ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2023-0003
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2023
2651
Dronsch Strecker VogelDie Euthaliana und die Katholischen Briefe
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2023
Kelsie G. Rodenbiker
Garrick V. Allen
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Die Euthaliana und die Katholischen Briefe 1 Trends, Themen und Thesen Kelsie G. Rodenbiker und Garrick V. Allen Jedes Mal, wenn wir eine Bibel in einer modernen Sprache in die Hand nehmen, sehen wir viel mehr als nur den schlichten Text. Unsere Begegnungen mit der Bibel sind geprägt von den vielen Elementen, die Herausgeber und Verleger zwischen den beiden Buchdeckeln platziert haben, darunter Dinge wie Vorworte, Register, Querverweise, Seitenzahlen, Inhaltsverzeichnisse, rechtliche Hinweise sowie Kapitel- und Versunterteilungen, Absatzoptionen, Untertitel, Hinweise auf Textvarianten und erläuternde Anmerkungen, um nur einige zu nennen. Die Bücher, die wir lesen, sei es die Bibel oder sei es andere Literatur, sei es ein gedrucktes Buch oder ein digitaler Text auf dem Bildschirm, werden von solchen „ Paratexten “ geprägt - im wahrsten Sinne des Wortes also den Dingen, die „ um den Text herum “ erscheinen und Einfluss auf unsere Interpretationen nehmen. 2 Paratexte in modernen Bibeln ändern sich regelmäßig; sie sind so gestaltet, dass sie sich an bestimmten Weisen, sich mit dem Text auseinanderzusetzen, orientieren oder ein spezielles Publikum - heute sicherlich mehr und mehr ein Nischenpublikum - ansprechen. Paratexte sind allgegenwärtig, aber unsichtbar. Wie eine Schwelle oder ein Tor ermöglichen sie Zugang zu den und Verständnis der Texte, die sie umrahmen. All dies verdankt sich nicht einfach der Erfindung moderner Verlage oder Herausgeber von Bibelausgaben. Stattdessen geht fast alles, was wir in, bei und 1 Research for this publication received support from the Titles of the New Testament: A New Approach to Manuscripts and the History of Interpretation (TiNT) project, funded by the European Research Council (ERC) under the European Union ’ s Horizon 2020 research and innovation programme (grant agreement No. 847428). 2 Allgemein zu Paratexten vgl. Gérard Genette, Paratexts. Threshold of Interpretation, übersetzt von Jane E. Lewin/ Richard Macksey, Cambridge 1997. Zu Paratexten in biblischen Handschriften vgl. Garrick V. Allen, Manuscripts of the Book of Revelation. New Philology, Paratexts, Reception, Oxford 2020, 46 - 52. um moderne Bibeln finden, bereits auf antike oder mittelalterliche Vorläufer zurück. Aufgrund seines Einflusses und seiner weiten Verbreitung entwickelte sich im Zusammenhang mit dem Neuen Testament eine reiche paratextuelle Tradition, die einige hochentwickelte Systeme für bestimmte Werke umfasst: Den Eusebianischen Apparat von Querverweisen für die vier kanonischen Evangelien, den Kommentar des Andreas von Caesarea und die damit verbundene Tradition der Untergliederung für die Johannesapokalypse und den Euthalianischen Apparat für die Apostelgeschichte, das Corpus Paulinum und die Katholischen Briefe. 3 Von diesen Systemen ist das Euthalianische Material das am wenigsten verstandene und doch das in den Manuskripten am weitesten verbreitete. Laut der Untersuchung von Louis Charles Willard erscheinen Teile dieses Systems in 99 % aller ihm vorliegenden Handschriften der Katholischen Briefe. 4 Das Euthalianische Material ist weit verbreitet; es findet sich in Hunderten griechischer Handschriften und mehreren Versionen des Neuen Testaments, darunter syrischen, georgischen, gotischen, armenischen und lateinischen Versionen. 5 Nach einer Zeit intensiven Interesses an diesem Material (etwa zwischen den Jahren 1885 und 1920) 6 wurde der Euthalianischen Tradition und ihren Eigenschaften, die wir Euthaliana nennen, nur sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Die neutestamentliche Forschung ist den Euthaliana weitgehend aus dem Weg gegangen, da über Zeit und Kontext ihrer Produktion nicht viel gesagt werden kann, sie in den Manuskripten weitgehend 3 Vgl. z. B. Matthew Crawford, The Eusebian Canon Tables: Ordering Textual Knowledge in Late Antiquity, Oxford 2019. Zum Euthalianischen Material siehe die bedeutenden Arbeiten von Nils Alstrup Dahl, The „ Euthalian Apparatus “ and the Affiliated „ Argumenta “ , in: David Hellholm/ Vermund Blomkvist/ Tord Fornberg (Hg.), Studies in Ephesians (WUNT I/ 131), Tübingen, 2000, 231 - 275; Louis Charles Willard, A Critical Study of the Euthalian Apparatus (ANTF 41), Berlin 2009, und Vemund Blomkvist, Euthalian Traditions. Text, Translation and Commentary (TU 170), Berlin 2012. 4 Willard, Critical Study (s. Anm. 2), 158 - 169. Dahl, Euthalian Apparatus (s. Anm. 2), 253 wiederholt diesen Punkt: Von den 316 untersuchte Exemplaren der Katholischen Briefe haben 313 die zu diesem System gehörigen hypotheses. 5 Vgl. den Überblick bei Willard, Critical Study (s. Anm. 2), 95 - 108; Günther Zuntz, The Ancestry of the Harklean New Testament, London, 1945 sowie Neville Birdsall, The Euthalian Material and its Georgian Versions, in: ders. (Hg.), Collected Papers in Greek and Georgian Textual Criticism (Texts and Studies 3), Piscataway 2013, 215 - 242. 