ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2023-0001
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2023
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Dronsch Strecker VogelNeutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen
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2023
Tobias Nicklas
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NT Aktuell Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen Trends, Themen und Thesen Tobias Nicklas Es gehört zu den Grundlagen durch die Aufklärung geprägter christlicher Theologien, dass der Kanon der christlichen Bibel und speziell der des NT einerseits eine entscheidende Basis für theologisches Arbeiten bildet, 1 andererseits aber auch nicht einfach „ vom Himmel gefallen “ ist. Der ntl. Kanon verdankt sich einem komplexen Prozess, in dem viele verschiedene Faktoren eine Rolle spielten. Die Bedeutung fast aller dieser Faktoren ist bis heute umstritten. Damit aber sind bei weitem nicht alle Probleme angesprochen, die mit dem Kanon des NT in Zusammenhang stehen. Wie etwa verändert sich theologisches Denken, wenn es sich auf eine fixe Sammlung kanonisierter Schriften bezieht? Inwiefern muss von einer Geschichte des Kanons auch dann gesprochen werden, wo dieser bereits abgeschlossen ist? Neben den kanonischen Schriften entstanden von frühester Zeit an Texte und Traditionen, die ohne ihren Bezug zu kanonischen Schriften kaum verstanden werden können. Auch sie, z. B. so genannte christliche Apokryphen, müssen in den Blick genommen werden, wo man Geschichte, Bedeutung und Funktion des neutestamentlichen Kanons besser als bisher verstehen möchte. Ich werde im Folgenden einige grundlegende Thesen formulieren, die zeigen, welche Diskussionen momentan geführt werden, und diese an konkreten 1 Wichtige Überlegungen zur Bedeutung der Schrift für evangelische, römisch-katholische und orthodoxe Theologien finden sich in dem Band von Stefan Alkier, Christos Karakolis und Tobias Nicklas, Sola Scriptura Ökumenisch (Biblische Argumente in öffentlichen Debatten 1), Paderborn 2021. Beispielen illustrieren. Ich beginne mit Gedanken zur Entstehung des ntl. Kanons, werde diese aber knapp halten, weil hierzu viele Informationen auch leicht in neueren Handbüchern einzusehen sind. Ausführlicher werde ich Gedanken referieren, die sich mit der Geschichte des bereits abgeschlossenen Kanons (auch im Verhältnis zu apokrypher Literatur und parabiblischen Traditionen) und, häufig damit eng zusammenhängend, mit Fragen der Kanonhermeneutik ergeben. 1. Veränderungen in der Quellenlage und/ oder der Einschätzung von Quellen Da bekanntlich aus der Antike keine einzige, für die Gesamtkirche verbindliche Entscheidung über den Umfang des ntl. Kanons überliefert ist, ja bis weit ins Mittelalter hinein eine solche nie existierte, 2 ist es im Hinblick auf die Frage nach der Entstehung des ntl. Kanons nötig, sehr unterschiedliche Quellen heranzuziehen. Obwohl sich die Quellenlage in den vergangenen Jahrzehnten kaum grundsätzlich geändert hat, hat sich deren Einschätzung wenigstens teilweise verschoben. Zudem kamen Quellen in den Blick, die in ihrer Bedeutung bisher nicht erkannt oder vernachlässigt waren. 3 Einen hilfreichen Überblick über Quellen, die üblicherweise für das Verständnis der Entstehung des Kanons herangezogen werden, bietet die Haupteinleitung zum ersten Band der „ Antiken christlichen Apokryphen “ von Christoph Markschies. 4 Dort finden sich ausführliche Zitate altkirchlicher Autoren z. T. zur Diskussion um den Status einzelner Schriften, Listen kanonischer und nichtkanonischer, apokrypher Schriften, Dokumente aus regionalen Synoden u. a. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass wir es hier in den meisten Fällen mit Stimmen in einem breiteren Diskurs zu tun haben, Teilen eines größeren Mosaiks, von dem das Meiste verloren ist: Selbst die Stimme bedeutender Bischöfe, in der Frühzeit z. B. Irenäus von Lyon (gest. ca. 200 n. Chr.), im vierten Jahrhundert Athanasius von Alexandrien (gest. 373 n. Chr.), muss nicht für die Gesamtsituation in ihrer Zeit oder auch nur ihres Einflussbereichs stehen. In manchen Fällen kann die Tatsache, dass ein 2 Für die Römisch-Katholische Kirche ändert sich dies mit dem Konzil von Trient (1545 - 1563). 3 Der gegebene Rahmen erlaubt es leider nicht, hier eine ausführliche Diskussion über die Rolle Marcions für die Entstehung des NT zu führen. 4 Christoph Markschies, Haupteinleitung, in: ders./ Jens Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung 1: Evangelien und Verwandtes, Tübingen 2012, 1 - 180, hier 114 - 180 (mit weiterführender Sekundärliteratur). Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 6 Tobias Nicklas Mitglied kirchlicher Hierarchien ein Thema besonders betont, gar umgekehrt bedeuten, dass dies in der konkreten Situation umstritten war. Wir müssen davon ausgehen, dass die „ offizielle “ Position von Vertretern der so genannten „ Mehrheitskirche “ von vielen Gläubigen gerade nicht akzeptiert wurde oder wird. Doch auch die Einschätzung einzelner bekannter Zeugnisse zur Entstehung des Kanons hat sich in den vergangenen Jahren z. T. deutlich verändert. Ein besonders spannendes Beispiel ist das in der „ Kontroverse “ des vorliegenden Bands diskutierte Muratorische Fragment. Haben wir es bei diesem in lateinischer Sprache überlieferten, fragmentarischen Text mit einem Dokument zu tun, das uns Einblick in das Kanonverständnis der Kirche von Rom gegen Ende des zweiten Jahrhunderts gibt? 5 Oder sollte diese Schrift (auch zeitlich) näher an die Kanonlisten des vierten Jahrhunderts gerückt werden? Oder handelt es sich hier um einen Text, der eher den in manchen neutestamentlichen Handschriften zu findenden Prologen zu Evangelien oder paulinischen Briefen verwandt ist und dem es daher eher um Fragen geht, die verwandt sind mit dem, was wir heute in einer Einleitung in das Neue Testament verhandeln? Der Text bleibt in jedem Fall relevant für die Entstehung des Kanons, seine Bedeutung aber verändert sich, je nachdem, wie wir ihn konkret einordnen. Daneben sind in den vergangenen Jahren weitere Gruppen von Quellen stärker als bisher in den Blick gekommen: Bisher wenig genutzt wurden die in deutlich nachkonstantinischer Zeit zusammengestellten Bücherlisten aus christlichen Bibliotheken (v. a. Ägyptens), die zeigen, welche Bücher selbst in monastischen Bibliotheken der sehr späten Antike vorhanden und welche nicht greifbar waren. 6 Dabei ergibt sich nicht nur, dass es keineswegs selbstverständlich war, dass eine monastische Siedlung (wohl aber auch eine Stadtgemeinde) über eine Vollbibel verfügte. Offenbar waren auch nicht alle Einzelbücher der Bibel (AT und NT) überall greifbar. Dies sagt zwar wohl kaum etwas über den kanonischen Status einzelner Schriften aus. Für unser Verständnis der Kanongeschichte aber ist es trotzdem relevant. Markschies schreibt: 5 Anhaltspunkt ist die Erwähnung von Pius I., Bischof von Rom von ca. 140/ 42 bis zu seinem Tode ca. 155 n. Chr. 6 Aufmerksam auf diese Quellen macht Christoph Markschies, Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen. Prolegomena zu einer Geschichte der christlichen Theologie, Tübingen 2007, 298 - 331, der von „ neunzehn (bzw. dreiundzwanzig) solcher Listen “ (ibid., 317; siehe die Übersicht auf S. 318 f.) spricht. Wichtig hierzu zudem Jan Heilmann, „ Ein kleines Evangelium “ und „ ein kleiner Apostolos “ auf einem koptischen Ostrakon (O. Vind. Copt. 148) als kleinformatige kanonische Texte? , in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 212 (2019), 89 - 92. