eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 25/50

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2022-0016
121
2022
2550 Dronsch Strecker Vogel

Aufwärtsmobilität und Abwärtsorientierung

121
2022
Manuel Vogel
znt25500107
1 Der neueste Sammelband zum Jakobusbrief ist: Eve-Marie Becker / Sigurvin Lárus Jónsson / Susanne Luther (Hg.), Who was ,James‘? Essays on the Letter’s Authorship and Provenance (WUNT 485), Tübingen 2022. Die neuesten deutschsprachigen Kom‐ mentare stammen von Rainer Metzner, Der Brief des Jakobus (ThHk 14), Leipzig 2017 und Theo K. Heckel, Die Briefe des Jakobus, Petrus, Johannes und Judas (NTD 10), Göttingen 2019. 2 Mittlerweile klassisch aus Bruce J. Malina, Die Welt des Neuen Testaments. Kulturanth‐ ropologische Einsichten, Stuttgart 1993, das 2. Kapitel „Ehre und Scham. Grundlegende Werte der mediterranen Kultur des 1. Jahrhunderts“ (40-66); außerdem Victor H. Matthews (Hg.), Honor and Shame in the World of the Bible (Semeia 68), Atlanta 1996. 3 Emil Reisch / Paul Jonas Meier, Art. Agones 2, in: PRE Bd. 1 (1893), 836-867; Julius Jüthner, Art. Agon, in: RAC Bd. 1 (1950), 188-189; Philip A. Stadter, Plutarch and his Roman Readers, Oxford 2015, hieraus v. a. Kap. 19: „Competition and its Costs: Φιλονικία in Plutarch’s Society and Heroes“ (270-285); Peter Walcot, Envy And The Greeks. A Study Of Human Behaviour, Liverpool 1978; Cynthia Damon / Christoph Pieper (Hg.), Eris vs. Aemulatio. Valuing Competition in Classical Antiquity (MnS 423), Leiden 2019. Hermeneutik und Vermittlung Aufwärtsmobilität und Abwärtsorientierung Ein soziokultureller survey des Jakobusbriefes Manuel Vogel 1 Einleitung Der vorliegende Beitrag skizziert eine Lektüre des Jakobusbriefes 1 auf dem soziokulturellen Hintergrund der hellenistisch-römischen Gesellschaften des Mittelmeerraumes der frühen Kaiserzeit. Bei allen selbstredend gegebenen Differenzierungen auf allen Ebenen der Analyse scheint es gleichwohl statthaft, unser Bild dahingehend näher zu bestimmen, dass es sich bei diesen Gesell‐ schaften um honor-shame-societies handelte, 2 die in praktisch allen Bereichen des öffentlichen Lebens eine agonistische und kompetitive Grundstruktur aufwiesen, 3 etwa auf den Feldern der Philosophie, 4 der Religion, 5 des Rechts, 6 4 Barry Sandywell, The Agonistic Ethic and the Spirit of Inquiry. On the Greek Origins of Theorizing, in: Martin Kusch (Hg.), The Sociology of Philosophical Knowledge (The New Synthese Historical Library-48), Dordrecht 2000, 93-123. 5 Nathaniel P. DesRosiers / Lily C. Vuong (Hg.), Religious Competition in the Greco-Roman World, Atlanta 2016; David Engels / Peter Van Nuffelen (Hg.), Religion and Competition in Antiquity, Brüssel 2014; Maijastina Kahlos, The faces of the Other. Religious rivalry and ethnic encounters in the later Roman world, Turnhout 2011; Jordan D. Rosenblum / Lily Vuong / Nathaniel DesRosiers (Hg.), Religious competition in the third century CE. Jews, Christians, and the Greco-Roman World, Göttingen 2014; Rodney Stark, Religious competition and Roman piety, in: Interdisciplinary Journal of Research on Religion 2 (2006), 1-30; Leif E. Vaage, Religious rivalries in the early Roman Empire and the rise of Christianity, Waterloo 2006. 6 David Cohen, Law, Violence, and Community in Classical Athens, Cambridge 1995. 7 Jerome H. Neyrey, Questions, Chreiai, and Honor Challenges. The Interface of Rhetoric and Culture in Mark’s Gospel, in: CBQ-60 (1998), 657-681. 8 Konrad Hess, Der Agon zwischen Homer und Hesiod. Seine Entstehung und kulturge‐ schichtliche Stellung, Zürich 1960; Renata von Scheliha, Vom Wettkampf der Dichter. Der musische Agon bei den Griechen, Göttingen 1987. 9 Manuel Vogel, Von der schlechten Gewohnheit, schlecht über einander zu reden. Hellenistisch-römische Selbst- und Fremdwahrnehmungen der Judäer im Kontext antiker Ethnographie, in: ZNT-37 (2016), 35-46. 10 Vgl. hierzu knapp aber instruktiv Gerd Theißen, Ethos und Gemeinde im Jakobus‐ brief. Überlegungen zu seinem „Sitz im Leben“, in: Petra von Gemünden / Matthias Konradt / Gerd Theißen (Hg.), Der Jakobusbrief. Beiträge zur Rehabilitierung der „strohernen Epistel“, Münster 2003, 143-165, 152f. 11 Ähnlich meint Wesley H. Wachob, The Voice of Jesus in the Social Rhetoric of James (SNTSMS 106), Cambridge 2000, 195, dass „the people whom James addresses are surrounded by people within a Greco-Roman value structure, and they are trying to find their way in an environment that is dominated by those values“. Christoph Burchard, Der Jakobusbrief (HNT 15/ 1), Tübingen 2000, 103 rechnet die Adressaten zur der Rhetorik, 7 der Dichtung 8 oder der Ethnographie. 9 Es handelte sich um Gesellschaften mit ausgeprägten Elitenkulturen mit ihren eigenen sozialen Wertvorstellungen und Verhaltenskodizes, die die Mehrheitsgesellschaften do‐ minierten oder (z.-B. in patron-client-Beziehungen) auf sie abfärbten. Der Jakobusbrief richtet sich an jesusgläubige Adressatinnen und Adressaten im sozialen Raum der Diasporasynagogen, die in ihren urbanen bzw. auf die Städte hin zentrierten Umgebungsgesellschaften vereinsförmig organisiert und entsprechend etabliert waren und an den Handlungsmöglichkeiten und Chancen der Stabilisierung und Steigerung der eigenen sozialen Statusposition partizipierten. 10 Unter den Adressierten finden sich Menschen vom unteren gesellschaftlichen Rand (vgl. 1,27; 4,15f.) wie auch aus den oberen Schichten (vgl. 4,13-17). Mehrheitlich scheinen sich die Adressierten in einer Mittelposi‐ tion zu befinden, in der der Gruppe alle Chancen des sozialen Aufstiegs offen‐ stehen. 11 Der Jakobusbrief kann zur Gänze gelesen werden als ein vehementer Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0016 108 Manuel Vogel „städtischen Unterschicht oberhalb der Armutsgrenze“ und dies „nicht ohne Aussicht auf geschäftliches Fortkommen“. 12 Vgl. hierzu auch Luke Timothy Johnson, The Social World of James. Literary Analysis and Historical Reconstruction, in: Michael L. White (Hg.), The Social World of the First Christians, Minneapolis 1995, 178-197, v. a. aber das in diesem Heft vorgestellte Buch von K. Jason Coker, James in postcolonial Perspective. The Letter as Nativist Discourse, Minneapolis 2015. 13 So etwa bei Ferdinand Hahn, Theologie des Neuen Testaments, Teil 1, Tübingen 3 2001, 395-407. Prostest hiergegen. Nachfolgend wird eine Lektüre des Briefes unternommen, die ihn vor dem eingangs beschriebenen soziokulturellen Hintergrund 12 als markante Gegenposition zum Sprechen bringt. M. E. kann der Text nicht anders als so historisch überhaupt erschlossen werden. Andernfalls bleibt er inhaltlich blass und seine „Theologie“ verflüchtigt sich ins Allgemeine einer stereotypen dogmatischen Binnensprache. 13 2 Das Präskript (Jak-1,1) Mit der Adresse an die „zwölf Stämme in der Zerstreuung“ legt der Verfasser den Adressierten ein Selbstbild nahe, das sie sich (neu) zu eigen machen sollen: Wo immer sie sich gerade aufhalten, wo immer sie ihr Leben zubringen, zuhause sind sie dort nicht. Schon hier wird deutlich: Den Adressierten soll jedes falsche Heimatgefühl in ihren hellenistisch-römischen Umgebungsgesell‐ schaften ausgeredet werden zugunsten ihrer israelitisch-jüdischen Identität („zwölf Stämme“). Und im weiteren Verlauf wird klar: Dem Verfasser geht es konkret um die scharfe Kritik sozialer Aufwärtsmobilität im Kontext der Diasporasynagogen der hellenistisch-römischen Zeit und um den Aufweis, dass jedwede Gestaltung des biblisch-jüdischen Glaubens nicht anders möglich ist als in einer konsequenten sozialen Abwärtsorientierung. 