eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 26/51

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2023-0007
61
2023
2651 Dronsch Strecker Vogel

Das Muratorische Fragment

61
2023
Joseph Verheyden
znt26510093
Das Muratorische Fragment Eine Stimme von der anderen Seite 1 Joseph Verheyden Der „ Kanon Muratori “ - oder in weniger prägnanter Formulierung, das „ Muratorische Fragment “ (MF) - hat Gelehrte beschäftigt, seit es wiederentdeckt und im Jahre 1740 durch L. A. Muratori als Teil eines umfangreichen Werks zur Kultur und Geschichte des mittelalterlichen Italiens erstmals publiziert wurde. Wir wissen beinahe nichts über das Fragment. Der Verfasser bleibt unbekannt, seine Entstehungszeit und Abfassungsgeschichte, mögliche Quellen, Originalsprache, Gattung und Funktion werden weiter diskutiert. Es besteht also eine gewisse Ironie in der Tatsache, dass eine ganze Reihe von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen - mich eingeschlossen - sehr deutliche Meinungen zu einem oder gar einigen dieser Themen geäußert haben. Das ist natürlich nicht wirklich überraschend. Das Unbekannte erregt Aufmerksamkeit, es inspiriert die Gelehrten und erweckt eine Form von Mut darin, Positionen durchsetzen zu wollen, die nicht immer auf starken Argumenten beruhen. Es ist ein wenig, als würde man sagen: Nichts ist bekannt - und darum alles möglich. Dies ist eine verlockende Perspektive, aber gleichzeitig eine, gegen die wir einander in unseren Diskussionen immer wieder warnen sollten. Die produktivste und, man muss hinzufügen, auch kreativste und phantastievollste Wissenschaftlerin, die sich in den vergangenen Jahren mit dem MF beschäftigt hat, ist Clare Rothschild. Im Jahr 2018 publizierte sie einen provokativen Artikel in der Zeitschrift Novum Testamentum, der lange Zeit in Vorbereitung gewesen war - eine erste Version davon wurde bereits im Jahr 2008 auf der Tagung der Society of Biblical Literature präsentiert. Dieser Artikel 1 Dieser Beitrag versteht sich nicht nur als Kommentar zu dem Beitrag von Clare K. Rothschild und Jeremy C. Thompson im vorliegenden Heft, sondern auch zu Rothschilds Monographie The Muratorian Fragment. Text, Translation, Commentary (STAC 132), Tübingen 2022. erfuhr eine ausführliche Replik von Christopher Guignard. 2 Im vergangenen Jahr folgte eine höchst gelehrte Monographie zum Thema. 3 Ihr gemeinsam mit Jeremy C. Thompson verfasster Aufsatz in der vorliegenden Ausgabe der ZNT ist eine Art von Folgebeitrag zu einem Aspekt des Buches, der große Aufmerksamkeit erhielt - der Frage nach Parallelen oder Zitaten des MF in den so genannten Benediktinischen Prologen (BP) und was diese für die Gattungsdefinition des Fragments bedeuten. Er nimmt aber auch einige andere Aspekte auf, die in der Monographie angesprochen wurden - besonders wichtig darunter ist vielleicht die Frage der Datierung des Texts. Ich werde mich in erster Linie auf die Schlussfolgerungen und Konsequenzen konzentrieren, die Rothschild aus ihrer Diskussion bzgl. dieser beiden Punkte zieht, und danach ein paar Gedanken zu anderen Aspekten hinzufügen. 1. Die Datierung des Fragments Die beiden Hauptpositonen zur Datierung des Fragments sind wahrscheinlich wohlbekannt und werden noch einmal durch Rothschild & Thompson zusammengefasst. 4 Die klassische und, soweit mir bekannt, weiterhin meist verbreitete Ansicht besteht darin, dass der Text auf das 2. oder die Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert zurückgeht. Die Position der Herausforderer spricht sich für eine Datierung irgendwann im 4. Jahrhundert aus. Das entscheidende Element in der Diskussion findet sich in der relativ langen und recht nuancierten Notiz über den Hirten des Hermas, die wie folgt lautet (Z. 73 - 80): … Hermas aber verfasste den Hirten vor ganz Kurzem zu unseren Zeiten in der Stadt Rom, während sein Bruder, Bischof Pius, auf dem Sitz der Kirche der Stadt Rom saß, und aus diesem Grunde sollte er zwar gelesen werden, aber er kann nicht vor dem Volk in der Kirche, weder unter den Propheten, deren Zahl abgeschlossen ist, noch unter den Aposteln, die auf einen (festen) Zeitraum begrenzt sind. 5 2 Clare K. Rothschild, The Muratorian Fragment as Roman Fake, in: NT 60 (2018), 55 - 82; Christophe Guignard, The Muratorian Fragment as Late Antique Fake? An Answer to C. K. Rothschild, in: RevSR 93 (2019), 73 - 90. 3 Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1). 4 Für eine ausführlichere Diskussion der Datierungsfrage vgl. Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 73 - 75, 295 - 299 sowie Joseph Verheyden, The Canon Muratori. A Matter of Dispute, in: Jean-Marie Auwers/ Henk Jan de Jonge (Hg.), The Biblical Canons (BEThL 163), Leuven 2003, 501 - 512. 