eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 26/51

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2023-0004
61
2023
2651 Dronsch Strecker Vogel

Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums

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2023
Janet E. Spittler
znt26510055
Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums Von den Rändern ins Zentrum Janet E. Spittler Verallgemeinerungen sind immer riskant, aber wollte man zusammenfassen, was die meisten Studierenden oder selbst Wissenschaftler zum frühen Christentum über apokryphe Apostelakten wissen, so würde das wohl in etwa folgendermaßen aussehen: Die apokryphen Apostelakten sind eine Gruppe frühchristlicher Erzählungen, die von der Großkirche unterdrückt wurden, weil sie „ häretische “ Ansichten vertreten. Es handelt sich um Texte, die schließlich mehr oder minder verloren gingen. Erst Wissenschaftler: innen unserer Zeit, die verlorene und vergessene Formen des Christentums ans Licht brachten, haben sie wiederentdeckt und rekonstruiert. Dies ist sicherlich nicht vollkommen falsch. Ein großer Teil der wissenschaftlichen Arbeit an apokryphen Apostelakten im 19. und 20. Jahrhundert bestand darin, ihre „ Originaltexte “ zu rekonstruieren; und diese rekonstruierten Schriften bieten tatsächlich Einblicke in das Denken christlicher Gruppierungen des 2. und 3. Jahrhunderts. Der Blick, den sie erlauben, ist zudem anders - weiter - als der Blick, den kanonische und patristische Quellen alleine zulassen. Trotzdem verdeckt die Vorstellung, es handele sich um „ verlorene Schriften “ , die wiederentdeckt wurden, oder auch die Idee von „ neu offenbarten geheimen Schriften “ - ich spiele hier etwas unfair auf die Titel zweier ausgezeichneter Bücher hervorragender Wissenschaftler an 1 - den wahren Charakter der meisten apokryphen Apostelakten. Diese Werke - die alten Paulusakten, Johannesakten, Petrusakten, Andreasakten und Thomasakten sind sicherlich 1 Ich denke hier an Bart Ehrman, Lost Scriptures. Books that Did Not Make It into the New Testament, Oxford 2005 sowie Tony Burke, Secret Scriptures Revealed. A New Introduction to the Christian Apocrypha, Grand Rapids 2013. Noch einmal: Der Inhalt dieser Bücher ist ausgezeichnet, auch wenn die Titel ein Missverständnis über die in ihnen behandelten Werke bestärken. am bekanntesten, es gibt aber viele mehr 2 - waren überaus langlebig. Sie wurden in alle wichtigen Sprachen des antiken Mittelmeerraums (vom Griechischen bis zum Arabischen) übersetzt oder bereits in ihnen verfasst. Jahrhunderte später wiederum wurden sie in die Sprachen Europas (vom Altkirchenslawischen bis zum Isländischen) übersetzt oder neu komponiert. Man redigierte ihre Erzählungen für die verschiedensten Zwecke und Kontexte, sei es liturgisch oder auch säkular, sei es für neue literarische Gattungen und Medien (inclusive bildende Künste). Zu all dem passen Begriffe wie „ verloren “ , „ geheim “ oder „ vergessen “ kaum. Sicher sind die frühesten Formen der apokryphen Akten, d. h. die fünf genannten griechischen Schriften aus dem 2. und 3. Jahrhundert, nicht in ihren originalen Fassungen überliefert; was wir aber haben, ist viel mehr. Der folgende Beitrag bietet eine Fallstudie, die zeigt, auf welche Weisen apostolische Figuren - hier der Apostel Johannes - in christlicher Literatur ab dem 2. Jahrhundert, dann über die byzantinische Epoche und das westliche Mittelalter sowie darüber hinaus erinnert wurden. Zwar veränderte sich die apokryphe Tradition um den Apostel Johannes über die Jahrhunderte in Form, Sprache und Inhalt, gleichzeitig aber zeigt sie eine bemerkenswerte Konsistenz und Dauer. Während einige Elemente der Tradition uns tatsächlich Einsicht in Vorstellungs- und Glaubenswelten wie auch Praktiken bieten, die man innerhalb des Christentums als „ randständig “ , um nicht zu sagen „ häretisch “ bezeichnen würde, trifft es eher zu, dass die verschiedenen Permutationen dieser und anderer apokrypher Traditionen uns Einsicht in Vorstellungs- und Glaubenswelten wie auch Praktiken einer langen Reihe von „ Christentümern “ bieten, in denen und auf die hin die Tradition (und die literarischen Werke, in denen sie sich niedergeschlagen hat) adaptiert, gelesen und wertgeschätzt wurde. Viele von ihnen waren vollkommen rechtgläubig. 1. Die Johannesakten: Der bleibende Erfolg einer verbotenen Schrift Ein besonders reiches Corpus von Texten bezeugt das bleibende christliche Interesse an Johannes, dem Sohn des Zebedäus, der von früher Zeit an als der „ geliebte Jünger “ des Johannesevangeliums wie auch der Autor dieser Schrift verstanden wurde. Eine Vielzahl apokrypher Texte beschreibt sein Wirken in Kleinasien und/ oder Rom wie auch seinen beinahe natürlichen Tod in Ephesus. 2 Für eine neue Einleitung in diese Schriften vgl. u. a. Tobias Nicklas, Second Century Apocryphal Acts, in: Michael Bird/ Scott Harrower (Hg.), Second Century Christianity. A Sourcebook, Waco, Tx. 2023/ 24 (im Druck). Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 56 Janet E. Spittler Unter heutigen Leser: innen sind sicherlich die alten Johannesakten die bekannteste dieser Schriften; ihr griechischer Text wurde am Ende des 19. Jahrhunderts von Maximilian Bonnet und in jüngerer Zeit von Eric Junod und Jean-Daniel Kaestli ediert. 3 Inzwischen existiert eine Vielzahl von Übersetzungen in moderne Sprachen. Der Text, der normalerweise in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts datiert wird, ist eigentlich in seiner frühen Form - also der Form, die auf das 2. Jahrhundert zurückgeht - in keinem einzigen Textzeugen vollständig überliefert. Stattdessen hat man ihn aus zwei Quellen rekonstruiert: 1. Einer kleinen Gruppe von Handschriften der sogenannten Akten des Johannes durch Prochorus, einer Schrift wohl des 5. Jahrhunderts, auf die ich später noch zurückkommen werde, in die hinein umfangreichere Ausschnitte der älteren Akten des Johannes interpoliert wurden, und 2. Episoden aus den älteren Johannesakten, die unabhängig zirkulierten, darunter v. a. die so genannte „ Metastasis “ , d. h. die Erzählung vom Tode des Johannes. Der Anfang der alten Johannesakten ist heute verloren, die erste erhaltene Episode, d. h. diejenige, die aufgrund der Logik der Textabfolge die erste zu sein scheint, präsentiert Johannes auf dem Weg von Milet nach Ephesus, d. h. bereits mitten in seinen missionarischen Aktivitäten. Das überlieferte Material besteht aus fünf umfangreichen Einheiten: 1. Ein Bericht über die Ankunft des Johannes in Ephesus, die Auferweckung von Kleopatra und Lykomedes sowie die Zeichnung eines Porträts des Johannes (Kap. 18 - 36 in modernen Ausgaben), 2. eine Erzählung über die Zerstörung des Artemistempels von Ephesus durch Johannes und die Konversion eines Vatermörders (Kap. 37 - 55 der heutigen Ausgaben), 3. Eine Erzählung über den Aufenthalt des Johannes in einer Herberge voller Wanzen und eine lange Episode um die Christin Drusiana, die Frau des Christen Andronicus, sowie den verruchten Callimachus, der sie sexuell bedrängt (Kap. 58 - 86), 4. Ein Evangelienrückblick, in dem Johannes seinem Publikum von seinen Erlebnissen mit dem irdischen Jesus erzählt (Kap. 87 - 105 in modernen Ausgaben), und 5. Die Metastasis, d. h. die Erzählung vom Tod des Johannes (Kap. 106 - 116 in modernen Ausgaben). Es ist keineswegs sicher, dass all diese Teile wirklich zu den frühen Johannesakten gehörten, was und wie viel fehlt und wie weit das heute Erhaltene der Textform des 2. Jahrhunderts entspricht. Selbst oberflächlichen Leser: innen wird deutlich, dass weiterhin Uneinigkeit über die genaue Anordnung des überlieferten Materials besteht: Immerhin beginnt der Text mit Kapitel 18 - Kapitel 1 - 17 fehlen komplett - und die Kapitel 87 - 105 werden zwischen die Kapitel 36 und 37 3 Maximilian Bonnet, Acta Apstolorum Apocrypha 2.1 Darmstadt 2 1959; Eric Junod/ Jean- Daniel Kaestli, Acta Iohannis (CCSA 1 - 2), Turnhout 1983. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 57 gesetzt. Genauso fällt auf, dass ganz offenbar Material fehlt, z. B. die Erzählung über die Konversion von Drusiana und Andronicus, die Hauptfiguren der Kapitel 63 - 86, genauso wie ein Bericht darüber, wie Kleinasien dem Johannes als Missionsgebiet zugeteilt wurde und wie er dorthin reiste. Die Frage, wie nahe die überlieferten Texte der frühesten Form der Schrift kommen, ist schwerer zu beantworten. So wird etwa intensiv darüber diskutiert, inwiefern die Kapitel 87 - 105 Zeichen von Anpassung und/ oder Interpolationen aufweisen - und besonders, ob einige Passagen (z. B. der Hymnus Christi in den Kap. 94 - 96) sich späteren „ gnostischen “ Hinzufügungen verdankt. 4 So können wir im Grunde nicht wissen, wie nahe die frühen Johannesakten, die uns in den modernen Editionen geboten werden, dem Text kommen, der von seinem Verfasser des 2. Jahrhunderts geschrieben wurde. Dies aber ist kein ungewöhnlicher Fall: Alle Editionen antiker Schriften verdanken sich in Teilen Formen solchen (sehr gelehrten) Ratens. Man könnte nun fragen: Warum überhaupt suchen Wissenschaftler nach Material, das zu dieser frühen Schrift gehört haben könnte? Woher wissen wir überhaupt, dass es solche alten Johannesakten überhaupt gegeben hat? Wir wissen davon, weil eine Vielzahl frühchristlicher Autoren dieses Werk mit Namen erwähnt; andere wiederum beziehen sich auf Inhalte, die im rekonstruierten Text zu finden sind. Diese Bezugnahmen sind zum Teil zustimmend und zum Teil ablehnend. Wie zu erwarten, verdammen viele „ orthodoxe “ Autoren wie Eusebius von Caesarea, Epiphanius von Salamis, Philaster von Brescia, Innozenz I. und Turribius von Astorga die Schrift, 5 während eher „ nicht-orthodoxe “ Christen sie zustimmend zitieren oder auf sie anspielen. Ich denke hier z. B. an die Hinweise auf Figuren und Episoden aus den alten Johannesakten im Manichäischen Psalmbuch (3. Jh.) und die offensichtliche Verwendung der Schrift bei den Priszillianisten, d. h. den Anhängern des Priszillian von Avila. 6 Die Rezeption der alten Johannesakten aber stellt sich deutlich komplexer dar: Clemens von Alexandrien scheint auf die Schrift ohne 4 Zur Frage einer möglichen „ gnostischen Interpolation “ in den Kapiteln 87 - 105 vgl. Junod/ Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 3), 2: 581 - 675; wichtig auch Pieter J. Lalleman, The Acts of John. A Two-Stage Initiation into Johannine Gnosticism (Studies on Early Christian Apocrypha 4), Leuven 1998, 25 - 68. 5 Zur Bezeugung und Verwendung der alten Johannesakten vgl. Eric Junod/ Jean-Daniel Kaestli, L ’ histoire des actes apocryphes des apôtres du IIIe au IXe siècle. Le cas des Actes de Jean, Genève/ Lausanne/ Neuchâtel 1982; Überblicke auch bei Knut Schäferdiek, The Acts of John, in: Wilhelm Schneemelcher (Hg.), New Testament Apocrypha, übersetzt von R. McL. Wilson (Louisville 1992, 2: 152 - 156 sowie Tobias Nicklas, Second Century Apocryphal Acts (s. Anm. 2). 6 Vgl. Junod/ Kaestli, L ’ histoire (s. Anm. 5), 50 - 102. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 58 Janet E. Spittler jegliches Anzeichen von Kritik anzuspielen, 7 und Augustinus, der üblicherweise apokryphe Werke und die Christen, die sie verwenden und wertschätzen, sehr herabwürdigend behandelt, kritisiert die Verwendung des apokryphen Jesushymnus aus Kapitel 95 der Johannesakten durch die Priszillianisten nicht dahingehend, dass dieser häretisch sei, sondern mit dem Argument, dass sein Inhalt bereits in kanonischen Schriften enthalten sei. 8 Wir müssen bis ins 8. Jahrhundert gehen, um einen weiteren Hinweis auf die alten Johannesakten zu finden: Eine Episode, in der Johannes einen Jünger dafür kritisiert, dass er ein Bild des Apostels in Auftrag gegeben hat (Kap. 26 - 29) wurde in das Ikonoklastische Konzil des Jahres 754 als Beispiel dafür aufgenommen, dass ein Apostel die Verwendung von Bildern ablehnte; im zweiten Konzil von Nizäa des Jahres 787 wiederum wurde die Schrift rundweg verboten; dabei wurden zwei Passagen, konkret die Episode mit dem Porträt sowie ein Auszug aus den Kapiteln 93 - 98, explizit in den Konzilsakten zitiert, um den häretischen Charakter der Schrift zu verdeutlichen. 9 Damit haben wir einen Überblick über die Geschichte einer griechischen Schrift des 2. Jahrhunderts, die im 3. und 4. Jahrhundert in recht weitem Umlauf war und von einigen Splittergruppen des frühen Christentums (z. B. Manichäern und Priszillianisten) angenommen wurde, während viele, wenn auch nicht alle „ orthodoxen “ Autoren sie ablehnten. Die Schrift gerät mit dem 5. Jahrhundert weitgehend aus dem Blick und taucht im Ikonoklastenstreit des 8. Jahrhunderts wieder auf, nur um im zweiten Konzil von Nizäa umso strenger verurteilt zu werden. Obwohl dies alles zutrifft, ist es jedoch noch keineswegs die ganze Geschichte der apokryphen Traditionen um Johannes, von denen viele bei den frühen Johannesakten ihren Ausgang nehmen. Bevor ich aber einen Blick auf einige Schlüsseltexte der weiteren Tradition biete, möchte ich daran erinnern, dass, obwohl das überlieferte Material ziemlich umfangreich ist, es sich dabei nur um einen kleinen Ausschnitt dessen handelt, was offenbar wirklich im Umlauf war. Dies zeigt sich z. B. an der Entdeckung zweier Episoden, die fast sicher zu den frühen Johannesakten gehörten und die sich in sehr fragmentarischer Form in einem griechischen Unzialcodex des 4. Jahrhunderts aus Oxyrhynchus (P.Oxy. 850) sowie einem irischen Codex des 7 In seinen Adumbrationes zu 1 Joh 1,1 spricht Clemens von Alexandria von Traditionen, die davon berichten, dass die Hand des Apostels Johannes keinen Widerstand spürte, als sie den Körper Jesu berührte. Zwar wird diskutiert, ob Clemens einen vollständigen Text der alten Johannesakten kannte, ist klar, dass er sich hier auf seine Erzählung bezieht, die in Kapitel 93 der Johannesakten erzählt wird. 8 Augustinus, Epistula 237. 9 Zur Rolle der Johannesakten im Ikonoklastenstreit vgl. Stephen Gero, Byzantine Iconoclasm during the Reign of Constantine V (CSCO 384), Leuven 1977. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 59 15. Jahrhunderts, dem so genannten Liber Flavus, finden. 10 Bis jetzt konnte keine Spur der Überlieferungsgeschichte dieser Episode identifiziert werden, sie ist alleine in diesen beiden Handschriften erhalten. Trotzdem wurde sie überliefert, und deshalb können wir das Netz aus Abschriften, Übersetzungen und Adaptionen (sowie die Schreiber, Übersetzer, und Herausgeber), durch die diese beiden Codices über ein Jahrtausend von Ägypten bis Irland aus dem Griechischen ins Irische miteinander verbunden sind, nur erahnen. 