6 Der Impuls für das Interesse an diesem System ging von der Edition von Codex Coislinianus (bekannt auch als Codex H oder GA 015) durch Henri Omont, Notice sur un très ancient manuscript grec en onciales des Épîtres de saint Paul, Paris 1889, aus. Vgl. hierzu auch die Anmerkungen bei Garrick V. Allen, Early Textual Scholarship on Acts. Observations from the Euthalian Quotation Lists, in: Religions 13 (2022), art. 435, https: / / doi.org/ 10.3390/ rel13050435. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 40 Kelsie G. Rodenbiker und Garrick V. Allen anonym überliefert und sie gleichzeitig technisch anspruchsvoll sind. 7 Hinzu kommt, dass seit 1698 keine Ausgabe dieses Materials mehr publiziert wurde. 8 Das Ziel dieses Beitrags ist, das Euthalianische Material vorzustellen und zu untersuchen, welche Konzepte und Vorstellungen von Kanon und Kanonizität ihm zugrunde liegen. Dabei wird sich zeigen, dass das Zeugnis der Euthaliana in spannender Weise als ambivalent gesehen werden kann. Wir untersuchen dies am Beispiel der Katholischen Briefe. Dies hat z. T. auch damit zu tun, dass die Bedeutung gerade dieser Sammlung in der Euthalianischen Tradition bisher praktisch nie wissenschaftlich untersucht wurde; fast alle bisherigen Studien zur Euthalianischen Tradition beschäftigten sich alleine mit Paulus. Dagegen sind die Katholischen Briefe, wenn es um Fragen des Kanons geht, eine in vieler Hinsicht problematische Teilsammlung. 9 Zunächst jedoch müssen wir überhaupt erst verstehen, worum es sich bei der Euthalianischen Tradition überhaupt handelt. Dies ist gar nicht einfach zu erklären. In seinem programmatischen Artikel, in dem er die Euthalianischen Elemente für die paulinischen Briefe untersucht, verwendete Nils A. Dahl 45 Seiten dafür, ihre Beziehungen zu anderen Teilen des Systems, ihre diachrone Entwicklung und ihr Verhältnis zu anderen Aspekten der Untersuchung der Textgeschichte der paulinischen Briefe darzustellen. 10 Dahls Untersuchung 7 Es gibt viele Gründe für die Vernachlässigung der Euthaliana: Wissenschaftler, die sich für diese Periode interessieren, kamen nicht zu einem Konsens über die Frage, wer diese Traditionen kompiliert hatte (die meisten Manuskripte sind anonym, mit diesen Eigenschaften aber wird eine Vielzahl von Namen assoziiert), über die Zeit, in der diese Arbeit fertiggestellt wurde, wie auch den Ort der Produktion. Ohne klare Herkunftsdaten aber ist es überaus schwierig, das komplexe Material zu kontextualisieren. Zur Forschungsgeschichte vgl. Blomkvist, Euthalian Traditions (s. Anm. 2), 8 - 33, sowie Günther Zuntz, Euthalius = Euzoius? In: VigChr 7 (1953), 16 - 22; Theodor Zahn, Neues und Altes über den Isagogiker Euthalius, in: NKZ 15 (1904), 375 - 390; J. Armitage Robinson, Euthaliana. Studies of Euthalius, Codex H of the Pauline Epistles, and the Armenian Version, Cambridge 1895, und F. C. Conybeare, The Date of Euthalius, ZNW 5 (1904), 39 - 52. 8 Lorenzo Alessandro Zacagni, Collectanea monumentorum veterum ecclesiæ græcæ, ac latinæ, quæ hactenus in Vaticana Bibliotheca delituerunt, Rome 1698. Diese Edition wurde später von vielen anderen reproduziert, darunter Gallandi (1774), Migne (PG 85, 1864) und von Soden (1902). Sie ist die Grundlage der englischen Übersetzung einiger ihrer Teile bei Blomkvist, Euthalian Traditions (s. Anm. 2). 9 Dies hat v. a. mit Fragen nach ihrer Autorschaft zu tun. Vgl. Eusebius, Historia ecclesiastica 2,23,25.3,3,1 - 4.3,24,17 - 18.3,25,1 - 7; Hieronymus, De viris illustribus 1,2,4,9. Zur Rolle der Katholischen Briefe in der Entstehung des neutestamentlichen Kanons vgl. Wolfgang Grünstaudl, Was lange währt … : Die Katholischen Briefe und die Formung des neutestamentlichen Kanons, in: Early Chistianity 7 (2016), 71 - 94, sowie (mit anderem Schwerpunkt) David R. Nienhuis, Not by Paul Alone. The Formation of the Catholic Epistle Collection and the Christian Canon, Waco, 2007. 10 Dahl, Euthalian Apparatus (s. Anm. 2), 231 - 275. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 Die Euthaliana und die Katholischen Briefe 41 wiederum stellte nur einen allerersten Anfang dar, um die Komplexität des Systems in den vielen hundert heute bekannten griechischen Handschriften zu erfassen; beruht sie doch noch in erster Linie auf der Edition Zacagnis aus dem Jahre 1698. Im Wesentlichen handelt es sich beim Euthalianischen Apparat um ein zusammenhängendes Set von Paratexten, die wahlweise in verschiedenen Konfigurationen in den Handschriften auftauchen. Jedes der drei Teile des Systems - die Apostelgeschichte, die paulinischen Briefe und die Katholischen Briefe - besteht aus sechs Hauptelementen: 1. Einem Prolog für die Teilsammlung 2. Einer kurzen Liste von Zitaten für jede Einzelschrift 3. Einer langen Liste von Zitaten für jede Einzelschrift 4. Einer Liste von „ Lesungen “ , die den Text jedes Werks in „ Lesungen “ , „ Kapitel “ und „ Zeilen “ einteilt, darunter die Stellen, an denen die Zitate aus den Listen in den „ Lesungen “ auftauchen 5. Einer Liste von Kapiteln und Titeln für die Untereinheiten jedes Werks 6. Einer Liste von Vorworten (Hypothesen) für jedes Werk. 11 Wie wir unten sehen werden, sind die ersten fünf Elemente dieser Liste miteinander zusammenhängend und selbstreferentiell. Die Hypothesen dagegen wurden dem System wahrscheinlich später hinzugefügt, aber sie sind, zusammen mit den Listen von Kapiteln, die Elemente, die sich am häufigsten in den Handschriften finden. 