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen 7 Vermutlich behalf man sich in einer ganzen Reihe von Kirchen lediglich mit Lektionaren; diese Bücher lagen wahrscheinlich an den gottesdienstlichen Orten ihrer Nutzung und tauchen so in den Inventaren praktisch kaum auf. 7 Wichtiger als das Genannte sind jedoch Veränderungen, die mit Paradigmenwechseln in der Erforschung des frühen Christentums zusammenhängen. 1. Neben die Zeugnisse v. a. altkirchlicher Autoren rückt in einer Weise, die noch vor wenigen Jahrzehnten kaum denkbar gewesen wäre, das Zeugnis der konkreten Überlieferung neutestamentlicher Texte in konkreten Handschriften in den Blick. Als einer der ersten hat David Trobisch auf Muster der Überlieferung neutestamentlicher Schriften aufmerksam gemacht, die es nahelegen, dass sich die Entstehung des Neuen Testaments zumindest auch einem bewussten Redaktionsprozess verdankt, innerhalb dessen die Einzelschriften des späteren Neuen Testaments in festen Teilsammlungen zu einem Gesamtwerk mit auch wichtigen inhaltlichen Querverweisen zusammengefügt wurden. Dies sei, will man Trobisch folgen, schon sehr früh - bereits im zweiten Jahrhundert - geschehen. 8 Selbst wenn man Trobisch nicht in vollem Umfang folgen will, 9 so ist der Hinweis auf die Bedeutung der materialen Überlieferung der Schriften des NT für das Verständnis der Kanongeschichte von solcher Bedeutung, dass nicht mehr hinter diesen Befund zurückgegangen werden kann. Ein Beispiel: Papyrus 72, das älteste erhaltene Manuskript des 1. - 2. Petrusbriefes sowie des Judasbriefs, ist Teil eines wohl auf das 4. Jahrhundert zurückgehenden, in mehreren Schritten entstandenen Codex der Sammlung Bodmer. 10 In diesem Codex, der ganz unterschiedliche, auch apokryphe Schriften zusammenstellt, sind 1 - 2 Petr sowie Jud zwar von der gleichen Hand 7 Markschies, Kaiserzeitliche christliche Theologie (s. Anm. 14), 320. 8 Besonders wichtig David Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel (NTOA 31), Fribourg/ Göttingen 1996. Zur neueren Diskussion um das Thema besonders wichtig Jan Heilmann, Die These einer editio princeps des Neuen Testaments im Spiegel der Forschungsdiskussion der letzten zwei Jahrzehnte, in: ders./ Matthias Klinghardt (Hg.), Der Text des Neuen Testaments im 2. Jahrhundert (TANZ 61), Tübingen 2018, 21 - 56. 9 Siehe z. B. Tobias Nicklas, Neutestamentliche Kanongeschichte als Geschichte eines Buches? , in: Israel Muñoz Gallarte/ Jesús Peláez (Hg.), In Mari Via Tua. Philological Studies in Honour of Professor Antonio Piñero (Éstudios de Filologia Neotestamentaria 11), Cordoba 2016, 575 - 595 und Wolfgang Grünstäudl, Geschätzt und bezweifelt. Der zweite Petrusbrief im kanongeschichtlichen Paradigmenstreit, in: Heilmann/ Klinghardt (Hg.), Das Neue Testament (s. Anm. 22), 57 - 88. 10 Zum Folgenden vgl. ausführlicher Tobias Nicklas, Der „ lebendige Text “ des Neuen Testaments. Der Judasbrief auf P 72 (P.Bodmer VII), in: ASEs 22 (2005) 203 - 222 sowie Tobias Nicklas/ Tommy Wasserman, Theologische Linien im Codex Bodmer Miscellani? in: Thomas J. Kraus/ Tobias Nicklas (Hg.), New Testament Manuscripts. Their Texts and their World (TENT 2), Leiden/ Boston 2006, 161 - 188. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 8 Tobias Nicklas niedergeschrieben, werden aber unterschiedlich behandelt. Bedeutet dies, dass der Schreiber dieser Texte zwar 1 - 2 Petr als kanonisch anerkannte, den Judasbrief aber nicht? Oder wies er 1 - 2 Petr einfach höhere Autorität oder Dignität zu als dem Judasbrief, ohne dass ihn die Frage der kanonischen Geltung dieser Texte interessiert hätte? Gleichzeitig bietet er die drei Schriften nicht als Teil eines Kanonteils „ Katholischer Briefe “ , sondern in einer lockeren Sammlung christlicher Literatur. Ich bleibe bewusst bei Fragen, ohne sofort Antworten liefern zu wollen, die diese Zeugnisse allein nicht zu tragen vermögen. 2. Mindestens genauso wichtig aber ist ein anderer Paradigmenwechsel, der zwar nur indirekt mit unserer Art und Weise, Kanongeschichte zu schreiben, zusammenhängt, gleichzeitig aber enorm wirksam ist: Wenn wir Geschichte schreiben, so liegen den aufgrund der vorliegenden Quellen erarbeiteten Narrativen bewusst oder unbewusst Modelle dessen voraus, was wir beschreiben wollen. Wenn wir das antike Christentum als eine weitgehend uniforme Bewegung verstehen, die sich mehr oder minder direkt auf einen eindeutigen Auftrag Christi zurückführt, wenn wir dabei uns in allererster Linie für eine sich als allein rechtgläubig definierende Großkirche interessieren und dabei vor allem die Stimmen der Kirchenleitungen im Blick haben, dann wird unser Bild der Kanongeschichte ganz anders aussehen als in dem Moment, in dem wir die Vielfalt dessen, was uns an Quellen aus der alten Kirche erhalten ist, und die Dynamik dessen, was wir aus ihnen erkennen können, als entscheidend ansehen. 11 Im ersten der beiden Modelle werden wir kaum darauf achten, ob die Stimmen der großen Theologen der Antike wirklich auch dem entsprechen, was „ normale “ Gläubige dachten, glaubten und wie sie lebten. Selbst wenn wir über diese Menschen nur eine begrenzte Zahl von expliziten Quellen zur Verfügung haben, wird im zweiten Modell alleine schon das Bewusstsein dafür, dass es diese „ normalen “ Gläubigen nicht nur gab, sondern diese die alles überwiegende Mehrheit darstellten, unsere Darstellungen von Kirchen- und Kanongeschichte tiefgreifend ändern. Im ersten Modell werden Stimmen, die für großkirchliche Perspektiven stehen, dominieren, während andere als (z. T. häretische) Seitenströme ausgeblendet werden. Im zweiten Modell müssen diese ernst genommen werden. Die Folge ist dann natürlich ein komplexeres Bild von Geschichte, welches sich dessen bewusst ist, dass wir als Historiker: innen immer nur mit Fragmenten arbeiten. 11 Eine sehr hilfreiche Übersicht über verschiedene Modelle, das antike Christentum in seiner Entwicklung zu beschreiben, bietet David Brakke, The Gnostics. Myth, Ritual, and Diversity in Early Christianity, Cambridge, Mass./ London 2010, 1 - 18. Für mein eigenes Modell siehe Tobias Nicklas, Parting of the Ways? Probleme eines Konzepts, in: Stefan Alkier/ Hartmut Leppin (Hg.), Juden - Heiden - Christen? Religiöse Inklusion und Exklusion in Kleinasien bis Decius (WUNT I/ 400), Tübingen 2018, 21 - 41, hier 37 f. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen 9 Nur einige Beispiele dafür, wie sich das Bild verändert, wenn wir nach dem zweiten Modell vorgehen: Das „ unbekannte Evangelium “ auf Papyrus Egerton 2 ist sicherlich eines der ältesten Zeugnisse von Überresten eines Evangelientexts, der nicht Teil des neutestamentlichen Kanons geworden ist. 12 Über seine ursprüngliche Verbreitung und seinen Einfluss auf andere Schriften oder frühchristliche Theologie können wir nur wenig sagen. Wir wissen auch nicht, ob diese Schrift im Blick auf eine frühchristliche Gruppierung, eine Gemeinde oder einen Gemeindeverbund konzipiert wurde. Vielleicht handelt es sich nur um einen Zufallsfund von höchst eingeschränkter Bedeutung: Und doch erzählt dieser Text auf mehreren Ebenen Interessantes im Hinblick auf unsere Fragestellung. So scheint er in einigen Teilen literarisch abhängig vom Johannesevangelium zu sein; wahrscheinlich kann er auch als literarische „ Neuinszenierung “ 13 von Material aus den synoptischen Evangelien betrachtet werden. Dies lässt sich einerseits als Zeugnis dafür deuten, dass zumindest die bei Irenäus von Lyon explizit bezeugte Sammlung der vier kanonischen Evangelien offenbar im Kontext der Entstehung des „ unbekannten Evangeliums “ schon vorhanden und einflussreich gewesen sein mag. Andererseits aber zeigt sich auch, dass es im Entstehungskontext des „ unbekannten Evangeliums “ noch möglich gewesen sein muss, neben (oder gar gegen) diese Evangelien ein weiteres zu stellen, das zumindest von begrenzter Bedeutung gewesen sein muss. 14 Aus der Perspektive von Modell 1 ist dies eine kaum erwähnenswerte Randerscheinung. Wo wir Modell 2 zugrunde legen, erweist sich, dass Vergleichbares auch an anderen Texten erkennbar ist, wir es also mit einem offenbar breiteren Phänomen zu tun haben. 