eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 26/51

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2023-0008
61
2023
2651 Dronsch Strecker Vogel

Im Raum zwischen „kanonisch“ und „parabiblisch“

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2023
Stephanie Hallinger
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Hermeneutik Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ Caravaggios Auferweckung des Lazarus (1609) Stephanie Hallinger Im einleitenden Beitrag zu diesem Heft hat Tobias Nicklas die Frage aufgeworfen, ob das Bild einer scharfen Trennlinie zwischen Kanon und parabiblischen Traditionen adäquat ist. Bereits die Darstellung eines kanonischen Texts in anderen Medien, z. B. durch Bilder, hat ganz grundsätzliche Verschiebungen in der Aussage zur Folge. Diese gehen so weit, dass die Frage, ob eine Darstellung dem kanonischen Text entsprechend ist oder nicht, kaum mehr adäquat beantwortet werden kann. Dieser theoretische Gedanke soll im folgenden Beitrag anhand von Caravaggios Darstellung der „ Auferweckung des Lazarus “ ( Joh 11,17 - 44) konkretisiert werden. Das Beispiel ist schon deswegen vielsagend, weil Caravaggios Bild sich auch als eine Antwort auf Versuche der Römisch- Katholischen Kirche verstehen lässt, die Themen christlicher Kunst zu kontrollieren und mehr als bisher am biblischen Kanon auszurichten: Es ist ein in jeder Hinsicht düsteres Bild, das Michelangelo Merisi, besser bekannt als Caravaggio (1571 ‒ 1610), zur Lazarus-Perikope des Johannesevangeliums für seinen Auftraggeber anfertigt: kein Zeichen der Freude, des Lebens oder der Hoffnung ist in derAuferweckungsszene zu finden, die der frühbarocke Maler wenige Monate vor seinem Tod im Alter von 39 Jahren malt und die schon alle Merkmale des ausgereiften, späten Stils trägt. Wie so oft in seinen späten Heiligen- und Martyriumsbildern gestattet Caravaggio sich eine gewisse künstlerische Freiheit gegenüber dem Vorlagentext. Die zur Zeit der sogenannten Gegenreformation kontrovers geführte Debatte um deren Zulässigkeit führt dazu, dass neuzeitliche Darstellungen religiöser Motive stets auch im Hinblick auf ihre Texttreue zu beleuchten sind. In Fall der Auferweckung des Lazarus lautet die Frage deshalb, wie sich Caravaggios Bilddarstellung zum johanneischen Text verhält, genauer: ob sie als Fortschreibung bzw. Neuinszenierung des Erzählten zu werten ist. Fügt sie Motive hinzu, lässt sie Zentrales weg? Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst zu klären, ob der Maler beim Entwurf seiner Bildkomposition auf kursierendes ‚ Legendenwissen ‘ , feststehende ikonographische Formeln oder auch außerkanonische Texttraditionen zurückgriff und wie er diese in seine eigene Bildsprache übersetzte. 1. Die ikonographische Tradition zu Joh 11 Als älteste Belege der Lazarus-Bildformel verweist der Archäologe und Kunsthistoriker Norbert Zimmermann auf zwei römische Wandmalereien, einmal im ältesten Teil der Calixtus-Katakombe (Mitte 3. Jh.) und einer etwas späteren Version der Domitilla-Katakombe (Anfang 4. Jh.), beide mit relativ großer Texttreue. Christus steht jeweils vor einer Grabkammer, in der sich Lazarus befindet, und hält eine Art Zauberstab in der Hand. 1 Bereits in der frühchristlichen Kunst begegnen wir einem sehr stabilen Bildtypus mit nur wenigen Variationen, wie eine Vielzahl an Beispielen aus der Katakombenmalerei, von Elfenbeinreliefs und Mosaiken beweist: Abb. 1: Die Auferweckung des Lazarus, Rom, Katakombe an der Via Latina, Cubiculum O, linke Nische, in situ (Wandmalerei), 4. Jh. n. Chr. 1 Vgl. Norbert Zimmermann, Catacomb Painting and the Rise of Christian Iconography in Funerary Art, in: Robin M. Jensen/ Mark D. Elison (Hg.), The Routledge Handbook of Early Christian Art, New York 2018, 21 ‒ 38, 22. Die von Zimmermann verwendeten Bildzitate stammen aus Joseph Wilpert, Die Malereien der Katakomben Roms, Freiburg i.Br. 1903, 543 und 550. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 108 Stephanie Hallinger Abb. 2: sog. Brescia-Casket (Brescia-Lipsanotheca), Museo di Santa Giulia, San Salvatore, Brescia, Elfenbein, 4. Jh. n. Chr. Abb. 3: S. Apollinare Nuovo, Ravenna, Mosaik, 6. Jh. n. Chr. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 109 Sowohl in der Katakombenmalerei an der römischen Via Latina (Abb. 1) wie auch auf dem Elfenbein-Relief der aus Norditalien stammenden Brescia-Lipsanotheca (Abb. 2) aus dem 4. Jh. hält Jesus einen langen Stab in der Hand, mit dem er Lazarus berührt. Letzterer befindet sich in beiden Fällen noch in Leichentücher gehüllt in einerÄdikula statt gemäß Joh 11,38 ‒ 39 in bzw. vor einer Höhle; hier lehnt sich der Maler an ihm Bekanntes, genauer: die zeitgenössische Bestattungskultur an, statt dem Text zu folgen - Zimmermann spricht bei derartigen Motivübernahmen von der „ incorporation of traditional motifs in a Christian perspective “ 2 . In beiden Fällen steht er bereits aufrecht, anstatt noch im Bodengrab zu liegen. Die virga, der Zauberstab, ist Heribert Meurer zufolge „ der Stab, mit dem Hermes die Seelen der Verstorbenen aus dem Hades hervorrief “ , 3 und stellt zugleich eine Reminiszenz an das Quellwunder des Moses dar, dem sowohl in der Wandmalerei als auch auf frühchristlichen Sarkophagen die Auferweckung des Lazarus oftmals typologisch gegenübergestellt wird. Wo sich also noch keine eigene christliche Ikonographie entfalten konnte, greift man in der Bilddarstellung auf bekannte Formeln zurück, die gleichzeitig viel über das Verständnis der zugrundeliegenden Erzählung verraten: Christus tritt als „ Magier “ auf, die spätantiken Katakombenmaler und Elfenbeinschnitzer begreifen sein Wirken entweder als Emanation von Magie statt göttlicher Macht, oder es fehlen ihnen schlichtweg noch die notwendigen Formeln zur Übersetzung ins Bildmedium. Einen Schritt weiter sind hier bereits die Mosaiken von S. Apollinare Nuovo in Ravenna aus dem 6. Jh. (Abb. 3): zwar steht Jesus auch hier noch vor einer Ädikula statt vor einem Felsengrab, wie es der johanneische Text eigentlich verlangt, doch ist hier der Magierstab bereits durch einen Segensgestus ersetzt. Das Wunder scheint also bereits so weit ins „ kulturelle Gedächtnis “ eingegangen zu sein, dass es keiner ikonographischen Hilfskonstruktionen bedarf, um vom Betrachter erkannt und somit „ lesbar “ zu werden. Allen hier gezeigten Bildern indes ist die Form der Ädicula gemein, die jeweils mit ziegelgedecktem Dach, das Tympanonfeld stützende Säulen beiderseits des Eingangs und auf einer Basis ruhend gezeigt wird, zu der mehrere Stufen emporführen - Heribert Meurer zufolge eine gezielte Anlehnung an das seit dem 4. Jh. verehrte Lazarusgrab in Bethanien 4 , zu dem sich in seiner heutigen Form jedoch kein architektonisch augenfälliger Bezug mehr herstellen lässt. 