5 … Pastorem vero nuperrime temporibus nostris in urbe Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 94 Joseph Verheyden Es gibt keinen Grund zu der Vermutung, dass diese Information zur Datierung des Hirten eine spätere Hinzufügung zum ursprünglichen Dokument darstellt. Die Wendung nuperrime temporibus nostris (Z. 74) in Kombination mit dem Hinweis auf Papst Pius, der im Jahr 155 verstarb, wurde häufig als klarer Hinweis darauf gesehen, dass der Autor des Fragments dieses in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts verfasst haben muss. In meiner Übersetzung wird das Wort nuperrime in Bezug auf den Verfasser interpretiert. Aus seiner Perspektive wurde das Werk vor nur kurzer Zeit verfasst. Was auch immer man über die Identifikation des Hermas denken mag, dies ist deutlich die Botschaft, die der Verfasser vermitteln will. Wir leben in der Zeit des Pius oder kurz danach. Sundberg, gefolgt von Hahneman, hat eine alternative Lesart vorgeschlagen. 6 Das Adverb nuperrime beziehe sich nicht auf den Verfasser des MF, sondern auf den Hirten. Es werde verwendet, um eine zeitliche Lücke zwischen der späten Entstehungszeit des Hirten und den Schriften, die bis dahin erwähnt wurden, zu kreieren. All die Letzteren gehören zum apostolischen Zeitalter, der Hirte dagegen gehört definitiv einer späteren Periode an. Der Verfasser mag tatsächlich intendiert haben, die Zeitlücke hervorzuheben, und dies würde tatsächlich gut zu der Information darüber passen, den Hirten nicht „ zu den Aposteln “ zu rechnen; dies aber schließt in keiner Weise eine Datierung in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts aus. Um den letztgenannten Punkt zu verdeutlichen, zitiert Sundberg als enge Parallele zur Wendung im MF eine Passage, in der Irenäus über die Entstehungszeit der Offenbarung des Johannes spricht und schreibt, „ dass sie beinahe erst in unserer Generation geschaut wurde, am Ende der Regierung Domitians “ (Adversus haereses 5,30,3). 7 Sundberg weist darauf hin, dass Irenäus mit diesem Bezug einen zeitlichen Abstand von beinahe einem Jahrhundert abdeckt. Die Formulierung und, daraus folgend, auch die Situation ist im MF allerdings recht unterschiedlich. Irenäus verwendet kein Wort, das dem starken nuperrime vergleichbar wäre, sondern verwendet eine deutlich offenere Formulierung, die eine gewisse Flexibilität zulässt, vor allem beim Gebrauch von „ beinahe “ . Zudem scheint Irenäus in „ Generationen “ zu denken, während das MF auf einer individuelleren Basis spricht. Rothschild scheint von Roma Hermas conscripsit, sedente cathedra urbis Romae ecclesiae Pio episcopo fratre eius, et ideo legi eum quidem oportet, se publicare vero in ecclesia populo neque inter prophetas complete numero neque inter apostolos in fine temporum potest. 6 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 2 Anm. 2. 7 neque enim ante multum temporis visum est, sed pene sub nostro saeculo, ad finem Domitiani imperii; Griechisch in Eusebius, Historia ecclesiastiae 5,8,6. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 Das Muratorische Fragment 95 Sundbergs alternativer Lesart beeinflusst zu sein, die von ihr vorgeschlagene Variante der Übersetzung jedoch hat nur wenig Gewicht. Nachdem sie zunächst die genannte Passage zu Recht mit den Worten „ vor ganz Kurzem zu unseren Zeiten “ übersetzt, schlägt sie später als Alternative vor, die Worte temporibus nostris als „ in unseren Umständen/ unserer Stadt “ wiederzugeben, was nicht nur schwer zu verstehen ist und nicht unbedingt vom 2. Jahrhundert wegverweist, sondern durch keinerlei Hinweis gestützt ist. 2. Die Gattung des MF Mein zweiter Kommentar geht auf die Gattung des Texts ein. Ausführliche Passagen des MF finden eine Parallele in den Benediktinischen Prologen, die Informationen zum Corpus Paulinum bieten. Der Name dieses Texts hat damit zu tun, dass die ihn enthaltenden Handschriften ursprünglich im von Benedikt von Nursia selbst begründeten Kloster von Monte Cassino aufbewahrt wurden. Wenn das MF in Bobbio abgefasst wurde, wie Rothschild und andere argumentierten, besteht eine mögliche Verbindung zwischen beiden, da auch Bobbio zu dieser Zeit zu einem bedeutenden Benediktinerkloster wurde. Dies könnte die Parallelen erklären, obwohl beide Klöster einander geographisch nicht allzu nahe waren. Rothschild bietet in ihrer Monographie eine ausführliche und sorgfältige Analyse des BP und kann im hier publizierten Aufsatz auf einen zusätzlichen Textzeugen verweisen. 