15 Wenn wir unseren Forschungen konsequent Modell 2 zugrunde legen, ergibt sich folgende These: Selbst wenn wir davon ausgehen, dass der Kanon in bestimmten „ großkirchlichen “ Kreisen als abgeschlossen galt (und in Aufbau 12 Allgemein zu dieser Schrift vgl. Tobias Nicklas, The ‚ Unknown Gospel ‘ on Papyrus Egerton 2 (+ Papyrus Cologne 225), in: Thomas J. Kraus/ Michael J. Kruger/ Tobias Nicklas, Gospel Fragments (Oxford Early Christian Gospel Texts), Oxford 2009, 9 - 120, sowie Lorne R. Zelyck, The Egerton Gospel (Egerton Papyrus 2 + Papyrus Köln VI 255). Introduction, Critical Edition, and Commentary (TENT 13), Leiden/ Boston 2019. 13 Zu diesem Begriff vgl. Tobias Nicklas, Zwischen Redaktion und „ Neuinszenierung “ : Vom Umgang erzählender Evangelien des 2. Jahrhunderts mit ihren Vorlagen, in: Jens Schröter/ Tobias Nicklas/ Joseph Verheyden (Hg.), Gospels and Gospel Traditions in the Second Century: Experiments in Reception (BZNW 235), Berlin/ Boston 2019, 311 - 330, hier 313. 14 Siehe auch Tobias Nicklas, Christian Apocrypha and the Development of the Christian Canon, in: Early Christianity 5 (2014) 220 - 240, hier 229 - 231. 15 Hier ist z. B. an das Petrusevangelium zu denken: Hierzu vgl. v. a. Tobias Nicklas, Second- Century Gospels as ‚ Re-Enactments ‘ of Earlier Writings. Examples from the Gospel of Peter, in: ders., Studien zum Petrusevangelium (WUNT I/ 453), Tübingen 2020, 125 - 139. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 10 Tobias Nicklas und Umfang klar definiert war), heißt dies noch nicht, dass dies überall - in allen christlichen Zirkeln, ja selbst in jeder Region auf die gleiche Weise - der Fall gewesen sein muss. 2. Die notwendige Differenzierung zwischen entscheidenden Begriffen Bei der Bearbeitung und Beurteilung der Quellen zur Kanongeschichte ist es entscheidend, zwischen dem kanonischen Status einer Schrift, ihrer Autorität in verschiedenen Kontexten, ihrer Überlieferung, ihrer Verwendung und ihrer Funktion zu differenzieren. Vom kanonischen Status einer Schrift (für einen bestimmten Autor) können wir nur dort mit Sicherheit ausgehen, wo explizit davon gesprochen wird. Dies geht so weit, dass selbst da, wo ein konkreterAutor einen Text als „ Schrift “ bezeichnet, wir nicht ganz sicher sein können, was er damit konkret meint. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel bietet Irenäus von Lyon, Adversus haereses 4,20,2: Treffend hat das die Schrift ausgedrückt, in der es heißt: „ An erster Stelle glaube, dass er (nur) einen einzigen Gott gibt, der das All erschaffen und ausgestattet und alles aus dem Nichtsein ins Dasein gerufen hat, der alles umfasst, selbst aber von niemandem umfasst wird. 16 Das so eingeleitete Zitat wiederum geht auf den bereits erwähnten Hirten des Hermas (Mand. 1,1) zurück. Schon Eusebius von Caesarea, Historia ecclesiastica 5,8,7, der diese Passage überliefert, ist offenbar davon ausgegangen, dass Irenäus deswegen den Hirten als kanonische Schrift „ anerkannt “ hat. Dies ist, wollen wir der Einschätzung von Norbert Brox folgen, jedoch keineswegs der Fall. Seine Durchsicht vergleichbarer Einleitungen von Zitaten bei Irenäus zeigt, dass mit der hier verwendeten Einleitung bei Irenäus in keinem Fall die Schrift verbunden [ist], sondern immer der Autor … Der einzige Fall, in dem kal ō s/ bene und graph ē / scriptura in einer einleitenden Formel miteinander gebraucht sind, ist der problematische Text IV 20,2, um den es hier geht. 17 Dem ist eine zweite, wichtige Beobachtung an die Seite zu stellen: Die eben zitierte Passage ist nur ein Teil einer Reihe von Zitaten; es folgt ein Abschnitt aus Mal 2,10, einer aus Eph 4,6 und einer aus Mt 11,27. Jedes dieser drei Zitate ist anders eingeleitet als das Hermaszitat. Irenäus spricht vom „ Propheten Maleachi “ , vom „ Apostel “ und schließlich vom „ Herrn “ als den jeweils hinter diesen 16 Übersetzung Irenäus von Lyon, Adversus Haereses. Gegen die Häresien IV, übersetzt und eingeleitet von Norbert Brox (FC 8/ 4), Freiburg u. a. 1997, 157. 17 Norbert Brox, Der Hirt des Hermas (KAV 7), Göttingen 1991, 58 f. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen 11 Zitaten stehenden Autoritäten. Die Passage aus dem Hirten des Hermas wird somit anders behandelt als die drei darauf folgenden. 18 Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie überaus vorsichtig zu argumentieren ist, wenn es um an angeblich kanonischen Status eines Texts geht. Die wichtigste unter den oben genannten Differenzierungen wiederum erscheint mir die zwischen dem kanonischen Status einer Schrift und ihrer Autorität. Ich verwende den (alles andere als unproblematischen) Begriff „ Autorität “ hier in einem weiten Sinne: Autorität kommt Personen, aber auch Instanzen und Institutionen [zu], die sich auf einem bestimmten Gebiet - im vorliegenden Falle also im Bereich des christlichen Glaubens und der damit verbundenen Lebensführung - Ansehen erworben haben und somit maßgeblichen Einfluss besitzen. 19 Bereits die bisher angesprochenen Beispiele zeigen auf unterschiedliche Weise: Die Autorität eines Texts oder einer Tradition hängt nicht einfach von ihrem kanonischen Status ab, sondern mindestens genauso von ihrer Funktion in konkreten Kontexten. Solche Kontexte lassen sich sehr unterschiedlich beschreiben: Ein Fragment wie Papyrus Oxyrhynchus XI 1384 (5./ 6. Jh.), auf dem sich eine Kombination von Rezepten gegen verschiedene Krankheiten und zwei kurzen apokryphen Erzählungen findet, kann auch nicht einmal im Entferntesten mit kanonischem Status rechnen. In konkreten Lebenssituationen jedoch, in denen sich spätantike Christen Heilung von Krankheiten oder Verwundungen erhofften, mag das Zueinander von Rezepten und Erzählungen über Jesu oder Gottes Macht, z. B. Augenkrankheiten zu heilen, erfolgreich Autorität beansprucht haben. 20 Die Autorität parabiblischer Schriften kann auch in Bezug zu Problemen lokaler oder regionaler Kirchen stehen. Es war offenbar die Autorität parabiblischer Texte und damit verbundener Traditionen um Barnabas - wie die Akten des Barnabas oder das spätere Barnabas-Encomium - die eine entscheidende Rolle für die Unabhängigkeit der Kirche Zyperns vom Patriarchat von Antiochien spielten. 21 Interessant dabei ist vor allem, wie frei die 18 Zur genauen Argumentation Brox, Hirt des Hermas (s. Anm. 39), 59. 19 Diese Definition geht auf den viel zu verstorbenen Thomas Karmann, zurück, der diese in einem leider m. W. bisher unpublizierten Aufsatz erarbeitete. 20 Zu diesem Fragment vgl. Roberta Mazza, P.Oxy. XI, 1384, Medicina, rituali di guarigione cristianesimi nell ’ Egitto tardoantico, in: ASEs 24 (2007) 437 - 462. 