen, die sich zwischen allen Einzeltexten ergeben, schließen aus, dass einzelne Teiltexte (etwa Jak oder die Teileinheit der Katholischen Briefe) erst später in das NT integriert wurden. Das NT ist - in der kanonisch gewordenen Form! - eine intentionale, redaktionell gestaltete Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0014 94 Matthias Klinghardt Einheit. Es ist ein kohärenter Text, der als solcher gelesen und verstanden werden will. Und der eben auch ein bestimmtes Jakobusbild entwirft, auf dem die altkirchlichen Nachrichten über Jakobus basieren: sie sind abhängige Sekundär- und Tertiärzeugnisse. Wer diese Aussagen zum Maßstab für Historizität macht, ist dem NT in die literarische Falle der Authentizitätsfiktion gegangen. 3. Der angemessene Zugang zu diesem kohärenten Text ist eine kanonische Lektüre, die die intratextuellen Signale identifizieren kann und ernst nimmt. Kanonische Lektüre ist kein Rückfall in eine „vorkritische“ Auslegung. Vielmehr vollendet sie die historisch-kritische Frage nach der Textgenese, die tatsächlich auf halbem Weg stehen geblieben ist. Denn die Konzentration auf die Untersu‐ chung der Vorgeschichte der im NT enthaltenen (Einzel-)Schriften hat ganz weitgehend aus dem Auge verloren, dass die historische Grundfrage nach der Textentstehung auch für das Zustandekommen der fertigen Kanonischen Ausgabe zu beantworten ist: Wie und warum kommen die Einzeltexte - kommt Jak - ins NT? „Kanonische Lektüre“ ist also ein Erfordernis, das sich aus dem historischen Befund ergibt. Aber in der Durchführung muss sie literaturwissenschaftlich arbeiten und das NT trotz des historischen Wissens um seine Entstehungsbe‐ dingungen nicht als historische Urkunde wahrnehmen, sondern als Literatur. Das ist möglicherweise ungewohnt, aber äußerst lohnend. Matthias Klinghardt ist Professor für Biblische Theo‐ logie an der TU Dresden. Zu seinen Forschungsschwer‐ punkten gehören u. a. die Entstehung des Neuen Testa‐ ments als Sammlung, die Überlieferungsgeschichte der Evangelien und die frühe Geschichte der neutestamentli‐ chen Textüberlieferung. Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0014 Wie und warum ist der Jakobusbrief ins Neue Testament gekommen? 95