ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2022-0015
121
2022
2550
Dronsch Strecker VogelEin Nachzügler
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2022
Rainer Metzner
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1 Vgl. David R. Nienhuis / Robert W. Wall, Reading the Epistles of James, Peter, John, and Jude as Scripture. The Shaping and Shape of a Canonical Collection, Grand Rapids 2013; Darian R. Lockett, Are the Catholic Epistles a Canonically Significant Collection? A Status Quaestionis, in: CBR 14 (2015), 62-80; ders., Letters from the Pillar Apostles. The Formation of the Catholic Epistles as a Canonical Collection, Eugene 2017. Ein Nachzügler Die späte Ankunft des Jakobusbriefes im Neuen Testament Rainer Metzner Die jüngere Forschung zu den Katholischen Briefen verzeichnet v. a. im englischsprachigen Raum einen Trend, die einzelnen Briefe nicht mehr als isolierte Schreiben zu lesen, deren historische Entstehungsbedingungen und theologische Absichten je für sich und unabhängig voneinander diskutiert werden, sondern als eine gezielte Sammlung von Apostelbriefen, die durch ein gemeinsames theologisches Konzept miteinander verbunden sind. 1 Als Schreiben der Jerusalemer Säulen Jakobus, Petrus und Johannes wollen sie einerseits eine Erläuterung zu den Evangelien und der Apostelgeschichte geben, in denen die Säulen eine prägende Rolle spielen, andererseits eine Balance zu einer einseitigen Interpretation der Paulusbriefe schaffen. Der Jakobusbrief nimmt dabei eine bestimmende Rolle ein. Oft wird er als ein spätes, pseudepi‐ graphisches Schreiben beurteilt, das das Erbe des Herrenbruders als Führer der Jerusalemer Kirche bewahrt. Gezielt wurde er als Leitschrift („Frontispiz“) für die Teilsammlung der Katholischen Briefe (David Nienhuis, Robert Wall) oder, wie Matthias Klinghardt meint, als integraler Bestandteil für die gesamte kano‐ nische Ausgabe des NT verfasst, um die Einheit des apostolischen Zeugnisses gegen Irrlehrer wie Markion zu wahren. Diese Sicht erleichtert zum einen die kontrovers geführte Diskussion um den historischen Hintergrund des an Lokal- und Zeitkolorit schwachen Jak, die man so nicht führen muss, wenn der Brief pseudepigraphisch und gezielt für kanonische Zwecke konzipiert wurde. Zum anderen können intratextuelle 2 Nach Klinghardt handelt es sich um Zusammenhänge wie die eines Romans, deren Kapitel erzählerisch aufeinander aufbauen („kohärentes Narrativ“). Die Kapitel eines Romans entspringen jedoch dem Entwurf eines einzelnen Autors, während das NT eine Vielzahl unterschiedlicher Schriften enthält, die in den meisten Fällen als Einzel‐ schriften verfasst wurden und erst im Prozess der Zusammenstellung von Teilgruppen (Evangelien, Apostelgeschichte, Briefe, Offenbarung) zueinander gefunden haben. Das Konzept intratextueller, „sublimer“ Querverbindungen bleibt so lange vage, als es kein eindeutiges methodisches Instrumentarium gibt, welche Verbindungen real, intentional oder einfach nur zufällig sind. 3 Euseb ist der erste, der von den Katholischen Briefen mit Jak an der Spitze spricht (historia ecclesiae 2,23,24f.; 6,14,1). Zur Kanonsgeschichte der Katholischen Briefe vgl. David R. Nienhuis, Not by Paul Alone. The Formation of the Catholic Epistle Collection and the Christian Canon, Waco 2007, 29-98; Wolfgang Grünstäudl, Was lange währt …: Die Katholischen Briefe und die Formung des neutestamentlichen Kanons, in: Early Christianity 7 (2016), 71-94; Andreas Merkt, 1. Petrus. Teilband I (NTP 21/ 1), Göttingen 2015, 4-31. Verbindungen Zusammenhänge der Katholischen Briefe untereinander und mit anderen Teilen des NT sichtbar machen, die sonst nicht in den Blick kommen. 