12 Neben diesen umfangreicheren Teilen finden sich auch andere Elemente, die häufig Informationen aus diesen Listen und Vorworten an andere Orte verschieben; es handelt sich z. B. um biographische Texte zu Paulus, Listen der paulinischen Briefe in verschiedenen Konfigurationen, Subskriptionen zu den Briefen und mehr. Die gewöhnlichsten Elemente für die Katholischen Briefe sind Kapitellisten und Hypothesen, aber auch andere Elemente tauchen in den Handschriften auf, die mit dieser Teilsammlung verbunden sind, u. a. die Reise des Apostels Paulus nach Rom (plous paulou apostolou epi rh ō m ē n), der Text auf dem Athener Altar, auf den Paulus in Apg 17,23 verweist (epigramma tou en ath ē nais b ō mou), und ein Kolophon, das die Produktion der Euthaliana mit der textkritischen Arbeit des Pamphilos in der Bibliothek von Caesarea verbindet. Diese späteren Elemente aber sind im Vergleich zu den Kernelementen der Tradition selten. 11 Für einen weiteren Überblick vgl. Blomkvist, Euthalian Traditions (s. Anm. 2), 8 - 10. 12 Vgl. Dahl, Euthalian Apparatus (s. Anm. 2), 253 und Willard, Critical Study (s. Anm. 2), 158 - 169. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 42 Kelsie G. Rodenbiker und Garrick V. Allen Der Prolog zu den Katholischen Briefen ist der kürzeste der drei Prologe; anders als die Prologe zur Apostelgeschichte und den paulinischen Briefen, bietet er keinen eigentlichen Kommentar zum Inhalt der Briefe. Stattdessen beginnt er mit einer ausführlichen Aussage, die (sicherlich in rhetorischer Weise) das Misstrauen gegenüber den Fähigkeiten des (anonymen) Autors zum Ausdruck bringen soll. Der Verfasser schreibt: „ Für einen kleinen Mann ist die Übernahme einer kleinen Aufgabe nicht ungefährlich. Und ich, der kleinste von allen, bin, da ich versuchte, etwas jenseits meiner Kraft zu tun, den Gefahren sicherlich nicht entronnen. “ Dieses „ riskante “ Unternehmen jedoch wurde, wie wir erfahren, auf Wunsch eines gewissen Athanasios durchgeführt. Der Prolog wendet sich also an diesen Gönner und bittet um Vergebung und Gebet: „ Deshalb empfange, empfange von mir mit Vergnügen das Werk, das ich in eurem Auftrag ausgeführt habe, und - als Gegenleistung für unseren Gehorsam - betet für uns bis zum Ende. “ Nur die letzten zwanzig Worte des Prologs haben überhaupt irgendetwas mit den Katholischen Briefen selbst zu tun. Der Verfasser bemerkt: „ Ich werde die Katholischen Briefe in (ihrer) Ordnung und in Versen lesen und dabei gleichzeitig eine bescheidende (metri ō s) Darstellung von dieser Lektüre ihrer Kapitel und Zitate (wörtlich: ‚ göttlicher Testimonien ‘ ) bieten. “ 13 Anders als beim Prolog zum Corpus Paulinum wird nichts über den Kontext der Produktion der Briefe, ihren Inhalt oder die Logik ihrer Zusammenstellung erwähnt. Wir hören über die Unzulänglichkeiten, die der Autor des Euthalianischen Materials an sich selbst wahrnimmt, seinen Zugang zu den Katholischen Briefen; vor allem werden Kapitelliste und Zitatenliste(n) mit der gleichen Person, die diesen Text verfasste, in Verbindung gebracht. Wir lernen aber weder etwas über die einzelnen Katholischen Briefe noch die Sammlung als Ganze. Die Tatsache, dass die Prologe normalerweise den Titel „ Prolog zu den Katholischen Briefen “ tragen (prologos t ō n kahtolik ō n epistol ō n) legt nahe, dass diese Schriften als Einheit zirkulierten, eine Einheit, die in gewisser Weise auf gleicher Ebene wie die Sammlung der paulinischen Briefe zu verstehen ist. Die Diskontinuität in der direkten Auseinandersetzung mit dem Inhalt der Briefe, der Identität ihrer Autoren, ihrer Rezipienten und ihrem Kontext, die sich besonders im Vergleich mit dem paulinischen Material zeigt, lässt jedoch auf einen gewissen Grad von Ambivalenz gegenüber dieser Sammlung schließen. Das nächste wichtige Euthalianische Element im Zusammenhang mit den Katholischen Briefen ist die kurze Liste von Zitaten. 14 Wie schon erwähnt, stellt 13 Vgl. Blomkvist, Euthalian Traditions (s. Anm. 2), 111 - 112 for text and English translation. 14 Wir werden in diesem Kontext nicht die lange Liste von Zitaten diskutieren, da diese mit einigen strukturellen Unterschieden die gleiche Information wie die kurze Liste liefert. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 Die Euthaliana und die Katholischen Briefe 43 dieses die Zahl der Zitate oder „ göttlichen Testimonien “ für jede Schrift zusammen und ordnet diese Elemente einer Liste zitierter Texte zu. Folgt man dieser Liste, gibt es unter den sieben Briefen 24 Zitate. 15 Die kurze Liste für den 1. Petrusbrief, die Schrift unter den Katholischen Briefen mit den meisten Zitaten, sieht zum Beispiel folgendermaßen aus: Im Ersten Petrusbrief gibt es vierzehn Zitate: Exodus 1. 7 Leviticus 1. 1 Psalter 3. 3, 5, 11 Sprichwörter 2. 13, 14 Der Prophet Hosea 2. 8, 9 Der Prophet Jesaja 5. 