21 Hierzu Tobias Nicklas, Barnabas Remembered. Apokryphe Barnabastexte und die Kirche Zyperns, in: Lena Seehausen u. a. (Hg.), Religion als Imagination. Phänomene des Menschseins in den Horizonten theologischer Lebensdeutung. Festschrift für Marco Frenschkowski, Leipzig 2020, 167 - 188. Das Barnabas-Encomium des Alexander Monachus ist inzwischen (mit guter Einleitung) leicht greifbar in Alexander Monachus, Laudatio Barnabae. Lobrede auf Barnabas, hg. von Bernd Kollmann/ Werner Deuse (FC 46), Turnhout 2007; wichtiges Quellenmaterial auch bei Bernd Kollmann/ Burkhard Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 12 Tobias Nicklas Barnabastexte auch noch im 5. Jahrhundert und später mit Traditionen aus der kanonischen Apostelgeschichte umgehen können, um ihre Perspektive auf einen innerkirchlichen Konflikt durchsetzen zu können. 22 Gleichzeitig hat ein Text wie die syrische Doktrin des Addai, eine wohl auf das 5. oder 6. Jh. n. Chr. zu datierende Apostelgeschichte, die Gründungserzählung der bedeutsamen Kirche von Edessa (des heutigen Urfa), nie den Anspruch gestellt, Teil eines neutestamentlichen Kanons zu werden. Die Autorität dieser apokryphen Schrift aber war so groß, dass sie in den Anweisungen des Apostels vor seinem Tode den Kanon von Schriften in der Kirche Edessas definierte: Besonders spannend daran ist, dass hier offenbar den Schriften des AT ein höheres Gewicht zugeschrieben wurde als denen des NT und dass hier nicht eine Sammlung der vier Evangelien als kanonisch galt, sondern das Diatessaron Tatians. 23 Natürlich war diese Autorität nicht universal anerkannt, sondern bezog sich nur auf den Einflussbereich von Edessa für eine bestimmte Zeit. Wichtig ist zudem: Die Autorität parabiblischer Texte und Traditionen steht in vielen Fällen in keinem direkten Verhältnis zur Differenzierung zwischen so genannter „ Orthodoxie “ (oder Proto-Orthodoxie) und Häresie. Stattdessen erweist sie sich nicht selten als vollkommen unabhängig von dieser Differenzierung. Mit anderen Worten: Es sind nicht immer und überall so genannte „ Häretiker “ , die sich in ihren Argumenten auf nicht-kanonisches Material bezogen: Die oben erwähnte Kirche Zyperns verblieb natürlich im Rahmen dessen, was man in ihrer Zeit als „ Orthodoxie “ verstehen würde. Autorität, die parabiblischen Traditionen in bestimmten Kontexten zukommt, ist auch keineswegs auf marginalisierte Gruppen alleine beschränkt. Außerkanonische Texte konnten schließlich nicht nur hohen Anspruch auf Autorität zeigen oder auch als Autorität eingesetzt werden; verwandt damit ist die Beobachtung, dass wenigstens einige von ihnen tatsächlich auch sehr einflussreich waren. Dies gilt zum Beispiel für eine Reihe von apokalyptischen Schriften: Für die Entwicklung spätantiker und mittelalterlicher Vorstellungen von Paradies und (vor allem) Hölle war sicherlich die Apokalypse des Paulus lange Zeit im Westen einfluss- Schröder, Der Evangelist Markus. Historische Konturen - Altkirchliche Legenden - Hagiographische Zeugnisse (SBS 257), Stuttgart 2023, 90 - 101 sowie 159 - 167. 22 Dies zeigt sich sehr schön an den Itineraren, die mit Barnabas in Beziehung gesetzt werden. Hierzu Tobias Nicklas, The Travels of Barnabas. From the Acts of the Apostles to Late Antique Hagiographic Literature, in: Susanne Luther/ P. Bärry Hartog/ Claire E. Wilde (Hg.), Jewish, Christian and Muslim Travel Experiences. 3 rd century BCE - 8 th century CE ( Judaism, Christianity, and Islam - Tension, Transmission, Transformation), Berlin/ Boston 2023, im Druck. 23 Ausführlicher Alain Desreumaux, Das Neue Testament in der Doctrina Addaï, in: Jean- Michel Roessli/ Tobias Nicklas (Hg.), Christian Apocrypha. Receptions of the New Testament in Ancient Christian Apocrypha (NTP 26), Göttingen 2014, 233 - 248. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen 13 reicher als die neutestamentliche Johannesapokalypse; im byzantinischen und byzantinisch beeinflussten Osten mag Vergleichbares für die heute nur noch wenig bekannte, aber reich überlieferte Apokalypse der Maria gelten. 24 Keiner der beiden Texte war jemals als Teil des neutestamentlichen Kanons anerkannt, beide aber scheinen Bedürfnissen entsprochen zu haben, die durch Texte des neutestamentlichen Kanons nicht befriedigt werden konnten. Doch auch die umgekehrte Perspektive lässt sich illustrieren: Auch innerhalb des NT gibt es eher marginale Schriften und Textpassagen. Dies gilt nicht nur für wenig verwendete Schriften wie den Judasbrief oder den Zweite Petrusbrief, die beide unbestritten als Teil des neutestamentlichen Kanons verstanden werden, die jedoch kaum als Autorität (gar in bedeutsamen Diskursen) herangezogen werden, sondern auch für Passagen aus den Evangelien, wie etwa Jesu Anweisung „ Lass die Toten ihre Toten begraben! “ (Mt 8,22 par. Lk 9,60). 25 Viele weitere Beispiele ließen sich finden. 3. Eine weitere Differenzierung: Kanon, Kanonbewusstsein und das Vorliegen von (Voll-)Bibeln Sehr nahe liegen mit diesen Überlegungen aber auch weitere Folgerungen: Die Tatsache, dass in „ offiziellen “ großkirchlichen Kreisen der neutestamentliche Kanon bereits mehr oder minder allgemein als geschlossen anerkannt wurde, bedeutet noch nicht, dass dies überall in gleicher Weise gegolten haben mag. Damit meine ich nicht nur, dass wir von regionalen Differenzierungen (und wohl auch Differenzierungen zwischen Stadt und Land) ausgehen müssen: 26 Während die Johannesapokalypse im Westen offenbar recht weitgehend anerkannt war, gilt dies nicht für große Teile des kirchlichen Ostens; 27 und in einer Teilkirche wie der armenischen konnte noch lange Zeit wenigstens in 24 Zur Visio Pauli vgl. v. a. Lenka Jirou š kova, Die Visio Pauli. Wege und Wandlungen einer orientalischen Apokryphe im lateinischen Mittelalter, unter Einschluß der alttschechischen und deutschsprachigen Textzeugen (MLST 34), Leiden/ Boston 2006; zurApokalypse der Maria z. B. Stephen J. Shoemaker, The Apocalypse of the Virgin, in: Tony Burke/ Brent Landau (Hg.), New Testament Apocrypha. More Noncanonical Scriptures 1, Grand Rapids 2016, 492 - 509. 25 Hierzu vgl. Tobias Nicklas, „ Let the Dead Bury their Own Dead ” (Matt 8: 22 par. Luke 9: 60). A Commandment without Impact for Christian Ethos? , in: Ruben Zimmermann/ Stephan Joubert (Hg.), Biblical Ethics and Application: Purview, Validity, and Relevance of Biblical Texts in Ethical Discourse (WUNT I/ 384), Tübingen 2017, 75 - 90. 26 Darauf verweist bereits die Geschichte des neutestamentlichen Kanons von Bruce M. Metzger, The Canon of the New Testament. Its Origin, Development, and Significance, Oxford 2 1997), 113 - 239. 27 Zur Geschichte der Anerkennung der Johannesapokalypse in den neutestamentlichen Kanon u. a. Karrer, Johannesoffenbarung (s. Anm. 25), 108 - 135. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 14 Tobias Nicklas einigen Handschriften der 3. Korintherbrief als kanonische Schrift behandelt werden. 28 Zu denken ist hier u. a. daran, dass sicherlich nicht allen Christ: innen in gleicher Weise ein Bewusstsein vom Bestehen, dem Umfang und der Bedeutung dieses Kanons zukam. Dies wiederum liegt sicherlich an einer weiteren wichtigen Differenzierung - der Differenzierung zwischen dem Vorliegen einer Vollbibel in materialer Form und der Idee eines abgeschlossenen Kanons. Selbst da, wo der Kanon (wenigstens theoretisch und von einigen) als abgeschlossen verstanden wird, bedeutet(e) es keineswegs, dass überall Vollbibeln in gleicher Weise zugänglich waren. 