2 Dieser canonical approach entdeckt eine alle sieben Schreiben einende Theologie im Sinne der kirchlichen regula fidei (Tertullian). Dass theologische Motive dieser Art in den Briefen begegnen und die kanoni‐ sche Sammlung förderten, soll hier nicht bestritten werden. Die Frage ist jedoch, ob sie bzw. der Jakobusbrief im Besonderen in dieser Absicht einer kanonischen Einheit geschrieben wurden. Ich vertrete im Folgenden die Ansicht, dass Jak separat, unabhängig von der kanonischen Sammlung des NT verfasst wurde und erst spät, gleichsam als Nachzügler, in der sich bildenden Gruppe der Katholischen Briefe ankam. Dafür sind folgende Gesichtspunkte zu bedenken: 1. Die von Klinghardt vertretene These, dass die kanonische Edition des NT bereits Mitte des 2. Jh. mit der vollständigen, von Jak angeführten Samm‐ lung der Katholischen Briefe vorgelegen hat, findet keine Bestätigung in den altchristlichen Zeugnissen. Vor Euseb (um 300) gibt es in Handschriften, separat überlieferten Kanonlisten und bei altchristlichen Theologen keinen einzigen Beleg für eine Zusammenstellung der sieben Briefe. 3 Wenn das für solche unterschiedlichen, heterogenen Quellen gilt, dann ist die fehlende Bezeugung keineswegs ein „dürftiges“ argumentum e silentio, wie Klinghardt meint, son‐ dern eine recht aussagekräftige Basis. Auch ist die Zusammenführung der Briefe mit den anderen Teilsammlungen (Evangelien, Paulusbriefe) vor den großen Kodizes des 4./ 5. Jh. nicht bezeugt. „Das ist ein deutlicher Beleg dafür, dass das Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0015 98 Rainer Metzner 4 Konrad Schmid / Jens Schröter, Die Entstehung der Bibel, München 3 2020, 55. Nach Klinghardt hat es den Jak nie ohne die kanonische Ausgabe des NT gegeben. Dagegen spricht, dass es vor dem 4. Jh. keine einzige Handschrift gibt, die Jak zusammen mit anderen Schriften des NT bezeugt, obwohl es ihn spätestens seit dem 3. Jh. gegeben haben muss, wie die Zitate bei Origenes und Dionysius Alexandrinus bezeugen. Ori‐ genes nennt ihn einen „Brief, der unter dem Namen des Jakobus umläuft“ (Kommentar zum Johannesevangelium XIX, 23). Die Formulierung spricht dafür, dass er den Brief als ein einzeln zirkulierendes Schreiben kennt. Martin Dibelius, Der Brief des Jakobus (KEK-15), Göttingen 6 1984, 75, deutet die Stelle richtig: Origenes „weiß, dass nicht alle christlichen Gemeinden den Jak in ihrem Neuen Testament haben“. 5 Vgl. Schmid / Schröter, Entstehung (s. Anm. 4), 344 f.; vgl. Gerd Theißen, Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem, Heidelberg 2007, 283 f.; Merkt, 1.-Petrus (s. Anm. 3), 28f. 6 Dazu jetzt Christian Bemmerl, Der Jakobusbrief in der Alten Kirche. Eine Spurensuche vom Neuen Testament bis Origenes (WUNT-II), Tübingen 2023. 7 Zusammenstellung der Zeugnisse bei Christoph Markschies, Haupteinleitung, in: Christoph Markschies / Jens Schröter, Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. I. Band: Evangelien und Verwandtes. Teilband 1, Tübingen 2012, 115-146; Merkt, 1.-Petrus (s. Anm. 3), 22f. 8 Mit Theodor Zahn, Geschichte des Neutestamentlichen Kanons. 2. Band. Erst Hälfte, Erlangen / Leipzig 1890, 380; Theißen, Entstehung (s. Anm. 5), 283 f.; Jens Schröter, Sammlungen der Paulusbriefe und die Entstehung des neutestamentlichen Kanons, in: Jens Schröter u. a. (Hg.), Receptions of Paul in Early Christianity (BZNW 234), Neue Testament aus Einzelsammlungen hervorgegangen ist, die ihrerseits auf der Zusammenstellung ursprünglich einzelner Schriften gründen“. 