eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 25/50

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2022-0017
121
2022
2550 Dronsch Strecker Vogel

K. Jason Coker - James in Postcolonial Perspective. The Letter as Nativist Discourse Minneapolis: Fortress Press 2015 IX. 315 S. ISBN 978-1-4514-7050-5 eISBN 987-1-5064-0035-8

121
2022
Manuel Vogel
znt25500129
Buchreport Manuel Vogel K. Jason Coker James in Postcolonial Perspective. The Letter as Nativist Discourse Minneapolis: Fortress Press 2015 IX. 315 S. ISBN 978-1-4514-7050-5 eISBN 987-1-5064-0035-8 Das vorzustellende Buch bringt den Jakobusbrief auf höchst bemerkenswerte Weise zum Sprechen. Hat man es gelesen, mag man für herkömmliche theologi‐ sche Auslegungen des Jakobusbriefes, solche also, in denen es um ein ausschließ‐ lich religiöses Binnengespräch im diskursiven Raum von antikem Judentum und früher Jesusbewegung geht, kaum mehr viel Geduld erübrigen. Erst wenn der Jakobusbrief als wuchtiger, unerbittlicher, kategorischer und aggressiver Widerspruch gegen den römischen Imperialismus der frühen Kaiserzeit gehört wird, wird er überhaupt erst gehört, oder er wird in Absehung hiervon gar nicht gehört. Mit dem römischen Imperium bringt Coker aus postkolonialer Perspektive jene dritte Größe ins Spiel, die das religiöse Sprachspiel um seine politische Dimension erweitert, ohne die es weithin nur äußerst verkürzt und verzerrt zur Darstellung kommt. Auch das alte Problem, wie der Jakobusbrief zur paulinischen Tradition steht, erscheint in neuem Licht und die Kontroverse um Glaube und Werke gewinnt erheblich an Schärfe. Der Jakobusbrief ist, so Coker, „a complex negotiation of Judean identity that confronts both Roman imperialism and Pauline hybridity“ (3). Neben dem Begriff der Hybridität (hybridity) arbeitet Coker mit dem ebenfalls aus den postcolonial studies über‐ nommenen Konzept des Nativismus (nativism). Als komparative Kontexte ruft er postkoloniale Bewegungen wie etwa „the Negritude movement inaugurated by Aimé Césaire, Léopold Sengor, and Léon Damas“ auf (4). Wenn er im Laufe der Untersuchungen zum Text des Jakobusbriefes z. T. ganz unvermittelt aus deren Texten zitiert, schafft immer wieder erst ein Blick in die Anmerkungen Klarheit darüber, ob er aus der Sekundärliteratur zum Jakobusbrief oder aus Texten postkolonialer Befreiungsbewegungen des 20.-Jh. schöpft. Sollten beide Kontexte tatsächlich so kongenial sein? Coker hält den Herrenbruder Jakobus für den Verfasser, datiert den Brief dementsprechend früh und lokalisiert ihn in Jerusalem (5). Eine Kenntnis der Paulusbriefe durch den Verfasser wird nicht vorausgesetzt (6). Paulus ist Anti‐ pode des Jakobus aus persönlichen Begegnungen und durch die Nachrichten, die von der paulinischen Mission aus der Diaspora nach Jerusalem dringen. Reading James against Paul in postcolonial terms of nativism and hybridity provides effective vocabulary in describing how they opposed each other as they attempted to manage a subaltern, Judean identity in relation to Roman imperialism-(11). Das auf die Einleitung (3-11) folgende zweite Kapitel (13-50) des in zwei Teile untergliederten Buches führt in die postkoloniale Theoriediskussion des Nativismusbegriffs ein. Nativistische Bewegungen werden teilweise heftig kritisiert und mit dem Vorwurf konfrontiert, dass sie koloniale Strukturen und Ideologeme im Zuge ihres Befreiungskampfes adaptieren und reproduzieren und damit Gefahr laufen, in der postkolonialen Situation abermals totalitäre Verhältnisse zu etablieren. Kritisiert werden selbstredend auch nationalistische Erscheinungsformen des Nativismus, die Rassismus und Fremdenfeindlichkeit legitimieren sollen. Die Ambivalenzen jedweder Interaktion zwischen Koloni‐ sierten und Kolonisatoren wurden von Homi Bhabha auf den Begriff der „Hybridität“ gebracht: In der Begegnung zwischen Kolonisierten und