2. Die Metastasis Während, wie wir gesehen haben, die Haupterzählung der frühen Johannesakten die Antike nur in unvollständiger Form überlebte, kann nicht das Gleiche für den Schlussabschnitt der Schrift, die den Tod des Apostels beschreibt, gesagt werden. Man nennt diesen Abschnitt die „ Metastasis “ (gr. metastasis, „ Abreise “ ) und nicht „ Martyrium “ , weil Johannes, anders als andere Apostel, keinen gewaltsamen Tod stirbt. Stattdessen berichtet der Schlussabschnitt der alten Johannesakten (in den Kapiteln 106 - 115 der heutigen Editionen des griechischen Texts), dass Johannes bis zu einem hohen Alter in Ephesus gelebt habe. Als die Zeit seines Todes näher rückt, bittet er seine Jünger darum, ein Grab für ihn zu schaufeln, in dem er, nachdem er noch eine Abschiedsrede gehalten hat, sich niederlegt und den Geist aufgibt. Anders als die Haupterzählung der Johannesakten ist die Metastasis gut und vielfältig überliefert: Sie findet sich in mehr als 20 griechischen Handschriften, sowie in Übersetzungen ins Lateinische, Syrische, Koptische, Armenische, Georgische, Arabische, Äthiopische und Altkirchenslawische. Der unterschiedliche Charakter dieser Handschriftentradition bedeutet, dass es sehr schwierig ist, mit ihr zu arbeiten - gleichzeitig aber auch überaus lohnend. Die griechischen Handschriften der Metastasis - die älteste davon geht auf das 10. Jahrhundert zurück - unterscheiden sich voneinander in einer Weise, die es unmöglich macht, zu entscheiden, welche von ihnen die älteste oder die dem Original am nächsten kommende Fassung der Schrift repräsentiert; das Beste, was Herausgeber damit tun konnten, war, diese unterschiedlichen Textzeugen drei verschiedenen Rezensionen zuzuordnen. 11 Aber auch die Übersetzungen - viele von ihnen wurden offenbar recht früh angefertigt - können mit den griechischen Texten verglichen werden. Die syrische Über- 10 Vgl. Martin McNamara, The Apocrypha in the Irish Church, Dublin 1975; eine Übersetzung des irischen Texts findet sich bei Máire Herbert/ Martin McNamara, Irish Biblical Apocrypha, Edinburgh 1989, 89 - 94. 11 Vgl. Junod/ Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 3), 1: 293 - 343; 2: 564 - 580. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 60 Janet E. Spittler setzung etwa, die womöglich bereits in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts angefertigt wurde, ist besonders wertvoll. Sie mag eine Form des Texts überliefern, die näher am Original ist als das, was wir in den bekannten griechischen Handschriften finden. Auch die armenische Überlieferung ist sehr hilfreich: sie wurde wohl nicht nur sehr früh - wohl im 5. Jahrhundert - angefertigt; interessant ist auch, dass die armenische Metastasis in biblischen Handschriften überliefert wurde. Dies wiederum heißt, dass der Text im Prozess der Überlieferung weniger wahrscheinlich abgeändert wurde. So erlaubten die syrische und die armenische Übersetzung (neben der koptischen und georgischen) den Herausgebern eine recht sichere Rekonstruktion einer Form der frühen griechischen Metastasis. Was aber lernen wir aus dieser komplexen Handschriftenüberlieferung darüber, wie und warum dieser Teil der alten Johannesakten bewahrt wurde? Eine Menge! Zunächst einmal zeigt sich, dass einzelne Abschnitte einer Schrift vom Ganzen abgetrennt werden und dann unabhängig in Umlauf gebracht werden konnten. Dieses Phänomen zeigt sich sehr häufig bei Erzählungen um den Tod eines Apostels. Diese Passagen wurden oft aus ihren längeren narrativen Kontexten herausgelöst und dann, als unabhängige Schrift mit eigenem Titel in den entstehenden hagiographischen Sammlungen, so genannten Menologien, aufgenommen, die Lesematerial für die Feier des Festtages eines Heiligen, der normalerweise am Todestag des Heiligen begangen wurde, zusammenstellten. 12 Um ein konkretes Beispiel zu bieten: Wir finden die Kapitel 106 - 115 der Johannesakten in einer griechischen Handschrift des 11. Jahrhunderts, die heute in der Vatikanischen Bibliothek (Vat. gr. 866, 32r - 33v) aufbewahrt wird. Sie werden hier als ein unabhängiges Werk mit dem Titel Letzte Ruhe des Johannes des Theologen präsentiert (gr. Anapausis I ō annou tou theologou) und unter 117 anderen Erzählungen über das Leben und Sterben von Heiligen platziert. Die Variabilität der Titel in diesen Handschriften wiederum kann bis zu einem gewissen Grade erklären, warum es möglich war, auch weiterhin Schriften (oder Teile von ihnen) zu kopieren und in Umlauf zu halten, die explizit verurteilt worden waren, so wie es ja mit den alten Johannesakten geschehen war. Die Auseinandersetzung des Zweiten Konzils von Nizäa mit den Johannesakten schließt damit, dass das Konzil einig darin sei: „ Niemand darf Abschriften davon anfertigen! Und wir setzen nicht nur dies fest, sondern auch, dass es verdient 12 Zur Entwicklung hagiographischer Sammlungen, besonders der vor-metaphrastischen Sammlungen, in denen die Metastasis häufig überliefert wurde, vgl. Christian Høgel, Symeon Metaphrastes. Rewriting and Canonization, Copenhagen 2002. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 61 hat, in die Flammen geworfen zu werden. “ 13 Das Exemplar der Schrift jedoch, die dem Konzil offenbar vorlag und die wir heute, wie aus den langen Zitaten aus ihr eindeutig klar ist, als Johannesakten bezeichnen würden, trug den Titel Reisen der Apostel. 14 Selbst wenn wir uns einen organisierten und konzertierten Versuch, Abschriften dieses „ häretischen “ Werks zu finden und sie zu verbrennen (an sich ein eher unwahrscheinliches Szenario), vorstellen wollen, legt es sich durchaus nahe, dass ein möglicher Bücherverbrenner eine Handschrift der Metastasis (oder Anapausis) Johannes des Theologen übersah. Mit der weiteren Entwicklung hagiographischer Literatur im 8. Jahrhundert und später wurden Episoden aus apokrypher Literatur tief in der Tradition verankert. Nahezu alle hagiographischen Erzählungen zum Tod des Johannes verdanken sich mehr oder minder direkt der Metastasis; und das hoch einflussreiche Leben des Johannes des Symeon Metaphrastes (900 - 987 n. Chr.) beinhaltet einen Bericht über die Abfassung des vierten Evangeliums auf einem Berg der Insel Patmos mit Hilfe des Schreibers Prochorus (eine apokryphe Episode, die erstmals in den Akten des Johannes durch Prochorus auftaucht, siehe 3 unten). 15 Obwohl die Akten des Johannes also tatsächlich nicht in ihrer ursprünglichen Form vorliegen und obwohl ihre Verurteilung nicht deutlicher hätte ausfalle können, kann man doch mit Recht sagen, dass ihre letzte Episode seit circa 1800 Jahren durchgehend im Umlauf geblieben ist. 3. Niederschrift, Adaption und Übersetzung des apokryphen Johannes Die obige kurze Zusammenfassung über das Nachleben der alten Johannesakten beschreibt, dass sich die Schrift in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts zu verlieren scheint. Wir haben bereits gesehen, dass diese Aussage für den Schlussteil des Texts, die Metastasis, nicht zutrifft; gleichzeitig finden wir zwischen dem Ende des 5. Jahrhunderts und dem späten 8. Jahrhundert (im Ikonoklastischen Konzil und im Zweiten Konzil von Nizäa) keine kirchlichen Autoren mehr, die gegen die Johannesakten polemisieren - weder solche, die 13 The Acts of the Second Council of Nicaea (787), übersetzt und eingeleitet von Richard Price, Liverpool 2018, 402. 