3 Von der Versuchung reich sein zu wollen (Jak-1,2-12) Der auf das Präskript folgende Gedankengang umfasst Aussagen zu „Versu‐ chungen“, zum „bewährten Glauben“, zur „Geduld“, zum „vollkommenen Werk“. Weiter geht es um „Weisheit“ und um den „ungeteilten Glauben“ aus dem heraus Weisheit von Gott erbeten sein will, um dem „Zweifelnden“, dem „Schwankenden“ mit „zwei Seelen in seiner Brust“, der hin- und hergeworfen wird wie eine Meereswoge und „unbeständig ist in allen seinen Wegen“. Anschließend geht es um soziale „Niedrigkeit“, derer man sich rühmen soll, und um den „Reichen“, der sich „erniedrigen“ soll angesichts der Vergänglichkeit Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0016 Aufwärtsmobilität und Abwärtsorientierung 109 14 Die Satzstellung lässt das Verständnis zu, dass auch der plousios ein adelphos ist, was explizit nur vom „Niedrigen“ gesagt wird. Oder soll der Reiche als außerhalb der Gemeinde stehend gedacht werden? Oder entscheidet sich, ob er als adelphos gelten darf, wie er zu seinem Reichtum steht und wie er damit umgeht? des Reichtums. Der Abschnitt schließt mit der Seligpreisung dessen, der die „Versuchung“ erträgt und von Gott dafür einen „Ehrenkranz“ erhält. Es ist nun ohne weiteres möglich, diesen Abschnitt als eine Aneinanderreihung von Topoi weisheitlicher Paränese zu verstehen und entsprechend zu gliedern. Dann geht es in 1,2-4 um Versuchungen, in 1,5-8 um Weisheit für den Beständigen, in 1,9-11 um die Vergänglichkeit des Reichtums und in 1,12 abermals um das Thema Versuchung. Soziokulturell bleibt der Abschnitt dann aber völlig stumm. Gegen eine solche Segmentierung spricht die inclusio Versuchungen (1,2) / Versuchung (1,12), die auf ein gemeinsames Thema des ganzen Abschnitts schließen lässt, eben: Versuchungen, worin diese bestehen, wie sie sich äußern, unter welchen Umständen sie gefährlich werden und wie man ihnen erfolgreich (V. 12! ) begegnet. Konkret wird es innerhalb des Abschnitts 1,2-12 in V. 9.10a mit der Aufforderung an den „geringen Bruder“ sich seiner (in Wahrheit bestehenden) „Hoheit“ zu rühmen, und an den „Reichen“, sich seine Niedrigkeit zu Ruhm gereichen zu lassen, mit der in V.-10b.11 anschließenden Betrachtung über die Vergänglichkeit des Reichtums: Die Eigenschaft „gering“ (tapeinos) enthält als gesellschaftliche Position („gesellschaftlich bedeutungslos“) auch den Aspekt materieller Armut und umgekehrt markiert der „Reiche“ (plousios) materiellen Reichtum und zugleich ein mit gesellschaftlicher Geltung und Macht verbundenes hohes Sozialprestige. Gefordert wird innerhalb der Gemeinde 14 ein permanentes Zuwiderhandeln gegen die in der hellenistisch-römischen Umge‐ bungsgesellschaft fraglos gültigen sozialen Standards. Das von beiden (dem Niedrigen und dem Reichen) geforderte „Rühmen der Niedrigkeit“ meint, etwas als ehrenvoll und erstrebenswert anzusehen, das gesellschaftlich Gegenstand von Geringschätzung und Verachtung ist. Gefordert ist, sich in seinem eigenen Handeln nicht an den gesellschaftlich Einflussreichen zu orientieren, nicht ihre Nähe zu suchen und sich davon gesellschaftlichen Aufstieg zu erhoffen (soziale Aufwärtsmobilität), sondern die Nähe von Menschen aus den unteren Schichten (soziale Abwärtsorientierung). Für das Gesamtverständnis des Abschnitts bringt dies nun gegenüber dem beschriebenen segmentierten Verständnis erhebliche Verschiebungen des se‐ mantischen Feldes mit sich: Eine soziokulturelle Lektüre von 1,2-12 mit Fokus auf 1,9-11 heißt dann: Bei den in V. 2 angesprochenen „vielfältigen Versuchungen“ handelt es sich konkret um die eine Versuchung (V. 12), das hellenistisch-römische Gesellschaftsspiel um Ansehen und Ehre nun doch auch Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0016 110 Manuel Vogel 15 Ähnlich Matthias Konradt, Christliche Existenz nach dem Jakobusbrief. Eine Studie zu seiner soteriologischen und ethischen Konzeption (StUNT 22), Göttingen 1998, der das „Bezugsfeld der mannigfaltigen Versuchungen im Jak[obusbrief]“ (109) ausführlich un‐ tersucht (109-165) und als Resümee festhält, dass „Jakobus bei den πειρασμοί ποικίλοι (primär) an die Gefährdung der ethischen Integrität der Adressaten durch Rückfall in ,weltliche‘ Verhaltensweisen denkt“ und dass „das, was den Kosmos zum Kosmos macht, im Jak wesentlich als falsches Verhältnis zu materiellen Gütern bestimmt ist (1,27-2,5; 4,1-4) und das vorrangige Feld, auf dem Jakobus die πειρασμοί stattfinden sieht und dessentwegen er die 1,2f. zugrundeliegende katechetische Tradition an exponierter Stelle aufnimmt, eben das Verhältnis zum Besitz ist“. 16 So John S. Kloppenborg, Patronage avoidance in James, in: HTS 55 (1999), 755-794, 768, s.-dazu Anm.-25 und-26. in der Gemeinde weiterzuspielen. 15 „Vielfältig“ sind die Versuchungen, weil in praktisch jeder Situation des Alltagslebens innerhalb und außerhalb der Gemeinde die Gefahr droht, dass man „einknickt“ und doch wieder die Reichen und Mächtigen bewundert und die Menschen aus den unteren Schichten (d. h. auch sich selbst, so man diesen Schichten zugerechnet wird) verachtet. Die „Freude“ über die Versuchungen (1,2) kommt dann in die Nähe des „Rühmens“ der Niedrigkeit (V. 9f.) zu stehen: Das Leben in der Gemeinde erzeugt einen beständigen Antagonismus sozialer Werte. „Freude über die Versuchungen“ heißt: Wertschätzen, dass die eigene klare Position herausgefordert ist, sich in diesem permanenten (V. 3f.: „Geduld“! ) Antagonismus zu bewähren und zu bewahrheiten. Mit dem „Glauben“ (pistis, V. 3) und dem „Werk“ (ergon), das „vollkommen“ (teleion, V. 4) sein soll, klingen bereits zu Beginn wichtige Termini des Jakobusbriefes an, die im weiteren Verlauf tatsächlich eine prägnante sozi‐ algeschichtliche Konnotation erhalten. Für 1,2-12 lässt sich zunächst nur sagen: Bewährter „Glaube“ und vollkommenes „Werk“ zeigen sich im konsequenten (vollkommenen) Durchhalten der eigenen Position im Antagonismus der so‐ zialen Wertvorstellungen. Zum Begriff „Weisheit“ (sophia) in V. 5 ist vorgreifend darauf hinzuweisen, dass „Weisheit“ im Jakobusbrief ihrerseits antagonistisch aufgefasst wird (3,13-15). In 1,5 ist gemeint: Das paradoxe „Rühmen“ versteht sich nicht von selbst. Es muss sich (im Bedarfsfall: immer wieder neu) von Gott her erschließen und seiner Wahrheit vergewissern. Anders als ein patron, der aus Kalkül großzügig ist und seine clients regelmäßig demütigt, ist Gott derjenige, der „einfältig gibt und das ohne Schmähungen“ (1,5). 16 Der Antagonismus sozialer Wertvorstellungen, innerhalb dessen es sich richtig zu positionieren gilt, plausibilisiert auch das breit ausgeführte Motiv des „Schwankens“ und „Zweifelns“ (diakrinomai, dipsychos, V. 6-8). Ohne Weisheit von Gott ist das ständige Schwanken zwischen dem gesellschaftlichen Mehr‐ Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0016 Aufwärtsmobilität und Abwärtsorientierung 111 17 Hierzu Konradt, Christliche Existenz nach dem Jakobusbrief (s.-Anm.