2, 4, 6, 10, 12 Die Liste bietet also, arrangiert anhand der Ordnung des Alten Testaments in der Septuaginta, einen abstrakten Überblick über die Auseinandersetzung des 1. Petrusbriefes mit jüdischen Schrifttraditionen. Wir erfahren die Zahl der Zitate im 1. Petrusbrief, die sechs alttestamentlichen Schriften, die zitiert sind, dazu, wie oft sie zitiert sind, und die Reihenfolge der Anordnung dieser Bezüge. Jesaja zum Beispiel ist fünf Mal zitiert; es handelt sich dabei wiederum um das zweite, vierte, sechste, zehnte und zwölfte Zitat im gesamten 1. Petrusbrief. Daran ist wichtig: Hinter dieser Liste steht eine bestimmte Idee von Kanon. Die Reihenfolge der zitierten Schriften folgt der typischen Anordnung des Alten Testaments in der griechischen Tradition, sie legt ein gewisses Bewusstsein von dieser kanonischen Tradition nahe. Auch die Tatsache, dass die Zitate „ göttliche Testimonien “ genannt werden, macht deutlich, dass eine Art von Verbindung zwischen den Zitaten und ihren Herkunftstexten besteht. Andere Teile der Liste wiederum kreieren Probleme für kanonisches Denken. Die Liste für den Judasbrief zum Beispiel beinhaltet nur zwei Passagen: Im Judasbrief gibt es zwei Zitate: Apokryphon des Henoch 1. 2 Apokryphon des Mose 1. 1 Die Liste für den Judasbrief spiegelt also wider, dass dieser Text über den Kanon hinaus Bezüge zu apokryphen Traditionen über Diskussionen um den Leichnam des Mose (V. 9) aufweist und direkt aus dem henochischen Buch der Wächter Anstatt die nummerierten Zitate einer Kanonliste folgend zu arrangieren, bietet die lange Liste Informationen zu allen Zitaten in der Reihenfolge, in der sie im Werk auftauchen. Dabei fügt sie den gesamten zitierten Text an. Im Verhältnis zur Kanonfrage ergeben sich aus der langen Liste die gleichen Fragen wie aus der kurzen. 15 Der 2. und der 3. Johannesbrief haben in dieser Liste keine Zitate. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 44 Kelsie G. Rodenbiker und Garrick V. Allen zitiert (1 Hen 1,9 in V. 14 - 15). 16 Gleichzeitig unterlässt die Liste jeden Hinweis auf klar kanonische Texte aus der Tora, z. B. die Rebellion des Korah (Num 16 in V. 14) oder zur Erzählung von Sodom und Gomorra (Gen 19,4 - 25 in V. 7), auf die derText des Briefes jedoch klar anspielt. Wie also ist es möglich, dass genau dieseTexte, die hier für den Judasbrief aufgelistet sind, als „ göttliche Testimonien “ bezeichnet werden können? Sie sind sicherlich nicht kanonisch, die Liste bezeichnet sie sogar explizit als Apokryphen. Es scheint also, als könnten selbst apokryphe Traditionen als Zeugen einer heiligen Tradition beschrieben werden; offenbar war es auch nicht problematisch, anzuerkennen, dass Schriften des Neuen Testaments sich mit außerkanonischen Traditionen beschäftigen. Die Zitatenliste also erkennt die literarische Realität des Judasbriefes an; der Kompilator der Liste weiß also um Details von Literatur auch jenseits einer engen kanonischen Konzeption des Neuen Testaments und beschäftigt sich damit. Ein anderes Element der Euthalianischen Tradition mit Folgen für Fragen im Zusammenhang mit dem Kanon ist die Liste der Lesungen, die oft den Titel anakephalai ō sis t ō n anagn ō se ō n oder „ Zusammenfassung der Lesungen “ trägt. Diese Liste beinhaltet Informationen für jeden der Katholischen Briefe von Jakobus bis Judas. Dabei wird jede dieser Schriften in drei Gliederungen unterschiedlicher Länge eingeteilt: Lesungen (anag ō n ō seis), Kapitel (kephalia) und Zeilen (stichoi). Der Ort der Zitate, die in den kurzen und langen Listen von Zitaten angeführt sind, wird auch in den Lesungen, in denen sie auftauchen, wieder angeführt. Der Abschnitt zum Jakobusbrief etwa sieht folgendermaßen aus: Jakobusbrief. Lesung 1: 4 Kapitel, 1, 2, 3, 4; 3 Zitate 1, 2, 3; 112 Zeilen. Lesung 2: 2 Kapitel, 5, 6; 1 Zitat 4; 121 Zeilen. Mit anderen Worten: Der Jakobusbrief hat zwei Lesungen, sechs Kapitel, vier Zitate und 233 Zeilen. Die erste Lesung beinhaltet vier Kapitel, drei Zitate und 112 Zeilen, die zweite zwei Kapitel, ein Zitat und 121 Zeilen. Diese Information setzt eine numerische Abstraktion des Texts des Jakobusbriefes voraus; dieser wird verstanden als eine Einheit, die teilbar, messbar und zugleich in vielen Details stabil ist. Obwohl nicht vollkommen klar ist, worauf sich all diese Unterteilungen beziehen - es ist z. B. unklar, inwiefern die „ Lesungen “ sich auf liturgische Einheiten oder Systeme beziehen - , ist die Liste der Lesungen 16 Vgl. Jeremy Hultin, Jude ’ s Citation of 1 Enoch. From Tertullian to Jacob of Edessa, in: James H. Charlesworth/ Lee M. McDonald (Hg.), Jewish and Christian Scriptures. The Function of „ Canonical “ and „ Non-Canonical “ Religious Texts ( Jewish and Christian Texts in Contexts and Related Studies 7) Edinburgh 2010, 113 - 128 und Nicholas J. Moore, Is Enoch Also Among the Prophets? The Impact of Jude ’ s Citation of 1 Enoch on the Reception of Both Texts in the Early Church, JTS 64.2 (2013), 498 - 515. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 Die Euthaliana und die Katholischen Briefe 45 natürlich auch für Fragen in Bezug auf den Kanon relevant. 