29 Dies gilt natürlich zunächst einmal für einzelne Christ: innen, von denen bis in unsere Zeit hinein viele nicht in der Weise lesen können oder die Gelegenheit haben zu lesen, wie sich dies Akademiker: innen aus Mitteleuropa „ leisten “ können zu tun. Dies liegt bis weit ins Mittelalter hinein einfach daran, dass die Produktion eines so komplexen Buchs wie einer Vollbibel so aufwändig, aber auch teuer war, dass selbst viele Gemeinden sich offenbar solche Vollbibeln nicht oder nur mit einiger Mühe leisten konnten. Selbst wo solche Bibeln aber vorhanden waren, waren sie nicht immer und nicht immer in gleicher Weise zugänglich. Dies ist nur einer der Gründe dafür, dass es sinnvoll ist, zwischen der Bibel (oder auch nur dem Neuen Testament) als einer materialen Größe (also dem konkreten, zuallermeist in Form eines Codex gebundenen Buches) und als einer virtuellen Größe zu unterscheiden. 30 Diese zweite Ebene, auf die besonders Andreas Merkt verwiesen hat, 31 beschreibt eine Art von mentaler Struktur im sozialen, womöglich auch „ kulturellen Gedächtnis “ 32 vieler Christ: innen, die individuell höchst 28 Zu Besonderheiten der Kanongeschichte in Armenien siehe Vahan S. Hovhanessian, New Testament Apocrypha and the Armenian Version of the Bible, in: ders., The Canon of the Bible and the Apocrypha in the Churches of the East (Bible in the Christian Orthodox Tradition 2), New York u. a. 2012, 63 - 88 (mit ausführlichen Informationen auch zum 3 Kor in Armenien). 29 Aufschlussreich hierzu die Überlegungen zum Auftrag Konstantins, Vollbibeln für Konstantinopel zu produzieren, bei T. C. Skeat, The Codex Sinaiticus, the Codex Vaticanus and Constantine [1999], in: The Collected Writings of T. C. Skeat, introduced and edited by J. Keith Elliott (NT.S 113), Leiden/ Boston 2004, 193 - 237, hier 215 - 234. 30 Wie sehr der Begriff „ Bibel “ an sich in den vergangenen Jahren auf verschiedenen Ebenen neu problematisiert wurde, zeigen die unterschiedlichen Beiträge des Bands von Karin. Finsterbusch/ Armin Lange (Hg.), What is Bible? (CBET 67), Leuven 2012. 31 Vgl. Andreas Merkt (mit Tobias Nicklas und Joseph Verheyden), Das Novum Testamentum Patristicum (NTP). Ein Projekt zur Erforschung von Rezeption und Auslegung des Neuen Testaments in frühchristlicher und spätantiker Zeit, in: Early Christianity 6 (2015) 573 - 595, hier 579. 32 Die Verwendung dieses Begriffs ist natürlich inspiriert von Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 3 2000. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen 15 unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Biblische Textpassagen, besonders Erzählungen, Motive, Figuren, Themen u. a. können mehr oder minder präzise erinnert werden, ohne dass sie dabei auswendig gelernt werden müssten. Dabei ist es nicht immer nötig, zu wissen, aus welchem Evangelium oder welchem Brief welcher Satz oder welche Passage in welcher konkreten Formulierung stammt. Die Elemente, die Teil einer solchen virtuellen Bibel sind, werden über verschiedene Medien vermittelt. Das Lesen des Buchs Bibel bildet nur einen Aspekt des Ganzen; die Feier von Ritualen, in denen biblische Texte, Motive, Figuren und Themen begegnen, spielen dabei mindestens genauso eine Rolle wie Elemente materialer Kultur, Bilder und Bildzyklen, durch Architektur erschaffene Räume, Musik und heute auch Medien wie Filme. Entscheidend zum Verständnis dieser Vorstellung einer „ virtuellen “ Bibel ist, dass jedes der genannten Medien zwar auf unterschiedliche Weise wirkt, dass diese aber nicht einfach nebeneinanderstehen, sondern sich gegenseitig intermedial beeinflussen. Der geschriebene Text muss dabei nicht immer der erste oder entscheidende Bezugspunkt sein - und diese Formen der Rezeption führen dabei nicht einfach einlinig z. B. vom Text zu Ritus, Musik und/ oder Bild. 33 Wo geschriebene Texte wichtig sind - so wie das bereits in der Antike v. a. bei gelehrten Exegeten der Fall war - , zeigen sich wiederkehrende Muster von Assoziationen zu bestimmten biblischen Themen. Gleichzeitig verschwimmen die Grenzen zwischen dem, was als biblisch, und dem, was als parabiblisch wahrgenommen wird. Themen, Motive und Figuren aus biblischen Texten und parabiblischen Traditionen können so nebeneinander und miteinander verbunden zum Ausgangspunkt von Argumentationsstrukturen, Erzähl- und Bildwelten, aber auch liturgischer und freier „ Inszenierungen “ werden, die zwar mit der Bibel verbunden und von ihr inspiriert, jedoch nicht einfach in einer schriftlich niedergelegten Bibel zu finden sind. 4. Christliche Apokryphen und parabiblische Traditionen 34 Im bisherigen Verlauf des Beitrags habe ich die Begriffe „ apokryph “ , „ außerkanonisch “ und „ parabiblisch “ weitgehend austauschbar verwendet, dabei aber zwischen Texten und Traditionen differenziert. Gerade weil der Begriff „ apokryph “ aufgrund der Geschichte seiner Verwendung seit der alten Kirche belastet von Vorurteilen ist, 35 ist es nötig, mit ihm in möglichst reflektierter 33 Man könnte in diesem Zusammenhang deswegen von Entangled Traditions (Stephanie Hallinger, mündliche Kommunikation) sprechen. 34 Wichtige Aspekte des Folgenden auch in Nicklas, Beyond Canon Project (s. Anm. 41). 35 Beispiele bei Markschies, Haupteinleitung (s. Anm. 9), 18 - 22. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 16 Tobias Nicklas Weise umzugehen. Zwar ist es sicherlich kein Problem, neutestamentliche (oder christliche) Apokryphen zunächst einmal als Evangelien, Apostelerzählungen, Apostelbriefe und Apokalypsen sowie all diesen Gattungen verwandte Schriften anzusehen, die nicht Teil des neutestamentlichen Kanons geworden sind. Damit aber ist die Vielfalt und wenigstens teilweise auch die Eigenständigkeit dessen, was wir als Apokryphen bezeichnen können, noch nicht voll erfasst. Die von Christoph Markschies formulierte Definition christlicher Apokryphen geht deswegen noch einen Schritt weiter. Markschies schreibt: „ Apokryphen “ sind jüdische und christliche Texte, die die Form kanonisch gewordener biblischer Schriften aufweisen oder Geschichten über Figuren kanonisch gewordener biblischer Schriften erzählen oder Worte solcher Figuren überliefern oder von einer biblischen Figur verfaßt sein wollen. Sie sind nicht kanonisch geworden, sollten dies aber teilweise auch gar nicht. Teilweise waren sie auch ein genuiner Ausdruck mehrheitskirchlichen religiösen Lebens und haben oft Theologie wie bildende Kunst tief beeinflußt. 36 Ich selbst habe den Versuch unternommen, einen bewusst aus heutiger literaturwissenschaftlicher Perspektive formulierten „ Apokryphen “ -Begriff zu umschreiben, der möglichst offen bleiben soll. 37 Dabei betone ich die enge hypertextuelle Beziehung apokrypher Texte zu neutestamentlichen (bzw. biblischen) Schriften und, damit verbunden, in ihnen begegnenden Figuren, Themen und Motiven. 38 Welche der beiden Definitionen man auch immer zugrunde legt: die literarische Beziehung zwischen christlichen Apokryphen und biblischen, v. a. neutestamentlichen Schriften wird als so bedeutsam angesehen, dass apokryphe Schriften als Texte verstanden werden können, die an der biblischen Denk- und Erzählwelt partizipieren. Wichtig für beide Definitionen ist, dass sie einen Apokryphen-Begriff einzuführen suchen, der so weit wie möglich von Vorurteilen absieht, die gerne mit diesen Schriften verbunden werden. Das griechische Wort apokryphos bedeutet zunächst einmal „ verborgen “ oder „ geheim “ . 