-15), 117-119. heitsverhalten und der hierzu konträren göttlichen Sozialordnung sozusagen der erwartbare Normalfall. Was das in 1,10f. Gesagte betrifft, so geht es nicht um eine weisheitliche Klugheitsregel für Reiche, die gut daran tun, nicht allzu oft an das eigene Ver‐ mögen zu denken, denn man muss ja immer auch mit der Möglichkeit rechnen, dass man es verliert, und ein mentaler Mindestabstand zum eigenen Besitz federt ggf. allzu große Frustration ab. Nein, der Jakobusbrief personalisiert in V. 10f. konsequent: Nicht der Reichtum ist vergänglich, sondern der Reiche selbst! Mit dem Naturbild der verwelkenden Blume geht es also nicht um stoische Abgeklärtheit, sondern um manifeste Statusdestruktion: Jeder Reiche in seinem scheinbar unantastbaren gesellschaftlichen Glanz ist in Wahrheit ein jämmerlich dahinwelkendes Blümchen. Der Siegeskranz, der dem in der Versuchung Standhaften von Gott winkt (V. 12), steht für den Gegensatz von Ehre und Schande, der in antiken Gesell‐ schaften praktisch omnipräsent ist. In der Sache geht es um den im NT auch sonst geläufigen Gegensatz „Ehre von Gott / Ehre von Menschen“ (vgl. Mt 6,5f.; Joh-5,44; Röm-2,29). Gemeint ist: Wer sich dem hellenistisch-römischen Gesell‐ schaftsspiel um Reichtum, Macht und Anerkennung beharrlich verweigert, wird von Gott als Sieger (in einem „agonistischen“ Handlungszusammenhang ganz anderer Art) 17 dafür geehrt werden. 4 Versuchung und Begierde (Jak-1,13-18) Das psychologische Pendant zur Versuchung reich sein zu wollen (im sozial umfassenden Sinn), ist die Begierde (epithumia) reich sein zu wollen. Die in diesem Abschnitt gebotene Genealogie der Versuchung aus der Begierde als dem Ferment von Sünde und Tod rechnet mit der Unsicherheit des Zweifelnden und Schwankenden (1,6-8), ob es auf dem Felde der Reichen sozusagen immer eine Abwägung des Einzelfalles geben muss, dass man also nie sicher sein kann, ob es mit dieser oder jener Möglichkeit der eigenen sozialen Statussteigerung coram Deo nicht doch sein Recht und seine gute Ordnung hat. Der Verfasser des Jako‐ busbriefes stellt klar: Wo solche Möglichkeiten sich bieten, sind sie zuverlässig immer sündig und tödlich. M. E. unternimmt der Verfasser hier den Versuch, den phänomenologisch notwendigerweise uneindeutigen Sachverhalt des ma‐ teriellen Wohlstands von Gläubigen in den Griff zu bekommen - wie stichhaltig und überzeugend muss uns hier nicht beschäftigen. Das Geschäftemachen und dann auch der ökonomische Erfolg sind ausweislich in Jak 4,13-17 statthaft. Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0016 112 Manuel Vogel 18 Zu den drei antiken Redegenera vgl. Manfred Fuhrmann, Die antike Rhetorik. Eine Einführung, Mannheim 6 2011, 79-97. 19 Vgl. hierzu Manuel Vogel, Commentatio mortis. 2 Kor 5,1-10 auf dem Hintergrund antiker ars moriendi (FRLANT 218), Göttingen 2006, 57 mit Anm. 34: Nach Quintilian, Institutio oratoria 3,7,22-25 besteht eine schon von Aristoteles beobachtete „Nachbar‐ schaft zwischen Tugenden und Lastern“ (virtutibus ac vitiis vicinitas, 3,7,25). „Es steht dem Rhetor frei, jemanden als leichtsinnig oder tapfer, als verschwenderisch oder großzügig, als geizig oder sparsam zu bezeichnen“. Mit Blick in den moralischen Abgrund, der sich hier auftut, beschwört „Quintilian das hohe Ethos des Redners (…), das ihm einen derart manipulativen Gebrauch seiner Redekunst untersagt oder doch nur unter einem bestimmten Vorbehalt gestattet: quod quidem orator, id est vir bonus, numquam faciet, nisi forte communi utilitate ducetur, ,Dies wird ein Redner, das heißt ein Ehrenmann, niemals tun - es sei denn vielleicht, er ließe sich dabei durch den Nutzen für die Gemeinschaft leiten! ‘ (3,7,25). Der Zwiespalt zwischen dem ethischen Anspruch, den Quintilian mit der Ausübung der Redekunst verbindet, und dem amoralischen Pragmatismus einer stets im Sinne der Parteiinteressen funktionierenden Rhetorik, wie er seit Platons Polemik gegen Gorgias immer wieder kritisiert wurde, könnte nicht krasser formuliert werden. Selbstredend gewährleistet das angebliche ethische Kriterium der communis utilitas nicht eine moralisch verantwortbare Anwendung rhetorischer Techniken, denn worin das gemeinschaftliche Interesse bestehen soll, ist gemeinhin eine Definitionsfrage“. Demgegenüber beschreibt Wachob, The Voice of Jesus (s. Anm. 11), 199 die Rhetorik des Jakobusbriefes als „communitarian social rhetoric“. Solcher Wohlstand kann auch von Gott kommen, mithin eine „gute Gabe und ein vollkommenes Geschenk“ (dosis agathē kai dōrēma teleion) sein. Der behauptete qualitative Unterschied zwischen etwas, das man sich aus Begierde angeeignet hat, und einem makellosen Gottesgeschenk wird abschließend durch den Gedanken der „Erstlinge der (neuen) Schöpfung“ (1,18) unterstrichen. In einem sind freilich Gottes vollkommene Gabe und der Reichtum aus Begierde unterscheidbar: Mit Gottes Gaben prahlt man nicht (4,17). 5 Vom aggressiven Reden hin zum lindernden Handeln (Jak-1,19- 27) Rhetorik war in der Antike in mindestens zwei der drei Redegenera ein poten‐ ziell fragwürdiges Geschäft. 18 Im dikanischen Genus bestand die Kunst darin, die gegnerische Partei nach Kräften herabzusetzen und der eigenen Partei auch und gerade dann zum Recht zu verhelfen, wenn sie himmelschreiend im Unrecht war. Das epideiktische Genus lief zu Höchstformen auf, wenn es darum ging, auch noch den schlimmsten Schurken als Ehrenmann hinzustellen, bevorzugt posthum in der Grabrede. 19 Und immerzu bedurfte es dazu des überbietenden Vergleichs (sygkrisis). Es genügte nicht zu sagen: X ist tapfer. Sondern: X ist tapferer als Y und eigentlich ist Y ein Feigling. Das rührt vom agonistischen Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0016 Aufwärtsmobilität und Abwärtsorientierung 113 20 Weiteres hierzu bei Petra von Gemünden, Die Wertung des Zorns im Jakobusbrief auf dem Hintergrund des antiken Kontextes und seiner Einordnung, in: von Ge‐ münden / Konradt / Theißen, Der Jakobusbrief (s. Anm. 10), 97-118; Susanne Luther, Sprachethik im Neuen Testament (WUNT II/ 394), Tübingen 2015, 68-81; Eva-Maria Engelen, Eine kurze Geschichte von „Zorn“ und „Scham“, in: ABG 50 (2008), 41-74 und hierzu Jürgen Kaube, Den Achill wurmte etwas. Eine Begriffsskizze älterer Psychologie des Zorns, in: FAZ vom 24.9.2009: „Beim Zorn [handelte es sich] in Griechenland um eine männliche Pflichtemotion; wer zu ihr nicht fähig war, galt als unfähig zur Tugend (…). Die Initiative zur Durchsetzung des Rechts oblag den Geschädigten, die mithin aufregungsfähig und verletzungsempfindIich zu sein hatten. ,Bestrafen‘ und ,Rache nehmen‘ sind in den Sprachen der Antike dieselben Worte. Die Tugend konnte aber selbstverständlicherweise nicht im Zorn selber liegen, (…) sondern erwies sich in seiner Dosierung. Das rechte Maß an Zorn, forderte Aristoteles (…), sei vom Bürger verlangt. Wenn der Verstand urteile, etwas sei demütigend, müssten die Emotionen den Fall übernehmen, die zum Widerstand gegen die Demütigung mobilisieren“. Der enge Zusammenhang zwischen Zorn und verletzten eigenen Interessen gilt sinngemäß auch für die kaiserzeitliche Stoa, nur eben mit dem Unterschied, dass man, weil der Zorn die eigene Gemütsruhe stört, sich lieber die eigenen Interessen als Adiaphora ausredet und abtrainiert. Ideal schon der griechischen Kultur her. Die in der Ilias (VI, 208 = XI, 784) klassisch formulierte Devise „immer der Beste sein und die anderen übertreffen“ (aien aristeuein kai huperochon emmenai allōn) entsprach einem kompetitiven Grundzug praktisch aller Lebensbereiche der hellenistischen und dann auch der hellenistisch-römischen Kultur. Die antike Rhetorik diente insofern der Selbstbehauptung mit den Mitteln der Rede. Das Interesse des Jakobusbriefes am gesprochenen Wort ist in dieser Hinsicht äußerst problembewusst (und lässt implizit auf einen entsprechenden Bildungs‐ grad jedenfalls einiger Gemeindemitglieder schließen). Sprache ist potenziell aggressiv. Innerhalb des Ehre-Schande-Paradigmas ist „Zorn“ (orgē) dann ein notwendiger Affekt, wenn es darum geht, beschädigte Ehre wiederherzustellen bzw. erlittene öffentliche Beschämung zu beseitigen. 