17 Die Tatsache, dass diese Liste Informationen für jeden der Katholischen Briefe in der kanonischen Ordnung dieser Teilsammlung enthält und diese in diesem Teil des Systems sehr ähnlich wie die paulinischen Briefe behandelt werden, lässt auf eine zumindest stillschweigende Anerkennung schließen, dass diese Schriften zusammen in einer gewissen Ordnung an der Seite der Apostelgeschichte und des Paulus zu stehen kommen. Diese Idee ist verstärkt durch eine zusammenfassende Notiz am Ende der Liste, die die Gesamtzahl an Unterteilungen des Corpus berechnet: „ Insgesamt haben die Katholischen Briefe zehn Lesungen, 31 Kapitel, 24 Zitate und 11 Zeilen. “ 18 Die Liste der Lesungen behandelt die Katholischen Briefe also klar als Sammlung - und zwar sehr ähnlich wie dies hier bei den paulinischen Briefen geschieht. Die beiden verbleibenden wichtigen Aspekte des Systems - die Kapitelliste und die Hypothesen für jeden Brief - sind ebenfalls aufschlussreich in Bezug auf die Frage nach dem kanonischen Status der Katholischen Briefe. Jeder Schrift in diesem Corpus, auch der Apostelgeschichte und den paulinischen Briefen, sind diese Elemente, die normalerweise vor jeder einzelnen Schrift platziert sind, zugeordnet. Die Zahl der Kapitel in jeder Liste korrespondiert mit der Zahl der Kapitel, die in der Liste der Lesungen aufgeführt ist, die Titel aber, die jedem Kapitel gegeben werden, befassen sich ausschließlich mit dem Inhalt jedes einzelnen Briefs, wie er durch den Kompilator des Euthalianischen Apparats konstruiert wird. Die Kapitellisten bilden knappe Zusammenfassungen der einzelnen Schriften, ohne Interesse an der umfangreicheren Sammlung zu zeigen. Die drei Kapitel und die eine Unterteilung für den 3. Johannesbrief z. B. lauten folgendermaßen: 1. Gebet um Vollkommenheit und Danksagung für das Zeugnis der Brüder für die Gastfreundschaft um Christi willen, einschließlich a. Zur Bosheit des Diotrephes und seines Hasses gegen die Brüder 2. Zu Demetrius, über den er das beste Zeugnis bietet 3. Zu seiner bevorstehenden Ankunft bei ihnen zu ihrem Nutzen Die Tatsache, dass für jede Schrift, selbst für die kürzeste, eine Kapitelliste inbegriffen ist, lässt auf die Ernsthaftigkeit ihrer Behandlung als kanonische 17 Die Bezeichnung als Liste liturgischer Lesungen ist wohl irreführend, da diese Einteilungen nicht vollständig mit bekannten liturgischen Systemen in der griechischen Apostolos Tradition übereinstimmen. Vgl. Samuel Gibson, The Apostolos. The Acts and Epistles in Byzantine Liturgical Manuscripts (Texts and Studies 18), Piscataway 2018. 18 Die Zahl der Zeilen ist hier fehlerhaft, wie bereits Zacagni in seiner Edition bemerkt (S. 479). Bei den meisten Zeugen dieser Liste fehlt die zusammenfassende Darstellung, und diejenigen, die sie überliefern (wie GA 181 [53r]) sind hier schwer zu lesen. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 46 Kelsie G. Rodenbiker und Garrick V. Allen Schriften schließen. Gleichzeitig lässt der Inhalt der Listen keine internen Beziehungen zwischen den Katholischen Briefen erkennen. Der gleiche Befund zeigt sich für die Hypothesen. Jeder Brief hat ein Vorwort, das den Autor identifiziert, die Herkunft des Texts erklärt und seinen Inhalt zusammenfasst. Die Hypothesis zu 1 Johannes z. B. identifiziert den Autor als Johannes, „ den Verfasser des Evangeliums “ , der diesen Brief sandte, um „ die zu ermahnen, die bereits an den Herrn Glaubende waren. “ Danach folgt eine ausführliche Zusammenfassung des Briefs, die in den Satz mündet: „ Am Ende des Briefs ermahnt er sie erneut und sagt, dass der Sohn Gottes himmlisches Leben und wahrer Gott ist, dass wir ihm dienen und uns vor den Götzen in Acht nehmen sollen. “ Insgesamt also besteht das Euthalianische Material für die Katholischen Briefe aus einem inneren System von Elementen, die literarische Unterabschnitte systematisieren (Liste der Lesungen), intertextuelle Bezüge identifizieren (Zitatenlisten), Inhalte zusammenfassen (Hypothesen und Kapitelliste) und schließlich Informationen über die Person bieten, die dies erstellt hat (Prolog). Einige dieser Elemente sind miteinander verbunden und setzen die Konstruktion der Katholischen Briefe als definierte Teilsammlung im Neuen Testament, sowie als Reihe von Schriften in einer bestimmten Anordnung voraus. Die Euthaliana bestärken und untergraben zur gleichen Zeit die Vorstellung eines festen Kanons. Die Euthaliana, die Katholischen Briefe und der neutestamentliche Kanon Abgesehen von ihrer Zusammenstellung der Katholischen Briefe in der Handschriftentradition bieten die Euthaliana die erste systematische Repräsentation der Katholischen Briefe als einer Teilsammlung innerhalb des Neuen Testaments. Das früheste Cluster Katholischer Briefe findet sich in Papyrus 72, den Teilen des Bodmer Mischkodex. Dieses lässt sich ins 3. oder 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung datieren; überliefert sind die Texte des Judasbriefs und der beiden Petrusbriefe (P. Bodmer VII und VIII). Doch selbst diese Handschrift kann nicht als eine Art Vorläufer einer „ protokanonischen “ Teilsammlung gesehen werden, die zeigt, dass die Katholischen Briefe schon früh mit dem Kanon in Verbindung gebracht wurden. Stattdessen gehen die Texte auf verschiedene Einheiten der Herstellung des zusammengesetzten Codex zurück; dabei wurden 1 und 2 Petrus später als der Judasbrief hinzugefügt 19 und an das Ende des Codex 19 Zu den Unterschieden in der Behandlung des Judasbriefes in dieser Sammlung gegenüber 1 - 2 Petr vgl. auch Tobias Nicklas, Der „ lebendige Text “ des Neuen Testaments. Der Judasbrief auf P 72 (P. Bodmer VII), in: ASEs 22 (2005) 203 - 222. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 Die Euthaliana und die Katholischen Briefe 47 gebunden. 