Kolonisa‐ Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0017 130 Manuel Vogel toren verändern sich beide. Es entsteht eine hybride Situation, die die Identität beider affiziert und verändert. Deshalb kann es, so die Kritiker, auch keinen reinen, essentialistischen Nativismus geben. Coker hält dem entgegen, dass eine Analyse „in the hallowed halls of the academy“ die manifeste Ungleichheit zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren und die Rollenverteilung zwischen ausgeübter und erlittener Ausbeutung und Gewalt innerhalb solcherart hybrider Räume nicht außer Acht lassen darf (27). Hilfreich ist seine Unterscheidung von „natvism from above / from the center“ und „nativism from below / from the margins“ (15). Der Jakobusbrief zählt zu dieser zweiten Form, und als solcher ist er auch zu analysieren, ungeachtet der Realisierbarkeit und der spezifischen Problematik nativistischer Identitätskonstrukte. Dem scheinbar naheliegenden Anachronismusvorwurf begegnet Coker über‐ zeugend mit dem Gegenargument, dass der postkolonial sensibilisierte Blick auf die Texte transhistorische und transkulturelle Vergleichsgrößen aufdeckt, die einer (vorgeblich neutralen) historisch-philologischen Betrachtungsweise verborgen bleiben-(29-34). Als „a nativist reaction to Roman imperialism“ (34) erfordert der frühdatierte und orthonyme Jakobusbrief die Rekonstruktion eines spezifisch judäischen Standpunktes in seiner ganzen historischen, politischen und ökonomischen Spannbreite (35-50: „Nativism and Judeanness in the First Century C.E.“). Der konzise Überblick dieses Teils verschafft einen lebhaften Eindruck von den erheblichen politischen Spannungen im Judäa der 50er Jahre des 1. Jh., die unaufhaltsam im ersten jüdischen Krieg gipfelten. Die „Welt“ des Jakobusbriefes wird dann verstehbar als die römisch besetzte Welt, als der Erdkreis unter römischer Herrschaft, und die scharfe Kritik des Jakobusbriefs an jedwedem Ansinnen, „der Welt Freund“ ( Jak 4,4) sein zu wollen, erhält ein markantes anti-assimilatorisches und anti-imperiales Profil. Es leuchtet ein, dass der Jako‐ busbrief von diesem Standpunkt aus ein tiefes Misstrauen gegen die paulinische Mission hegen musste, die das nativistische Reinheits- und Vollkommenheits‐ ideal des Briefes vielfältig zu unterlaufen drohte, und die fast zwangsläufig in einer Linie mit den Assimilationstendenzen des palästinischen Judentums seit der Makkabäerzeit zu stehen kam. Im dritten Kapitel (51-106) nimmt Coker den „Nativist Discourse in the Letter of James“ näher in den Blick und analysiert seine „rhetoric of purity and perfec‐ tion“ in ihrer Funktion „to demarcate empire and to discipline would-be border crossers“ (53). Zunächst (53-75) portraitiert er den Briefverfasser Jakobus, wie er uns im Text als expliziter und impliziter Autor entgegentritt und diskutiert die Gründe für und wider eine Verfasserschaft durch den Herrenbruder. Wichtig ist: Auch ein pseudonymes Dokument aus späterer Zeit würde die postkoloniale Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0017 Buchreport 131 Lektüre nicht entwerten oder falsifizieren: „[M]y overarching postcolonial rea‐ ding (…) could very well fit within a later dating“ (70). Anschließend (75-87) geht es um die im Präskipt Jak 1,1 adressierte „Diaspora“ in der geographischen Ma‐ trix mit Jerusalem als Zentrum. Der Verfasser kehrt die imperiale Konstruktion um, wonach Rom das Zentrum ist, von dem aus sich die Randlagen definieren. Er fordert seine Adressaten auf, sich vom Zentrum Jerusalem her zu verstehen und Rom als randständig aufzufassen. Im Blick auf jüdische Diaspora-Identität, die ständig neu aushandeln musste, von welchem Zentrum her sie sich verstehen wollte, müsste man den Begriff der „Hybridität“, gäbe es ihn nicht bereits, eigens erfinden. Er fügt sich auch hervorragend zur Polemik des Jakobusbriefes gegen den „Doppelgesinnten“ (dipsychos). Ihm