20 Nach 1,19-21a gibt es einen Zusammenhang zwischen Sprache, Zorn (nicht zufällig hier derjenige des „Mannes“, der sich antik gedacht im Unterschied zur mit dem Hauswesen betrauten Frau öffentlich behaupten muss), Unsauberkeit (vom Motiv der „unreinen Lippen“ aus Jes 6,5 her zu verstehen? ) und Bosheit. Dagegen führt das mit Sanftmut angenommene eingepflanzte Wort (V. 21b) nicht zur Rede wider den Gegner, sondern zur Tat an den Schutzlosen, die ein „reiner und unbefleckter Gottesdienst“ ist (V. 27). Jak 1,13-18 ruft die Gläubigen zu einem soziokulturellen Ortswechsel auf: weg von der agonistischen Selbstbehauptung der gebildeten Eliten hin zur tätigen Hinwendung zu denen, die in der Schutzlosigkeit einer rechtlich prekären Lebenssituation gesellschaftlich nichts gelten. 21 Dadurch aber, dass man sich diesen Gruppen tätig zuwendet, hält man sich, so V. 27, „von Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0016 114 Manuel Vogel 21 Zum konkreten sozialgeschichtlichen Hintergrund von „Witwen und Waisen“ in Gesellschaften der hellenistisch-römischen Zeit vgl. Sanrie M. de Beer / Pierre Jordaan, Heeding the Voices of Ὀρφανοί καὶ Xῆραι (Fatherless Households) in James 1: 27. Utilising the Greimassian Semiotic Square, in: Neotest. 50 (2021), 23-42. Einschlägig ist auch die Bemerkung bei Reinhard von Bendemann, Christus der Arzt. Frühchristliche Soteriologie und Anthropologie im Licht antik-medizinischer Konzepte (BWANT 234), Stuttgart 2022, 78 zu Lk 14,1-6: „Lukas richtet sich mit seiner Erzählung an ein aufstiegsorientiertes städtisches Milieu. Vorausgesetzt ist, dass gesunde Menschen eher aufsteigen als kranke und dass der Kontakt zu Armen und Kranken (vgl. Lk 14,13.21) demgegenüber hemmend und gegebenenfalls statusruinös sein kann“. 22 Die beiden von thrēskeia … hautē abhängigen Infinitive episkeptesthai und tērein verstehe ich nicht als Parataxe zwei separater Sachverhalte, sondern dahingehend in einem engen Sachzusammenhang stehend, dass man, indem man sich den Witwen und Weisen zuwendet, damit zugleich sich auch unbefleckt hält von der Welt. Metzner, Der Brief des Jakobus (s. Anm. 1), 106 versteht den Zusammenhang als komplementäres „Verhalten nach innen (Gemeinde) und nach außen (Welt)“. 23 Das Syntagma „Gesetz der Freiheit“ ist vor dem Jakobusbrief nicht belegt, so Hubert Frankemölle, Der Brief des Jakobus. Kapitel 2-5 (ÖTK 17/ 2), Gütersloh 1994, 414. Vgl. hierzu den Exkurs „Das vollkommene Gesetz der Freiheit“ bei Metzner, Der Brief des Jakobus (s. Anm. 1), 101 f. und zur Traditionsgeschichte des Zusammenhangs von „Gesetz“ und „Freiheit“ ausführlich Martin Klein, „Ein vollkommenes Werk“. Vollkommenheit, Gesetz und Gericht als theologische Themen des Jakobusbriefes (BWANT-7/ 19), Stuttgart 1995, 137-154. der Welt unbefleckt“. 22 Dasjenige was hier als „Welt“ bezeichnet wird, bezieht sich mithin nicht unterschiedslos auf die Gesamtwirklichkeit, sondern enthält einen sozialen Index: „Welt“ ist nicht einfach alles jenseits der Kirchentüre, sondern diejenige gesellschaftliche Sphäre, von der man sich in der Zuwendung zu Witwen und Waisen in einem größtmöglichen Sicherheitsabstand befindet, d. h. wiederum die soziale Sphäre der oberen Schichten. Man bleibt dann rein und macht sich nicht dadurch „schmutzig“, dass man mit ihnen in Berührung kommt. Wichtig ist wiederum, dass der ganze Abschnitt in V. 27 seinen soziokulturell zu beschreibenden Schluss- und Höhepunkt hat, ohne den seine ursprüngliche Mitteilungs- und Wirkabsicht nicht erfasst werden kann, ungeachtet aller exegetischer Detailfragen, die selbstverständlich eingehend zu erforschen sind. Auch hierbei ist aber m. E. V. 27 stets im Blick zu behalten und beispielsweise für die Rede vom „vollkommenen Gesetz der Freiheit“ (nomos teleios tēs eleutherias) 23 in V. 25 in Betracht zu ziehen. Dann ginge es (negativ) um die Freiheit von den Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0016 Aufwärtsmobilität und Abwärtsorientierung 115 24 Sofern Servilität gegenüber den Einflussreichen die eigene Selbstachtung beschädigt, passt hierzu die Interpretation des Spiegelmotivs in 1,23f. durch Gerd Theißen, Nächstenliebe und Egalität. Jak 2,1-13 als Höhepunkt urchristlicher Ethik, in: von Gemünden / Konradt / Theißen, Der Jakobusbrief (s. Anm. 10), 120-142, 135: „Wer in das vollkommene Gesetz der Freiheit wie in einen Spiegel schaut, sieht vor allem sich selbst und seine Würde: die Würde eines zur Vollkommenheit und Freiheit bestimmten Menschen. Wenn er das Gesetz vergisst, verliert er diese Würde“. 25 Zutreffend Kloppenborg, Patronage avoidance in James (s. Anm. 16), 772: In Jak 2,1-13 geht es „not merely against ,partiality‘ conceived abstractly, but as a rather specific argument against the cultivation of patrons“ (hierzu s. Anm. 26), ebenso Peter Wick, Zwischen Parteilichkeit und Barmherzigkeit. Jak 2,1-13 und die elaborierte Ethik des Jakobusbriefes, in: ASE 34 (2017), 443-455, 449, der betont, dass „es dem Verfasser nicht um eine abstrakte Gerechtigkeit oder eine absolute Unparteilichkeit geht“. 26 Ingeborg Mongstad-Kvammen hat in ihrem Beitrag im vorliegenden Heft hierzu wichtige Beobachtungen angestellt. Sie sieht in der hochstehenden Person (V. 2) einen römischen Ritter, der sich von der Synagogengemeinde einen Nutzen für seine eigenen politischen Ambitionen erhofft. Die verbreitete Auffassung, dass es sich um ein Gemeindemitglied handelt, vertritt etwa Martin Stöhr, Plädoyer für eine christliche Gesetzlichkeit, in: Ulrike Bail / Renate Jost (Hg.), Gott an den Rändern, Gütersloh 1996, 143-151, 148: Es gehe um „Christen, die ,goldberingt und in herrlicher Kleidung‘ zum Gottesdienst kommen“. Dagegen auch Theißen, Nächstenliebe und Egalität (s. Anm. 24), 139: „Der Text enthält nichts, was den Reichen als Gemeindeglied charakterisiert“. Kloppenborg, Patronage avoidance in James (s. Anm. 16), erhellt Jak 2,1-13 auf dem Hintergrund der patron-client-Beziehungen und liest den Passus als eine scharfe Kritik des Patronage-Systems, das keine echten Beziehungen schafft, sondern Pseudo-Freund‐ schaften; ähnlich René Krüger, Der Jakobusbrief als prophetische Kritik der Reichen. sozialen Imperativen der oberen Schichten 24 und (positiv) um die Freiheit zu einem Handeln, das sich an den konträren sozialen Maßstäben Gottes orientiert. 6 Gott ist parteiisch wider die Reichen (Jak-2,1-13) Die in 2,1 kritisierte prosōpolēmpsia (Lutherübersetzung: „Ansehen der Person“) meint, sich vom äußeren Glanz sozial angesehener Personen blenden zu lassen und ihnen willfährig zu sein. Mithin geht es in der in 2,1-13 formulierten Kritik keineswegs um die abstrakte Forderung in einem neutralen Sinn unparteiisch zu sein. 25 Gott selbst wird als höchst parteiisch dargestellt, nämlich als parteiisch für die Armen, die er (skandalöserweise einfach weil sie arm und nicht etwa weil sie nettere Menschen oder weil sie fromm sind) „erwählt“ und zu Erben der Königs‐ herrschaft gemacht hat (2,5). Zwar läuft die Forderung des Verfassers tatsächlich darauf hinaus, den Armen und den Reichen gleich zu behandeln. Eine solche Gleichbehandlung ist aber insofern für die Gemeinde höchst konfliktträchtig und insofern auch gefährlich, als der Reiche durch die Gleichstellung mit dem Armen in seinem sozialen Ansehen gravierend beschädigt wird. 26 Der Verfasser Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0016 116 Manuel Vogel Eine exegetische Untersuchung aus lateinamerikanischer Perspektive, Münster 2005 und Ulrich Duchrow, Solidarisch Mensch werden. Psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus. Wege zu ihrer