2 Zimmermann, Catacomb Painting (s. Anm. 1), 23. 3 Heribert Meurer, Art. Lazarus von Bethanien, in: Lexikon der Christlichen Ikonographie, Bd 3, (1971) 33 f. 4 Vgl. Meurer, Lazarus (s. Anm. 3), 34. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 110 Stephanie Hallinger Abb. 4: Giotto di Bondone, Fresken in der Arenakapelle in Padua, 1304 - 1306. Über mehr als ein Jahrtausend hinweg blieb die so entstandene Bildformel stabil, ohne größeren Transformationen unterworfen zu sein. Noch Giotto di Bondone, der große Neuerer der Kunst am Vorabend der Renaissance, hielt in seiner Darstellung in der Arenakapelle zu Padua (Abb. 4) am spätantiken Darstellungsschema fest und tauschte lediglich die Ädicula gegen ein Felsengrab, wie es der neutestamentliche Text fordert. Die Leichenbinden, der Segensgestus, die Distanz zwischen Jesus und Auferwecktem jedoch - alle übrigen Bildelemente sind weiterhin erkennbar (wie im Übrigen auch noch die gesamte Renaissance hindurch). Erst im Frühbarock brach man mit der althergebrachten Tradition und ließ aus dem johanneischen Text etwas von Grund auf Neues entstehen. 2. Caravaggios „ Auferweckung des Lazarus “ : Eine Annäherung über Joh 11 Michelangelo Merisi wurde 1571 im 50 Kilometer westlich von Mailand gelegenen Caravaggio geboren und starb 1610 in Porto Ercole, einem kleinen Küstendorf in der südlichen Toskana. Mehrmals befand sich der frühbarocke Maler in existenzbedrohenden Situationen; während seiner Römischen Jahre nach 1591 sorgten sowohl seine Altarbilder als auch seine privaten Eskapaden regelmäßig für Aufruhr. Dieser gipfelte in einem Totschlag, der ihn 1606 zur Flucht nach Malta zwang. Dort gewährte ihm der Johanniterorden Asyl und nahm ihn als Ritter auf, doch auch dort wurde er wegen eines Deliktes gefangen gesetzt. Dank der Hilfe unbekannter Freunde konnte in einer Nacht-und-Nebel- Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 111 Aktion im Oktober 1608 nach Sizilien fliehen, wo seine letzte Schaffensperiode begann. Nahezu alle Bilder, die bis Juli 16010 entstanden, beschäftigen sich mit dem Themenkreis um Tod, Zeit und Ewigkeit. Abb. 5: Michelangelo Merisi detto il Caravaggio, Auferweckung des Lazarus, 1609, Museo Regionale in Messina, Öl auf Leinwand. Die mit 3,80 x 2,75 m monumentale, in Öl auf Leinwand gemalte Auferweckung des Lazarus (Abb. 5) befindet sich heute im Museo Regionale in Messina; ursprünglich hatte es der Messineser Kaufmann Battista de ’ Lazzari bei Caravaggio in Auftrag gegeben. Als der Stifter einige Monate zuvor das Bestattungsrecht in einer Chorkapelle der Kirche Santi Petro e Paolo de ’ Pisani erworben hatte, verpflichtete er sich vertraglich zur Ausstattung mittels eines Hochaltarbilds. Im ursprünglichen Vertrag ist von einer Madonnendarstellung mit Heiligen die Rede. Weil in jener Kirche jedoch seit 1591 der Ordine dei Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 112 Stephanie Hallinger Ministri degli Infermi untergebracht war, haben sich Stifter und Ordensobere höchstwahrscheinlich auf das von Caravaggio ausgeführte Thema verständigt, das den Stifternamen mit dem Tätigkeitsfeld der volkssprachlich „ Orden des guten Sterbens “ 5 genannten Padri Crociferi - die Pflege Kranker und Bedürftiger - in Einklang bringt. Um das bahnbrechend Neue an diesem Tafelbild zu erkennen, 6 nähern wir ihm uns zunächst über die Lazarus-Perikope des Johannesevangeliums. Die mehrmals erwähnten vier Tage im Grab scheinen „ primär der Mitteilung theologischer Sachverhalte zu dienen “ 7 , da die Reisedauer Jesu und des Boten von bzw. nach Bethanien nicht genannt werden. Dass Jesus zwei Tage wartet, bis er sich auf den Weg macht, sei wiederum ein klares Signal an die Rezipienten, dass der Erlöser die in ihn gesetzten Erwartungen eben nicht a priori erfülle, sondern „ daß Jesu Handeln seine gesetzte Zeit und Stunde hat (vgl. Joh 2,4; 7,6). “ 8 Hinter den vier Tagen, die Lazarus im Grab verbringe, stehe wiederum eine Tradition, die sich auch in rabbinischen Quellen findet. Dieser zufolge verweilt nach dem Tod die Seele noch drei Tage in der Umgebung des Körpers; in dieser Zeit sei eine Rückkehr in den Körper noch vorstellbar, anschließend werde sie von den Strafengeln mitgenommen, wie eine Reihe apokrypher Texte belegt; sobald aber am vierten Tag die Verwesung einsetze, müsse bei einer Rückkehr ins Leben von einem göttlichen Wunder ausgegangen werden, das menschliche Möglichkeiten schlicht übersteige. 9 Wie Frey darlegt, zeichnet sich die Lazarus-Perikope durch eine „ auffällige Doppelzeitlichkeit “ aus, die einerseits den lebendigen, wirkmächtigen Jesus vor Augen führt, andererseits eine proleptische Funktion „ als Zeichen und Prolepse jener kommenden Stunde “ erfülle. 10 Die fünfteilige szenische Strukturierung unterstreiche zusammen mit einer Reihe von literarischen Stilmitteln und Signalen die auktoriale Gestaltung, wobei retardierende Elemente zur Steige- 5 Vgl. Sybille Ebert-Schifferer, Caravaggio. Sehen - Staunen - Glauben. Der Maler und sein Werk, München 3 2019, 229. 6 Die oft genug herausgestellte Parallele zur „ Auferweckung des Lazarus “ des Cavaliere d ’ Arpino (Giuseppe Cesari) für den Palazzo Barberini (ca. 1591 - 1593, heute in der Galleria nazionale d ’ arte antica, Rom) bezieht sich auf rein formale Kriterien der Komposition, etwa die kreuzförmig ausgebreiteten Arme des Auferweckten, und wird daher an dieser Stelle nicht weiter thematisiert. 7 Jörg Frey, Die johanneische Eschatologie. Band 2: Das johanneische Zeitverständnis (WUNT I/ 110), Tübingen 1998, 197. 8 Frey, Eschatologie 2 (s. Anm. 7), 198. 9 Neben rabbinischen Zeugnissen begegnen ähnliche Vorstellungen u. a. in der Zephanja- Apokalypse, der Pistis Sophia, der syrischen Markus- und Makariusapokalypse und dem Testament Abrahams, vgl. Frey, Eschatologie 2 (s. Anm. 7), 199 f. 10 Vgl. Jörg Frey, Die johanneische Eschatologie, Band 3: Die eschatologische Verkündigung in den johanneischen Texten (WUNT I/ 117), Tübingen 2000, 416. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 113 rung der inneren Dramatik dienen, die Schlussszene vorausgehende Erzählelemente wiederaufnehme und dadurch die Klimax zusätzlich betone. Auf den Sinngehalt der Perikope im Hinblick auf das Kreuzesgeschehen wiederum deute bereits V. 4 zeichenhaft hin: Es gehe um das paradoxe Verhältnis von Tod und doxa, um den Zusammenhang zwischen dem Tod des Lazarus und der ‚ Verherrlichung ‘ des Sohnes wie auch umgekehrt zwischen derAuferweckung des Lazarus aus seinem Grab und dem Ganz des Sohnes ans Kreuz. 11 Für bildliche Darstellungen (und insbesondere die in der Malerei Caravaggios so zentrale Lichtregie) bedeutsam und ergiebig ist die Antithese von Tag und Nacht, Sichtbarem und Unsichtbarem, Offenbarem und Verborgenem. Der Text, rekurriert damit auf „ das Motiv des ‚ Tages ‘ als Zeit der öffentlichen Wirksamkeit Jesu, die mit dem Einbruch der ‚ Nacht ‘ (vgl. 13,30). ‚ in der niemand wirken kann ‘ (9,4), bzw. mit dem Beginn der ‚ Stunde Jesu ‘ (12,23; vgl. 2,4; 7,30; 8,20) zu Ende geht. “ 12 Für seine Bildkomposition macht Caravaggio das Begriffspaar auf ganz eigene Weise fruchtbar: Indem er das Geschehen von draußen ins Innere einer Grabkammer verlegt, kennzeichnet er die Auferweckung als (noch verhülltes, für die Anwesenden nicht als solches erkennbares) Vorzeichen dessen, was mit Passion und Kreuzestod Christi wenig später deutlich sichtbar werden soll - Frey formuliert es im Hinblick auf den Text so: „ Durch semantische Bezüge zur Passionsgeschichte und die von V. 8 über V. 12 bis V. 16 sich wandelnde Reaktion der Jünger wird sukzessive deutlich, daß Jesu Weg zu Lazarus ihn selbst in den Tod führen wird und daß allein in diesem Horizont das Wirken Jesu hinreichend verstanden werden kann. „ [Die Adressaten sollen] in ihm mehr erkennen als einen Wunderheiler oder Gesundbeter: den Sohn Gottes (V. 4), ja ‚ die Auferstehung und das Leben ‘ in Person, der in göttlicher Vollmacht die Toten auferweckt. “ 13 Hiervon abgesehen bietet die äußere Handlung der Perikope (auch im Horizont des Johannesevangeliums) vergleichsweise viele Anhaltspunkte für bildliche Darstellungen. Auf die Form des Grabes wurde bereits im Zusammenhang mit den spätantiken Bildbeispielen hingewiesen: Beide Gräber, das des Lazarus wie auch später das Jesu selbst in Joh 20,1, werden als mit einem Stein verschlossenes Höhlengrab beschrieben; Jesus befiehlt den Umstehenden, die Deckplatte wegzuheben (arate, V. 39a vs. ē rmenon, 20,1). Mehrmals wird explizit erwähnt, dass Jesus heftige Emotionen zeigt - in Form seines Ergrimmens auf 11 Frey, Eschatologie 3 (s. Anm. 10), 421. 12 Frey, Eschatologie 3 (s. Anm. 10), 427 f. 13 Frey, Eschatologie 3 (s. Anm. 10), 430. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 114 Stephanie Hallinger dem Weg nach Bethanien und durch sein Weinen im Vorfeld der eigentlichen Erweckung. Bei dieser ruft er Lazarus „ mit lauter Stimme (ph ō n ē megal ē ) und einem knappen Befehl (ohne Verbum! ): lazare, deuro ex ō , aus dem Grab und antizipiert so die ph ō n ē des Menschensohnes, die am Ende nach Joh 5,28 f. die Toten aus den Gräbern rufen soll. “ 14 Der Verstorbene tritt daraufhin als Wickelleiche aus dem Grab, an Händen und Füßen gebunden und mit Schweißtuch auf dem Gesicht. Caravaggios Tafelbild zeigt jenen Moment, in dem Jesus im Begriff ist, den bereits seit vier Tagen toten und, wie seine Schwester Marta vor Öffnung des Grabes fürchtet, bereits nach Verwesung riechenden Lazarus wiederzubeleben ( Joh 11,39): Mit zum Zeigegestus erhobenen rechtem Arm steht Jesus am linken Bildrand; seine linke Hand ist mit nach unten gerichtetem Zeigefinger unter dem dunkelgrünen Pallium im Halbdunkel erkennbar. Während das von links hinten einfallende Licht die Gesichter der Umstehenden wie auch den bereits von Leintüchern befreiten Körper des Lazarus durch kontrastreiche Schlaglichter erhellt, liegt das Haupt Christi ganz im Dunkel. Der Stoff seiner Tunika hingegen leuchtet geradezu in einem warmen, satten Rot, sodass es beinahe scheint, als strahle das Licht vom Arm Jesu aus. Hinter ihm dicht gedrängt steht eine Gruppe männlicher Zuschauer, ausnahmslos mit entsetztem, fassungslosem Gesichtsausdruck - jene Ioudaioi, die sich in Martas Haus aufhalten und ihr nach draußen folgen, im Glauben, sie wolle am Grab weinen ( Joh 11,31). Anders als im Evangelium beschrieben, spielt sich die Erweckungsszene nicht vor dem Grab ab, sondern darin (was auch die Art des Lichteinfalls erklärt); es handelt sich dabei auch nicht um „ eine Höhle, die mit einem Stein verschlossen war “ ( Joh 11,38), sondern um eine ähnliche Kulisse, wie sie bereits in einem früheren Bild Caravaggios begegnet: Die in weiten Teilen freie Bildfläche (deren Architektur an den Eingang der syrakusanischen Latomie, die Katakomben vor der Stadtmauer, erinnert 15 ) und die beiden zentral im Vordergrund positionierten Totengräber mit um den Rumpf gewickelten weißen Tüchern als einziger Kleidung rufen deutlich das mit 408 x 300 cm noch größer angelegte Begräbnis der hl. Lucia (Abb. 6) in Erinnerung, das erste der sizilianischen Werke Caravaggios, das er nach seiner Landung auf der Insel 1608 für die Kirche Santa Lucia al Sepolcro schuf. 14 Frey, Eschatologie 3 (s. Anm. 10), 442. 15 Vgl. Sebastian Schütze, Caravaggio. Das vollständige Werk, Köln 2017, 275. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 115 Abb. 6: Caravaggio, Begräbnis der hl. Lucia, 1608, Öl auf Leinwand, 408 x 300 cm, Syrakus, Basilica di Santa Lucia al Sepolcro (Leihgabe im Museo di Palazzo Bellomo). Hier wie dort prägt eine trostlose Atmosphäre das Bild, die in der Lazarus-Szene aber noch gesteigert ist durch die stärkere Präsenz des Todes in Form des bereits von Leintüchern befreiten, ausgemergelten, leichenstarr und mit vom Tod gezeichneten Hautkolorit scheinenden Körper, den der Totengräber diagonal im Bild hebt, und die menschlichen Gebeine darunter; Caravaggio setzt hier die Jesusworte aus 11,25 f. unmittelbar in seiner Bildformel um, indem er die Begriffstrias Auferstehung - Leben - tot (resurrectio - vita - mortuus) in direkten Bezug zueinander setzt, nämlich als aufsteigende Linie vom am Boden liegenden Schädel über den nach hinten gefallenen Kopf des Lazarus zu seiner über ihn gebeugten Schwester Marta, die ihn (aller Todeszeichen zum Trotz) zu Küssen im Begriff ist. Martas hellrote Palla mit der darunter getragenen grünlichen Tunika nimmt die Farben von Jesu Gewändern auf; die beiden bilden auf diese Weise einen Rahmen um die Personengruppe im Vordergrund - und auch der Blick Jesu ruht auf Marta, wenngleich er auf Lazarus deutet (mit dem Erweckungsgestus, der Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 116 Stephanie Hallinger bereits in der frühchristlichen Kunst begegnet). In der zweiten Reihe dahinter steht rechts über Marta die in sich versunken wirkende Maria mit dem Schultertuch, eine der von Caravaggio am häufigsten dargestellten biblischen Figuren. 