39 Von groß- oder mehrheitskirchlichen Autoren, die sich selbst als „ orthodox “ , d. h. „ rechtgläubig “ definierten, wurde es verwendet, um Schriften abzuqualifizieren, die von Autoren verfasst wurden, die als „ häretisch “ , also nicht rechtgläubig, angesehen wurden. Mit der Bezeichnung einer Schrift als „ apokryph “ geht in diesem Sprachgebrauch 36 Markschies, Haupteinleitung (s. Anm. 9), 114. 37 Zum Folgenden ausführlicher Tobias Nicklas, Semiotik - Intertextualität - Apokryphität. Eine Annäherung an den Begriff „ christlicher Apokryphen “ , in: Apocrypha 17 (2006) 55 - 78. 38 Zu Hyperund, damit verbunden, Hypotextualität vgl. Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a. M. 1993, 14 f. 39 Zum Folgenden vgl. auch Markschies, Haupteinleitung (s. Anm. 9), 18 - 21. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen 17 zudem sehr häufig ihre Einschätzung als „ Fälschung “ einher. Umgekehrt aber gibt es auch Schriften, die sich selbst als „ apokryph “ im Sinne von „ geheim “ bezeichnen und die damit den Anspruch stellen, besonderes, nur einer Elite zugängliches Wissen zu vermitteln. Zu diesen Texten gehört z. B. das Thomasevangelium, in dessen Incipit wir lesen: Dies sind die verborgenen (= apokryphen! ) Worte, die Jesus der Lebendige sagte, und Didymos Judas Thomas schrieb sie auf. Solche Schriften verbanden mit der Selbstbezeichnung als „ apokryph “ offenbar einen besonderen Anspruch; Teil eines allgemein verbindlichen, für alle zugänglichen Kanons wollten Texte, die solches elitäres Wissen zu vermitteln suchten, kaum werden. 40 Beides zeigt: So sehr es aus rein pragmatischen Gründen sinnvoll sein mag, den Begriff „ Apokryphen “ beizubehalten, so sehr bleibt er problematisch. Die Vorurteile, die weiter an ihm haften, behindern die notwendige neutrale Auseinandersetzung mit diesen Texten; und zudem galten viele Schriften, die wir mit den oben genannten Definitionen als „ apokryph “ einordnen, in der Antike gar nicht als „ apokryph “ in einem der beiden beschriebenen Sinne. 41 Eine Alternative zu den Begriffen „ apokryph “ und „ Apokryphen “ , die zunehmend verwendet wird, bieten die Begriffe „ parabiblisch “ und „ Parabiblica “ , die sehr schön das in beiden Definitionen zum Ausdruck gebrachte literarische Verhältnis zu den Texten der Bibel „ einfangen “ . Bereits die Rede von der Bibel, die nicht nur als materiale, sondern auch als mentale oder virtuelle Größe existiert, bietet den Anstoß, auch im Zusammenhang mit der Rede von Parabiblica den häufig zu engen Blick auf Texte alleine zu öffnen und, wie oben bereits vereinzelt geschehen, von parabiblischen Traditionen zu sprechen: In vielen Fällen zeigt sich, dass die Funktion parabiblischer Texte erst dann verstehbar wird, wo sie als Teil eines komplexeren Zueinanders von Textzeugnissen und anderen Medien (von Liturgie und „ Performance “ bis hin zu Aspekten materieller Kultur wie Bildern, geographischen wie architekto- 40 Weiterführend hierzu (mit weiteren Beispielen) Tobias Nicklas, „ Apokryph gewordene “ Schriften? Gedanken zum Apokryphenbegriff bei großkirchlichen Autoren und in einigen „ gnostischen “ Texten, in: Jacob A. van den Berg u. a. (Hg.), In Search of Truth. Augustine, Manichaeism, and Gnosticism. Studies for Johannes van Oort at Sixty (NHMS 74), Leiden/ Boston 2011, 547 - 565. 41 Viele von ihnen wären in der Antike einer dritten Kategorie von Texten zugeordnet worden, Schriften, die durchaus (wenigstens in bestimmten Kontexten) gelesen und verwendet werden konnten, die aber nicht dem Kanon zugerechnet wurden. Hierzu besonders François Bovon, Beyond the Canonical and the Apocryphal Books, the Presence of a Third Category. The Books Useful for the Soul, in: ders., The Emergence of Christianity. Collected Studies III (WUNT I/ 319), Tübingen 2013, 147 - 160. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 18 Tobias Nicklas nischen Strukturen, ja „ Dingen “ ) verstanden wird. 42 Die Verwendung von Texten im Kontext von Riten oder gar ihre Inszenierung in verschiedensten Formen von Performance an bestimmten Orten und zu festgesetzten Zeiten, das Zueinander von Bildern (und Bildkompositionen) zu daraus entstehenden Räumen, die Deutung von Dingen durch Texte, Riten oder Bilder lassen in vielen Fällen überhaupt erst beschreiben, welche Bedeutung parabiblischen Literaturen einst zugekommen ist und ihnen zum Teil noch zukommt. Wo dies erkannt wird, ist es sinnvoll, von parabiblischen Traditionen zu sprechen, die in ihrem Vollsinn erst dann erfasst sind, wo die verschiedenen Medien, die an ihnen partizipieren, in angemessener Form miteinander in Bezug gesetzt werden. Dabei ist zu beachten, dass der Dimension „ Text “ keineswegs immer und überall der Vorrang gegeben werden muss. Traditionen um das so genannte „ Quellwunder des Petrus “ sind zunächst einmal ikonographisch (weit) früher bezeugt als schriftlich erwähnt. 43 Das in orthodoxer Ikonographie regelmäßig begegnende Motiv einer Waschung des neugeborenen Jesus durch (mindestens) eine Hebamme taucht in keinem apokryphen Kindheitsevangelium in schriftlicher Form auf. Wo mehrere Medien eine Tradition bestimmen, ist damit nicht einfach der Text einseitig sinnspendend; stattdessen erzeugt erst das gegenseitige Zueinander der durch die Medien vermittelten Zeichen für die Stiftung von Sinn. Mit anderen Worten: Wo sie ernst genommen wird, wirkt „ Inter “ - Medialität in mehrere Richtungen gleichzeitig! 44 Dann aber kann eine noch einmal weiterführende Definition formuliert werden: Parabiblische Traditionen sind durch das Zueinander verschiedener Medien (Texte, Dinge, Bilder, Riten etc.) bestimmte Konstellationen, die an der imaginierten Welt der Bibel teilhaben, jedoch nicht vollkommen in ihr aufgehen, sondern diese in neue Kontexte hinein aktualisieren, ja präsentieren. Diese Konstellationen sind keineswegs stabil, sondern entstehen erst durch die in ihrer Rezeption gebildeten mentalen Räume, d. h. in der Vorstellungskraft derer, die sie in Verbindung miteinander setzen. 42 Aspekte des Folgenden finden sich auch in dem Beitrag Tobias Nicklas, Von neutestamentlichen Apokryphen und parabiblischen Traditionen, in: Claudio Zamagni (Hg.), Apocrypha, Tradizioni segrete, eccesso di senso, Rom 2024 (Manuskript eingereicht). 43 Die motivischen Verbindungen zu den Quellwundern des Mose sind (ebenfalls auch auf ikonographischer Ebene) deutlich. Vgl. Jutta Dresken-Weiland, Bild, Grab und Wort. Untersuchungen zu Jenseitsvorstellungen von Christen des 3. und 4. Jahrhunderts, Regensburg 2010, 119 - 135. Das Motiv wird erst in sehr späten Apostelerzählungen in Verbindung mit Rom aufgenommen, dem Martyrium des Petrus nach Pseudo-Linus) sowie der Passio der Hl. Processus und Martinianus. 44 Ich verdanke diesen Gedanken Stefan Alkier (mündliche Kommunikation). Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen 19 5. Der Kommunikationsraum zwischen biblischem Kanon und parabiblischen Traditionen Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen ist es möglich, das Verhältnis zwischen biblischen Texten und parabiblischen Traditionen neu zu bestimmen. Sobald wir uns von der Vorstellung lösen, dass die Bibel alleine als ein fest gebundenes Buch zu denken ist, müssen wir auch über das Bild der Grenze zwischen Bibel und parabiblischen Traditionen neu nachdenken. Angemessener erscheint stattdessen die Vorstellung eines durch verschiedenste Formen der Kommunikation erzeugten Raums - oder besser: einer Unzahl solcher Raumkonstellationen, innerhalb derer sich Traditionen bewegen können, die weder eindeutig kanonisch noch eindeutig außerkanonisch sind. Diese Raumkonstellationen sind mehrdimensional. Sie ändern sich fortdauernd in hoch dynamischer Weise: 1. Dass die „ Grenze “ zwischen konkret biblischen und nicht-biblischen Texten durchlässiger sind, als wir üblicherweise vermuten, zeigt sich bereits da, wo wir uns auf Geschriebenes beziehen. Auch da, wo der Kanon klar abgesteckt und definiert ist, gleicht keine Handschrift der Bibel, aber auch keine moderne Bibelausgabe der anderen. „ Parabiblische Elemente “ können auf verschiedenen Ebenen eindringen - denken wir nur an Texte wie die normalerweise als Joh 7,53 - 8,11 eingeordnete Erzählung von der Ehebrecherin oder den langen Markusschluss (Mk 16,9 - 20). 45 Die Entscheidung, ob solche Texte als Teil des Neuen Testaments zu verstehen sind oder nicht, ist keineswegs trivial. 2. Sobald biblische Erzählungen, Motive, Figuren oder Themen in Medien jenseits verschrifteter Texte übertragen werden, stellt sich eine grundsätzliche Frage: Kann die Repräsentation eines biblischen Texts (oder einer Kombination biblischer Texte) in Liturgie, Drama, Ikonographie oder in der Kombination textueller und ikonographischer Elemente beanspruchen, dem in den Erzählungen, die wir in kanonischen Texten finden, Gebotenen voll zu entsprechen? Oder bietet bereits die Vermittlung in einem anderen Medium an sich Elemente, die in einen Kommunikationsraum jenseits des Kanons führen? Ich gehe davon aus, dass Letzteres der Fall ist. Damit aber zeigt sich erneut, wie wenig sinnvoll das Bild einer scharfen Trennlinie zwischen Kanonischem und Außerkanonischem ist. Dies wiederum führt dazu, dass auch der bereits entstandene und abgeschlossene biblische Kanon auch in geographischen wie historischen Kontexten jenseits seiner Entstehung (oder gar jenseits der Entstehung seiner Einzeltexte) lebendig bleibt. Mit anderen Worten: Auch dem bereits abge- 45 Interessantes Beispiele auch bei Thomas J. Kraus, Thecla and the Acts of Thecla. Searching for Traces in the Manuscript Tradition, in: Nicklas/ Spittler/ Bremmer (Hg.), The Apostles Peter, Paul, John, Thomas and Philip (s. Anm. 74), 118 - 150. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 20 Tobias Nicklas schlossenen Kanon kommt eine Geschichte zu, die zu schreiben ohne die Arbeit an Kommunikationsräumen wie dem eben Beschriebenen - und damit ohne die Arbeit an außerkanonischen Traditionen - unmöglich ist. 46 6. Gedanken zur Geschichte des bereits abgeschlossenen Kanons Dass dem Kanon auch nach seinem Abschluss eine Geschichte zukommt, dass entscheidende Aspekte dessen, was man als „ kanonischen Prozess “ bezeichnet hat, 47 auch nach dem Abschluss des Kanons weitergehen müssen, hat Gründe. Zwar repräsentieren die Schriften des Kanons eine Vielzahl von Stimmen. 48 Diese Stimmen wiederum sind aufgrund ihrer Pluralität und Polysemie, aber auch aufgrund der Vielfalt von Situationen, in die sie hineinsprechen, bleibend der Interpretation aufgegeben. Trotzdem bieten die Texte des biblischen Kanons nicht in jedem der sich durch die Geschichte immer verändernden, in verschiedenen geographischen Räumen (von lokaler bis weltweiter Ebene) unterschiedlich zu beschreibenden Denk- und Diskursräume Antworten auf jede neue Frage, die sich in den Gemeinschaften ergibt, für die der Kanon relevant ist. Wo derartige Fragen in Bezug auf biblische Text-, Motiv- und Denkwelten beantwortet werden wollen, erzeugen sie Strukturen der Kommunikation, die gleichzeitig in Räume jenseits des Kanons hineinreichen und mit diesem eng verbunden bleiben. Ein großer Teil der Traditionen, die wir heute als parabiblisch bezeichnen, steht in Bezug zu solchen Kommunikationsräumen. Damit haben wir wichtige Voraussetzungen, um zu der These zurückzukommen, dass auch dem bereits bestehenden Kanon eine Geschichte zukommt: 1. Zur Rekonstruktion dieser Geschichte sind zunächst Prozesse der Gewichtung, Deutung und Einordnung von einzelnen Texten der Schriften zu beschreiben: In der Spätantike und im Mittelalter wurde das Matthäusevangelium 46 Grundsätzliche Überlegungen auch in Tobias Nicklas, Kanon und Geschichte. Eine Thesenreihe, in: Sacra Scripta 15 (2017) 90 - 114 sowie ders., The Interaction of Canon and History, in: Ihab Saloul/ Jan Willem van Henten (Hg.), Martyrdom. Canonization, Contestation and Afterlives, Amsterdam 2020, 33 - 54. 47 Meist wird der Abschluss des Kanons als Einschnitt angesehen, der dem „ kanonischen Prozess “ ein Ende setzt. Siehe z. B. James A. Sanders, The Issue of Closure in the Canonical Process, in: ders./ Lee M. McDonald (Hg.), The Canon Debate, Peabody 2002, 252 - 263. Dies ist m. E. nur zum Teil zutreffend. 48 Der Gedanke der Vielstimmigkeit biblischer Texte ist inspiriert durch Michail Bachtin und seine Beobachtungen zur Dialogizität moderner Literatur, er ist aber auch in besonderem Maße passend für den komplexen „ Text “ Bibel, der eben nicht alleine im Bild einer „ Bibliothek “ von Schriften aufgeht. Einführend hierzu z. B. Matthias Aumüller, Michail Bachtin, in: Matías Martinez/ Michael Scheffel (Hg.), Klassiker der modernen Literaturtheorie. Von Sigmund Freud bis Judith Butler, München 2010, 105 - 126. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen 21 zu dem Evangelium, das am meisten und intensivsten rezipiert wird. Lange Zeit stand das MkEv in seinem Schatten. Wenigstens ansatzweise haben sich die Gewichte heute verschoben: Wo Mk als der älteste erhaltene Entwurf einer Jesus-Christus-Erzählung wahrgenommen wird, rückt die Leistung seines Autors mehr in den Vordergrund als je zuvor. Das Matthäusevangelium dagegen ist dann in der Gefahr, mehr als bisher als literarisch abhängig in seinem Verhältnis zum Markusevangelium wahrgenommen zu werden. Auch die wachsende Sensibilität gegenüber dem antijüdischen Potenzial manch neutestamentlicher Schriften führte dazu, bestimmte Aussagen des (gleichzeitig so jüdischen! ) Matthäusevangeliums in deutlich distanzierterer Weise zu lesen als noch Jahrhunderte zuvor. Mt bleibt unumstritten kanonisch - und doch verändert sich sein Gewicht. Ähnliches lässt sich am Beispiel der Johannesapokalypse skizzieren: Wird sie, als Abschluss des kanonischen Neuen Testaments, als eine Art Fortsetzung der Kirchengeschichte gelesen, die vom jetzigen Leid in den abschließenden Triumph der Anhänger Christi im himmlischen Jerusalem führt? Dies ist sicherlich eine klassische Weise, den Text zu verstehen, die sicherlich ein Grund dafür war, sie an das Ende des biblischen Kanons zu setzen. Oder soll sie, wie heute häufig geschehen, als Krisenliteratur gedeutet werden, deren Stimme auch politisch Relevantes gegen Systeme von Unterdrückung und Diktatur zu sagen hat? 49 Oder sind Aussagen von ihr (z. B. zu Frauen) als aggressiv oder Gewalt verherrlichend geradezu aus dem Kanon zu entfernen (oder zumindest so weit wie möglich aufzufangen und zu relativieren)? 2. Damit aber ist ein grundsätzliches Problem angesprochen, das sich eng mit der Frage nach der Geschichte des bereits bestehenden Kanons verbinden lässt: in den kanonisch gewordenen Schriften befinden sich zahlreiche Aussagen, die wir heute aus sehr unterschiedlichen Gründen als höchst problematisch wahrnehmen. Die Frage wie wir damit heute umgehen sollen, lässt sich nicht beantworten, ohne die Frage zu berühren, was es denn bedeutet, dass solch inakzeptable Texte kanonisch sind. Sie lässt sich auf unterschiedliche Weisen lösen. All diese Lösungsversuche berühren auch den Gedanken, dass auch dem bestehenden Kanon noch eine Geschichte zukommen muss. Die auch hermeneutisch einfachste Möglichkeit ist es, das Gefahrenpotenzial von Textpassagen aus dem Kanon nicht den Texten selbst zuweisen, sondern einer Geschichte bewusster oder unbewusster Fehlinterpretationen dieser Texte. 