Überwindung, Hamburg 2006, 343: Im Jakobusbrief liege eine „Radikalkritik am Einbruch des Klientelismussystems in die Gemeinden und damit zugleich an diesem System selbst“ vor. 27 Dale C. Allison, A Critical and Exegetical Commentary on the Epistle of James (ICC), New York 2013, 178 f. nennt unter den s. E. möglichen Bezügen: „a psychological state of uncertainty, a lack of faith caused by divded loyalties, unsteadyness under oppressive circumstances“. Anders Theißen, Nächstenliebe und Egalität (s. Anm. 24), 126 der „macht ihr da nicht Unterschiede unter euch“ übersetzt und dies als Verstoß gegen die geforderte strikte Unparteilichkeit und Gleichbehandlung anderer versteht; wieder anders Burchard, Der Jakobusbrief (s. Anm. 11), 95: „habt ihr dann nicht mit zweierlei Maßstäben gemessen? “. führt in 2,1-3 ein (erdachtes oder reales) Beispiel vor, das den Adressierten vor Augen führen soll, dass die gläubige Selbstpositionierung im Antagonismus der sozialen Wertvorstellungen alles andere als neutral ist. Dass die Gläubigen in dem Moment „schwankend“ werden (V. 4: diakrinomai, wie in 1,6) 27 , wo in der unvermeidlichen Kontaktzone der gemeindlichen und gesellschaftlichen Sozialsphären Konflikte drohen, ist nicht verwunderlich. Der Verfasser ist hier aber unerbittlich und fordert von den Adressierten, dass sie ihre klare Position in der Situation des drohenden Konflikts durchhalten. Wie konfliktbehaftet das Verhältnis der Christusgläubigen mit den „Reichen“ erlebt werden konnte, macht die in V.-6b.7 formulierte Kritik hinreichend deutlich. In V. 7-11 wird prosōpolēmpsia (das sich Blendenlassen vom äußeren Glanz sozial angesehener Personen und ihnen willfährig sein) als Beispiel für die Übertretung der gesamten Tora durch einen einzigen Fehltritt thematisiert. Der damit aufgerufene Rigorismus, der in der Konsequenz bedeutet, dass man eigentlich doch ständig die gesamte Tora übertritt, sofern konzediert wird, dass ein in jedem Detail ausnahmslos torakonformes Verhalten nicht zu leisten ist, ist zusammen mit dem in V. 13 formulierten Konnex von Barmherzigkeit und Gericht zu lesen. Im Gericht wird man danach beurteilt, inwieweit man von der Freiheit zum Handeln in dem in 1,25 beschriebenen Sinn (nomos eleutherias) Gebrauch gemacht hat. Entscheidend ist hierbei die barmherzige Tat, die in der Konfrontation mit dem eigenen Zurückbleiben hinter dem Anspruch der Tora im Endgericht den positiven Ausschlag gibt. Die Formulierung katakauchatai eleos kriseōs in V. 13b klingt wie ein Sprichwort, das der Verfasser zitiert um es in V. 13a vorgreifend zu konkretisieren als barmherzige Tat (poiein eleos, im Unterschied zum bloßen milden Beurteilen anderer; vgl. Mt 7,2). Wer diese Tat schuldig bleibt, wird mit derselben Unbarmherzigkeit gerichtet, die er in der unterlassenen Tat seinerseits unter Beweis gestellt hat. Wer dagegen barmherzig handelt, schafft damit das ausschlaggebende Gegengewicht zu den eigenen Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0016 Aufwärtsmobilität und Abwärtsorientierung 117 28 Freilich notiert bereits Karl-Wilhelm Niebuhr in seinem Forschungsbericht „A New Perspective on James“? Neuere Forschungen zum Jakobusbrief, in: ThLZ 129 (2004), 1019-1044, 1019: „Die jüngere Forschung zum Jakobusbrief ist gekennzeichnet durch das Absetzen der ,paulinischen Brille‘“. 29 Zum ganzen Abschnitt ausführlich Luther, Sprachethik (s.-Anm.-20), 135-170. Toraübertretungen. Im Sachzusammenhang von 2,1-13 ist aber die barmherzige Tat nichts anderes als das Ehren des gesellschaftlich verachteten Armen, ebenso wie in-1,19-27 die Tat in Beachtung des „vollkommenen Gesetzes der Freiheit“ das Besuchen der Witwen und Waisen ist. In beiden Fällen bedeutet solches Handeln eine bestimmte gesellschaftliche Selbstpositionierung, die in 1,19-27 latent, in-2,1-13 dagegen akut konfliktträchtig ist. 7 Vom „Glauben“, der den Bruder oder die Schwester hungern und frieren lässt (Jak-2,14-26) Im Gedankengang des Jakobusbriefes ergänzt der Abschnitt 2,14-16, der die Exegese traditionell v. a. in seinem Bezug zur paulinischen Rechtfertigungslehre interessiert hat, 28 die „Witwen und Waisen“ (1,27) und den „Armen“ (2,1-6) um Hungernde und Frierende in den eigenen Reihen (2,15). Es geht mithin nicht abstrakt um einen Glauben ohne Werke, sondern abermals um die im Jakobusbrief bereits wiederholt geforderte soziale Abwärtsorientierung im konkreten Tun. Bemerkenswert ist das dualistische Motiv, das der Verfasser in bissiger Ironie in V. 19 einflicht: Es gibt auch einen Glauben der Dämonen, d. h. bei der Frage des tätigen oder untätigen Glaubens geht es zugespitzt um die Selbstpositionierung im göttlichen oder aber widergöttlichen Bereich. Bemerkenswert ist auch, dass der Verfasser in 2,25 mit der Hure Rahab eine sozial geächtete Gestalt als Beispiel für den tätigen Glauben aufruft. 8 Wider das rhetorische Sprachspiel der Eliten (Jak-3,1-12) Das schon in 1,19-27 angeklungene Thema der Rede wird hier wieder aufge‐ griffen und erheblich zugespitzt. 29 Was zu jenem Abschnitt über die antike Rhetorik zu sagen war, gilt hier erst recht. Es ist m. E. ernsthaft zu überlegen, ob hier nicht regelrecht eine Polemik wider die antike Rhetorik in ihren agonistischen Verwendungszusammenhängen der sozialen Eliten vorliegt. Dem Verfasser ginge es dann konkret darum, dass das rhetorische Sprachspiel, für das die Herabsetzung des Prozessgegners oder des in der sygkrisis Unterlegenen elementar wichtig war, nicht in der innergemeindlichen Kommunikation repro‐ duziert, sondern als etwas verderbliches, ja teuflisches (V. 6: Feuer der Hölle) Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0016 118 Manuel Vogel erkannt und strikt gemieden wird. Es gilt zu erkennen, dass die Sprache das Mittel ist, „mit großen Dingen zu prahlen“ (V.-5: megala auchei). Am Anfang des Abschnitts (V. 1.2a) steht die dringende Empfehlung, nicht die (innerhalb wie außerhalb der Gemeinde) sozial angesehene Stellung des „Lehrers“ zu erstreben. Der Verfasser, selber ein Lehrer, betreibt eine gezielte Demontage seines eigenen Sozialstatus, indem er auf die zahlreichen berufs‐ bedingten Verfehlungen seines Standes verweist, denen ein strenges Gericht droht. Die Sprache ist eine „Welt der Ungerechtigkeit“ (kosmos tēs adikias, V. 6). Sie wird zum Lobpreis Gottes verwendet und gleichzeitig zur Verfluchung des gottebenbildlichen Menschen (V. 9), ist wie eine Quelle, aus der einmal genießbares und dann wieder bitteres Wasser fließt (V. 11). Dies beschreibt recht genau die bedarfsweise Verwendbarkeit der Rhetorik zum Zweck des Lobes oder des Tadels, des Ruhmes oder der Herabsetzung. Man weiß beim Rhetor nie, woran man ist. Sein Verhältnis zur Wahrheit ist pragmatisch, je nachdem, welche Parteiinteressen er gerade zu vertreten oder wessen Ruhm er zu mehren hat. Demgegenüber soll das Bild der Quelle, das in V. 12b nochmals aufgerufen wird, die für den rhetorischen Unterricht der Gebildeten konstitutive Doppelkodierung von Sprache als Mittel zu Lob oder Tadel als wesensmä‐ ßige Unmöglichkeit ausweisen. Zusammen mit einer weiteren Naturmetapher, dem Weinstock und dem Ölbaum (V. 12a) soll die rhetorische Verwendung der Sprache als etwas Widernatürliches anschaulich werden. Sofern Wasser Lebensmittel ist, ist gesagt, dass Sprache Leben fördern oder aber vergiften kann. Jeder Rhetor und rhetorisch Geschulte würde sofort zugeben, dass in dieser gegensätzlichen Verwendungsweise von Sprache der Nutzen der Rhetorik besteht. Leuten, die sich auf dem rhetorischen Parkett bewegen, kann man sich nicht anvertrauen, weil man sich nie sicher sein kann, ob sie sich nicht morgen auf die Seite derer schlagen, die den eigenen Interessen entgegen arbeiten. Dagegen sind die Gläubigen, die ihre Sprache dazu verwenden, den einen Gott zu loben, sprachethisch allein diesem einen Gott verpflichtet. 