16 Auch sonst zeigt die Komposition viel von Caravaggios reifem Stil Bekanntes: Die bis auf wenige gezielt gesetzte Farben und Akzente beinah monochromatische Farbgebung ist dafür ebenso typisch wie die dramatische Beleuchtung mit extremen Hell-Dunkel-Kontrasten, bei der sich nur wenige Partien vom dunklen Hintergrund abheben, und der Verzicht auf alles Periphere. Es entsteht eine starke Konzentration auf die wesentlichen narrativen Elemente, ohne jegliches unnötiges decorum, ohne Ablenkung von den handelnden Figuren und deren ausdrucksstarker, extrem individualisierter Physiognomie. Eine der Hauptfragen in Bezug auf das Bild Caravaggios lautet, ob Lazarus bereits lebendig ist oder seine Auferweckung noch bevorsteht. Er trägt alle Zeichen des Todes, lediglich die wie zur Abwehr erhobene rechte Hand, auf die der von außen dringende Lichtstrahl trifft, zeugt vom Erweckungswunder. Diese „ Transitions- “ bzw. „ Schwellenphase “ 17 zwischen Tod und Leben beschäftigte Kunsthistoriker von Herwarth Röttgen über Howard Hibbard (für den Lazarus ’ Armpositur Passion und Auferstehung in einem Wunder zusammenfasst 18 ) bis hin zu Svein Aage Christoffersen, der darin einen weiteren Beleg für Caravaggios Faszination an „ transitions and turning points “ 19 erkennt. Derlei Erklärungsversuche sind indes kaum nötig, wenn man den Blick auf den zugrunde liegenden Text richtet: V. 44 des Johannesevangeliums nennt 16 Auf dem Stuhl sitzend im 1595/ 96 entstandenen Gemälde der Galleria Doria Pamphili in Rom, zusammen mit Marta auf dem Doppelbildnis des Detroit Institute of Arts (1598/ 99) sowie auf der Grablegung Christi der Pinacoteca Vaticana (1602/ 03); alle drei Bilder entstanden während der römischen Jahre Caravaggios. Maria ist jeweils nach unterschiedlichen Modellen gemalt, wobei die letzten beiden Marien eine gewisse Ähnlichkeit mit derjenigen in der Auferweckung des Lazarus aufweisen, sodass sich von einem mehr oder minder konstanten Typus sprechen ließe. 17 Diese von Arnold van Gennep geprägten Begriffe für einen Liminalitätsstatus „ zwischen zwei Welten “ eignen sich ganz besonders, um den hier dargestellten Moment zu definieren. Siehe hierzu u. a. in aller Knappheit Arnold van Gennep, Räumliche Übergänge (1909), in: Stephan Günzel (Hg.), Texte zur Theorie des Raums, Stuttgart 2013, 37 - 40. 18 “ The unusual pose of Lazarus may be meant to foreshadow the crucifixion of the Christ who resurrects him, thereby encapsulating the Passion and the Resurrection in one miracle. ” - Howard Hibbard, Caravaggio (Icon Editions), Boulder/ Oxford 1985, 243. 19 Svein Aage Christoffersen, Ambiguity and the Fullness of Time. The Sacred and the Profane in Caravaggio ’ s Paintings, in: Mette B. Bruun/ Stephanie Glaser (Hg.), Negotiating heritage. Memories of the Middle Ages, Turnhout 2008, 287 ‒ 308, 305. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 117 Lazarus im Griechischen „ der Verstorbene “ (tethn ē k ō s, Partizip Perfekt 20 ) - es handelt sich also um jemanden, der nicht mehr am Leben teilnimmt. Jene Erwartung, die Jesus in Vers 11,24 f. gegenüber Marta weckt wird enttäuscht, der Auferstandene bleibt Verstorbener. Der Text verdeutlicht dies auch daran, dass er kein weiteres Interesse an Details oder dem Fortgang von Lazarus ’ Geschichte zeigt: in Joh 12,10 ist noch einmal die Rede davon, dass auch er wie Jesus getötet werden sollte, doch danach verliert sich seine Spur. Auch kommt es im unmittelbaren Textfortgang zu keiner weiteren Interaktion mit Jesus, etwa einer Umarmung, wie sie zwischen Freunden (zumal im Anschluss an ein derartiges Wunder) zu erwarten wäre - und genau diese Distanz zeigt auch die Komposition Caravaggios, welche Jesus in deutlichem Abstand von Lazarus erscheinen lässt - ein Merkmal dieser Szene, die nicht nur im johanneischen Text irritiert, sondern auch spätere Bearbeitungen des Stoffes prägt. 3. Die Auferweckungsszene in außerkanonischen Schriften Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine (letztes Drittel des 13. Jh.s), die allein schon aufgrund der immensen handschriftlichen Überlieferung als nach der Bibel am häufigsten gelesenes Buch des Mittelalters gilt, 21 enthält zu Lazarus keine eigene Legende. Der dominikanische Verfasser erwähnt den von Jesus Auferweckten mehrmals 22 als Bruder der heiligen Marta und Maria Magdalena in deren Legenden; ein eigener, sehr kurzer Legendenabschnitt findet sich lediglich im Sondergut einzelner Überlieferungsstränge (Cap CCXXXV/ 206, De sancto Lazaro episcopo et discipulo domini 23 ). Die Perikope des Johannesevangeliums erscheint dort auf einige wenige Sätze gekürzt: 20 Dass hier kein Aorist steht, signalisiert und unterstreicht das Fortdauern des Zustands. Ich danke Tobias Nicklas für diesen Hinweis. Im lateinischen Text ist dies weniger deutlich; dort ist im Plusquamperfekt von jenem die Rede „ qui fuerat mortuus “ . 21 Allein mehr als 1.000 lateinische Codices und 150 Drucke aus dem späten frühen und frühen 16. Jahrhundert legen hiervon beredtes Zeugnis ab, vgl. Stephanie Rappl, Text und Bild in der Elsässischen Legenda aurea. Der Cgm 6 (Bayerische Staatsbibliothek München) und der Cpg 144 (Universitätsbibliothek Heidelberg), Hamburg 2015, 19. Hinzu kommt eine schier unüberschaubare Zahl an Übersetzungen in alle europäischen Volkssprachen sowie eine wild wuchernde Rezeptionsgeschichte. 22 In den Abschnitten zum Evangelisten Johannes, zur Passion und zur Auferstehung Christi, in der Siebenschläferlegende sowie in den Legenden seiner Schwestern Marta und Maria Magdalena. 23 Johann G. T Graesse, Legenda aurea. Vulgo historial Lombardica dicta ad optimorum librorum fidem, Leipzig 1850, 948 f. In den edierten Textausgaben der Elsässischen Legenda aurea wie auch der neuhochdeutschen, von Richard Benz besorgten Fassung ist die Legende, die zum Sondergut zählt, nicht enthalten. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 118 Stephanie Hallinger Der so sehr von unserem Herrn Jesus Christus geliebt wurde, wie auch sein Sekretär Johannes in Kapitel 11 [seines Evangeliums] beschrieb und sagt, dass ein gewisser Lazarus schwer krank war ( Joh 11,1). Da sandten die besagten Schwestern zum Herrn und ließen hm sagen: Sieh, Herr, der, den du liebst, ist krank (vgl. Joh 11,3). Jesus aber, der Retter der Welt ( Joh 4,42), antwortete: Diese Krankheit ist nicht zum Tod, sondern zur Herrlichkeit Gottes und dazu, dass der Sohn Gottes durch sie verherrlicht wird ( Joh 11,4). Und danach sagte er zu seinen Jüngern ( Joh 11,7): Unser Freund Lazarus schläft, aber ich gehe, um ihn aus seinem Schlaf zu wecken ( Joh 11,11). Als er aber an den Ort kam ( Joh 11,17) und die Schwestern des Heiligen Lazarus ihn unter den größten Tränen ( Joh 11,33? ) verehrten ( Joh 11,32) und klagend sagten: Wenn du hier gewesen wärest, wäre mein Bruder nicht tot ( Joh 11,21.32), ging er zu dem Ort und erweckte den seligen Lazarus ( Joh 11,43 f.), der schon vier Tage lang tot war ( Joh 11,17). 24 Für die Bilddarstellung liefert der Text nur wenige Anhaltspunkte; die Szene war (nicht zuletzt aufgrund zahlloser Bilddarstellungen seit der Spätantike) so bekannt, dass sie dem Verfasser lediglich einen einzigen Halbsatz wert ist - der aber offenbar ausreichte, um bei den Rezipienten das kursierende „ Legendenwissen “ 25 zu aktivieren. Ein interessantes Bilddetail ist der Totenkopf unter Lazarus ’ linker Hand, die leblos nach unten weist - als Gegenstück zur Rechten, die abwehrend in Jesu Richtung zeigt. Ob man nun, wie Herwarth Röttgen vermutet, einen Anklang an die acclamatio 26 erkennen mag, sei dahingestellt. In jedem Fall aber zeigt die Rechte auf Christus, Symbol des Lebens schlechthin ( Joh 11,25), die Linke auf den Totenkopf unten - ein, wie Röttgen weiter schreibt, in der Lazarus- Ikonographie ungewöhnliches Bildelement, das die Unentschiedenheit von Lazarus ’ Zustand zwischen Reich des Lebens und des Todes noch zusätzlich 24 Lateinischer Text Graesse, Legenda aurea (s. Anm. 23), 949. Übers. Tobias Nicklas. 25 Zum Begriff vgl. Leopold Kretzenbacher, Die Seelenwaage. Zur religiösen Idee vom Jenseitsgericht auf der Schicksalswaage in Hochreligion, Bildkunst und Volksglaube (Buchreihe des Landesmuseums für Kärnten 4), Klagenfurt 1958, 101. 26 Herwarth Röttgen glaubt hierin eine Reminiszenz an die Geste der acclamatio aus der frühchristlichen Kunst zu erkennen, eines Grußes, der in der christlichen Ikonographie in Gegenwart des sprechenden Jesus die Bedeutung des „ theois dexiousthai “ annahm. ‒ Herwarth Röttgen, La Resurrezione di Lazzaro del Caravaggio, in: Mia Cinotti (Hg.), Novità sul Caravaggio. Saggi e contributi, atti del convegno internazionale di studi caravaggeschi (Bergamo 1974), Mailand 1975, 61 - 74, 62; ders., Kreuz und Auferstehung. Caravaggios Auferweckung des Lazarus, in: Carla Heussler/ Sigrid Gensichen (Hg.), Das Kreuz. Darstellung und Verehrung in der Frühen Neuzeit (Regensburger Studien Zur Kunstgeschichte 16), Regensburg 2013, 130 - 141, 133. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 119 verstärke, 27 und das Bild in die Nähe des Nikodemus-Evangeliums (EvNik) rücke - jenem Apokryphon, in dem Jesus eben dieses ‚ Reich des Todes ‘ betrete. Der Descensus Christi ad inferos, also der Abstieg Christi in die Unterwelt, beschrieben im zweiten Teil des EvNik, bildet für Röttgen den Ausgangspunkt zur symbolhaften Implementierung des Totenschädels. Als Textgrundlage verwendet er die lateinische Version aus Tischendorfs Evangelia apocrypha, der bis heute maßgeblichen Textausgabe, 28 und zitiert ausschnittsweise aus dem Dialog zwischen Hades und Satan in Kapitel IV (XX),3: Wer ist dieser Jesus, der mir durch sein Wort ohne Bitten die Toten entreißt? Vielleicht ist er es, der durch sein Machtwort den vier Tage lang stinkenden und zerfallenen Lazarus wieder zum Leben erweckte, den ich als Toten festhielt. Da antwortete Satan, der Fürst des Todes, und sagte: Es ist jener Jesus. Aber als Fähigkeiten, ihn nicht mir zu übergeben. Denn als ich die Macht seines Wortes hörte, erzitterte ich vor Furcht und Schrecken, und all meine Bediensteten waren mit mir verwirrt. Auch Lazarus selbst konnten wir nicht festhalten; er schüttelte sich vielmehr wie ein Adler und entsprang uns voll Behendheit und Schnelligkeit; und die versöhnte Erde, die den Leichnam des Lazarus hielt, gab ihn sofort lebendig zurück. 29 Es handelt sich hier um jenen Dialog um die Wirkmacht Christi, der mit leichten Variationen auch in die Legende Von der Auferstehung des Herrn der Legenda aurea Einzug hielt. 30 Wir erkennen hier einen weiteren Beleg für das bereits oben erwähnte Legendenwissen - und in der Zusammenschau der lateinischen Texte zeigt sich eine erstaunliche Quellentreue des Jacobus de Voragine, der selbst die Adlermetapher aus der spätantiken Vorlage übernahm. Dass Caravaggio bestens mit der Legenda aurea bekannt war, zeigt eine Vielzahl seiner späten Martyrienbilder - sie diente mit hoher Wahrscheinlichkeit als Vermittlungsinstanz für den Stoff aus dem apokryphen Evangelium. Mit einem anderen, weit weniger literarischen Text wiederum war Caravaggio aufs Beste vertraut, da sein Inhalt ihn mehrfach in Auseinanderset- 27 „ Esso [il teschio] ha naturalmente la funzione di rappresentare I due poli poopsti, morte e vita, definendo così l ’ esistenza di Lazzaro - in questo momento sospesa tra il regno della morte e quello della vita - con Maggiore intensità di quanto potrebbe farlo la raffigurazione del semplice risveglio. “ 28 Vgl. Wilhelm Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. Band 1: Evangelien, Tübingen 6 1990, 399. 29 Evangelii Nicodemi pars altera sive descensus Christi ad inferos, in: Constantin von Tischendorf, Evangelia apocrypha. Adhibitis plurimis codicibus graecis et latinis maximam partem nunc primum consultis atque ineditorum copia insignibus, Leipzig 1876, 389 - 416, 396. - Übersetzung Tobias Nicklas. 30 Der Text ist über weite Strecken parallel, vgl. Legenda Aurea. Goldene Legende, hg. und üs. von B. W. Häupli (Fontes Christiani), Freiburg u. a. 2 2022, 761. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 120 Stephanie Hallinger zungen mit Auftraggebern verwickelte: Die Tridentinischen Bildervorschriften verhandeln das, was in der religiösen Malerei erlaubt ist - und was nicht. Letzteres bildete eine imaginäre rote Linie, die der frühbarocke Maler mit seinem Hang zum Skandal oft und gerne übertrat. In der Sphäre der „ gelebten Religion “ nahm die Bilderfrage während der (Gegen-)Reformation eine zentrale Rolle ein; die formalen Kriterien religiöser Darstellungen wurden in der Schlusssitzung des Tridentinischen Konzils (sessio XXV) erörtert. Die Kernpunkte unterstreichen zunächst die Legitimität der Heiligenverehrung aufgrund ihrer Vorbildfunktion für Gläubige; zugleich wird sie gegen Missbräuche verteidigt. 31 Am bedeutsamsten für die Bildkunst sind bezeichnenderweise nicht die Gebote, sondern die Verbote des Dekrets: Ferner soll aller Aberglaube in der Anrufung der Heiligen, der Verehrung der Reliquien, dem hl. Gebrauch der Bilder beseitigt, jede schändliche Gewinnsucht ferngehalten, jede Lüsternheit vermieden werden, sodaß keine Bilder von üppiger Schönheit gemalt oder geschmückt werden [ … ]. Die Bischöfe sollen endlich hierin mit solch gewissenhafter Sorgfalt vorgehen, daß nichts Unordentliches, nicht in verkehrter und übereilter Weise Angeordnetes, nichts Profanes und nichts Unanständiges in Erscheinung trete, da dem Hause Gottes Heiligkeit geziemt. 32 Es mag also durchaus einem gewissen Überdruss an Auseinandersetzungen (oder auch dem Willen, in den Augen des Papstes Gnade zu finden und seine Verbannung aus Rom aufgehoben zu sehen) geschuldet sein, dass Caravaggio den Hinweis auf den apokryphen Text sehr dezent im Bild versteckt und daher zu einem ungewöhnlichen Einzelmotiv greift. Insgesamt nämlich treten in der mittelalterlichen (nicht nur byzantinischen, sondern auch westlichen) Ikonographie unter Rückgriff auf die Kirchenväter und das EvNik häufig Hades, Satan oder Hinweise auf das Weltgericht (etwa Christus mit einem Buch in der Hand) auf, 33 die den Bilderverboten zufolge der licenza religiöser Darstellungen widersprochen hätten: Apokryphen wurden somit für lange Zeit zu illegitimen Bildquellen erklärt, was zu einem Paradoxon führte: Die (zumeist) spätantiken Texte waren im Lauf der Jahrhunderte tief ins kulturelle Gedächtnis eingesunken; aus ihnen speiste sich ein erheblicher Anteil des Legendenwissens, 31 vgl. Carlo Marcora, Trattati de ’ arte sacra all ’ epoca del Baronio, in: Romeo di Maio u. a. (Hg.), Baronio e l ’ arte. Atti del convegno internaionale di studi (Sora, 10. ‒ 13.10.1984), Sora 1985, 198 ‒ 244, bes. 191. 32 Conciliorum oecumenicorum decreta. Curantibus Josepho Alberigo (et al.); Consultante Huberto Jedin. Bologna: Istituto per le Scienze Religiose, Centro di documentazione 3 1973, 775 f., hier: 776. Übersetzung nach Thomas Aschenbrenner, Die Tridentinischen Bildervorschriften. Eine Untersuchung über ihren Sinn und ihre Bedeutung (Schriftenreihe der Universität), Freiburg i. Br. 1930, 44 f. 33 Vgl. Meurer, Lazarus (s. Anm. 3), 34 ‒ 7. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 121 das die Religiosität des Volkes mitbestimmte. Es entstand auf diese Weise eine eklatante Leerstelle in der Produktion neuer religiöser Kunst. Diese wiederum musste auf erfindungsreiche Weise geschlossen werden - indem die neuen Bilder selbst (im weiten Sinne) zu Apokryphen - oder vielleicht besser: zu Parabiblica - wurden, die biblische Geschichten fortschreiben und neu inszenieren. 4. Die Auferweckung des Lazarus als Apokryphon bzw. Teil einer parabiblischen Tradition und als Heterotopie Für einen offenen Apokryphenbegriff plädierte Tobias Nicklas erstmals 2006. Er fasst ihn dezidiert nicht in Form einer geschlossenen Definition, sondern nähert sich ihm von den Aspekten der Textualität und Intertextualität her, die eine Art Geflecht mit Leerstellen entstehen lassen. Diese Leerstellen füllen „ Ergänzungsfragen “ der Rezipienten, die wiederum eine Vielzahl an Deutungsangeboten ermöglichen. 34 Unter Rückgriff auf Gérard Genettes Konzept der Hypertextualität 35 ergeben sich somit offene Grenzen für verschiedenste Überlagerungen von Hyper- und Hypotext, die lediglich Para- und Metatexte ausschließt, ansonsten aber jede Art von Fortschreibung zulassen. Dadurch versteht Nicklas in seinem Versuch einer Begriffsannäherung einen Text als christliches Apokryphon [ … ], wenn er (1) nicht Teil der in der heutigen christlichen Bibel gesammelten Schriften geworden sowie nicht nur oder weitestgehend nur aus Abschnitten der christlichen Bibel zusammengesetzt ist, wenn er aber (2) (in seiner Gesamtheit) als Hypertext zu Teilen oder dem Ganzen der christlichen Bibel gelesen werden will. Diese Teile der christlichen Bibel bzw. die christliche Bibel selbst bildet dann einen ‚ privilegierten Hypotext ‘ des entsprechenden Hypertextes. 36 Zu Apokryphen - oder vielleicht besser: Parabiblica 37 - zählen aufgrund eines weit gefassten Textualitätsbegriffs grundsätzlich auch bildliche Darstellungen. Dies wiederum deckt sich mit Erwin Panofskys Methodikbegriffen der Ikonographie und Ikonologie, 38 deren Terminologie bereits impliziert, dass Bilder wie 34 Vgl. Tobias Nicklas, Semiotik - Intertextualität - Apokryphität. Eine Annäherung an den Begriff „ christlicher Apokryphen “ , in: Apocrypha 17 (2006), 55 - 78 35 „ Darunter verstehe ich jede Beziehung zwischen einem Text B (den ich als Hypertext bezeichne) und einem Text A (den ich … als Hypotext bezeichne), wobei Text B Text A auf eine Art und Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist. “ - Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a. M. 1993, 14 f. 36 Nicklas, Semiotik (s. Anm. 34), 74. 