20 Eine Sammung von sieben Katholischen Briefen ist erst in den Codices Sinaiticus und Vaticanus erkennbar, Vollbibeln des 4. Jahrhunderts, die Schriften des Alten und Neuen Testaments in griechischen Majuskeln enthalten. Die Euthaliana wiederum bieten die ältesten Hinweise der Verbindung aller sieben Katholischen Briefe durch die Herausgeber von Bibeln, ein wichtiger Faktor für ihre weitere Rezeption als kanonische Teilsammlung. Innerhalb der Euthalianischen Tradition werden die Katholischen Briefe in einer Weise behandelt, die sowohl das Gefühl kanonischer Stabilität unterstützt, als auch gleichzeitig, wie bereits gesagt, eine Vorstellung von der Endgültigkeit des neutestamentlichen Kanons eher untergräbt. Wie wir bereits gesehen haben, können die gleichen Elemente der Euthalianischen Tradition sowohl die Vorstellung eines fixierten Kanons unterstützen und in Frage stellen. Ein Element, das den Status der Katholischen Briefe als Sammlung unterstützt, ist die innerhalb der Euthaliana hergestellte Verbindung zur Apostelgeschichte. Die Tatsache, dass Apostelgeschichte und Katholische Briefe beide Eingang in die Euthalianische Tradition fanden, spiegelt die enge Verbindung dieser Schriften als Geschichte der Apostel und Sammlung ihrer Werke. Viele griechische Handschriften bieten die Katholischen Briefe nach der Apostelgeschichte und kreieren damit einen Zusammenhang, der seinen Schwerpunkt auf Material über die früheste christliche Gemeinschaft nach dem Leben Jesu setzt, wie es in den Evangelien berichtet wird. Für jeden Katholischen Brief, selbst für 3 Joh, den kürzesten von ihnen, sind Kapitellisten angegeben. Dies lässt darauf schließen, dass jeder Brief einem vorgegebenen Standard folgend herausgegeben wurde; dies wiederum vermittelt das Gefühl, dass jede der Schriften, unabhängig von ihrer Länge oder scheinbaren Bedeutung, redaktionell gleichbehandelt wurde. Die Euthalianischen Hypothesen, die für jeden Brief geboten werden, betonen die authentische Verfasserschaft der Briefe durch Jakobus, Petrus, Johannes und Judas. Während der 1. Johannesbrief z. B. im Haupttext anonym ist und 2 - 3 Joh nur vage eine Verfasserfigur, die sich als „ der Alte “ bezeichnet, erkennen lässt, schreibt die Euthalianische Hypothese den Text explizit „ Johannes selbst, dem Verfasser des Evangeliums “ , zu, betont damit die Authentizität des Briefs und 20 Zur Konstruktion des Bodmer Mischcodex vgl. Brent Nongbri, The Construction of P. Bodmer VIII and the Bodmer „ Composite “ or „ Miscellaneous “ Codex, in: NovT 58 (2016), 394 - 410; ders., Recent Progress in Understanding the Construction of the Bodmer „ Miscellaneous “ or „ Composite “ Codex, in: Adam. 21 (2015), 171; sowie Tommy Wasserman, Papyrus 72 and the Bodmer Miscellaneous Codex, in: NTS 51 (2005), 137 - 154 sowie Tobias Nicklas/ Tommy Wasserman, Theologische Linien im Codex Bodmer Miscellani? in: Thomas J. Kraus/ Tobias Nicklas (Hg.), New Testament Manuscripts. Their Texts and their World (TENT 2), Leiden/ Boston 2006, 161 - 188. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 48 Kelsie G. Rodenbiker und Garrick V. Allen bietet damit eine weitere Verbindung zwischen zwei Teilsammlungen, in diesem Fall den Evangelien und den Katholischen Briefen. Doch es gibt auch Verbindungen zwischen den Katholischen Briefen und dem Corpus Paulinum. Wie die Briefe des Paulus wird die Sammlung der Katholischen Briefe durch einen einzelnen Euthalianischen Prolog eingeleitet. Dies lässt darauf schließen, dass diese sieben Briefe, die Jakobus, Petrus, Johannes und Judas zugeschrieben werden, zumindest bei den Euthalianischen Herausgebern als neutestamentliche Teilsammlung verstanden wurden. Anders als die ausführliche Auseinandersetzung mit den paulinischen Briefen in deren Prolog lässt, wie wir gesehen haben, der Prolog zu den Katholischen Briefen jedoch beinahe nichts über den Inhalt der Briefe erkennen. Stattdessen konzentriert er sich nahezu vollständig auf Aspekte des editorischen Prozesses. Unter den dabei begegnenden Bemerkungen allerdings finden sich auch Vergleiche mit einer Seereise, wie sie auch im paulinischen Prolog verwendet werden. Damit kreieren sie ein Gefühl von Einheit zwischen den beiden Teilsammlungen innerhalb der Euthaliana, offenbaren aber auch eine Bevorzugung des Paulus. Wie Vemund Blomkvist bemerkt, sind die Katholischen Briefe innerhalb der Euthaliana zudem nicht explizit als „ apostolische “ Briefe gekennzeichnet. Dieser Titel ist stattdessen für „ den Apostel “ schlechthin reserviert: Paulus. In seiner Kommentierung zum letzten Kapitel des 2. Petrusbriefes geht der Euthalianische Herausgeber gar so weit, zu sagen, dass Petrus seine Leser dazu anweist, „ die Schriften des Apostels zu lieben (agapan) und nicht auf die zu achten, die sie verleumden (tois diaballousin), weil diese jede göttliche Schrift verleumdeten. “ 21 Diese Anweisung korrespondiert zwar mit dem Text von 2 Petr 3,15 - 16, der Euthalianische Autor hat den Text des 2 Petr hier jedoch deutlich zu einem pro-paulinischen Statement umgeformt, während 2 Petr vor Menschen warnt, die die Schriften des Paulus verdrehen, wie sie es auch mit anderen Schriften tun. 22 Es ist also in den Euthaliana deutlich spürbar, dass das Corpus Paulinum höher geachtet wird als die Katholischen Briefe, deren Status offenbar als geringer eingestuft wird. Auch die Zitatenlisten sind ambivalent: Sie unterstützen den Status der Katholischen Briefe im neutestamentlichen Kanon und stellen ihn gleichzeitig in Frage. Die kurze Liste der „ göttlichen Testimonien “ folgt, wie wir gesehen haben, der Reihenfolge, wie sie sich in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments findet, und orientiert sich nicht an ihrem Auftauchen im Neuen 21 Blomkvist, Euthalian Traditions (s. Anm. 2), 182 - 183. 