8 Die vorliegenden Handschriften gegen auf das 11. und 12. Jahrhundert zurück. Die Hälfte des Texts des BP, genauer 24 von 47 Zeilen, 9 besteht aus Material, das wir auch im MF finden. Die Parallelen sind stark, der BP bietet ab und an eine leicht bessere Orthographie. Der BP allerdings folgt nicht der Ordnung des MF, wie die bei Rothschild und Thompson gebotene Tabelle zeigt. 10 Rothschild und Thompson differenzieren vier Abschnitte, der BP allerdings zeigt keine solche Gliederung. Er fährt nach dem ersten Block, mit dem der Text beginnt, auf der gleichen Zeile (Z. 9) fort und bietet die drei weiteren Abschnitte ohne jegliche Unterteilung auf den Z. 28 - 40. Der BP konzentriert sich erwartungsgemäß auf Informationen über Paulus, jedoch nicht ausschließlich, sondern enthält auch die Informationen zu den verschiedenen Häresien, die den letzten Teil des MF in seiner überlieferten Form ausmachen. 8 Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 192 - 219. 9 Text und Übersetzung des BP in Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 197 - 201; vgl. Auch die Reproduktion von Kuhns Edition des BP aus dem Jahre 1892 auf S. 353 - 355. 10 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 4. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 96 Joseph Verheyden Rothschild und Thompson verwenden die Parallele, um Schlussfolgerungen zur Gattung des MF zu ziehen. Das Argument funktioniert folgendermaßen: BP wird üblicherweise als Prolog eingeschätzt; wahrscheinlich versteht auch der Autor des BP das MF als Teil der gleichen Gattung, da er dieses so ausführlich verwendet. Die Gattung solcher Prologe jedoch ist erst ab dem (späten) 4. Jahrhundert bekannt. Damit kann das MF nicht ins 2. oder 3. Jahrhundert datiert werden. Diese Argumentation ist in dreierlei Hinsicht problematisch: (1) Das Fehlen von Beweisen für die Existenz solcher Prologe zu einem früheren Zeitpunkt ist kein Beweis, dass es solche Prologe nicht gegeben haben kann. (2) Die Verwendung einer Quelle bedeutet nicht unbedingt, dass diese der gleichen Gattung angehört, sondern nur, dass sie Material beinhaltet, das für wertvoll oder brauchbar gehalten wird. (3) Wahrscheinlich am wichtigsten ist die Beobachtung, dass der BP ein „ kritischer “ Benutzer des MF ist; immerhin nimmt er wesentliche Änderungen vor und ersetzt Teile des MF durch anderes Material. Dies lässt wahrscheinlich darauf schließen, dass der BP nicht mit dem zufrieden war, was er im MF las. In einem Fall besteht die Änderung darin, dass eine inhaltlich eher dürftige Aussage (die eher vereinfachende und wenig informative Aufzählung der Paulusbriefe in Z. 50 - 55) durch eine inhaltlich substantiellere ersetzt wird, die eher im Einklang mit dem steht, was man in anderen Prologen findet. Dies könnte zu dem Schluss führen, dass das MF (zumindest in dem Teil über Paulus) ein eher schlechtes Beispiel für einen Prolog darstellt oder eben gar nicht als Prolog gedacht war, obwohl Rothschild und Thompson meinen, dass der BP es als solches verstand. Vielleicht aber handelt es sich auch um eine Art von Hybridform, in Teilen Kanonliste, in Teilen Prolog avant la lettre aus einer Zeit, die der Produktion solcher Prologe vorausging, also einer Zeit vor dem 4. Jahrhundert. Dem mag hinzugefügt werden, dass der BP das MF nicht einfach ignorierte, wie man dies von einem Autor erwarten würde, der einen Text seiner Zeit für unbefriedigend hält, sondern sich stattdessen bemühte, große Teile von ihm zu bewahren, als ob diesem Text bereits ein gewisser Status als „ älterer “ Versuch, einen solchen Prolog zu produzieren, zugekommen sei. 3. Beurteilung der BP Parallele Rothschild und Thompson definieren den BP als „ ersten unbestreitbaren äußeren Zeugen des MF “ , 11 entwickeln diesen Gedanken aber leider nicht weiter. Beide Texte mögen tatsächlich den Eindruck erwecken, sie seien 11 Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 3. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 Das Muratorische Fragment 97 zusammengesetzte Werke, wie auch Rothschild und Thompson mit Hinweis aus Westcott zum MF sagen und für das BP (teilweise auf dieser Basis) annehmen. 