9 Wider das agonistische Bildungsideal als Ausdruck einer dämonischen Pseudo-Weisheit (Jak-3,13-18) Das hellenistische Judentum teilt „Weisheit“ (sophia) als statusrelevantes Bil‐ dungsgut mit den hellenistisch-römischen Eliten. Auch Christusgemeinden im Spektrum bzw. im Umfeld der Diasporasynagogen konnten das eigene Selbstverständnis auf den Besitz von „Weisheit“ gründen, wie prominent das Beispiel der korinthischen Gemeinde und des vehementen kreuzestheologi‐ Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0016 Aufwärtsmobilität und Abwärtsorientierung 119 30 Die Bedeutung von 1 Kor 1-4 für den frühchristlichen Weisheitsdiskurs zeigt sich auch wortstatistisch: Von 51 ntl. Belegen für σοφία entfallen 16 auf die Kapitel 1 Kor 1-4 und von 20-Belegen für sophos auf dieselben Kapitel-10 Belege. 31 Zu Paulus vgl. Manuel Vogel, Theologien des Kreuzes, in: ThLZ 136 (2011), 723-738, und zu den Bezügen zwischen 1 Kor 1-4 und dem Jakobusbrief eingehend Oda Wischmeyer, Jak 3,13-18 vor dem Hintergrund von 1 Kor 1,17-2,16. Frühchristliche Weisheitstheologie und der Jakobusbrief, in: ASE-34 (2017), 403-430. schen Einspruchs des Paulus in 1 Kor 1-4 zeigt. 30 Wie Paulus erkennt auch der Verfasser des Jakobusbriefes in den Weisheits-Prätentionen frühchristlicher Gemeinden den Ausdruck eines kompetitiven sozialen Aufwärtsstrebens, das für die Sozialstruktur der Gemeinden schlechterdings zerstörerisch ist. 31 Er ist weniger ausführlich als Paulus und holt auch theologisch nicht so weit aus, ist aber in der Kürze seiner Ausführungen nicht weniger pointiert und scharf. In V. 13 lässt er zunächst diejenigen vortreten oder sich melden, die sich für „weise und verständig“ halten, um dann jedweder Auffassung von Weisheit und Verstand als Ausdruck der eigenen intellektuellen Überlegenheit eine doppelte Absage zu erteilen: „Weisheit“ ist, wenn sie von Gott kommt, niemals mit intellektueller Selbstbehauptung gepaart, sondern mit „Sanftmut“ (prautēs), und sie ist eine Eigenschaft nicht des Denkens, sondern des „Werkes“. Sinngemäß: Wer sich für gebildet hält, soll mit anpacken und dabei stets freundlich bleiben. Freilich: Eine Gemeinde, die einem Reichen einen Ehrenplatz anbietet, wird sich auch sonst am agonistischen Verhaltenskodex der Eliten orientieren und völlig selbstverständlich die eigene Bildung als sozialen Statusvorteil gegenüber denen auffassen, die über diese Bildung nicht verfügen. Dann ist damit zu rechnen, so V. 14, dass die Gemeindewirklichkeit von „bitterem Eifer“ (zēlos pikros) bestimmt ist, von missgünstiger Rechthaberei als Ausdruck habitueller Streitsucht (eritheia en tē kardia). Wenn es aber um das Miteinander innerhalb der Gemeinde tatsächlich so schlecht bestellt ist, dann soll man nicht auch noch den Fehler machen, das als Ausdruck von „Weisheit“ zu verstehen und darauf stolz zu sein (katakauchaomai), denn tatsächlich hat man es mit einer dämoni‐ schen Pseudo-Weisheit zu tun (V. 15), die den Sozialraum der Gemeinde von innen zerstört (V. 16). Dagegen zeitigt, so V. 17f., Weisheit von Gott ausnahmslos prosoziale Wirkungen und Beziehungen, in denen die Menschen einander wohlwollend zugetan sind. Bei der Bildung geht es dann allein um die für alle nützliche Sache, nicht um den individuellen sozialen Distinktionsgewinn. Mithin geht es dem (ja selbst überaus gebildeten und rhetorisch geschulten) Verfasser nicht um ein „Abschwören“ gegenüber jeglicher Bildung, sondern um ihren prosozialen Gebrauch, der Bildung nicht für die eigene Statussteigerung Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0016 120 Manuel Vogel 32 4,2: ēdonē-/ -epithumeō-/ -epithumia, vgl. 1,14f.; 4,2: zēloō-/ -zēlos, vgl. 3,14.16; 4,4: kosmos, vgl. 1,27; 2,5; 3,6; 4,7: diabolos / daimonia / geenna / daimoniōdēs, vgl. 2,19; 3,6.15; 4,8: katharizō / katharos, vgl. 1,27; 4,8: kardia, vgl. 1,26; 3,14; 4,8: dipsychos, vgl. 1,8; 4,11: nomos, vgl. 1,25; 2,8-12; 4,11: poiētēs-/ -poieō, vgl. 1,25; 2,8.12f.; 3,12.18. auf Kosten der (nur dann auch so zu nennenden „Ungebildeten“) zweckent‐ fremdet. 10 Innenansichten einer assimilierten Synagogengemeinde (Jak-4,1-12) Der Abschnitt greift auf Begriffe zurück, die im bisherigen Verlauf bereits eine wichtige Rolle gespielt haben, 32 und formt daraus das Schreckensbild einer Ge‐ meinde, die „der Welt Freund sein will“ (V. 4). Dass es dem Verfasser tatsächlich um die Kritik einer intendierten und zielstrebig betriebenen Selbstpositionie‐ rung der Gläubigen im soziokulturellen Spektrum der hellenistisch-römischen Diasporasynagoge geht, ist in dieser Formulierung mit Händen zu greifen. Bei dem kritisierten „Wollen“ (bouleusthai philos einai tou kosmou) geht es um ein konkretes gesellschaftliches Streben, und abermals (vgl. 1,27) enthält die Rede von der „Welt“ einen sozialen Index. Nach 2,19 (Glaube der Dämonen), 3,6 (Höllenfeuer der Sprache) und 3,15 (dämonische Weisheit) setzt der Verfasser außerdem einen weiteren starken dualistischen Akzent, nun zwischen „Welt“ und „Gott“ (V. 4) sowie zwischen „Teufel“ und „Gott“ (V. 7f.), womit die Begriffe „Welt“ und „Teufel“ als zwei Gott entgegengesetzte Größen sich gegenseitig determinieren. Wichtig ist aber v. a. die Interdependenz zwischen der erstrebten sozialen Außenpositionierung („Freundschaft mit der Welt“) und den dieser Au‐ ßenpositionierung korrespondierenden desaströsen und feindseligen Binnenbe‐ ziehungen (V. 1: en humin). Auf diese richtet sich in 4,1-12 das Hauptaugenmerk des Verfassers. Mit „Lust/ Begehren“ (V. 1-3), „Neid“ (V. 5) und „Stolz“ (V. 6) wird eine Verhaltensdisposition beschrieben, die nicht nur immer mehr haben will, sondern auch mehr als die anderen. Hat man im gesellschaftlichen Vergleich selbst mehr an materiellen und sozialen Gütern, ist man „stolz“, haben andere mehr, ist man „neidisch“. Diese Verhaltensdisposition ist aus der Sicht des Jakobusbriefes wortwörtlich agonistisch. Er charakterisiert sie als permanentes Kampfgeschehen (V.-1: polemoi, machai, strateuomai; V.-2: machomai, polemeō). Bemerkenswert ist, dass dieses Verhalten in bester religiöser Absicht zu erfolgen scheint (V. 3): Die „Zwiespältigen“ (V. 8) bitten Gott um Gelingen für das eigene materielle und gesellschaftliche Fortkommen, weil sie die konträren sozialen Wertordnungen Gottes und der Welt für harmonisierbar halten. Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0016 Aufwärtsmobilität und Abwärtsorientierung 121 33 Vgl. hierzu Röm-14,4. V. 11f. greift abermals das Thema Sprache auf. Mit katalalein und krinein ist ein verbales Verhalten gemeint, das andere permanent in der Absicht beurteilt, deren Unterlegenheit aufzuweisen. Dies ist ein schweres Vergehen gegen die Tora. Gefordert ist von den Gläubigen das Delegieren des wertenden Urteilens an Gott (V.-12). 