4 Der Kanon Muratori (um 200) bringt die Siebenzahl der Sendschreiben in der Offb mit den an sieben Gemeinden geschriebenen Paulusbriefen in Verbindung, nicht jedoch, was sich eigentlich angeboten hätte, mit den sieben Katholischen Briefen. Das kann nur bedeuten, dass ihm diese Sammlung noch unbekannt war; er nennt lediglich Jud und 1-2 Joh. 5 Der Papyrus 72, die älteste Handschrift, die mehr als einen Katholischen Brief enthält (3./ 4. Jh.), bietet den Text von Jud und 1-2 Petr, jedoch getrennt von anderen nichtkanonischen Schriften. Also auch hier gibt es noch keine Sammlung Katholischer Briefe. Von Jak fehlt bis zu Origenes (185-253) jede Spur. 6 Dieser ist der erste, der nachweislich alle Katholischen Briefe kennt, aber nicht als Gruppe unter dieser Sammelbezeichnung. Und auch in den späteren kirchlichen Kanonlisten, die alle sieben Briefe nennen, ist die Reihenfolge variabel: Mal steht Jak an der Spitze (Kanon von Laodicea, Stichometrie des Nicephorus), mal hinter den beiden Petrusbriefen (Canones Apostolorum, Decretum Gelasianum; vgl. Gal 2,9 Codex D), mal am Schluss (Breviarium Hipponense). 7 Das zeigt, dass die Briefe noch lange kein geschlossenes, fest geordnetes Corpus mit Jak an der Spitze waren. 8 Ihre Sammlung ist erst später und als letzte zu den bereits bestehenden Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0015 Ein Nachzügler 99 Berlin / Boston 2018, 799-822 (hier: 803). In der syrischen Kirche fehlen die Katholischen Briefe bis in die Mitte des 4.-Jh., die Peschitta (5.-Jh.) enthält nur Jak, 1-Petr und 1-Joh. 9 Mit Nienhuis, Paul (s. Anm. 3), 85 f.; Grünstäudl, Was lange währt (s. Anm. 3), 72. Zur Kritik an Trobischs These einer Ur-Ausgabe des NT (David Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments, Göttingen 1996) vgl. Alexander Maurers Rezension in ThLZ 127 (2002), 56-58 und Theißen, Entstehung (s. Anm. 5), 303-308. 10 Das Gleiche gilt für die gewalttätigen Reichen aus Jak 2,6f., die die Glaubenden vor Gerichte ziehen (vgl. Apg 16,16-22; 19,23-40) und den „guten Namen“ lästern (vgl. 1 Petr 4,4.14-16). Wer sollte da an Markion denken? Zur Begründung, dass an beiden Stellen nichtchristliche Reiche gemeint sind, vgl. Rainer Metzner, Der Brief des Jakobus (ThHK-14), Leipzig 2017, 123-126.255-274. 11 Nicolas Wiater, Being „James“. Pseudepigraphy and Narrative Identity, in: Eve-Marie Becker / Sigurvin Lárus Jónsson / Susanne Luther (Hg.), Who was „James“? Essays on the Letter’s Authorship and Provenance (WUNT 485), Tübingen 2022, 391-415, spricht in diesem Zusammenhang von „overt pseudepigraphy“ (412). „Jakobus“ ist für die Adressaten eine literarische Figur, „a set of ethico-aesthetic modes of speaking, thinking and acting, a concept of identity“ (413). 12 Vgl. Roland Deines, Jakobus. Im Schatten des Größeren (BG 30), Leipzig 2017, 38- 58.278-338. Teilsammlungen der Evangelien und Paulusbriefe hinzugekommen. Das spricht gegen die These einer Ur-Ausgabe des NT schon im 2.-Jh. 9 Bedenkt man diese Faktoren, wird die Annahme Klinghardts, dass Jak als integraler Bestandteil der postulierten Ur-Ausgabe Markion zum Hauptgegner hat, hinfällig. Die Gerichtsrede gegen die Reichen in Jak 5,1-6 kann diese Last nicht tragen. Der Reeder Markion war zwar reich, aber kein Prasser (vgl. Lk 16,19); er forderte strenge Askese. Er war auch kein Großgrundbesitzer, der die Landarbeiter um ihren Lohn brachte und sie so abscheulich ausbeutete, wie Jak 5,1-6 das zeichnet. Beispiele für ein derartiges Fehlverhalten unter Christen gibt es im frühen Christentum nicht. Der Text tadelt nicht christliche, sondern nichtchristliche Reiche. 