12 Dies mag zutreffen, aber es hat auch Konsequenzen für die Beurteilung der Parallelmaterials. Letzteres kann auf zweierlei Weise erklärt werden. Entweder ist der BP direkt vom MF als einer seiner Quellen - zugegebenermaßen einer besonders wichtigen - abhängig, sortierte jedoch das vorliegende Material um (oder ersetzte es), wie es ihm am besten erschien, oder die beiden sind abhängig von einer gemeinsamen Quelle, deren Ordnung einer von ihnen (oder beide) abänderten. Dabei bieten sie für die Abschnitte, in denen die beiden nicht übereinstimmen, einen anderen Text (aus einer anderen Quelle oder von ihnen selbst erfunden). Da die Version des BP in einigen Fällen problematischer oder chaotischer wirkt als die des MF, könnte man geneigt sein zu schließen, dass die zweite Möglichkeit wahrscheinlicher ist. Da dies jedoch eine Reihe Unbekannter einführt - immerhin setzt dies eine unbekannte Quelle voraus, geht aber auch davon aus, dass diese Quelle bereinigt werde musste und dass zudem nur das MF in der Lage war, dies zu tun - mag die ökonomischere und vielleicht die doch praktikablere Option darin bestehen, den BP vom MF her zu verstehen und zu akzeptieren, dass die Fassung des BP nicht der glatteste Text ist. Ich gebe ein Beispiel aus der ersten Parallele im Eröffnungsabschnitt. Im Kontext gelesen ist die erste Parallele im MF sinnvoller: Dies muss noch kein Indiz dafür sein, dass Letzteres nicht den Originaltext repräsentiere und seine Quelle verbessert hätte. Stattdessen gibt es Gründe dafür zu denken, dass der BP eine recht gute Vorlage, nämlich das MF, zerlegt hat. Das erste Indiz hierfür ist sicherlich nicht das stärkste, aber es mag durchaus wichtig sein, um zu verstehen, wie der BP mit seiner Quelle umging. In BP fehlt die Eingangsnotiz zu den paulinischen Briefen in MF 39 - 41. Stattdessen beginnt der Text in medias res mit Informationen zu drei paulinischen Briefen. 13 Im MF dient die Notiz, die per se nicht wirklich sehr informativ ist, dazu, einen Übergang von dem, was vorher über die Apostelgeschichte und über das Fehlen jeden Hinweises zum Tod von Petrus und Paulus in der Letzteren gesagt wird, und den paulinischen Briefen herzustellen. Man könnte sagen, dass eine solche Übergangs- oder Einleitungsnotiz in einem Prolog, der sich alleine mit dem Corpus Paulinum beschäftigt, nicht nötig war - und so entschied das BP, diese auszulassen. Dies 12 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 5 Anm. 9. 13 Der Text in Codex Monte Cassino 235 (C 2 ) bildet eine Ausnahme, bietet er doch eine recht lange Einleitung, die mit den Worten Incipit argumentum in epistolis Pauli beginnt und recht ausführlich erklärt, worum es im Römerbrief geht, sowie eine reine Liste, wie sie auch im MF zu finden ist. Vgl. Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 201 f. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 98 Joseph Verheyden ist möglich, aber es bedeutet, dass der Passage in der Form, in der sie auf uns gekommen ist, eine angemessene Einleitung fehlt. Der zweite Fall ist beunruhigender: Man hat vorgeschlagen, in der kurzen Notiz zu den an Einzelpersonen gerichteten Briefen im Corpus Paulinum (MF 46 - 47) eine negative Partikel hinzuzufügen: de quibus singulis <non> necesse est a nobis disputari ( „ Was die Briefe an Einzelpersonen betrifft, brauchen wir <nicht> darüber nachzudenken “ ), da Paulus wie Johannes in der Offenbarung an sieben Gemeinden schrieb. In BP aber fehlt das non. Dessen Hinzufügung im MF führt zu einem Problem, denn der Verfasser wendet sich ja ein wenig später diesen Briefen an Einzelpersonen zu, listet sie in der Ordnung Philemon, Titus und 1 - 2 Timotheus auf und qualifiziert sie als „ aus Sympathie und Liebe “ verfasst (Z. 60 - 61, pro affectu et dilectione). Dabei unterscheidet er sie klar von denen, die an das Ganze einer Gemeinde gerichtet und vorgesehen waren, „ über die ganze Welt in der Kirche verbreitet zu werden “ (Z. 56 - 57, per omnem orbem terrae ecclesia diffusa esse), ja stuft sie ihnen gegenüber gar ein wenig herab. Der Text des MF ist vielleicht ein wenig sperrig, aber er ist konsistent. Der BP hingegen folgt dem MF in seiner Besorgnis um den Status der Briefe an Einzelpersonen, sagt, man solle sie diskutieren, vergisst in dem, was folgt, dann aber, auch nur einen dieser Briefe an Einzelpersonen zu erwähnen. Kein Zweifel, dieser Bruch liegt daran, dass der BP sich in seinen Kommentaren zu den Gemeindebriefen vom MF abgewandt hatte, er offenbart aber einen ziemlich schlampigen Autor. Dem kann ein dritter Fall hinzugefügt werden: Es ist leicht erkennbar, warum der BP die einfache Aufzählung der paulinischen Gemeindebriefe, von der nicht klar ist, ob sie eine chronologische oder nur eine numerische Ordnung spiegelt, ersetzte. Aber wenn dem ersten Hinweis des MFs auf drei Briefe, deren Inhalte kurz zusammengefasst werden, eine Liste folgt, in der die gleichen Briefe noch einmal vorkommen, sicherlich nicht das klügste Arrangement darstellt, gilt dies sicherlich umso mehr für den BP, der hier das MF (oder die gemeinsame Quelle) für die drei Briefe kopiert und dann direkt danach diese Information in nur leicht verändertem