50 Die Bibel 49 Hierzu ausführlicher Tobias Nicklas, The Apocalypse in the Framework of the Canon, in: Richard B. Hays/ Stefan Alkier (Hg.), Revelation and the Politics of Apocalyptic Interpretation, Waco, TX 2012, 143 - 153. 50 Dies ist ein Ansatz des engagierten Bands Hieke/ Huber, Bibel falsch verstanden (s. Anm. 85). Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 22 Tobias Nicklas müsse nur „ richtig verstanden “ werden, dann könnten die entscheidenden Probleme beseitigt werden. Dies mag in manchen Fällen tatsächlich funktionieren, in anderen dagegen nicht. Ich halte z. B. die Tatsache, dass man im Neuen Testament vergeblich nach Aussagen sucht, die sich eindeutig gegen Sklaverei wenden, zwar für historisch erklärbar, aber trotzdem für so problematisch, dass wir sie nicht einfach wegdiskutieren können. 51 Die Lösung solcher Probleme kann womöglich darin bestehen, diese Stimmen (mit Hilfe guter theologischerArgumentation) so weit wie möglich zum Schweigen zu bringen. 52 3. Eine dritte Ebene ergibt sich durch die veränderten Kontexte, innerhalb derer die Schriften des Kanons überliefert werden, und die auf ihre Deutung Einfluss nehmen. Die Schriften des Kanons haben in den vergangenen Jahrhunderten in auch kulturell höchst verschiedene Welten hineingewirkt; aus ihnen und um sie entstanden imaginierte Welten, die in verschiedenen Kontexten sehr unterschiedliche Formen annehmen können. Die Bibel wurde in höchst verschiedenen Kulturen dieser Welt gelesen und imaginiert, sehr unterschiedlich etwa in Teilen West- und Osteuropas, aber auch in Ländern wie China, Brasilien, Indien, Kamerun oder Papua-Neuguinea. Sie wird in verschiedensten Lebenskontexten, privat und zum Studium, in Schulen und Kindergärten, in der Erwachsenenbildung, der Liturgie oder in Bibelkreisen gelesen - und erzeugt dabei in ihrer Fülle unbeschreibbare imaginierte Welten, von denen wenigstens ansatzweise die verschiedensten Medien zeugen, in denen sich diese niederschlagen. 53 Diese imaginierten Welten aber sind nicht einfach nur Teil der Rezeptionsgeschichte, die von der Bibel bzw. dem Neuen Testament wegführt - sie beeinflussen umgekehrt wieder die vielen unterschiedlichen Lektüren des Neuen Testaments. So öffnen sich die Schriften des Kanons hin auf immer wieder neue Welten - und so tragen sich umgekehrt diese Welten in die Lektüre dieser Schriften ein. Prozessen der Öffnung stehen gleichzeitig jedoch immer auch Prozesse des Schließens gegenüber: Die Zahl der Schriften des neutestamentlichen Kanons ist seit der Spätantike zwar mehr oder minder abgeschlossen. Wie diese aber zu lesen sind und was sie bedeuten, wird seither diskutiert. Bereits in der Antike gibt es eine Vielzahl neuer Abgrenzungen: Im Bezug auf das Alte Testament wird das - alles andere als banale - Problem diskutiert, wie denn z. B. 51 Ich folge hier (in Bezug auf 1 Petr) Michael Sommer, Freiheit und Intellekt. Der 1. Petrusbrief und römisch-hellenistische Gelehrtendiskurse über Sklaverei, in: Early Christianity 12 (2021) 1 - 21, hier 21. 52 Vgl. auch Tobias Nicklas, Denk- und Kommunikationsräume jenseits und diesseits des Kanons, in: Marilou M. S. Ibita u. a. (Hg), Kindness, Courage, and Integrity in Biblical Texts and the Politics of Biblical Interpretation. Festschrift Reimund Bieringer (BETL 333), Leuven u. a. 2023, 263 - 278. 53 Dies berührt sich bewusst mit dem, was ich oben über parabiblische Traditionen schreibe. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen 23 die kultischen Vorschriften der Tora zu deuten sind, die der Praxis vieler Christusanhänger: innen widersprachen. Ein (höchst problematisches) Beispiel dafür, wie das geschehen sollte, bietet etwa der Barnabasbrief des frühen zweiten Jahrhunderts, eine Schrift, die ein wörtliches Verständnis vieler Vorschriften der Tora als rundweg falsch ablehnt. In intellektuellen Kreisen entwickelte sich (mit ersten Anfängen bereits im 2. Jahrhundert) im Dialog mit der Tradition der Auslegung bedeutender philosophischer Werke die Kommentierung frühchristlicher Schriften, bis heute eine der ehrenvollsten und wichtigsten Tätigkeiten wissenschaftlicher Exegese. Zumindest den Kommentaren, die der historisch-kritischen Tradition verpflichtet sind, geht es darum, eine der ursprünglichen Bedeutung des neutestamentlichen Texts so nahe wie möglich kommende Auslegung zu bieten. Dieser Prozess des Abschließens der Texte wiederum ist ohne begleitende Prozesse der Öffnung kaum denkbar: Schließlich bildeten Kommentare nie das Ende der Diskussion, sondern gaben überhaupt erst Anlass zu neuen Überlegungen. Neuere Zugänge zum Bibeltext betonen wiederum dessen Polyphonie gegen seine Verengung auf eine, angeblich ursprüngliche Bedeutung. 7. Statt eines Fazits: Zurück zum Ausgangspunkt Der Beitrag zielt darauf ab, dass so selbstverständlich erscheinende Begriffe wie „ Bibel “ , „ biblische Texte und Traditionen “ , „ Kanon “ , „ Kanongeschichte “ und „ Autorität biblischer Schriften “ nun weniger klar zu fassen sind als vorher. Denn nur wenn wir über diese Begriffe und ihre Bedeutung nachdenken, können wir einige Grundfragen christlicher Theologie besser erfassen als bisher: Was bedeutet es, kanonische Schriften zum Referenzpunkt theologischen Denkens zu machen? Wie können wir die Rede von der Inspiration biblischer Schriften mit den Beobachtungen zur fortschreitenden Geschichte des Kanons in Einklang bringen? Und wie können wir von inspirierten Schriften sprechen, wenn diese sich in der Geschichte auch als höchst gefährlich erweisen konnten und sie Passagen beinhalten, die z. B. aus ethischen Gründen nicht akzeptabel erscheinen? Wie verhält sich die Verantwortung von Ausleger: innen des NT gegenüber dem Text, welcher in einem Bezug zu Gottes Wort steht, zu der Verantwortung gegenüber den Adressat: innen von Interpretationen der Bibel, Menschen also, die an und in diesen Texten Orientierung finden wollen? Wo kann eine Ethik der Auslegung biblischer Schriften ihren Ausgangspunkt nehmen, wenn die Schriften der Bibel polysem und vieldeutig, ja in Teilen gefährlich sind? Was bedeutet es von der Bibel zu sprechen, wo klar wird, dass diese nicht nur als materiales Objekt, sondern auch (und in vielen Kontexten zuallererst) als virtuelle, mentale Größe zu begreifen ist? Immer wieder zu Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 24 Tobias Nicklas Punkten wie diesen zurückzukommen hat, wie ich denke, mit dem Wesen christlicher Theologie zu tun. © Stephanie Hallinger Tobias Nicklas ist Professor für Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments und Direktor des Centres for Advanced Studies „ Beyond Canon “ an der Universität Regensburg. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit christlichen Apokryphen, Fragen der Kanongeschichte und Hermeneutik, apokalyptischer Literatur und Apostel-Erinnerungen. Er ist Autor von mehr als 250 wissenschaftlichen Publikationen. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0001 Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen 25