10 2. Gegen die Annahme eines pseudepigraphischen Schreibens, das entweder eine für Leser und Leserinnen durchschaubare, akzeptierte Fiktion wählt 11 oder einfach nur eine literarische Fälschung ist, wie Klinghardt meint, spricht, dass altchristliche Autoren lange Zeit in dem Brief nicht die Autorität des Herrenbruders wiedererkannt haben (späte Bezeugung und Kanonisierung). Das hat seinen Grund: Der Brief fingiert keine Abfassungssituation, die die füh‐ rende Rolle des Jakobus in Jerusalem widerspiegelt. Fingierte Personalnotizen, deren Ziel es ist, den Charakter möglichst gut zu imitieren (Prosopopoiie, role model), fehlen. Das einzige Detail, das der Autor von sich preisgibt, ist seine Zugehörigkeit zur Gruppe der frühchristlichen Lehrer ( Jak 3,1; vgl. Apg 13,1; 1 Kor 12,28). Die altchristliche, auch in heterodoxen Kreisen kursierende Jakobusüberlieferung der ersten vier Jahrhunderte 12 kennt den Herrenbruder Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0015 100 Rainer Metzner 13 Vgl. dazu im Einzelnen Rainer Metzner, Der Lehrer Jakobus. Überlegungen zur Ver‐ fasserfrage des Jakobusbriefes, ZNW 104/ 2013, 238-267 (hier: 245-258). Gegen die Annahme eines pseudepigraphischen Schreibens verweist jetzt auch Karl-Wilhelm Niebuhr, Wer war „Jakobus“ in den Augen seiner Leser? , in: Becker / Jónsson / Luther, Who was „James“? (s. Anm. 11), 161-178 (hier: 172-176) auf die Diskrepanz zwischen dem Jakobusbild des Briefes und dem altchristlichen Jakobusbild. „Es ist schwer vorstellbar, dass der Jakobusbrief in denselben Kreisen pseudepigraph verfasst worden sein sollte, in denen sein Bild als ‚der Gerechte‘ hochgehalten wurde“ (S. 173). Nach Niebuhr hat ein um den Herrenbruder kreisendes „Autorenkollektiv“ von griechischen Muttersprachlern den Brief verfasst. 14 Vgl. Otto Pfleiderer, Das Urchristentum. Seine Schriften und Lehren in geschichtlichem Zusammenhang, Bd. 2, Berlin 2 1902, 553: Im Falle einer Fiktion „wäre doch gewiss zu erwarten, dass der Fälscher nicht unterlassen hätte, ausdrücklich zu markieren, dass dieser Jakobus der hochangesehene Herrenbruder sei“. Auch Dibelius, Brief (s. Anm. 4), 34, der mit einer „harmlosen“ Pseudonymität rechnet, bemerkt, dass der Autor des Jak weit entfernt ist „von jeder literarischen Nachahmungs- oder Maskierungskunst“. 15 Vgl. nur EvHebr 5: „Jakobus hatte nämlich geschworen, er werde kein Brot mehr essen von jener Stunde an, in der er den Kelch des Herrn getrunken hatte, bis er ihn von den Entschlafenen auferstanden sehe“ (Hieronymus, De viris illustribus 2,12f.). Weiteres bei Metzner, Lehrer (s.-Anm. 13), 255. aber nicht als Lehrer, der zudem noch wie der Briefautor mit Topoi klassischer Rede vertraut ist (Gattung des paränetischen Briefes, Diatribe, griechischrömische Gottes- und Morallehre), sondern als Bischof der Jerusalemer Kirche, als Asketen, Priester und betenden Gerechten im Jerusalemer Tempel, als Offenbarungsmittler und Märtyrer, wovon wiederum Jak nichts weiß. 13 Ein Autor, der die Fiktion eines Herrenbruderschreibens sucht, wäre also reichlich ungeschickt vorgegangen, wenn er bekannte Identifikationsmerkmale des Her‐ renbruders unterschlägt. 