33 11 Wider den Wettbewerb um Wohlstand (Jak-4,13-17) Der soziokulturelle Bezug des hier kritisierten Strebens nach ökonomischem Er‐ folg liegt klar zutage, ebenso der Quellenwert dieses Abschnitts für die spezifisch frühchristliche Sozialgeschichte: Der Verfasser rechnet augenscheinlich damit, dass es unter den Adressierten Kaufleute gibt, die sich zwischen den Städten als den ökonomischen Zentren des römischen Reiches frei bewegen können. Im Blick auf die Argumentation fällt auf, dass der Verfasser nicht einfach dem „Geschäftemachen ohne Gott“ ein „Geschäftemachen mit Gott“ gegenüber stellt. Während das falsche Verhalten ausführlich beschrieben wird, fehlt dem aus seiner Sicht zu übenden Verhalten jeder konkrete ökonomische Bezug: Man soll unter dem steten Vorbehalt des Willens Gottes „dies oder das“ tun (touto ē ekeino). Freilich interessiert den Verfasser das Thema des ökonomischen Erfolgs gar nicht in erster Linie als ein Tun, sondern als ein Reden, womit einmal mehr sein doppelter Fokus nicht nur auf dem Handeln, sondern auch auf der Sprache erkennbar wird (vgl. schon 2,12: houtōs laleite kai houtōs poieite ktl). Er stellt einander gegenüber, wie man nicht reden (V. 13: age nun hoi legontes) und wie man reden soll (V. 15: anti tou legein humas). Das falsche Reden ist ein „Rühmen in Prahlereien“ (kauchasthai en alazoneiais, V. 16) und damit abermals eine sprachliche Interaktion in Übereinstimmung mit dem agonistischen Ideal der hellenistisch-römischen Mehrheitskultur: Was man „hat“, dient der Mehrung des eigenen Ansehens im Wettbewerb um Ehre und sozialen Status. 12 Vom Zusammenhang von Reichtum, Ausbeutung und Unrecht (Jak-5,1-6) Geht es in 4,13-17 um Wohlstand durch Handel, so in 5,1-6 um Wohlstand durch Landbesitz. Dieser ist aus Sicht des Verfassers kaum anders zu erlangen als durch Ausbeutung der Lohnarbeiter. Jedenfalls sagt er ihnen als „den Reichen“ pauschal auf den Kopf zu, dass sie ihre Arbeiter in himmelschreiender Unge‐ rechtigkeit um ihren Lohn betrogen haben. Das ganze Stück ist eschatologisch Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0016 122 Manuel Vogel 34 Vgl. hierzu Manuel Vogel, Vom Blut im Boden. Ein jüdisch-christlicher Motivzusam‐ menhang zu Sühne und Gewalt (im Druck, erscheint in der Festschrift für Martin Leiner). 35 Allison, James (s.-Anm.-27), 683: „James is writing about the eschatological assize“. 36 Vgl. auch Apk 18,24: Die „Propheten und Heiligen“ repräsentieren „alle, die auf Erden hingeschlachtet worden sind“. 37 Für ein dergestalt inklusives Verständnis Adolf Schlatter, Der Brief des Jakobus, Stutt‐ gart 1932, 271 (mit leicht antijüdischer Schlagseite) und Franz Mußner, Der Jakobusbrief (HThKNT XIII/ 1), Freiburg 1967, 198f.: Der Verfasser wird „an konkrete Erfahrungen der christlichen Gemeinde mit ihren mächtigen und einflussreichen Gegnern denken und dabei sicher Jesus nicht ausschließen, zumal ὁ δίκαιος in der urapostolischen Heilspredigt ein Titel für den Messias Jesus war (Apg 3,14; 7,52; 22,14; 1 Petr 3,18; 1-Joh-2,1.29; 3,7)“. 38 Schlatter, Der Brief des Jakobus (s.-Anm.-37), 270. grundiert, sofern es die Polemik wider die Reichen in den Horizont des Endge‐ richts stellt (V. 3: das rostige - weil gehortete? - Gold und Silber als Zeugen wider die Reichen im Gericht, Fleisch der Reichen wird im Gerichtsfeuer verzehrt werden; Sammeln von Schätzen „in den letzten Tagen“; V. 4: das Unrecht schreit - wie in Hebr 12,24 und Apk 6,9f. 34 - zum Himmel und ruft das Gericht herbei, V. 5: „Tag der Schlachtung“ als Gerichtsmetapher 35 ). Interessant ist zumal die mögliche christologische Referenz in V. 6: Wenn der von den Reichen verurteilte „Gerechte“ Jesus ist, stünde Jak 5,6 nahe bei 1 Kor 2,8 (Die „Herrscher der Welt“ haben Jesus, den kurios tēs doxēs - selbe Wendung in Jak 2,1! - gekreuzigt). Das folgende Präsens „nicht widersteht er euch“ muss hierzu kein Widerspruch sein: Jesus als der verurteilte und getötete Gerechte würde dann zugleich alle Gewaltopfer repräsentieren, 36 wäre als der Gerechte Identifikationsfigur für alle unter dem Unrecht der Mächtigen Leidenden. 37 Soziokulturell relevant ist allemal, dass die „Reichen“ als Akteure juristischer Unrechtsurteile auftreten. „Reichtum gibt Macht. Die regierenden und richterlichen Ämter fallen den Rei‐ chen zu, und wie sie diese Macht gebrauchen, das ergibt die letzte und schwerste Anklage“. 38 Das Nichtwiederstehen des Gerechten in einem juridischen Kontext hat seinerseits einen engen Bezug zur Endgerichtserwartung: Der Gerechte nimmt in Erwartung des gerechten Gerichtes Gottes das gegen ihn gefällte Unrechtsurteil der Reichen ohne Gegenwehr hin. Implizit wird die Figur des Gerechten damit zum Vorbild für die Adressierten: Der Gerechte wird sich niemals in die oberen Schichten der Gesellschaft einreihen, sondern immer nur unter ihnen leiden. Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0016 Aufwärtsmobilität und Abwärtsorientierung 123 39 Das Leiden des Menschensohnes besteht nach Mk 9,31 darin, dass er „in die Hände der Menschen ausgeliefert wird“, nach 10,34 darin, dass er „verspottet und angespien“ wird. Der Verlust der eigenen Handlungsfähigkeit dadurch, dass man zum Objekt des Handelns anderer wird, und der Verlust der eigenen Ehre gehen hier Hand in Hand. 40 Das könnte auch für den Schmerz gelten: Das Schlimme an Schmerzen ist dann nicht nur, dass sie „weh tun“, sondern v. a. auch, dass man gegen sie machtlos ist. Vgl. hierzu Judith Perkins, The Suffering Self. Pain and Narrative Representation in the Early Christian Era, London-/ -New York 1995. 13 Leiden als Gegenkonzept zu handlungsmächtiger Selbstbehauptung (Jak-5,7-11) Der Abschnitt stellt die Adressierten an die Seiten der ungerecht Leidenden und redet ihnen damit unter der Hand ihr soziales Aufwärtsstreben aus. Der Verfasser kann eigentlich an dieser Stelle nur so reden unter der Voraussetzung, dass seine bis dahin geäußerte harte Kritik ihre Wirkung bei den Adressierten nicht verfehlt hat. Mit dem agrarischen Bild vom Regen und der Ernte, mit dem der Verfasser für das geduldige Warten auf Parusie und Gericht wirbt, wählt er einen Metaphernspender von weit jenseits der städtischen Elitenkultur, und er stellt die Gläubigen an die Seite der leidenden Propheten. Nun redet er ganz anders, schilt die Gläubigen nicht für den innergemeindlichen Kampf aller gegen alle, sondern redet ihnen gut zu, nicht „wider einander zu seufzen“, nicht den sozialen Außendruck auf die Beziehungen unter einander durchschlagen zu lassen, sondern die eigene Leidensposition zu akzeptieren. Kulturanthropo‐ logisch ist nicht ohne Belang, dass „Leiden“ (paschein) antik gedacht nicht in erster Linie das Gegenteil von „Freude“ ist, sondern von „Handeln“. Leiden besteht dann darin, dass andere „über mich verfügen“ und „mit mir machen können, was sie wollen“. 39 Insofern markiert Leiden das genaue Gegenteil handlungsmächtiger, agonistischer Selbstbehauptung und hat damit auch einen starken soziokulturellen Bezug. 40 14 Von der Wahrhaftigkeit und Kürze der Rede (Jak-5,12) Das auch aus der Jesustradition bekannte Schwurverbot schließt an die Gerichts‐ thematik an, sofern das Schwören eigens als etwas angesprochen wird, dem das Gericht droht. Auch die Mahnung zum einfachen Ja und Nein ist traditionell (vgl. Mt 5,34-37). Beides fügt sich in die angenommene antirhetorische Polemik des Jakobusbriefes. Gegen die Weitschweifigkeit der professionellen Redner steht die Kürze der wahrhaftigen Rede. 41 Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0016 124 Manuel Vogel 41 So auch Luther, Sprachethik (s. Anm. 20), 278: Es geht in Jak 5,12 nicht wie in Mt 5,33-37 um die „Warnung vor dem Gebrauch von Eidesgaranten“, sondern um die „Mahnung zu wahrhaftiger Sprache“. 42 Der Bezug von autou in sōsei psychēn autou ek thanatou ist unklar und lässt beide Deutungen zu. 43 Die Kommentare zum Jakobusbrief im Handbuch zum Neuen Testament (HNT) von Hans Windisch, Die katholischen Briefe (HNT 15), Tübingen 1951, 1 f. und Burchard, Jakobusbrief (s. Anm. 11), IX-X enthalten in Form des Inhaltsverzeichnisses ebenfalls solche interpretierenden Paraphrasen, die den sprachlichen Duktus des Briefes aufnehmen und Grundlinien des Gesamtverständnisses des jeweiligen Verfassers vorgreifend in äußerster Raffung skizzieren. 