22 Weiterführend zu dieser Passage wie auch zum Verhältnis zwischen 2 Petr und dem Corpus Paulinum Tobias Nicklas, „ Der geliebte Bruder “ . Zur Paulusrezeption im 2. Petrusbrief, in: Wolfgang Grünstäudl/ Uta Poplutz/ Tobias Nicklas (Hg.), Der zweite Petrusbrief und das Neue Testament (WUNT I/ 397), Tübingen 2018, 133 - 150. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 Die Euthaliana und die Katholischen Briefe 49 Testament; bereits dies schafft eine Verbindung zwischen dem Text des Neuen Testaments und seinen jüdischen Quellen. Viele der Zitate, auf die der Euthalianische Apparat verweist, beinhalten einleitende Rede- oder Zitationsformeln; so kommt es, dass die beiden einzigen „ göttlichen Testimonien “ , die für den Judasbrief aufgelistet werden, apokryph sind: Das „ Apokryphon des Henoch “ und das „ Apokryphon des Mose “ . Jud 9 zitiert den Erzengel Michael, der dem Teufel sagt: „ Der Herr weise dich in die Schranken, “ während Jud 14 - 15 eine Prophezeiung aus dem 1. Henochbuch zitiert. Gleichzeitig werden starke Anspielungen auf alttestamentliche Schriften und Figuren ignoriert ( Jud 5; vgl. Num 13 - 14; Deut 1,19 - 36; Jud 6; vgl. 1 Petr 3,19 - 20; 2 Petr 2,4; Gen 6,1 - 4; 1 Hen 10; Kain: Jud 11a; vgl. Joh 3,12; Gen 4; Bileam: Jud 11b, vgl. Num 22 - 24), and Korah ( Jud 11c, cf. Num 16). Die vielen, v. a. in Jud 11 eng aufeinander folgenden Bezüge machen den Judasbrief zu einem Text, der geradezu gesättigt ist mit Figuren und Erzählungen der Schrift. Aber selbst starke Anspielungen auf Schlüsselfiguren der Schrift sind in der Euthalianischen Liste von Zitaten nicht enthalten, während dort gleichzeitig apokryphe Quellen, die noch dazu als solche bezeichnet werden, erwähnt sind. Ähnliches gilt für die Stelle im 1. Petrusbrief, an der wir lesen, wie Sara „ Abraham gehorchte und ihn ihren Herrn nannte “ , obwohl diese sogar Gesprochenes beinhaltet (vgl. 1 Petr 3,5 - 6; vgl. Gen 18,12). Der Euthalianische Autor zeigt keine Scheu, die durchlässige Kanonizität der Zeugnisse im Judasbrief darzustellen, während überall sonst die apostolische Autorität und Kohärenz des Texts mit anderer neutestamentlicher Literatur von größter Bedeutung ist. Der liminale Status der Katholischen Briefe, der sich in der Euthalianischen Tradition erweist, spiegelt sich auch in ihrer Rezeption im 3. und 4. Jahrhundert, als der Prozess zu bestimmen, welche Bücher das Neue Testametn konstituieren sollten, sich mehr und mehr entfaltete. Unter den kirchlichen Zeugnissen des 4. Jahrhunderts zeigt sich eine gewisse Unsicherheit im Zusammenhang mit der apostolischen Verfasserschaft der meisten Katholischen Briefe genauso wie auch eine Anerkennung ihrer Nützlichkeit und selbst ihrer Verbindung als Sammlung. Im frühen 4. Jahrhundert ist Eusebius von Caesarea der erste Autor, der auf eine mögliche Sammlung Katholischer Briefe verweist, welche aus sieben Briefen besteht. Gleichzeitig aber bietet er eine Liste der Schriften des Neuen Testaments, die alleine 1 Petr und 1 Joh mit Sicherheit enthält, während er die fünf übrigen Katholischen Briefe auf die Liste der umstrittenen Bücher verweist (antilegomena; vgl. Historia ecclesiastica 2,23,25 und 3,25,2 - 3). Zu den bestrittenen Schriften, die indes gleichwohl bei den meisten in Ansehen stehen, werden gerechnet der so genannte Jakobusbrief, der Brief des Judas, der zweite Brief des Petrus und der sogenannte zweite und dritte Johannesbrief, welche entweder Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 50 Kelsie G. Rodenbiker und Garrick V. Allen dem Evangelisten oder einem anderen Johannes zugeschrieben sind (Eusebius, Historia ecclesiastica 3,25,3, vgl. auch 3,24,17 - 18). 23 Auch an anderen Orten stellt Eusebius die Frage der Verfasserschaft zur Debatte und stellt dabei die apostolische Verfasserschaft von Jakobus- und Judasbrief (Historia ecclesiastica 2,23,25) sowie von 2 Petr und anderer petrinischer Literatur in Frage (Historia ecclesiastica 3,3,1 - 4). Obwohl andere Autoren des 4. Jahrhunderts die Authentizität keines der Katholischen Briefe in Frage stellen - unter ihnen Athanasius von Alexandrien, der alle sieben Briefe in seine Liste „ kanonisierter “ Bücher des Neuen Testaments aufnimmt (kanonizomena, vgl. Epistula festalis 39,18) - bleibt die Frage der Verfasserschaft dieser Texte auch noch Jahrzehnte nach Eusebius offen. In seinen Leben berühmter Männer (De viris illustribus) verweist Hieronymus auf Basis des im Vergleich zum 1. Petrusbrief deutlich unterschiedlichen Stils auf die fragwürdige Verfasserschaft des 2. Petrusbriefes. Zudem schreibt er, dass einige glauben, der Jakobusbrief sei von einer anderen Person im Namen des Apostels verfasst worden, und dass man sagt, 2 und 3 Joh seien das Werk eines anderen Johannes, nämlich des Presbyters Johannes, zu dessen Erinnerung in Ephesus ein Denkmal errichtet sei - obwohl einige glauben, die beiden Denkmäler in Ephesus, erinnerten beide an den Evangelisten Johannes (De viris illustribus 1,2,9). Obwohl Hieronymus die Verfasserschaft des Judasbriefes nicht in Frage stellt, notiert er doch, dass sein Zitat des „ apokryphen Henochbuchs “ dazu führte, dass viele ihn ablehnten (De viris illustribus 4, vgl. aber Tertullian, De cultu feminarum 3, wo Tertullian