14 Klinghardt, für den solche Identifikationsmerkmale gleich „zahlreich“ vorhanden sind, führt als Beispiel das Schwurverbot Jak 5,12 an, über das Lesende der kanonischen Ausgabe „ganz eindeutig“ den Herren‐ bruder identifizieren können, denn er würde sich auf die Bergpredigt seines Bruders beziehen. Das ist aber aus zwei Gründen unwahrscheinlich. Zum einen ist der Herrenbruder Jakobus in der altchristlichen Jakobustradition nicht als Garant von Jesusbzw. Evangelienüberlieferung bekannt geworden. Nirgends ist vorausgesetzt, dass er mit Worten oder Geschichten Jesu vertraut war. Das unterscheidet ihn etwa von Petrus (1-2 Petr) und dem Lieblingsjünger ( Joh; vgl. 1 Joh 1,1). Zum anderen zeichnen die altchristlichen Jakobuszeugnisse den Herrenbruder als Frommen, der heilige Eide geschworen und diese auch anderen empfohlen hat. 15 Jak 5,12 mahnt aber, auf jede Form von Eid zu verzichten. Warum sollte jemand, der im Namen des Herrenbruders schreibt, den Schwur verbieten, wenn der Herrenbruder gerade dafür bekannt war, Eide und Schwüre zu leisten? Das Gesamtnarrativ des Herrenbruders, das sich aus der Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0015 Ein Nachzügler 101 16 Vgl. Metzner, Brief (s. Anm. 10), 20.166. 17 Nach meiner Überzeugung weisen die Beziehungen zu Herm im Verbund mit anderen Indizien auf ein römisches Milieu des Jak: Metzner, Brief (s. Anm. 10), 18-20.23-25. 18 Christoph Burchard, Der Jakobusbrief (HNT 15/ 1), Tübingen 2000, 126. So jetzt auch Matthias Konradt, Antipauliner oder Zeugen eines nichtpaulinischen Christentums? Kritische Überlegungen zum Verhältnis des Jakobusbriefes und des Matthäusevange‐ liums zur paulinischen Tradition, in: Schröter u. a., Receptions of Paul, 675-728 (hier: 701-720). 19 Die Mehrheit der Handschriften hat in der Tat die Katholischen Briefe vor (! ) den Paulusbriefen zu stehen. Doch gibt es auch die umgekehrte Reihenfolge oder die Apostelgeschichte zwischen beiden Schriftengruppen (vgl. Kurt und Barbara Aland, Der Text des Neuen Testaments, Stuttgart 2 1989, 91 f.). altchristlichen, auch außerhalb des NT überlieferten Jakobuserzählung speist, spricht gegen die Deutung von Jak-5,12 auf den Herrenbruder. 3. Nach Klinghardt erfordert eine kanonische Lektüre des Jak, den Brief mit Bezug auf Paulus zu lesen. Jede andere Deutung würde den Brief literarisch und theologisch ortlos machen. Diese Annahme ist keineswegs zwingend, wenn man über den Tellerrand der kanonischen Ausgabe des NT hinaus schaut. Jak 2,14-26 konvergiert mit einer Problemlage, die in frühchristlichen Schriften des 2. Jh. bezeugt ist. 16 Wie der 2. Clemensbrief und der römische Hirt des Hermas, mit dem Jak auch sonst enge Verbindungen hat, 17 richtet sich Jakobus gegen Christen, die „nur“ glauben und keine guten Taten (der Nächstenliebe, vgl. Jak 2,8-13.15f.) bei sich haben. Es geht in allen drei Schriften ( Jak, Herm, 2 Clem) um untätige Christen, die ihren Glauben mit Streben nach Wohlstand, Reichtum und weltlicher Gesinnung vermischen. Ihnen wird versichert, dass ihr Nur-Glaube sie im Gericht nicht retten wird. Jak 2 hat seinen spezifischen Ort in der Auseinandersetzung mit (reichen) Christen, die den Glauben auf eine fromme Gesinnung reduzieren und Bedürftige vernachlässigen. Rechtfertigung ist nicht wie bei Paulus eine Frage des „how to get in“ (iustificatio impii), sondern des „how to stay in“. Das ist eine andere Problemlage, so dass sich Jak durch eine rein innerkanonische Lesart (Paulus) nicht zureichend verstehen lässt. Mit Recht bemerkt Christoph Burchard: „Man verdirbt sich die Auslegung, wenn man Jak durchlaufend von Paulus weg oder auf ihn zu interpretiert“. 