Wortlaut (oder eigentlich ganz anders für den Römerbrief, vgl. BP Z. 3 - 5 vs. 9 - 11) wiederholt. Dies erweckt den Eindruck, dass sich der BP in seinen Quellen verlor, er mit einer begann, sich dann einer anderen zuwandte, insgesamt aber mit nur wenig Interesse an Konsistenz oder Glätte. Zurück zum MF und der Hypothese einer gemeinsamen Quelle: Wenn der Verfasser des MF die Informationen zu den Gemeindebriefen in der gemeinsamen Quelle durch seine Liste ersetzt hätte, hätte er wirklich schlechte Arbeit geleistet. Es gibt wirklich keinen Grund, warum dies geschehen sein könnte, was auch immer man von den vielen Mängeln des Fragments hält, von denen einige mit der schlechten Überlieferung des Texts zu tun haben. Insgesamt also ist die Hypothese einer gemeinsamen Quelle wahrscheinlich zu verwerfen und wir Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 Das Muratorische Fragment 99 müssen uns der Tatsache stellen, dass beide Texte, das MF und der BP, Probleme in Stil und Anordnung ihrer Informationen aufwerfen. 14 Ich schließe diesen Abschnitt mit einem Kommentar zu der angeblichen gemeinsamen Struktur von MP und BP. Rothschild und Thompson machen aufmerksam auf die Abhängigkeit des BP von einem „ Modell spirituellen Aufstiegs “ , das sie auch den Z. 42 - 46 des MFs - dabei werden die Briefe an die Korinther, Galater und Römer herausgehoben - zugrunde legen und das sie für interessant zur Bestimmung der Gattung des Fragments halten. 15 Dieses Modell unterscheidet zwischen „ elementaren “ Texten, d. h. den genannten Briefen, allerdings mit dem Römerbrief an erster Stelle, intermediären Schriften (Eph-Phil-Kol) und Texten für Fortgeschrittene (Thessalonicher-Hebräer). Hinweise dafür finden sie in der Einleitung, die eine Besonderheit des oben erwähnten Codex Monte Cassino 235 (C 2 ) darstellt. 16 Dieser Text lautet: „ Jeder Text oder jede Gruppe von Briefen fördert die Vollkommenheit jedes Einzelnen. “ Er fährt dann fort mit der Liste der zehn Gemeindebriefe, die sich in allen Codices aus Monte Cassino findet, setzt dabei mit den drei „ elementaren “ Briefen ein und endet mit dem Hebräerbrief (Z. 9 - 28). Dieser Vorschlag hat zwei Probleme: Zunächst bietet der Text des Codex C 2 keine solche Einteilung in drei Gruppen, sondern liest die Gemeindebriefe in einer langen Zehnerliste. Der einzige Hinweis für das Vorliegen eines solchen Aufstiegsmodells in drei Schritten besteht in der vagen Wendung „ Gruppe von Briefen “ , die jedoch in der Liste, die folgt, in keiner Weise geklärt wird. Zweitens wissen wir keineswegs, ob Codex C 2 hier die ursprüngliche Fassung des BPs repräsentiert oder eine, die das Chaos in der Rezension beseitigte, die diese Einleitung nicht hat und bei der dieser Zehnerliste die drei Briefe, die im MF besonders herausgehoben sind, vorausging. Rothschild und Thompson bemerken, dass die drei Briefe in MF 42 - 46 an die längere Liste in dieser anderen Rezension hinzugefügt wurden, und unterstellen damit, dass C 2 die Originalfassung bietet. Sollte dies der Fall sein, haben wir damit ein anders Beispiel für die Schlampigkeit in dieser Rezension des BP - denn warum sollte man zuerst die drei Briefe in derAnordnung des MF hervorheben und sie dann in einer anderen Anordnung wiederholen? Folgten wir der Hypothese, dass es das gleiche Aufstiegsmodell zugrunde gelegt habe, dann müssen wir schließen, dass der Umgang des MF mit dem Modell noch katastrophaler ist - bis hin zu dem Punkt, dass der letzte Brief dieser Liste fehlt und die ersten drei nun in der langen Liste ohne Spur einer Reihenfolge „ untergetaucht “ sind. 14 In diesem Sinne ist man versucht, Rothschilds und Thompsons Rede von der „ großen Besonderheit des MF, die so weit geht, dass man den Text als Einzel- oder Spezialfall, als Idiosynkrasie deuten könnte “ , auch auf den BP zu beziehen, vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 6. 15 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 7. 16 Rothschild und Thompson bezeichnen es in etwas verwirrender Weise als S 659 § 3 (vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 7). Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 100 Joseph Verheyden 4. Weitere Argumente für eine Datierung ins 4. Jahrhundert Neben den Argumenten, die sich aus der Notiz zum Hirten des Hermas und der Frage nach der Gattung des MF und den Parallelen zum BP ergeben, bieten Rothschild und Thompson eine Reihe anderer Indizien, die auf eine Datierung des MF im 4. Jahrhundert hinweisen. (1) Das MF fasst den Inhalt der Korrespondenz des Paulus mit den Korinthern mit den Worten scysme heresis interdicens zusammen. Das Lateinische scheint eine Cedille unter dem e des Wortes scysme zu haben, was einige Herausgeber des Texts dazu geführt hat, hier einen Genitiv zu lesen. Rothschild folgt diesem Vorschlag, ändert, dabei anderen folgend, das Wort heresis stillschweigend zu einem Plural und liest so schismae haereses interdicens (42, „ Häresien des Schismas verbietend “ ). BP liest stattdessen den Singular scisma heresis interdicens, versteht also das erste Wort als Nominativ und das zweite als Genitiv (1, „ ein Schisma der Häresie verbietend “ ). Rothschild baut darauf ein Argument für die Datierung des MF im 4. Jahrhundert, denn: It is not until the fourth century when heresy (i. e., “ sect ” ) is invoked as the cause of schism (i. e., “ separation ” ), and only much later than that schism comes to be defined as one of a number of punishable heresies. 17 Dies mag zutreffen, aber die Basis dafür, das MF in der Weise zu lesen, wie Rothschild dies tut, ist bestenfalls brüchig, denn das Wort scysmae könnte auch ein Plural sein (mit dem Wort heresis als Genitiv), den der BP dann treffender zu einer allgemeinen Aussage im Singular umwandelte ( „ das “ , nicht „ ein “ „ Schisma der Häresie “ ). (2) Rothschild und Thompson mögen damit Recht haben, dass antike Prologe, wenn sie Kontroversen ansprechen, „ weniger mit Argumenten als mit Behauptungen “ arbeiten; 18 dann aber fügen sie mit Hinweis auf die im MF (Z. 81 - 85) und im BP erwähnten Häresien (BP 33 - 37) hinzu, dass Prologe in der Regel nicht an dieser Art von Erwähnung bekannter Namen interessiert seien. 19 Ich bin nicht sicher, was ich davon halten soll, aber damit sind sowohl MF als auch BP eigentlich als Prologe diskreditiert. (3) Die Verfasser mögen damit Recht haben, dass die Prologe selbst von Quellen unterschiedlicher Art abhängig sind, 20 ich bin aber nicht sicher, ob De 17 Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 264. 18 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 6. 19 Sie „ waren … nicht der Ort, um konkrete Namen zu nennen. … Kommentare bildeten einen angemessenen Ort, um Häretiker und ihre Häresien zu diskutieren, denn diese Werke wurden von ausgebildeten Theologen studiert (und kopiert). “ - vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 6 f. 20 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 8. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 Das Muratorische Fragment 101 viris illustribus des Hieronymus die beste Möglichkeit ist, dies zu veranschaulichen. (4) Das MF zeigt deutlich ein Interesse daran, die Aspekte von Einheit und Einigkeit bei der Abfassung der Schriften des Neuen Testaments zu betonen. 21 Dies kann in der Form geschehen, dass die Rolle des Geists besonders betont wird (Z. 16 - 20), die Glaubensregel (Z. 20 - 31), die allgemeine Perspektive der Apostelgeschichte als einer Erzählung über die Apostel (Z. 34) und selbst über die Übereinstimmung zwischen den Sammlungen von sieben Briefen des Paulus und sieben Briefen des Johannes in der Apokalypse (Z. 48 - 49). Dem könnte man die unterstützende Haltung der Jünger hinzufügen, welche Johannes dazu drängen, sein Evangelium zu schreiben (Z. 10 - 16). Rothschild und Thompson kombinieren dies mit einem Kommentar zur allgemeinen Struktur des Fragments, die sie als chiastisch deuten. In ihr stehen den vier Evangelien am Ende „ balanciert “ vier Häresien gegenüber, während die drei Hauptbriefe des Paulus mit den drei Apokalypsen korrespondieren und die beiden Gruppen von sieben Briefen sieben Weisheitsbüchern entsprechen, „ wenn man sieben Weisheitsbücher voraussetzt “ . 22 Der letzte Zusatz allerdings weist bereits auf eine Schwäche in dieser „ Balance “ des Texts hin. Diese hätte durch ein eigenes kommentierendes Wort durch den Verfasser des Fragments gewonnen, damit die Struktur wirklich auch für die Lesenden funktioniert. Mein eigentlicher Punkt aber besteht darin, dass die letzten Zeilen dieses Abschnitts in Verbindung mit Anliegen des 4. Jahrhunderts um Einheit verbunden werden. Aus meiner Sicht drückt das Argument in Zusammenhang mit dem Brief an Philemon eher eine Sorge um die Verwendung des Corpus in der Lehre denn ein Interesse an Einheit aus. Vor allem aber glaube ich nicht, dass wir bis zum 4. Jahrhundert warten müssen, um Hinweise für beide Anliegen - man vergleiche den Umgang des Irenäus von Lyon mit den Evangelien! - zu finden. So scheint mir die Schlussfolgerung ein wenig zu einfach, dass die „ Betonung der Einheit durch den Autor des MF ein Interesse an der Beilegung solcher Streitigkeiten spiegeln “ könnte. 