sich für die Authentizität der „ Prophezeiung des Henoch “ ausspricht). Die Debatte über die Verfasserschaft der Katholischen Briefe setzte sich durch das gesamte vierte Jahrhundert fort; die Frage nach der Zahl legitimer apostolischer Briefe blieb deswegen ein Problem. Die Euthalianische Tradition, die ja womöglich auf die gleiche Zeit wie viele dieser Diskussionen zurückging, lenkt die Aufmerksamkeit in gleicher Weise auf die Verwendung von Henoch-Literatur im Judasbrief, die die Anerkennung dieser Schrift als Teil des Neuen Testaments schwierig machte. Gleichzeitig betont sie, dass es der Evangelist Johannes war, der alle drei johanneischen Briefe verfasste - und sichert damit deren autoritativen Status. Selbst wenn einige Elemente der Euthalianischen Tradition die Verbindung zwischen Altem und Neuem Testament betonen und auf Verfasserfiguren verweisen, die auch in anderen Teilsammlungen des Neuen Testaments begegnen, machen andere Eigenschaften aufmerksam auf verschiedene Schrifttraditionen in den neutestamentlichen Briefen - wie den Apokryphen des Henoch und des Mose. Die 23 Übersetzung adaptiert nach Eusebius von Caesarea, Kirchengeschichte, hg. von H. Kraft, München 6 2012, 175. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 Die Euthaliana und die Katholischen Briefe 51 Euthaliana zeigen somit eine Spannung zwischen einer sich entwickelnden Idee des Kanons und einem flexibleren Sinn für literarische Zusammenhänge. 24 Fazit Die Euthaliana repräsentieren die erste systematische redaktionelle Behandlung der Katholischen Briefe als eines Teilcorpus des Neuen Testaments; gleichzeitig bezeugen sich auch eine gewisse Vernachlässigung und einen gegenüber den paulinischen Schriften sekundären Status dieser Sammlung. Obwohl die Euthalianischen Elemente in verschiedenen Handschriften variabel überliefert sind, bezeugt diese Tradition doch Wege der Gestaltung der Sammlung der Katholischen Briefe, die sowohl deren Autorität und Kanonizität bestärken als sie auch in Frage stellen. Die Katholischen Briefe werden als Sammlung behandelt, sie werden durch einen Prolog eingeleitet und jeder einzelne Brief erhält Hypothesen und Kapitelüberschriften. Dies ist zunächst einmal vergleichbar mit der Art und Weise, in der das Corpus Paulinum in den Euthaliana behandelt wird, der Prolog der Katholischen Briefe aber verweist nicht auf deren Inhalt oder die Struktur dieser Sammlung, sondern auf die Leistung ihres Herausgebers. Obwohl die Hypothesen die Authentizität der Briefe betonen ( „ Jakobus selbst schreibt …“ ) identifizieren sie keinen der Verfasser explizit als Apostel - dieser Titel wird alleine für Paulus verwendet. Die Hypothese zum Ersten Johannesbrief notiert dazu, dass dieser Johannes der „ Verfasser des Evangeliums “ sei; sie kreiert damit eine Verbindung zwischen der Teilsammlung der Katholischen Briefe und den Evangelien. Trotz der hergebrachten Behandlung der Katholischen Briefe als Kollektiv in den Euthaliana offenbart deren deutlich substantiellere Auseinandersetzung mit dem Corpus Paulinum (sowie die Verwendung des Aposteltitels alleine für Paulus), dass das paulinische Material gegenüber den Katholischen Briefen deutlich bevorzugt wird. Die lange wie die kurze Liste von Zitaten bezeugen einen Sinn für die Zusammengehörigkeit von Schriften des Alten und des Neuen Testaments; sie betonen eine Art kanonischer Intertextualität, verweisen aber auch auf die Unmöglichkeit, das Innerkanonische vollkommen von allen Einflüssen von außen abzugrenzen. Dies zeigt sich an der Aufnahme von „ göttlichen Testimonien “ , die auf andere Texte zurückgehen als die, die heute als Altes und Neues Testament kanonisch geworden sind. Die Euthalianische Tradition bezeugt eine 24 Auch dies ist ein Aspekt der Offenheit des biblischen Kanons auf außerbiblische Traditionen hin, wie er ausführlich auch im einleitenden Beitrag von Tobias Nicklas hervorgehoben wird. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 52 Kelsie G. Rodenbiker und Garrick V. Allen gewisse Durchlässigkeit des Kanons zu außerkanonischem Material, wie sie sich in der Sammlung der Katholischen Briefe zeigt. In ihrem Versuch, die Katholischen Briefe in eine breitere Sammlung zusammen mit Apostelgeschichte und paulinischen Briefen zu inkorporieren, kann die Euthalianische Tradition zudem als Stimme in den komplexen antiken Diskursen zu Authentizität und Relevanz der Katholischen Briefe in verschiedenen christlichen Gemeinschaften verstanden werden. Kelsie Rodenbiker studierte Neues Testament und Frühes Christentum an der Universität Durham (UK) und ist derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Glasgow tätig. Ihre Arbeit konzentriert sich auf die Überschneidung von Kanonizität und Textautorität, Pseudepigraphie und attributive Praktiken sowie Handschriften und ihre paratextuellen Merkmale. Garrick V. Allen studierte biblische Literatur und Koine- Griechisch an der Northwest University sowie Schrift und Theologie an der University of St. Andrews. Er ist Professor of Divinity and Biblical Criticism an der Universität Glasgow und leitet derzeit mehrere Projekte zur Erforschung frühchristlicher Manuskripttraditionen und Kulturen. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0003 Die Euthaliana und die Katholischen Briefe 53
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