18 4. Klinghardt platziert den Jak in das Narrativ des antiochenischen Konflikts (Apg 15; Gal 2). Ein Missverständnis der Rede vom „vollkommenen Gesetz der Freiheit“ ( Jak 1,25; 2,12) habe die in Apg 15,1 erwähnten Beschneidungsleute, die nach Gal 2,12 von Jakobus kamen, auf den Plan gerufen. In der kanonischen Lesart reagieren die Paulusbriefe auf Jak, der ihnen wie ein „Prequel“ vorange‐ stellt wurde. 19 Gegen diese Sicht - und damit auch gegen die Annahme eines (fiktiven) Herrenbruderschreibens - spricht, dass die z. Z. des antiochenischen Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0015 102 Rainer Metzner 20 Martin Hengel, Der Jakobusbrief als antipaulinische Polemik, in: ders., Paulus und Jakobus. Kleine Schriften-III (WUNT-141), Tübingen 2002, 511-548 (hier: 535 f.). 21 Belege bei Burchard, Jakobusbrief (s. Anm. 18), 187; Dale C. Allison, James (ICC), New York u.-a. 2013, 659f. 22 Merkt, 1. Petrus (s. Anm. 3), 21 f. bemerkt mit Recht, dass „die Frage, wo und weshalb das Siebenercorpus entstand, untrennbar mit der Anerkennung des Jakobusbriefes als einer Schrift verbunden ist, welche die Briefe des Petrus und des Johannes ergänzt“. 23 Zum Verständnis des Kanons als „Verbindlichmachung“ von Schriften vgl. Markschies, Haupteinleitung (s. Anm. 6), 17.26-29. 24 Zur (Spät-)Datierung des Jak ins 2.-Jh. vgl. Nienhuis, Paul (s. Anm. 3), 99-161; Allison, James (s. Anm. 21), 3-32; Metzner, Brief (s. Anm. 10), 16-23. Konflikts virulente Frage, wie Juden- und Heidenchristen Gemeinschaft halten können, für Jak überhaupt kein Thema mehr ist. Das „vollkommene Gesetz der Freiheit“ hat bei ihm keinen Bezug auf jüdische identity markers und rituelle Gebote (Beschneidung, Speisegesetze, Abgrenzung vom Götzendienst), sondern steht ausschließlich und unmissverständlich (! ) für das Gebot der Nächstenliebe ( Jak 2,8-13). Zwischen Paulus und Jak besteht m. E. ein deutlicher Abstand. Daher ist der Versuch, die Pläne der reichen Geschäftemacher in Jak 4,13-17 mit den Reiseplänen des Paulus in 1 Kor 16,5f. zu verbinden, nicht überzeugend, sei es in der Annahme, dass der Herrenbruder den Apostel Paulus als „den größten christlichen Pläneschmied“ tadelt, 20 oder sei es in der von Klinghardt vorgeschlagenen umgekehrten Leserichtung, dass Paulus seine Pläne unter den Vorbehalt der conditio Jacobaea ( Jak 4,15) stellt. Paulus teilt zwar den Vorbehalt „so Gott will“ (1 Kor 16,7; vgl. 4,19; Apg 18,21), doch ist der in der alten Welt so verbreitet, 21 dass ein „Zusammenlesen“ von Jak und Paulusbriefen in diesem Zusammenhang nicht zwingend erscheint. 5. Die von Klinghardt aufgeworfene Frage, wie und warum Jak in das Neue Testament gekommen ist, lässt sich aus meiner Sicht so beantworten: Die Ankunft des Jak im Kreis der Katholischen Briefe geht mit der späten Ankunft dieser Schriftengruppe im neutestamentlichen Kanon einher. 22 Die Briefe liefen zunächst einzeln um (seit dem 2. Jh. sind 1 Joh und 1 Petr gut bezeugt). Die Zusammenstellung vollzog sich unter dem Sog der fortschreitenden Ver‐ bindlichmachung des Kanons der christlichen Bibel, 23 in deren Zuge einzelne Schriften als zusammengehörig beurteilt und zunächst in Kleingruppen zusam‐ mengestellt wurden. Kräfte, die auf sachlichen Verbindungen zwischen den Schriften beruhen, zogen 2-Petr zu 1-Petr (vgl. 2-Petr-3,1) und 2-3-Joh (gleicher Absender) zu 1 Joh. Jud ist separat überliefert und in 2 Petr enthalten. Jak ist ein Nachzügler. 24 Spät geschrieben und bezeugt, blieb er auch lange umstritten. Er gewann erst im Lauf der Zeit allmählich an Autorität (Hieronymus, De viris illistribus 2). Dort, „wo man für jede erbauliche Schrift womöglich einen Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0015 Ein Nachzügler 103 25 Pfleiderer, Urchristentum, Bd.