23 (5) Argumente e silentio sind immer problematisch. Deswegen ist es sicherlich am besten, nicht zu viel über das Fehlen bestimmter Titel im MF zu spekulieren. Der Hebräerbrief mag fehlen, weil er lange im Westen kritisch gesehen wurde, aber auch weil er nicht an eine konkrete Gemeinde gerichtet war - ein Argument, das auch das Fehlen des 1. Johannesbriefs erklären würde (wenn dies wirklich der Johannesbrief ist, der fehlt). Es wäre jedoch riskant, um das MF 21 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 10. 22 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 9. 23 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 9. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 102 Joseph Verheyden näher in seine Epoche zu rücken, das Argument des Hieronymus zu verwenden, dass der Hebräerbrief ausgelassen wurde, weil er eine Liste von sieben Briefen „ zerstörte “ , wie Rothschild und Thompson vorzuschlagen scheinen. 24 Es ist eine Sache, einen Brief, der keine Adressaten erwähnt, aus einer Siebenerreihe von Briefen auszulassen, die alle ihre Adressaten ordnungsgemäß angeben. Es ist eine andere zu sagen, dass dies der Grund dafür war, dass dieser Brief überhaupt weggelassen wurde. Das MF differenzierte zwischen zwei Arten von Briefen, sein Autor hätte leicht eine dritte Gruppe kreieren können, wenn er dies gewünscht hätte. (6) Ich zögere, für die Datierung des Fragments ins 4. oder frühe 5. Jahrhundert zu viel auf dem Inhalt des Codex Ambrosianus I 101 sup. aufzubauen, der das Muratorische Fragment inmitten einer Zahl anderer Texte enthält. Dies ist selbst dann der Fall, wenn die anonymen kurzen Fragmente im Codex, wie Pollastri argumentiert hat, Ambrosiaster zugeschrieben werden können und es Gründe gibt, dass der BP „ im indirekten Einflussbereich des Ambrosiaster “ stand, wie Rothschild und Thompson hinzufügen. 25 Das MF war im Aquileia des frühen 5. Jahrhunderts bekannt, aber dies macht es noch nicht zu einem Text, der in dieser Zeit abgefasst wurde. Was den BP betrifft, so könnte die Tatsache, dass das MF als Quelle verwendet wird, eher auf ein Dokument verweisen, das bereits einen gewissen Status erreicht hatte. Vielleicht könnte man selbst so weit gehen zu spekulieren, dass das MF eine neue Entdeckung gewesen sei, die bei diesen Aufmerksamkeit und Begeisterung erregte. Ich würde diesen Gedanken aber nicht forcieren. (7) Ein eher eigenartiges Argument für die Spätdatierung des MF, das im Beitrag hier nicht diskutiert wird, aber doch in der Monographie begegnet, hat mit der Liste der Häretiker zu tun, die am Ende des Fragments steht (Z. 81 - 85). 26 Das Lateinische ist stark verstümmelt, aber man kann so viel schließen, dass es einen ansonsten unbekannten Arsinous erwähnt ( „ Arsinoi “ ), einen Valentinus und Miltiades, beides Namen, die nicht unbekannt sind, danach noch einmal Markion (nach der Notiz in Z. 65 „ die Häresie des Markion “ ), nun aber in Verbindung mit einem Psalmenbuch, das er in Auftrag gegeben habe, dann Basilides, „ den Asianer “ (vielleicht verwechselt mit dem gnostischen Basilides, der eher mit Alexandria in Verbindung gebracht wurde? ) und die „ Kataphrygier “ , die wahrscheinlich mit den Montanisten zu identifizieren sind. 24 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 9. 25 Vgl. Rothschild/ Thompson, Honig gemischt mit Galle, 12. Eine ausführlichere Analyse des Inhalts des Manuskripts bietet Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 81 - 141. Zu Ambrosiaster vgl. dies., Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 323 - 341 (in einem Abschnitt mit dem Titel „ Hypothetical Historical Contexts “ ). 26 Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 303 - 306. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 Das Muratorische Fragment 103 Der Abschnitt lautet folgendermaßen, Aber wir nehmen nichts von Arsinous, Valentinus oder Miltiades an in seiner Gesamtheit, der auch ein neues Psalmenbuch für Markion verfasste, zusammen mit Basilides, dem Asianer, dem Gründer der Kataphrygier 27 Die gleiche Passage begegnet auch im BP (Z. 33 - 37), allerdings mit einigen Unterschieden: [Die Schriften] des Arsinous oder Valentinus jedoch, oder des Mitiades, wir nehmen überhaupt nichts an. Diese, die ein neues Psalmenbuch für Markion verfassten, zusammen mit einem des Basilides [oder] dem Asianer, Gründer der Kataphrygier 28 Rothschild qualifiziert die Fassung des BP als die „ zuverlässigere “ . 