14 Und in der Tat mag dieser Text wirklich in etwa so etwas gewesen sein wie das, was Photius im 9. Jh. gelesen haben mag. In seiner Bibliotheca 114 beschreibt Photius eine Schrift “ Reisen der Apostel ” (t ō n apostol ō n periodoi), die die Taten (Akten: praxeis) des Petrus, Johannes, Andreas, Thomas und Paulus umfasste. Edition: René Henry, Photius. Bibliothèque, Paris 1959. 15 Soweit ich weiß, bleibt die einzige Edition des Werks von Symeon Metaphrastes Jacques- Paul Migne, Commentarius in divum apostolum Joannem evangelistam ac theologum (PG 116), Paris 1864, 684 - 705. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 62 Janet E. Spittler dabei den Titel anführen, noch solche, die auf Passagen verweisen, die wir aus den Johannesakten kennen. Das aber heißt nicht, dass im späten 5. und im 6. Jahrhundert ein Mangel an apokryphen Schriften über Johannes geherrscht hätte; im Gegenteil: In diese Periode fällt die Abfassung mehrerer neuer Erzählungen über die Taten des Johannes. Eine von diesen, die bereits erwähnten Akten des Johannes durch Prochorus, greifen klar auf die alten Johannesakten als Quelle zurück. Diese umfangreiche griechische Schrift, abgefasst wohl am Ende des 5. Jahrhunderts, womöglich in Antiochien, 16 setzt mit einer Szene ein, in der alle Apostel in Gethsemane versammelt sind. Dort werfen sie Lose, um zu bestimmen, wer in welcher Region zu missionieren hat. 17 Der Erzähler berichtet, dass Johannes das Los für die Provinz Asia zieht und er selbst - wohl identisch mit dem in Apg 6,5 erwähnten Prochorus - das Los zieht, Johannes dabei zu begleiten (Akten des Johannes durch Prochorus 1 - 5). Die folgende Erzählung kann in drei Teile gegliedert werden: 1. Die Erzählung über die Taten des Johannes in Ephesus, die in sein Exil auf der Insel Patmos mündet, 2. Die Erzählung über die Taten des Johannes auf der Insel Patmos, die mit dem Bericht über die Abfassung des vierten Evangeliums auf dieser Insel und seine Rückkehr nach Ephesus endet, sowie 3. der Tod des Johannes in Ephesus. Der mittlere Teil macht den Großteil der Erzählung aus, etwa 70 % des Ganzen. Diese Episoden sind weitgehend neu: Keine frühere Schrift erzählt irgendetwas über die Taten des Johannes im Exil auf der Insel. Der Schlussteil wiederum ist parallel mit der Erzählung aus den alten Johannesakten, wenn auch in deutlich verkürzter Form; der Verfasser der Akten des Johannes durch Prochorus hatte vor sich also zumindest die Metastasis, die, wie wir eben gesehen haben, unabhängig zirkulierte. Der erste Teil jedoch macht deutlich, dass der Autor mehr von den alten Johannesakten gelesen hatte. Wie die alten Akten berichten die Akten des Johannes durch Prochorus von der Zerstörung des Tempels der Artemis von Ephesus durch den Apostel. Diese Episode ist in deutlich unterschiedlicher Weise (und deutlich erweiterter Form) erzählt, sie bietet aber genug wörtliche Parallelen, um eine literarische Abhängigkeit von der Episode aus den alten Johannesakten sicherzustellen. 18 Noch einmal: Es ist unmöglich festzustellen, ob der Autor der Akten des Johannes durch Prochorus die gesamten alten Johannesakten vor sich hatte. 16 Junod/ Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 3), 2: 718 - 749; Janet E. Spittler, The Acts of John by Prochorus. A Translation and Introduction, in: Tony Burke (Hg.), New Testament Apocyrpha. More Noncanonical Scriptures, Grand Rapids 2023, 262 - 361. 17 Vergleichbare Szenen finden sich in vielen apokryphen Apostelakten. 18 Vgl. Janet E. Spittler, The Acts of John by Prochorus in Patmos Ms. 188. A Test-Case Illustrating the Composition and Development of Later Apocryphal Acts, in: Tobias Nicklas/ Janet E. Spittler/ Jan N. Bremmer (Hg.), The Apostles Peter, Paul, John, Thomas, Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 63 Wie auch die Metastasis, könnte auch die Episode von der Zerstörung des Artemistempels unabhängig im Umlauf gewesen sein. 19 Trotzdem: In jedem Fall können wir sicher davon ausgehen, dass dieser Autor des späten 5. Jahrhunderts mehrere Teile der früheren Schrift gelesen und umgearbeitet hat. Zwei weitere griechische Erzählungen aus etwa der gleichen Zeit, die Akten des Johannes in Rom und die Akten des Timotheus, bieten, wie der Mittelteil der Akten des Johannes durch Prochorus, komplett neues Material über Johannes. Wie der moderne Titel andeutet, erzählen die Akten des Johannes in Rom, die in zwei Rezensionen überliefert sind, die Abenteuer des Apostels in der Hauptstadt: Johannes wird gefangen genommen - jede der beiden Rezensionen führt andere Gründe dafür an - und wird nach Rom zur Gerichtsverhandlung vor dem Kaiser verbracht (je nach Rezension vor Domitian oder Hadrian). Ein kurzer Austausch zwischen dem Apostel und dem Kaiser zur angemessenen Haltung eines Christen gegenüber einem menschlichen König führt dazu, dass der Apostel einen Gifttrank zu sich nehmen muss - und zwar nicht eigentlich als Todesurteil, sondern als eine Art von Test der Glaubwürdigkeit des Johannes und der Macht seines Gottes. In beiden Rezensionen des Textes überlebt der Apostel das Gift ohne irgendwelche Probleme für seine Gesundheit, am Ende der Erzählung jedoch wird er trotzdem zum Exil auf Patmos verurteilt. Bei den Akten des Timotheus handelt es sich - trotz ihres Titels - um ein Werk, in dem es mindestens genauso um Johannes geht wie um Timotheus. Die Erzählung spielt in Ephesus; während ihre zweite Hälfte das Martyrium des Timotheus beschreibt, erzählt die erste von einem Ereignis, das vor der Ankunft des Timotheus in der Stadt geschehen sei: Die Abfassung des vierten Evangeliums durch Johannes und - sehr interessant - seine Tätigkeit als Herausgeber der drei synoptischen Evangelien. 20 and Philip with Their Companions in Late Antiquity (Studies on Early Christian Apocrypha 17) Leuven 2021, 192 - 214. 19 Vgl. Junod/ Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 3), 2: 718 - 736; vgl. Spittler, Patmos Ms. 188 (s. Anm. 18), 208, n. 27. 20 Diese faszinierende Schrift hat erst im vergangenen Jahrzehnt wieder neue Aufmerksamkeit erfahren. Vgl. Claudio Zamagni, Passion (ou Actes) de Timothée. Études des traditions anciennes et édition de la forme BHG 1487, in: Rémi Gounelle/ Albert Frey (Hg.), Poussières de christianisme et de judaïsme antiques. Études réunies en l ’ honneur de Jean-Daniel Kaestli et Éric Junod, Prahins 2007, 341 - 375; Cavan Concannon, In the Great City of the Ephesians. Contestations overApostolic Memory and Ecclesial Power in the Acts of Timothy, in: JECS 24 (2016), 419 - 446; Meira Kensky, Ephesus, Loca Sancta. The Acts of Timothy and Religious Travel in Late Antiquity, in: Janet E. Spittler (Hg.), The Narrative Self in Early Christianity. Essays in Honor of Judith Perkins (Writings from the Greco-Roman World Supplements 15), Atlanta 2019, 91 - 119; Tobias Nicklas, Christian Apocrypha as Heterotopias in Ancient Christian Discourse. The Acts of Timothy, in: Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 64 Janet E. Spittler Keines dieser Werke kann mit Sicherheit datiert werden. Die Betonung einer christlichen Haltung gegenüber einem menschlichen König in den Akten des Johannes in Rom spricht für eine Entstehung des Texts in postkonstantinischer