gegenüber insistiert der Verfasser auf „Reinheit“ und „Vollkommenheit“, zwei Konzepte, die auch in modernen nativistischen Konzeptionen eine wichtige Rolle spielen-(87-106). Der zweite Teil des Buches („Confronting Colonialism and Hating Hybri‐ dity“, 107) besteht aus drei Kapiteln. Die Struktur dieses Teil ergibt sich aus der chiastischen Gliederung des Briefkorpus, das in den Rahmenteilen und im Mittelteil einen antiimperialen Fokus hat und in den Zwischenstücken antihybrid ausgerichtet ist-(110): A. Anti-imperial argument regarding wealth-(2,1-13) B. Antihybridity argument regarding faith/ action-(2,14-26) C. Antihybridity argument regarding speech/ action-(3,1-12) D. Anti-imperial argument regarding wisdom-(3,13-18) C'. Antihybridity argument regarding friendship-(4,1-12) B'. Antihybridity argument regarding travel itineraries-(4,13-17) A'. Anti-imperial argument regarding wealth-(5,1-6) Kapitel 4 untersucht die anti-imperialen Stücke und die Kapitel 5 und 6 die anti-hybriden. Das (in fortlaufender Zählung aus Teil 1) vierte Kapitel („Identifying the Imperial Presence“, 109-170) subsumiert die Rahmenstücke unter das Thema wealth und das Mittelstück unter das Thema wisdom - „two aspects of Roman ideation“ (110). Unter den postkolonialen Theoretikern, mit denen Coker in diesem Kapitel im Gespräch ist, nimmt Frantz Fanon eine herausragende Stellung ein. Wichtige Thesen und Ergebnisse dieses Kapitels seien hier in Auswahl und der Reihe nach kurz notiert: In 2,1 geht es nicht um den „Glauben an Jesus“, sondern um den „Glauben Jesu“, den der Prediger des Gottesreiches in der Konfrontation mit Rom und den lokalen Eliten bewährt und bis zum Tode durchgehalten hat (116). In 2,5 ist von der Königsherrschaft (basileia) für die (ökonomisch, nicht geistlich! 120) Armen die Rede als dem „alternative Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0017 132 Manuel Vogel empire to Rome“ (117). In 2,1-13 geht es keinesfalls um die Ablehnung des „favoritism in general“, sondern des „favoritism to the wealthy“ (118). Der in 2,2 namhaft gemachte Reiche mit Ring und Gewand ist (im Anschluss an Ingeborg Mongstad-Kvammen) ein politisch ambitionierter römischer Ritter, der die (zum Entsetzen des Briefverfassers sozial aufwärtsstrebende) Synagogenge‐ meinde für seine Zwecke gewinnen will (121). Mit der basileia für die Armen entspricht Jakobus ganz dem „faith of Jesus“ (125) - eines von vielen Beispielen, die im Laufe der Untersuchung die enge Beziehung des Jakobusbriefes zur Jesustradition aufzeigen. Wie Jesus auch ist Jakobus von der Hand der mit Rom kooperierenden judäischen Elite getötet worden (127). Die „Reichen“ stehen synekdochisch für die „Welt“, den römisch beherrschten bewohnten Erdkreis. „The wealthy have the world, but the poor have the kingdom“ (128). Der basilikos nomos in 2,8 ist „kingdom law“ und damit dem römischen „system of discrimination“ diametral entgegengesetzt. Die Polemik in 2,1-13 richtet sich namentlich gegen die (drohende) Akzeptanz des römischen Patronatssystems durch die Adressaten-(135-140). Der Abschnitt 5,1-6 (zweites Rahmenstück A') platziert den Text auf dem Boden der sozialgeschichtlichen Tatsachen, auf dem er entstanden ist: Ein „growing system of economic oppression characterized Roman Palestine“ in den Jahrzehnten vor dem Jüdischen Krieg (147). Der in Jak 5,1-6 scharf und konkret angegriffene Großgrundbesitz wird damit als Problemhintergrund des Textes historisch und sozialgeschichtlich anschaulich und widerrät jeglicher Verflüch‐ tigung dieser wie auch aller anderen Passagen des Briefes ins theologisch oder anthropologisch Allgemeine und Ungefähre. Der Großgrundbesitz in den römischen Provinzen drückte (unter maßgeblicher Beteiligung der judäischen Hohenpriester) die Menschen massenhaft unter das Existenzminimum und bedrohte ihr nacktes Leben (146-154). Coker zitiert an dieser Stelle Frantz