29 Seine Handschriftentradition überliefert eine Variante cive ( „ Bürger “ ) anstelle von sive, was einige auch vorgeschlagen haben auf Z. 81 anstatt von seu einzuführen. Wie auch immer: der bemerkenswerteste Unterschied ist die Lesart Arsinofa (C 20 und C 30 lesen arsmofa, was nicht wirklich hilfreich ist). Rothschild unterbreitet den folgenden recht gewagten Vorschlag. Ausgehend von einer Notiz bei Hieronymus (De viris Illustribus 107) über ein Buch, das Photinus, der Bischof von Sirmium, für den Kaiser Valentinian I (365 - 375) verfasste, in dem der Autor die Inkarnation abstritt, schlägt sie vor, die erste Zeile als entweder ariani fotini civis valentiniano oder ariani fotini sub valentiniano ( „ [das Buch] des Arianers Fotinus, Bürger unter Valentinian “ ) zu rekonstruieren, was uns im späten 4. Jahrhundert landen lassen würde! Rothschild stützt diesen Vorschlag mit Informationen aus dem Liber Pontificalis, denen gemäß Mani unter Papst Miltiades (310/ 11 - 314) nach Rom gekommen sei, um vorzuschlagen, dass das Wort Marcioni in Z. 83 ein Fehler für Mani oder die Manichäer (das Verb im Plural) sei. 30 Wir wissen, dass die Manichäer eigene Psalmen hatten und die Information im Liber Pontificalis ist wahrscheinlich glaubwürdig; wir können 27 Arsinoi autem seu Valentine vel Miltiadis nihil in totum recipimus qui etiam novum Psalmorum librum Marcioni conscripserunt una cum Basilide Asiano Cataphrygum constitutorem 28 Arsinofa autem seu Valentini, vel Mitiadis, nihil in totum recipimus, qui etiam novum psalmorum librum Marcionis conscriptserunt, una cum Basilide (sive) Asyano catafrigum constitutorem 29 Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 324. 30 Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 325. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 104 Joseph Verheyden uns auch vorstellen, dass ein schlampiger Autor oder Abschreiber leicht Mani und die „ Marcioni “ verwechselt haben mag - immerhin waren die Letzteren im MF vorher (Z. 65) erwähnt worden. Der Fall Arsinofa aber liegt ziemlich anders - und dies gilt auch für Rothschilds Vorschlag. Im Grunde schwächt sie ihn selbst, indem sie einen anderen Vorschlag für die Anwesenheit des Namens Miltiades hinzufügt, indem sie das Wort una auf recipimus bezieht, was den Satz ergibt: „ Wir nehmen überhaupt nichts an von … dem unter Miltiades “ . Der Letztere wird dann als Donatus (verst. 355) identifiziert, der mit Miltiades aneinandergeraten war und dessen Nachfolger Parmenaianus (verst. 392) „ Bücher und neue Psalmen für Propagandazwecke “ in Auftrag gegeben hatte, was den Zorn des Augustinus auf sich zog. Dies ist dann sinnvoll, wenn das Wort Marcioni als „ an incorrect expansion of Parmeniani “ 31 gelesen wird. Ich muss zugeben, dass all dies für meinen Geschmack etwas zu spekulativ klingt. 5. Fazit Meine kritische Lektüre einer genialen Präsentation mindert nicht meinen Respekt und meine Bewunderung für den Eifer, mit dem Rothschild und Thompson gearbeitet haben, um Teile des Rätsels um das MF zu lösen. Ihr Artikel gibt einen ersten Eindruck von der Fülle von Detailanalysen, die wir in der Monographie finden, und lädt uns ein, auch die Letztere zu lesen. Trotz all ihres Aufwands haben sie mich als Leser, wie ich versucht habe zu zeigen, jedoch nicht überzeugen können. Die Hinweise auf eine Datierung im 4. Jahrhundert bleiben nicht überzeugend und die Probleme, die sich aus dieser Datierung ergeben, übertreffen den Nutzen, den zu finden man erwarten könnte. Um es anders zu sagen: Wenn das MF eine Anomalie darstellt, wenn man es ins 2. Jahrhundert datiert, dann ist es auch im 4. Jahrhundert eine solche, weil es mit keinem der Prologe, die zu dieser Zeit abgefasst wurden, konkurrieren kann. Der Unterschied zwischen den beiden Optionen ist, dass dem MF im späten 2. und frühen 3. Jahrhundert eine Art Pionierfunktion zukäme, während es im 4. Jahrhundert im Vergleich zu den Modellen, die dann vorhanden waren, eher wie ein Rückschritt aussieht. Letztendlich also ist das MF mehr als eine Kanonliste mit Büchern, die gelesen oder vermieden werden sollen; es ist ein erster Versuch zusammenzustellen, was später als „ Prolog “ verstanden werden würde. Die Welt hat es Pionieren nie leichtgemacht. 31 Rothschild, Muratorian Fragment (s. Anm. 1), 325. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 Das Muratorische Fragment 105 Joseph Verheyden studierte Philosophie, Orientalisches Christentum und Theologie an der Universität Leuven und ist derzeit Professor für Neues Testament an der Fakultät für Theologie und Religionswissenschaften sowie Direktor des Louvain Centre for Eastern and Oriental Christianity an derselben Universität. Er hat zahlreiche Publikationen zum synoptischen Problem, zur apokryphen Literatur und zur Rezeption des Neuen Testaments in der frühen Kirche vorgelegt. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0007 106 Joseph Verheyden