Zeit; dies alles erscheint am besten in einer Zeit denkbar, in der das Christentum ein neues Verhältnis gegenüber Herrschern auszuhandeln suchte. Zudem dürfte der Verfasser des Werks die Kirchengeschichte des Eusebius von Caesarea gekannt und als Quelle verwendet haben. Ein terminus ante quem lässt sich durch die wahrscheinliche Verwendung dieser Schrift durch Ephraim von Antiochien, der in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts schrieb, bestimmen. Damit können wir die Schrift mit einiger Wahrscheinlichkeit zwischen dem Ende des 4. und der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts datieren. Die Datierung der Akten des Timotheus bereitet ähnliche Schwierigkeiten; hier scheinen aber aus verschiedenen Gründen 21 die Jahrzehnte nach dem Konzil von Chalcedon (451 n. Chr.) einen gut denkbaren Rahmen für die Entstehung des Texts zu bilden. So entstanden also ungefähr zur gleichen Zeit die Akten des Johannes durch Prochorus, die Akten des Johannes in Rom und die Akten des Timotheus; zudem zeigt sich ein ähnliches Interesse an Johannes in zwei lateinischen Schriften, der Passio Iohannis des Pseudo-Melito 22 und den Virtutes Iohannis, 23 die beide von der Missionstätigkeit des Johannes und seinem Tode erzählen. Diese beiden Werke sind unabhängig voneinander, aber beide Autoren verwenden die gleiche, heute verlorene lateinische Erzählung als Grundlage ihrer eigenen Werke. 24 Beide Schriften (und genauso, die ihnen zugrundeliegende gemeinsame Quelle) beinhalten Episoden aus den alten Johannesakten, darunter die umfangreiche Erzählung über die Auferweckung der Drusiana, die in der Passio Iohannis allerdings in verkürzter Weise erzählt wird, die Zerstörung des Artemistempels von Ephesus und die Metastastis. Beide überschneiden sich auch in einem interessanten Punkt mit den Akten des Johannes in Rom: Sie bieten eine Szene, in der Johannes auf wunderbare Weise einen Gifttrank PIBA 41/ 42 (2018/ 2019), 60 - 74; Jan N. Bremmer, Timothy, John and Ephesus in the Acts of Timothy, in: Nicklas/ Spittler/ Bremmer (Hg.), The Apostles (s. Anm. 18), 215 - 239. 21 Vgl. Bremmer, Timothy (s. Anm. 20), 217 - 222. 22 Die Passio Iohannis ist in zwei Editionen zugänglich: F. M. Florentinus, Vetustius occidentalis ecclesiae Martyrologium, Lucca 1668, 130 - 137 (Neudruck in J. A. Fabricius, Codex apocryphus Novi Testamenti, Bd. 3, Hamburg 1719, 604 - 623); G. Heine, Bibliotheca anecdotorum, Bd. 1, Leipzig 1848, 109 - 117 (Neudruck PG 5, 1239 - 1250). 23 Eine neue Edition der lateinischen Virtutes Iohannis wird geboten durch Junod/ Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 3), 2: 795 - 834. 24 Zum literarischen Verhältnis zwischen beiden Werken vgl. Junod/ Kaestli, Acta Iohannis, 764 - 792 sowie Jean-Daniel Kaestli, „ Le rapport entre les deux vies latines de l ’ apôtre Jean, “ Apocrypha 3,1 (1992): 111 - 123. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 65 überlebt; aber statt vor dem Kaiser in Rom findet diese Episode in Ephesus vor Aristodimus, dem Priester der Artemis, statt. Und wieder ist es unmöglich, diese Schriften genauer zu datieren; es ist aber klar, dass die Passio Iohannis und die Virtutes Johannis zwischen der Mitte des 5. und dem Ende des 6. Jahrhunderts abgefasst wurden. Ihre gemeinsame Quelle muss natürlich älter sein. Wenn wir nun annehmen, dass diese lateinische Quelle - so überzeugend Junod und Kaestli - selbst die Übersetzung eines griechischen Werks war, das verschiedene im Umlauf befindliche Traditionen um Johannes kompilierte, dann haben wir ein weiteres Werk, das in diese Zeit hineingehört, vielleicht sogar ins 4. Jahrhundert. 25 In dem Moment also, in dem die alten Johannesakten zu verschwinden scheinen, zeigt sich also nicht ein fehlendes Interesse an apokryphen Traditionen um den Lieblingsjünger und Evangelisten, sondern eine Blüte neuer apokrypher Erzählungen über ihn. Diese neuen Erzählungen bewahren und adaptieren nicht nur Episoden aus den alten Johannesakten wie die Metastasis, die Zerstörung des Artemistempels von Ephesus und die Erzählung über Drusiana und andere Quellen, sondern bieten auch neue Episoden, die einen mehr und mehr geschäftigen Zeitstrahl im Leben des Apostels ausfüllen. Was aber führte zurAbfassung dieser neuen Werke in und um das 5. Jahrhundert? Im weitesten Sinne können wir darauf schließen, dass das Interesse an den Taten, aber auch dem Sterben der Apostel, also Informationen, die wir normalerweise nicht in den kanonischen Schriften finden, in dieser Zeit eher wuchs als abnahm. Einige Schriften, wie etwa die Virtutes Iohannis (und vielleicht mehr sogar die verlorene griechische Schrift, die als ihre entscheidende Quelle diente) bezeugen einen kompilatorischen Impuls, d. h. einen Impuls dazu, verschiedene Traditionen über das Leben des Johannes aus unterschiedlichen Quellen zu sammeln und zusammenzustellen, um sie in einer chronologischen Erzählung zusammenzufügen. Wir finden also in den Virtutes Iohannis verschiedene Traditionen, die wir ansonsten nur aus kurzen Erwähnungen in patristischen Quellen kennen (z. B. den Bericht des Tertullian, dass Johannes in Rom in Öl gekocht wurde, oder den Bericht des Clemens über Johannes und den Räuber), zusammengefügt mit schon seit langer Zeit existierenden Erzählungen aus den alten Johannesakten sowie wohl auch anderen Quellen, um ein zusammenhängendes Ganzes zu schaffen. Andere Schriften stehen für eine andere Form der Kompilation; offenbar geht es ihnen nicht darum, alles, was über eine bestimmte Figur bekannt war, zusammenzustellen, sondern darum, eine Zusammenfassung von Informationen über eine große Zahl an Figuren zu bieten. Texte dieser Art sind etwa die so genannten Apostellisten, die in Form von 25 Vgl. Junod/ Kaestli, Acta Iohannis, 2: 790. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 66 Janet E. Spittler Listen grundlegende biographische Informationen (inclusive Herkunft, andere Namen, Missionsgebiet und Umstände des Martyriums oder Todes) über die zwölf Apostel und die siebzig Jünger, die in Lk 10,1 erwähnt werden, zusammenstellen. 26 Diese Apostellisten scheinen erstmals am Ende des 4. Jahrhunderts (in griechischer und/ oder syrischer Sprache) entstanden zu sein; doch jahrhundertelang wurden neue Versionen produziert; es gibt sie in allen Sprachen des Christentums des Mittelmeerraums. Wie man aufgrund des Mangels an Informationen im kanonischen Neuen Testament erwarten kann, spielten apokryphe Texte und Traditionen eine wichtige Rolle bei der Zusammenstellung dieser Listen. Der Informationsfluss aber mag auch in die andere Richtung gegangen sein: Es ist möglich, dass Autoren Daten aus diesen Listen aufnahmen und diese zur Grundlage neuer Erzählungen machten. Dies könnte z. B. bei den Akten des Johannes durch Prochorus der Fall gewesen sein. Wie oben angegeben beinhaltet dieses Werk einen Bericht über die Abfassung des vierten Evangeliums durch Johannes während seines Exils auf der Insel Patmos. Aufmerksame Leser: innen mögen sich über diesen Ort wundern, ist Patmos doch - zumindest in heutigen Augen - bekanntlich der Ort, an dem die Offenbarung des Johannes und nicht das Johannesevangelium verfasst wurde. Die Offenbarung selbst behauptet, dass Patmos der Ort sei, an dem die erste Vision des Texts stattgefunden habe (Apk 1,9), und auch eine Vielzahl antiker christlicher Autoren hält Patmos für den Ort, an dem die Apokalypse abgefasst wurde. Dagegen gehen viele frühchristliche Autoren - unter ihnen auch die bereits erwähnten Akten des Timotheus - davon aus, dass das Evangelium in Ephesus entstand. 