Fanon mit einer Aussage, die Jak5 ,3 („der Rost eures Silbers und Goldes wird euer Fleisch fressen wie Feuer“) an Gewaltsamkeit in etwa gleichkommt: „For the native, life can only spring up again out of the rotting corpse of the settler“ (154). Die Kapitel 5 und 6 („Identifying the Mimetic Monster“) sind den anti-hybriden Zwischenstücken gewidmet, in denen sich der Jakobusbrief, so Coker, gegen Paulus wendet. Zu Beginn bietet Coker einen forschungsge‐ schichtlichen Abriss zu postkolonialen Paulusdeutungen (172-181), mit dem Ergebnis, dass Paulus zwar keinesfalls ein Parteigänger Roms war, aber eben auch nicht „anti-Roman in a nativist sense“ (180). Diese Mittelstellung „adds strength to the argument, that Paul was a hybrid“ und für den Verfasser des Jakobusbriefes folglich der Inbegriff des „Doppelgesinnten“ (dipsychos). Die Begegnungen zwischen Paulus und Jakobus, soweit wir sie aus dem Galater‐ Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0017 Buchreport 133 brief und der Apostelgeschichte nachvollziehen können, erscheinen aus dieser Perspektive als Niederschlag einer erbitterten Gegnerschaft (182-197). Damit gewinnt Coker auch innerhalb der traditionellen Forschungsfrage nach dem Verhältnis zwischen dem Jakobusbrief und Paulus (197-207) einen eigenen Standpunkt: Entgegen der Auffassung der neueren Forschung, dass zwischen Paulus und Jakobus theologisch entweder kein Gegensatz besteht oder aber beide mit ähnlichem Vokabular über unterschiedliche Dinge reden, sieht Coker in der Kontroverse um Glaube und Werke einen politischen Dissens: „I argue, that James is not theologizing works (erga), but he is exercising a political term“ (200). „Werke“ sind für Jakobus Ausdruck eines tätigen Widerspruchs gegen das römische Patronatssystem als Ursache für das soziale Elend auch in den Reihen der Gläubigen: „It is precisely because of systems of patronage that you have brothers and sisters who are naked and lacking daily food“ (201). Aus Sicht des Jakobusbriefes predige Paulus dagegen einen Glauben, der Werke in diesem prägnanten Sinn vermissen lässt und sich, was den eigenen Widerspruch zu des Kaisers Reich betrifft, lieber bedeckt hält. Antipaulinische Töne findet Coker etwa auch in 3,1-12: Inbegriff des Lehrers, dessen Worte schier die ganze Welt in Brand stecken (3,6), ist kein anderer als Paulus, etwa wenn er in 1Kor 8- 10 sich widersprüchlich zur Statthaftigkeit des Verzehrs von Götzenopferfleisch äußert (224 f.), oder wenn er sich in 1Kor 9,21f. der Fähigkeit rühmt, „allen alles zu werden“, sogar „den Gesetzlosen ein Gesetzloser“ (256). Auch der Geschäftsmann, der selbstbewusst Reisepläne schmiedet und Gewinn erzielen will, lässt antipaulinische Anspielungen erkennen: Ist 4,13-17 zumindest in einem Seitenblick auch auf den rührigen und reiselustigen Apostel gemünzt, der für seine Reisen unentwegt Geld sammelt (257-275)? Man wird Coker gewiss nicht bei allen intertextuellen Verknüpfungen zwischen dem Jakobusbrief und den Paulusbriefen (die Paulus zeigen, wie er auch außerhalb seiner Briefe sich geäußert haben mag) folgen wollen. Die Zuspitzung einer möglichen Pauluskritik von der Warte eines antihybriden und antiimperialen Nativismus, wie ihn der Jakobusbrief vertritt, bleibt aber gültig, und dies unabhängig von Fragen der Zuschreibung und Datierung. Zu betonen ist auch, dass die von Coker vorgelegte politische Analyse keine politische Parteinahme für den Jakobusbrief und gegen Paulus bedeutet. Der Nativismus auch des Jakobus‐ briefes hat problematische Seiten und trägt Züge des Fanatischen. Dass aber dieser Brief nicht einer kontextlosen Allerweltstheologie zuarbeitet, sondern zu einer politisch brisanten Existenz des Widerspruchs, des Widerstands und der Konfliktbereitschaft aufruft, hat Coker fundiert und textnah vorgeführt. Zeitschrift für Neues Testament 25/ 50 (2022) DOI 10.24053/ ZNT-2022-0017 134 Manuel Vogel