15 Krankheit, Sünde und Irrtum als Felder solidarischen Redens und Handelns (Jak-5,13-19) Die kurze Gemeindeparänese am Schluss des Jakobusbriefs ist an zwei Stellen für die Fragestellung des vorliegenden Beitrages von Interesse. (1) in V. 15f. wird ein Zusammenhang von Krankheit, Gesundwerden, Sünde und Sündenvergebung skizziert. Hierbei dient das gegenseitige Sün‐ denbekenntnis beidem, der Vergebung und dem Gesundwerden. Beides ist abweichend von der in V. 14 namhaft gemachten besonderen Aufgabe der Presbyter wechselseitig gedacht: „Einander“ die Sünden zu bekennen und um Heilung und Vergebung „für einander“ zu beten. Damit wird die gemeindliche Binnenkommunikation am neuralgischen Punkt von Krankheit und Verfehlung konsequent reziprok und egalitär strukturiert: Jeder ist in der Position, Sünden zu bekennen, jeder ist in gleicher Weise kompetent, dieses Bekenntnis zu hören, und jeder hat die Aufgabe, für die anderen um Heilung und Vergebung zu bitten. Der gegenseitige Umgang ist mithin gerade dort, wo Verurteilung, Ausgrenzung und Abwertung Raum greifen könnten und wo der Einzelne wegen seiner Defizite angreifbar wird, umfassend solidarisch. Kampf, Krieg, Streit und Neid (vgl. 4,1ff.) als Merkmale agonistischer Beziehungen sind dann ausgeschlossen. (2) Dann ist auch der Umgang mit dem Irrenden (V. 19f.) nicht mehr eine Angelegenheit des Richtens und Verurteilens, sondern des guten Zuredens in dem Bewusstsein, dass es einen Bruder, eine Schwester (oder sogar sich selbst) 42 zu erretten gilt. Der oder die Irrende ist gerade jetzt „einer von Euch“ (tis en humin). 16 Der Jakobusbrief: Kurze Paraphrase der Hauptgedanken 43 Der Appell, den Versuchungen sozialer Aufwärtsmobilität zu widerstehen, die den Glauben an Gott und Christus in einen gravierenden Selbstwiderspruch Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0016 Aufwärtsmobilität und Abwärtsorientierung 125 44 Wissenssoziologisch geht es um den bereits frühjüdischen und dann auch frühchristli‐ chen Zusammenhang von Bildung und kulturellem Antagonismus, wie er etwa in der jüdischen Sybille mit Händen zu greifen ist, aber auch im NT, v. a. im Jakobusbrief, im Hebräerbrief und in der Johannesoffenbarung. Zu Hebr. vgl. Manuel Vogel, „Lasst uns hinausgehen aus dem Lager“ (Hebr 13,13). Hellenistisch-jüdische Junkturen von Bildung und sozialer Exklusion im Spiegel des Hebräerbriefes (im Druck). stürzen und die Beziehungen zwischen den Gläubigen zerrütten, durchzieht den ganzen Brief. Die im Präskript (1,1) angesprochene Diasporaexistenz po‐ sitioniert die Gläubigen abseits von den agonistischen Elitenkulturen, mit denen es die Gläubigen unter den sozialen, kulturellen, politischen, ökonomi‐ schen und militärischen Bedingungen der frühen römischen Kaiserzeit zu tun hatten. Im Sozialraum der hellenistischen Diasporasynagogen, die sich ihren Umgebungsgesellschaften mehr oder weniger stark akkulturiert haben, ist diese Abseitsposition freilich nicht leicht durchzuhalten und der ständigen Versuchung ausgesetzt, auch selber an der Prosperität und den Handlungsmög‐ lichkeiten der oberen Schichten teilzuhaben (1,2-12). Psychologisch entspricht dieser Versuchung die Begierde. Keinesfalls kann zur Legitimation des eigenen Strebens nach Reichtum und sozialer Geltung Gott ins Spiel gebracht werden. Das ist vielmehr etwas, das man mit sich selbst, d. h. mit seiner eigenen Begierde ausmachen muss (1,13-18). Der Begierde bzw. dem Habenwollen entspricht in der hellenistisch-römischen Kultur ein rhetorisches Verständnis von Sprache als Mittel zur Selbstbehauptung und zur Durchsetzung der eigenen Interessen. Diesem strukturell aggressiven Sprachverständnis setzt der Verfasser ein Han‐ deln im sozialen Kontext der unteren gesellschaftlichen Schichten entgegen. Nur so entkommt man dem verunreinigenden Kontakt mit der „Welt“ (1,19- 27). Bildungsstreben steht dazu nicht in Widerspruch, solange es nicht als Mittel verstanden wird, in den gebildeten Schichten (von denen man sich nach Auffassung des Jakobusbriefes tatsächlich besser fernhält) soziales Ansehen zu erwerben. 44 Eine Gemeinde, die sich dennoch innerhalb der Mehrheitsgesell‐ schaft vorteilhaft positionieren will, kommt sofort in Schwierigkeiten, wenn ein Angehöriger der Oberschicht mit ihnen in Kontakt tritt. Dann müssen sie ihm entweder die ihm landläufig zukommenden Ehren erweisen und damit sich selbst in fataler Weise untreu werden, oder aber sie verweigern ihm diese Ehrbezeugungen und riskieren einen Eklat, der möglicherweise gravierende Folgen hat (2,1-13). Der Glaube ist hier keineswegs indifferent, und ist er es doch, dann ist er belanglos, wenn nicht dämonisch. Wenn der Glaube ins Spiel kommt, dann im tätigen Einsatz für die Geschwister, die weder Besitz noch Ansehen haben (2,14-26). Solche Werke des Glaubens sind lauter und rein, die Sprache ist es tendenziell nicht. Da die Sprache das Werkzeug der „Lehrer“ Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0016 126 Manuel Vogel ist, verfehlen sie sich ständig und sind um ihre Aufgabe nicht zu beneiden. In der Gemeinde ist die Gefahr aber auch sonst groß, dass das agonistische Sprachverständnis der Rhetorik auf die Art und Weise abfärbt, in der die Gläubigen miteinander reden (3,1-12). Nicht zuletzt verschafft auch die Bildung („Weisheit“) einen Vorteil im ständigen Kampf um die besten Plätze und das höchste Ansehen. Aber solche „Weisheit“ ist dämonisch. Dagegen wirkt sich die Weisheit Gottes im sanftmütigen Tun („Werk“) aus und ist durch und durch prosozial (3,13-18). Trifft man hier die falsche Wahl und übernimmt die Sprach- und Machtspiele aus der hellenistisch-römischen Mehrheitsgesellschaft in die gemeindliche Binnenkommunikation, wird das Leben der Gemeinde regelrecht zu einer war-zone, in der Neid und Verachtung den Ton angeben (4,1-12). Der eigene ökonomische Erfolg, mit dem man sich brüstet, tut hier ein Übriges (4,13-17). Dass er üblicherweise ohne Gewalt und Ausbeutung gar nicht zu erlangen ist, macht der Verfasser am Beispiel des reichen Landbesitzers klar (5,1-6). Hat der Brief gegen Ende hin die nötige Überzeugungsarbeit geleistet, kann der Verfasser die Adressaten auf ihre Leidensposition einstimmen, wobei „Leiden“ hier nicht das Gegenteil von „Freude“ ist, sondern von „Handeln“, und damit auch das Gegenteil von agonistischer Selbstbehauptung (5,7-11). Abschließend geht es nochmals um Sprache: Um das Schwurverbot, das den Gebrauch der Sprache vom Grundverdacht rhetorischer Unwahrhaftigkeit be‐ freit (5,12) und um ein zugewandtes und geduldiges Sprechen und Handeln in der solidarischen Bewältigung von Krankheit, Sünde und Irrtum (5,13-19). Manuel Vogel, geb. 1964 in Frankfurt/ Main, Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen, Heidelberg und Frankfurt, 1994-1996 Vikariat in Bayern, 1995 Pro‐ motion in Heidelberg, 1996-2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster, 2003 Habilitation in Münster, 2003-2006 Pfarramt in Hessen-Nassau, 2006-2008 Pfarrer im Hoch‐ schuldienst an der Goethe-Universität Frankfurt, seit 2009 Professor für Neues Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Veröffentli‐ chungen u. a. zu Paulus, Josephus, zum hellenistischen Judentum und zum christlich-jüdischen Dialog. Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0016 Aufwärtsmobilität und Abwärtsorientierung 127