27 Die ältesten Apostellisten dagegen führen Patmos als den Ort an, an dem Johannes sein Evangelium verfasst hat. Die als “ Anonymus 1 ” bezeichnete Liste überliefert: „ Johannes (predigte) in der Asia; nachdem er um des Gotteswortes willen nach Patmos ins Exil geschickt worden war, schrieb er sein Evangelium. “ 28 Zumindest ein Wissenschaftler hat vorgeschlagen, dass diese überaus knappe Notiz den Verfasser der Akten des Johannes durch Prochorus dazu bewegt habe, seinen Stilus in die Hand zu nehmen und eine vollständige Erzählung von den Taten des Johannes auf dieser 26 Zu Apostellisten vgl. François Dolbeau, Prophètes, apôtres et disciples dans les traditions chrétiennes d ’ Occident. Vies brèves et listes en latin, SHG 92, Brüssel 2012 sowie Christophe Guignard, Greek Lists of the Apostles. New Findings and Open Questions, ZAC 20 n. 3 (2016), 469 - 95. 27 Vgl. z. B. Irenaeus, Adversus haereses 3,1,1 (zitiert bei Eusebius von Caesarea, Historia eccleasiasticae 5,8,4). 28 Vgl. Dolbeau, Prophètes, apôtres et disciples (s. Anm. 26), 184; Christophe Guignard, La tradition grecque de la liste d ’ apôtres ‚ anonyme I ‘ (BHG 153c), avec un appendice sur la liste BHG 152n*, in: Apocrypha 26 (2015), 171 - 209, hier 188. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 67 Insel zu verfassen, die ihren Höhepunkt in der Abfassung des Evangeliums finden. 29 Was auch immer zur Entstehung dieser Erzählung geführt haben mag: Sie war überaus einflussreich, ja sie übte einen bemerkenswerten Einfluss auf die kanonische Bibel selbst aus. 4. Die Aufnahme apokrypher Johannestraditionen in biblischen Handschriften In der Spätantike entwickelten sich zudem „ Vorworte “ oder „ Prologe “ von Evangelien. Diese bieten Informationen über das Leben des Evangelisten sowie über Ort und Umstände der Abfassung des Texts. Solche Prologe werden häufig als biblische „ Paratexte “ bezeichnet, da sie sich zusammen mit kanonischen Schriften in biblischen Handschriften finden. 30 Die meisten Vorworte zu Evangelien sind kurz - nicht viel länger als die Abschnitte über die Evangelisten in den eben genannten Apostellisten. Einige allerdings sind recht umfangreich und enthalten Traditionen, die zum großen Teil aus apokryphen Schriften übernommen sind. Die Denkschrift über den Heiligen Johannes den Theologen z. B. bietet eine ausführliche Beschreibung der Abfassung des vierten Evangeliums durch Johannes; diese ist wiederum klar abhängig von den Akten des Johannes durch Prochorus. Die Denkschrift beginnt mit einem kurzen Bericht darüber, wie Johannes die Götterbilder in der Asia umstürzen ließ und dort das „ Wort aussäte “ ; es folgt eine ebenso kurze Notiz über seine Verbannung nach Patmos, danach die Abschrift eines Briefs, den angeblich Dionysios Areopagita an Johannes in Patmos geschickt habe, um ihm seine Befreiung und Rückkehr nach Asien anzukündigen. Es folgt ein kurzer Bericht, dass, als Trajan Kaiser geworden war, Johannes freigelassen wurde, aber die Bewohner von Patmos ihn nicht gehen lassen wollten. Danach finden wir die folgende Passage: Obwohl er das Verlangen fühlt aufzubrechen, bitten ihn die Bewohner von Patmos nicht zu gehen. Und da sie ihn nicht überreden können, bitten sie ihn stattdessen, seine Schriften behalten zu dürfen. Und er, nachdem er zugestimmt hat, befiehlt er sich 29 Vgl. Spittler, The Acts of John by Prochorus (s. Anm. 16). 30 Das Studium biblischer Paratexte ist ein wachsendes Feld. Vgl. z. B. Patrick Andrist, Toward a Definition of Paratexts and Paratextuality. The Case of Ancient Greek Manuscripts, in: Liv Ingeborg Lied/ Marilena Maniaci (Hg.), Bible as Notepad. Tracing Annotations and Annotation Practices in Late Antique and Medieval Biblical Manuscripts, Berlin 2018, 130 - 149 sowie Garrick V. Allen/ Anthony P. Royle, Paratexts Seeking Understanding. Manuscripts and Aesthetic Cognitivism, in: Religions 11/ 10 (2020), 1 - 25. Vgl. zudem den Beitrag von Garrick V. Allen und Kelsie Rodenbiker im vorliegenden Band. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 68 Janet E. Spittler selbst zu fasten - und das Gleiche jedem anderen wie auch die Absonderung von allem Bösen. Danach nimmt er Prochorus mit sich und erreicht den Bergrücken, damit der erstere [also Johannes] auslege, was von Gott kommt, und der zweite [also Prochorus], was vom ersten komme. 31 Es folgt eine Erzählung über die Abfassung des Evangeliums, die deutlich von der gleichen Episode in den Akten des Johannes durch Prochorus beeinflusst ist. In den Abschnitten 2 und 3 habe ich betont, dass die so genannten „ apokryphen “ Schriften über Johannes und die Traditionen, die in ihnen aufscheinen, in keiner Weise „ verborgen “ waren. Im Gegenteil: Während die alten Johannesakten tatsächlich verurteilt wurden und ein Großteil ihres Inhalts beinahe verloren gegangen wäre, blieb eine große Bandbreite apokrypher Traditionen über Johannes, von denen viele ihren Ursprung in den alten Johannesakten fanden, im Umlauf und weit bekannt. Die genannten Vorworte zum vierten Evangelium aber zwingen uns zu einem noch überraschenderen Schluss: Da diese Prologe dem Evangelium in biblischen Handschriften vorangestellt sind, wurden die apokryphen Traditionen im wahrsten Sinne des Wortes in den Kanon - oder zumindest in die Bibel - aufgenommen. Ein Beispiel dafür zeigt sich in der Handschrift 727 (13. Jh.) in der Goodspeed Manuscript Collection der Universität Chicago (auf fol. 192v - 193v): Abb. 1: Ms 727 - 401 Fol. 192v(c), Chicago, Goodspeed Manuscript Collection, Hanna Holborn Gray Special Collections Research Center, University of Chicago Library, 13. Jh. n. Chr. Und mehr noch: Eine der häufigsten bildlichen Darstellungen des Johannes zeigt den Evangelisten bei der Abfassung seines Evangeliums in der Weise, wie dies in den Akten des Johannes durch Prochorus beschrieben ist, d. h. mit dem Apostel, wie er auf einem felsigen Berg auf der Insel Patmos steht und, häufig von Blitzen umgeben, dem dabeisitzenden Prochorus das Evangelium diktiert. 31 Zitat aus der Edition und Übersetzung von Yuko Taniguchi, François Bovon, and Athanasios Antonopoulos, The Memorial of Saint John the Theologian (BHG 919fb), in: François Bovon/ Ann Graham Brock/ Christopher Matthews (Hg.), The Apocryphal Acts of the Apostles, Cambridge 1999, 333 - 353. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 69 Dieses Bild des Johannes ist überaus häufig und begegnet selbst in biblischen Handschriften ohne Vorwort zum Evangelium. Viele biblische Handschriften beinhalten also zwar keinen Text der apokryphen Episode, aber, vermittelt durch ein anderes Medium, die Tradition. 32 Abb. 2: Grec 71 Fol. 149v, Paris, Département des manuscrits, Bibliothèque nationale de France, 12. Jh. n. Chr. 5. Drusiana in Kunst, Literatur und in biblischen Handschriften Wie oben erwähnt spielt Drusiana, eine reiche Frau, die zum Christentum konvertierte, eine wichtige Rolle in einem umfangreichen Abschnitt der alten Johannesakten (Kap. 63 - 86). Dieses Material ist in einer Handvoll von Handschriften der Akten des Johannes durch Prochorus in einer langen Episode als Interpolation überliefert. Erzählt wird die zweite Hälfte der Geschichte Drusianas. Als die Episode beginnt, ist Drusiana bereits eine Christin und führt mit ihrem 32 Zur Definition parabiblischer Traditionen siehe den Beitrag von Tobias Nicklas im vorliegenden Band. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 70 Janet E. Spittler Mann Andronicus, der ebenfalls ein Christ ist, eine keusche Ehe. Von den sexuellen Annäherungsversuchen eines gewissen Callimachus wird sie bis zur Verzweiflung geplagt; sie ist so sehr davon belastet, das Objekt der sündigen Begierden des Callimachus zu sein, dass sie schließlich stirbt. Callimachus aber, rasend vor Leidenschaft, lässt sich nicht einmal von ihrem Tod aufhalten. Zusammen mit einem Sklaven plant er, Zugang zum Grab zu erhalten. Nur die wunderbare Erscheinung einer riesigen Schlange, die ihn zu Tode erschreckt, kann ihn aufhalten, sich an ihrer Leiche zu vergreifen. Als Johannes herausfindet, was geschehen ist, erweckt er Drusiana und Callimachus wieder zum Leben, was dazu führt, dass auch Letzterer den Christusglauben annimmt. Wir wissen, dass dies nur die zweite Hälfte der Drusiana-Erzählung ist, weil der Text auf Drusianas Konversion und den dabei entstehenden Konflikt mit ihrem zu diesem Zeitpunkt noch nicht christlichen Ehemann Andronicus verweist. Nichts davon aber ist im überlieferten Material erhalten; stattdessen begegnen wir in einer anderen erhaltenen Szene der alten Johannesakten dem noch nicht christlichen Andronicus als Schurken (Kap. 31) Daraus folgt, dass es in den alten Johannesakten eine Erzählung gegeben haben muss, die von Drusianas Bekehrung handelte, vom Konflikt mit Andronicus und auch dessen Konversion. Diese Erzählung aber ist heute verloren. Trotzdem ist es möglich, einen groben Umriss der gesamten Drusiana-Erzählung aus dem vorliegenden Material zusammenzustückeln. In der griechischen Tradition verschwindet die Drusiana-Erzählung weitgehend mit den alten Johannesakten; sie spielt keine Rolle in der Metastasis und sie wird weder in den griechischen hagiographischen Werken z. B. des Niketas von Paphlagonien oder des Symeon Metaphrastes noch in den Vorworten zu den Evangelien erwähnt. Dafür taucht Drusiana wieder in der lateinischen Tradition auf: In Abschnitt IV der bereits erwähnten Virtutes Iohannis aus dem 5. oder 6. Jahrhundert wird die gesamte zweite Hälfte der Drusiana-Erzählung, also der Episode aus Kap. 63 - 86 der alten Johannesakten, präsentiert. Dabei wird sie in den Rahmen einer neuen zeitlichen Abfolge der Ereignisse eingepasst. Sie folgt jetzt unmittelbar auf die Rückkehr des Johannes aus dem Exil in Patmos und vor seiner Auseinandersetzung mit dem Philosophen Kraton - keine dieser Episoden begegnet in den erhaltenen Teilen der alten Johannesakten. Die Drusiana- Erzählung selbst jedoch ist im Grunde eine lateinische Übersetzung, die dem Griechischen recht genau folgt. 33 Die Unterschiede zwischen den Virtutes Iohannis IV und den Kapiteln 63 - 86 der Johannesakten liegen in erster Linie bei den Reden, die, wie zu erwarten, den Großteil des theologischen Inhalts der 33 Das Lateinische folgt dem Griechischen hier so präzise, dass die lateinische Übersetzung sich als hilfreich für die Rekonstruktion der originalen griechischen Textform erweist. Vgl. Junod/ Kaestli, Acta Iohannis (s. Anm. 3), 2: 790 - 792. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 71 Schrift vermitteln. Die Virtutes Iohannis bieten damit wertvolle Einsichten, inwiefern theologische Ansichten sich zum Zeitpunkt ihrer Abfassung gegenüber denen zur Zeit der alten Johannesakten verändert haben. Dies zeigt sich einfach daran, was der spätere Text sagt, was er von den alten Johannesakten auslässt und wo er sie abändert. Natürlich müssen wir dabei methodische Vorsicht walten lassen, wissen wir doch nicht, wie genau die Vorlage des Autors/ Redaktors/ Übersetzers der Virtutes ausgesehen haben mag, als er sein Werk ausführte. 34 Drusiana begegnet auch in der bereits erwähnten Passio Iohannis; hier jedoch ist ihre Erzählung deutlich verändert und abgekürzt. Wie in den Virtutes Iohannis ist die Drusiana-Erzählung hier direkt nach der Erzählung von der Rückkehr des Johannes aus dem Exil in Patmos nach Ephesus eingeordnet; hier aber enden schon die Gemeinsamkeiten. Die Erzählung ist dramatisch gekürzt und ihr Inhalt deutlich redigiert. Bei der Rückkehr des Johannes ist Drusiana soeben verstorben und die Gemeinde von Ephesus trauert um sie. Weder von Callimachus noch von Andronicus ist hier die Rede. Drusiana stirbt auch hier aus Trauer, ihr Tod wird aber in keiner Weise mehr mit irgendeiner Form sexueller Belästigung in Zusammenhang gebracht. Stattdessen berichtet der Text kurz, dass Drusiana wegen der Abwesenheit des Johannes im Exil trauert und schließlich stirbt: „ Drusiana, die ihm immer gefolgt war und die von der Sehnsucht nach seiner Ankunft erschöpft war, wurde (auf einer Bahre) hinausgetragen. “ (Drusiana, quae semper sequuta eum fuerat, et adventus eius desiderio fuerat fatigata, efferebatur). 35 Dies wiederum bekümmert die Gemeinde: Sie tragen ihren Leichnam genau in dem Moment zum Begräbnis, als Johannes wieder zurückkehrt - und beklagen, dass sie seine Ankunft so knapp verpasst hat. Sie erzählen, wie sie immer wieder gesagt habe „ Ich würde gerne den Apostel des Herrn mit meinen eigenen Augen sehen, bevor ich sterbe “ (videam Apostolum Domini oculis meis antequam moriar), und bedauern, dass „ du gekommen bist, und sie dich nicht sehen konnte “ (tu venisti, et te videre non 34 Interessanterweise wurde die Erzählung vom Tode der Drusiana und ihrerAuferweckung im 10. Jahrhundert durch die Stiftsdame und Dramatikerin Roswitha von Gandersheim selbst als Bühnenstück inszeniert. Roswitha, die eine weite Palette von Genres bediente, verfasste eine Reihe von Dramen, in denen sie, wie sie in ihrem eigenen Vorwort schreibt, anstrebt, die Keuschheit christlicher Jungfrauen zu verherrlichen. Unter diesen Werken ist ein Bühnenspiel mit dem Titel Resuscitatio Drusianae, das sich eng an die Erzählung anlehnt, die wir in den alten Johannesakten und den Virtutes Iohannis haben. Für eine interessante Studie zu Roswithas Werk vgl. Barbara K. Gold, Hrotswitha Writes Herself. Clamor Validus Gandeshemensis, in: Barbara K. Gold/ Paul Allen Miller/ Charles Platter (Hg.), Sex and Gender in Medieval and Renaissance Texts. The Latin Tradition, Albany 1997, 41 - 70. 35 Ich zitiere hier aus dem Text von Fabricius, Codex Apocryphus (s. Anm. 22), 607. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 72 Janet E. Spittler potuit). Johannes erweckt sie natürlich sofort von den Toten. Diese Episode wiederum wird in nahezu der gleichen Weise durch Jakobus de Voragine in der Legenda Aurea wiederholt. Abb. 3: Giotto di Bondone, Die Auferweckung der Drusiana, 1320. Diese Fassung der Drusiana-Erzählung, derzufolge sie direkt vor der Rückkehr des Johannes nach Ephesus stirbt und von ihm auferweckt wird, ist diejenige, die im Westen auch am prominentesten von Künstlern thematisiert wurde. Die entscheidende Szene mit Johannes und Drusiana, die, umgeben von einer Menge von Christen, von der Bahre auferweckt wird, wird häufig vor dem Hintergrund einer Stadtmauer dargestellt; sie war besonders in Italien populär, wo sie von Malern wie Giotto (in der Peruzzi Kapelle), Filippino Lippi (in der Strozzi Kapelle), Donatello, Giovanni di Paolo, und anderen gemalt wurde. Die Drusiana-Erzählung wird im Mittelalter z. B. durch Aldhelm (ca. 639 - 709/ 710 n. Chr.), der in seinem lateinischen Prosawerk De virginitate wahrscheinlich sowohl von den Virtutes Iohannis und der Passio abhängig ist, 36 sowie durch 36 Vgl. die englische Übersetzung von Michael Lapidge/ Michael Herren, Aldhelm, The Prose Works, Ipswich/ Cambridge 1979, 59 - 135, hier 80. Bei der ungenannten „ Matrone “ , die „ das endgültige Schicksal zu einer doppelten Todesurne “ verurteilte, handelt es sich klar um Drusiana. In einer Fußnote zu dieser Passage (S. 194 n. 11), wundern sich Lapidge und Herren, warum die Urne als „ doppelt “ (gemina) bezeichnet ist; ich denke, dass Aldhelm sich hier auf die mehrfachen Tode und Auferweckungen Drusianas bezieht, die in den alten Johannesakten und den Virtutes Iohannis beschrieben sind. Zur Verwendung der Virtutes Iohannis durch Aldhelm vgl. Aideen M. O ’ Leary, Apostolic Passiones in Early Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 73 Ælfric (955 - 1020) aufgenommen und weiter überliefert. Das altenglische Werk des Letzteren zum Leben des Johannes, der Assumptio Sancti Iohannis Apostoli, scheint vor allem auf der Passio zu beruhen. 37 Eine weitere Adaption dieser Episode findet sich im anglo-normannischen Leben des Johannes, in dem wir eine neue Entwicklung erkennen: Hier ist die Taufe der Drusiana der Grund für die Verhaftung des Johannes in Ephesus. 38 Ähnlich wie die Episode, die die Abfassung des Evangeliums auf Patmos mit Prochorus, der dem Diktat des Apostels folgt, beschreibt, tritt die Szene von der Auferweckung Drusianas mit Hilfe von Bildern in die kanonische, biblische Tradition ein: Eine Vielzahl von „ Bilderbüchern “ zur Offenbarung des Johannes aus dem England des 13. Jahrhunderts stellen Szenen aus dem Leben des Johannes dar; dabei interessieren sie sich besonders für die Drusiana-Erzählung. In den Handschriften Bodleian Anglo-Saxon England, in: Kathryn Powell/ Donald Scragg (Hg.), Apocryphal Texts and Traditions in Anglo-Saxon England, Cambridge 2003, 103 - 19, hier 111. 37 Zu Ælfrics Verwendung der Passio Iohannis vgl. Brandon Hawk, Preaching Apocrypha in Anglo-Saxon England, Toronto/ Buffalo/ London 2018. 38 Vgl. Ian Short, The Translation of the Life of St John and the Apocalypse, und The Life of St John the Evangelist from Paris, BNF fr. 19525, in: The Trinity Apocalypse (CD-ROM), hg. David McKitterick (London: The British Library, 2005), 16 und 88. Abb. 4: MS. Auct. D.4.17 Fol. 1r, Oxford, Bodleian Library, 13. Jh. n. Chr. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 74 Janet E. Spittler Library Auct. D.4.17 und Pierpont Morgan Library M.524 zum Beispiel ist die Offenbarung mit Hilfe einer Reihe von Illustrationen dargestellt, die eingebettet sind in eine breitere Erzählung über das Wirken des Johannes; dabei dient die Drusiana-Erzählung als so etwas wie die „ Buchstützen “ für die Vision des Johannes: Die Taufe der Drusiana gehört zu den ersten Ereignissen, die im Leben des Johannes dargestellt werden; sie wird als der unmittelbare Grund für seine Festnahme, Verurteilung und Verbannung nach Patmos präsentiert; darauf folgt die illustrierte Version der Johannesoffenbarung; es schließen sich weitere Bilder vom Leben des Johannes an, die mit Illustrationen seiner Rückkehr nach Ephesus und der Auferweckung Drusianas einsetzen. Erneut also findet hier eine apokryphe Passage, die einst abgefasst und im Umlauf war als zentrale Episode der alten Johannesakten, ihren Weg in biblische Handschriften; in diesem Fall ist sie zusammen mit der kanonischen Johannesapokalypse überliefert. 6. Fazit Die obige Darstellung der durchgehenden Überlieferung und der großen Popularität apokrypher Traditionen um den Apostel Johannes könnte noch einmal deutlich ausgeweitet werden, würden wir einen genauen Blick auch in Abb. 5: MS. Auct. D.4.17 Fol. 22v, Oxford, Bodleian Library, 13. Jh. n. Chr. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 75 die koptische, die armenische oder die altkirchenslawische Tradition u. a. werfen. Doch schon jetzt ist klar: Diese apokryphe Apostelerzählung war weder verloren, noch geheim, noch verborgen. Im Gegenteil: Sie spielte eine bedeutende Rolle in der Geschichte christlicher Literatur. Es mag so aussehen, dass die Tatsache, dass eine Schrift wie die alten Johannesakten immer wieder neu redigiert und z. T. dramatisch verändert wurde, ein Hindernis ist, welches man durch die mühevolle Rekonstruktion der frühesten erreichbaren Textform überwinden muss. Es ist sicher richtig, dass die überaus komplexen Texttraditionen und Überlieferungslinien dieser Schrift ihr Studium überaus schwierig machen. Ich würde allerdings sagen, dass die komplexen Nachleben - oder „ Leben “ - solcher Texte in vielfältigen Fassungen, Übersetzungen und Transformationen ein spannendes, kein störendes Charakteristikum sind. Der Wechsel ist es, der uns Einblick gibt in die Interessen, Belange und Praktiken jeder aufeinander folgenden Generation oder Gemeinschaft von Christ: innen, die den Text genug wertschätzte, um ihn erneut zu vervielfältigen und - vielleicht in veränderter Form - weiterzugeben. Dies aber steht in deutlichem Kontrast zu derjenigen frühchristlichen Literatur, die durch ihre Aufnahme in den Kanon mehr oder minder erstarrte. Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Ms 727 - 401 Fol. 192v(c), Chicago, Goodspeed Manuscript Collection, Hanna Holborn Gray Special Collections Research Center, University of Chicago Library, 13. Jahrhundert n. Chr. https: / / goodspeed.lib.uchicago.edu/ ms/ index.php? start=400&doc=0727&view=thumbs&obj =001 (letzer Zugriff am 10.07.2023). Abb. 2: Grec 71 Fol. 149v, Paris, Département des manuscrits, Bibliothèque nationale de France, 12. Jahrhundert n. Chr. https: / / gallica.bnf.fr/ ark: / 12148/ btv1b10025551d? rk=21459; 2 (letzer Zugriff am 10.07.2023). Abb. 3: Giotto di Bondone, Die Auferweckung der Drusiana, 1320. https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Giotto_di_Bondone_-_Scenes_ from_the_Life_of_St_John_the_Evangelist_-_2._Raising_of_Drusiana_-_WGA09296.jpg (letzer Zugriff am 10.07.2023). Abb. 4: MS. Auct. D.4.17 Fol. 1r, Oxford, Bodleian Library, 13. Jahrhundert n. Chr. https: / / digital.bodleian.ox.ac.uk/ ; creative Commons licence CC-BY-NC 4.0 (letzer Zugriff am 10.07.2023). Abb. 5: MS. Auct. D.4.17 Fol. 22v, Oxford, Bodleian Library, 13. Jahrhundert n. Chr. https: / / digital.bodleian.ox.ac.uk/ ; creative Commons licence CC-BY-NC 4.0 (letzer Zugriff am 10.07.2023). Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 76 Janet E. Spittler Janet Spittler studierte Neues Testament und Frühchristliche Literatur an der University of Chicago. Sie ist Associate Professor für Religious Studies an der University of Virginia. Der Schwerpunkt ihrer Forschung und Veröffentlichungen liegt auf der apokryphen christlichen Literatur. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0004 Apokryphe Apostelerzählungen und ihre Funktion in der Geschichte des Christentums 77