-2 (s. Anm. 14), 553. 26 Übrig blieb Jud, der vermutlich aus Gründen der Symbolzahl Sieben angefügt wurde (vgl. Euseb, Historia ecclesiae-2,23,25). Die Zusammenstellung der Briefe mit Jak an der Spitze wird m. W. erstmals bei Beda Venerabilis (673-735) explizit mit einem Verweis auf die Jerusalemer Säulen aus Gal 2,9 belegt (Beda Venerabilis, In Epistulam Iacobi Expositio. Kommentar zum Jakobusbrief, übers. von Matthias Karsten, Freiburg u. a. 2000, 64 f., Prolog). 27 Dieter Lührmann, Gal-2,9 und die katholischen Briefe, in: ZNW-72 (1981), 65-87 (hier: 72); vgl. Karl-Wilhelm Niebuhr, Epistles, Catholic, I. New Testament, in: EBR 7 (2013), 1086-1092 (hier: 1090 f.); Schmid-/ -Schröter, Entstehung (s. Anm. 4), 348. 28 In der altkirchlichen Überlieferung gibt es keine Spuren von diesem unbekannten Jakobus. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass es neben den bekannten auch andere, sonst unbekannte Namensträger im frühen Christentum gab, die in der Erinnerung verloren gingen. Zur Einordnung der These eines orthonymen Schreibens (Metzner, Lehrer, s. Anm. 13, 238-267; ders., Brief, s. Anm. 10, 3-13) in die gegenwärtige Diskussion um den Briefautor vgl. jetzt Oda Wischmeyer, Who was „James“? Der Her‐ renbruder, „ein Namenloser aus den Vielen“, ein „role model“ oder ein frühchristlicher Lehrer mit Namen Iakōbos? , in: Becker / Jónsson / Luther, Who was „James“? (s. Anm. 11), 179-195. 29 Homonymität ist in der alten Welt eine häufige Ursache für Verwechslungen. Viele, „die den Namen Jakobus trugen“ (Euseb, Historia ecclesiae 2,23,4), wurden miteinander verwechselt, z. B. der Zebedaide, der Kleine, der Alphäussohn und der Herrenbruder (vgl. Metzner, Lehrer, s. Anm. 13, 242 f). Eine ähnliche Verwechslung ließ in der kirchlichen Tradition den Autor der Offenbarung des Johannes (Offb 1,1.4.9; 22,8) zum Apostel Johannes werden (vgl. Hans-Josef Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament, Paderborn u.-a. 1998, 302). autoritativen Namen aus der apostolischen Zeit haben wollte“, 25 setzte sich die Zuschreibung an den Herrenbruder durch. War das geschehen, stand der Gruppierung Jak, 1-2 Petr, 1-3 Joh als Briefe der Jerusalemer Säulen (Gal 2,9) nichts mehr im Wege. 26 Das dürfte, wie die Belege bei Euseb zeigen (s. o.), erst Ende des 3. Jh. erfolgt sein. Die Teilsammlungen der Evangelien und der Paulusbriefe lagen bereits vor. Die Katholischen Briefe kamen, oft an die Apos‐ telgeschichte andockend (Praxapostolos), hinzu, „um ein gemeinsames Zeugnis der Apostel für die kirchliche Lehre zu dokumentieren“. 27 Zu diesem Zeitpunkt, so meine Vermutung, war man sich nicht mehr bewusst, dass der eigentliche, eher anspruchslose Autor des Briefes ein sonst unbekannter christlicher Lehrer namens Jakobus war. 28 Die Zusammenführung der Katholischen Briefe mit Jak an der Spitze geschah demnach unter der Voraussetzung einer Verwechslung des unbekannten Jakobus mit dem bekannten Bruder Jesu, der denselben weitverbreiteten Namen hatte. 29 Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0015 104 Rainer Metzner Rainer Metzner studierte von 1983 bis 1988 Evangeli‐ sche Theologie in Berlin. Er ist Pfarrer und lehrt als Privatdozent Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Theo‐ logischer Handkommentar „Der Brief des Jakobus“ er‐ schien 2017 in der Evangelischen Verlagsanstalt. Gegen‐ wärtig forscht und publiziert er im Bereich der Idiomatik zu den biblischen Redewendungen und Sprichwörtern. Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0015 Ein Nachzügler 105