37 Nicklas spricht in diesem Zusammenhang von „ parabiblischen Traditionen “ . Vgl. hierzu auch den Beitrag von Nicklas im vorliegenden Band. 38 Diese entwickelte Panofsky u. a. in zwei grundlegenden Aufsätzen, Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst (1932) sowie Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 122 Stephanie Hallinger Geschriebenes zu interpretieren sind. Das Ziel der Interpretation jedoch ist erst erreicht, wenn sie die Gesamtheit der Wirkungsmomente (also nicht nur das Gegenständliche und Ikonographische, sondern auch die rein ‚ formalen ‘ Faktoren der Licht- und Schattenverteilung, der Flächengliederung, ja selbst der Pinsel-, Meißel- oder Stichelführung) als ‚ Dokumente ‘ eines einheitlichen Weltanschauungssinns erfaßt und aufgewiesen hat. 39 Auf jeder der drei Bedeutungs- oder Sinnebenen Sinnschichten (Phänomen-, Bedeutungs- und Dokumentsinn) bedürfe die höchst subjektive, je von der Weltanschauung des bzw. der Interpretierenden abhängige Betrachtung ein Korrektiv, im Grad der Komplexität aufsteigend von der Gestaltungsüber die Typenhin zur allgemeinen Geistesgeschichte. Die drei Sinnebenen sind dabei weder klar zu trennen noch „ als Grenzkämpfe zwischen subjektiver Gewaltanwendung und objektiver Geschichtlichkeit “ darzustellen; sie lassen sich vielmehr „ in praxi zu einem völlig einheitlichen und in Spannung und Lösung organisch sich entfaltenden Gesamtgeschehnis verweben “ 40 . Da nun aber Bilder eben niemals neutral sind und den zugrundeliegenden Text (sofern sich überhaupt ein Primat des Textes konstatieren lässt) nie 1: 1 ins Bild übersetzen, sind sie gemäß David R. Cartlidge und J. Keith Elliott schon ihrer Natur nach „ interpretations of oral and textual narratives “ und „ the transference of a story from one art medium to another. “ 41 Als Konsequenz werden bildliche Darstellungen von Apokryphen selbst zu solchen - auch und gerade deshalb, weil der Medienwechsel es begünstigt, dass kanonische und außerkanonische Motive miteinander verwoben werden. Die Transformation vom Text zum Bild (oder vice versa) wiederum führt zur Eröffnung eines neuen Kommunikationsraums. Eben dieser Raum konstituiert sich im Spannungsfeld zwischen Gegenstand und Interpretation, aber auch - um die vorhergehenden Überlegungen miteinzubeziehen - zwischen Hypertext und Hypotext, Kanonischem und Außerkanonischem. Die hier genannten Begriffspaare stehen dabei keineswegs nur in antagonistischem Bezug zueinander, im Gegenteil: sie tragen auch kompensatorische und affirmative Aspekte in sich, wie Tobias Nicklas es in seiner Beschreibung des Regensburger „ Beyond Canon “ -Projekts erläutert: Ikonographie und Ikonologie (1955), beide erschienen in Erwin Panofsky, Ikonographie und Ikonologie. Bildinterpretation nach dem Dreistufenmodell, Köln 2006. 39 Panofsky, Ikonographie (s. Anm. 38), 26. 40 Panofsky, Ikonographie (s. Anm. 38), 29 f. 41 David R. Cartlidge/ J. Keith Elliott, Art and the Christian Apocrypha, New York 2001, 16. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 123 [A]ußerkanonische Traditionen können mit ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen, die im altchristlichen Diskurs ‚ Raum ‘ einnehmen, als ‚ Heterotopien ‘ (in freier Anwendung von Michel Foucaults Begriff ‚ Heterotopie ‘ ) verstanden werden oder solche repräsentieren. 42 Dies macht deutlich, weshalb es in mehrfacher Hinsicht sinnvoll ist, mit einem offenen Apokryphenbegriff zu arbeiten und, statt eine Grenze zum „ Kanonischen “ hin zu ziehen, von einem Kommunikationsbzw. Diskursraum zu sprechen. Die Transformation eines Stoffes von einem Medium ins andere (vom Text zum Bild, vom Bild zum Text oder auch im mehrfachen Wechselspiel) bewahrt und re-inszeniert Tradiertes, aktualisiert es, ergänzt es und/ oder schreibt es fort. Die Umsetzung apokrypher Texte in die Bildkunst, wie im vorliegenden Fall, stellt dabei nur einen von unzähligen Transformationsmodi dar, die sich aus dem Dreieck der Quellengattungen (Text - Ritualität - Material Culture) ergeben. Gerade dieser Fall aber bildet einen besonders ergiebigen Ausgangspunkt für eine Metadiskussion um die Methodik in der Zusammenschau von Text und Bild: So lauten einige der Leitfragen rund um die Illustration apokrypher Stoffe und Motive, inwiefern künstlerische Darstellungen z. B. in Abhängigkeit von der Auftraggeberintention, dem situativen Kontext und/ oder der ikonographischen Tradition eine eigene Bildprogrammatik entwickeln können und wie diese sich wiederum auf die Wahrnehmung und Verbreitung von Apokryphen innerhalb der sogenannten „ Volksreligion “ auswirken. 5. Caravaggios letzte Werke als Beispiele literarischer Neuinszenierung Wenden wir uns abschließend noch einmal der Auferweckung des Lazarus zu. Die bereits erwähnte Individualisierungstendenz der Figuren geht bei Caravaggio typischerweise bis zur zweifelsfreien Identifizierbarkeit: Auf der linken Bildhälfte in zweiter Reihe stehend bezeugt die bereits erwähnte Gruppe von Ioudaioi das Auferweckungswunder. In einem von ihnen - jenem, der sich mit 42 Tobias Nickas, „ Beyond Canon “ . Eine kurze Erläuterung des Projekts, in: Early Christianity 12 (2021), 265 - 275, hier: 271 f. Im Hinblick auf den (durchaus offen gehaltenen) Foucault ’ schen Heterotopiebegriff bezieht er sich auf folgende Definition: „ [W]irkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. “ - Michel Foucault, Andere Räume (1967), in: Karlheinz Barck (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Leipzig 1993, 34 - 46, hier 39. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 124 Stephanie Hallinger zum Gebet gefalteten bzw. in Verzweiflung ringenden Händen „ dem Erlösung bringenden Licht nachdenklich entgegensehend “ 43 Christus zuwendet - setzt Caravaggio sich wie schon mehrmals zuvor selbst ins Bild; noch zwei weitere Male wird er dieses Stilmittel vor seinem Tod im Juli des Folgejahres einsetzen, um die Wahrheit des Dargestellten zu bezeugen - zunächst im Martyrium der hl. Ursula (Abb. 7; 1610, Neapel), das sein Auftraggeber Marcantonio Doria am 18.06.1610 in Genua in Empfang nahm 44 und das Caravaggio als entsetzten Beobachter rechts hinter der sterbenden Heiligen zeigt. Im Gegensatz zum Heidenfürsten, der den todbringenden Pfeil abgeschossen hat, und seinen Begleitern haben Ursula und die Figur mit den Zügen des Malers fahlweiße Haut, die auf ihren nahenden Tod vorausweist. Abb. 7: Caravaggio, Martyrium der hl. Ursula, 1610, Öl auf Leinwand, 142 x 180 cm, Neapel, Papazzo Zevallos Stigliano, Sammlung Banca Intesa Sanpaolo. Noch drastischer inszeniert Caravaggio, dem von Zeitgenossen mehrfach das bizarre, extravagante Naturell 45 eines schwierigen Genies attestiert wurde, sich selbst in Verbindung mit dem Todesthema in einem seiner letzten Bilder, dem David mit dem Haupte Goliaths (Abb. 8; 1609/ 10, Rom, Galleria Borghese). 43 Ebert-Schifferer, Caravaggio (s. Anm. 5), 231. 44 Schütze, Caravaggio (s. Anm. 15), 300. 45 Vgl. Stefania Macioce, Michelangelo Merisi da Caravaggio. Fonti e documenti 1532 ‒ 1724, Rom 2003, 391. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 125 Abb. 8: Caravaggio, David mit dem Haupt Goliaths, 1609/ 10, Öl auf Leinwand, 125 x 101 cm, Rom, Galleria Borghese. Zweifelsfrei zeigt der enthauptete Riese sein Selbstporträt. Der jugendliche Held hält seinen abgeschlagenen Kopf mit gestrecktem Arm an den Haaren weit von sich; Hibbard glaubt in David ein zweites, jugendliches Selbstbildnis Caravaggios zu erkennen und versteht das Bild deshalb einerseits als „ an explicit selfidentification with Evil - and with a wish for punishment “ 46 , sieht darin zugleich aber auch die Hoffnung auf Erlösung 47 eines Malers, dessen Leben und Werk unter den nachfolgenden Generationen von Biographen und Kunstkritikern so umstritten war wie kaum eines anderen Malers. So urteilt etwa der barocke Kunsttheoretiker Giovanni Pietro Bellori: Tali modi del Caravaggio acconsentivano alla sua fisonomia ed aspetto: era egli di color fosco, ed aveva soschi gli occhi, nere le ciglia ed i capelli; e tale riuscí nacora naturalmente nel suo dipingere. La prima maniera dolce e pura di colorire fu la megliore, essendosi avanzato in essa al supremo merito e mostratosi con gran lode ottimo coloritore Lombardo. Ma egli trascorse poi nell ’ altra oscura, tiratovi dal proprio temperament, come ne ’ costumi ancora era torbido e contenzioso. 48 46 Hibbard, Caravaggio (s. Anm. 18), 262. 47 Vgl. Hibbard, Caravaggio (s. Anm. 18), 267. 48 Giovanni Pietro Bellori, Le vite de ’ pittori, scultori e architetti moderni (Rom 1672), Repr. hg. v. Evelina Borea, Turin 1976. „ Caravaggios Stil korrespondierte mit seiner Physiognomie und seinem Erscheinungsbild; er hatte einen dunklen Teint und dunkle Augen, seine Augenbrauen und Haare waren schwarz. Diese Farbgebung spiegelte sich natürlicherweise in seiner Malerei wider. Sein früher Stil, süß und rein in der Farbe, war sein Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 126 Stephanie Hallinger Röttgen spricht in diesem Zusammenhang „ von dem Gedanken eines Todes zu Lebzeiten, eines Konfliktes zwischen innen und einer über dem Ich stehenden Strafinstanz außen “ 49 , an anderer Stelle gar von einer selbstzerstörerischen Tendenz und einer persönlichen Religiosität Caravaggios, in der sich „ die völlige Abwesenheit von Hoffnung mit der völligen Abwesenheit von Angst vereint, die beide in der Erwartung der Zerstörung einhergehen. “ 50 Mit seinen Extrembeispielen einer Neuinszenierung literarischer Figuren 51 löst Caravaggio das ein, was Nicklas „ interactive and performative aspects of the processes which lead to the emergence of the new story “ 52 nennt. Auf diese Weise kann ein Tafelbild wie Caravaggios Auferstehung des Lazarus eine Vielzahl von Funktionen übernehmen: Es ist zugleich Heterotopie, Apokryphon, Reinszenierung und zu guter Letzt auch „ Gedächtnisort “ im Sinne Pierre Noras, der aufgeladen ist durch „ ein Wechselspiel von Gedächtnis und Geschichte “ . In seiner Definition fließen sämtliche Schlagwörter zusammen, die sich für das im Bild Dargestellte, seine Textbezüge und seine Interpretation als maßgeblich erwiesen haben als Begriffsdefinition und (im Sinne Erwin Panofskys) Dokumentsinn des frühbarocken Altarretabels: Mit Orten also haben wir es zu tun, doch mit vermischten, mutierenden, mit Zwitterorten, dicht gesponnen aus Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit - in einer Spirale des Kollektiven und Individuellen, des Prosaischen und des Sakralen, des Unbewegten und des Beweglichen, einer Folge ineinander verschlungener Möbiusringe. 53 bester. Er erzielte darin große Erfolge und bewies damit, dass er ein exzellenter lombardischer Kolorist war. Später aber, von seiner eigenen Natur getrieben, verlegte er sich auf den dunklen Stil, der mit seiner düsteren und streitbaren Natur verbunden ist. “ 49 Röttgen, Kreuz und Auferstehung (s. Anm. 26), 130 - 141, 130. 50 „ A questo punto l ‘ assenza totale di Speranza si congiunge con l ’ assenza totale di paura essendo entrambe unite nell ’ anticipazione della distruzione. “ - Röttgen, La Resurrezione di Lazzaro (s. Anm. 26), 74. 51 In Bezug auf den 1605/ 06 für die Kirche Santa Maria della Scala im Auftrag von Laerzio Cherubini gemalten „ Tod Mariens “ (heute Paris, Musée du Louvre) hielt sich unter Kunsthistorikern hartnäckig das Klischee, Caravaggio habe die Tiberleiche einer Prostituierten als Modell für seine Maria verwendet - eine moderne Mär, die Sybille Ebert- Schifferer aufgrund eines Übersetzungsfehlers von römisch „ gonfia “ (geschwollen) entmythisiert, der die angeblich schwangere Kurtisane zu einer nicht mehr gänzlich jungen und schlanken Frau macht. - Ebert-Schifferer, Caravaggio (s. Anm. 5), 187. 52 Tobias Nicklas, Second Century Gospels as Re-Enactments of Earlier Writings. The Example of the Gospel of Peter, in: Robert Matthew Calhoun/ David P. Moessner/ Tobias Nicklas (Hg.), Modern and Ancient Literary Criticism of the Gospels. Continuing the Debate on Gospel Genre(s) (WUNT I/ 451), Tübingen 2020, 471 - 486, hier 474. 53 Pierre Nora, Die Gedächtnisorte (1984), in: Günzel (Hg.), Texte zur Theorie des Raums (s. Anm. 17), 84 ‒ 89, hier: 85 f. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 127 Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Die Auferweckung des Lazarus, Rom, Katakombe an der Via Latina, Cubiculum O, linke Nische, in situ (Wandmalerei), 4. Jahrhundert n. Chr., Quelle: https: / / es.wikipedia.org/ wiki/ Archivo: CatacombViaLatina_Resurrection_of_Lazarus.jpg (letzer Zugriff am 07.01.2022, Public Domain) Abb. 2: sog. Brescia-Casket (Brescia-Lipsanotheca), Museo di Santa Giulia, San Salvatore, Brescia, Elfenbein, 4. Jahrhundert n. Chr., Quelle: Carolyn Joslin Watson, The Program of the Brescia Casket in: Gesta 20/ 2 (1981), 283 - 298. Abb. 3: S. Apollinare Nuovo, Ravenna, Mosaik, 6. Jahrhundert n. Chr., Quelle: https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: S._Apollinare_Nuovo_Resurr_Lazzaro.jpg (letzer Zugriff am 07.01.2022, Public Domain) Abb. 4: Giotto di Bondone, Fresken in der Arenakapelle in Padua, 1304 - 1306, Quelle: http: / / www.zeno.org/ nid/ 20004036018 (letzer Zugriff am 07.01.2022, Public Domain) Abb. 5: Michelangelo Merisi detto il Caravaggio, Auferweckung des Lazarus, 1609, Museo Regionale in Messina, Öl auf Leinwand, 380 x 275 cm; Quelle: The Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM). Abb. 6: Caravaggio, Begräbnis der hl. Lucia, 1608, Öl auf Leinwand, 408 x 300 cm, Syrakus, Basilica di Santa Lucia al Sepolcro (Leihgabe im Museo di Palazzo Bellomo); Quelle: https: / / commons.wikimedia.org/ wiki/ File: Burial_of_Saint_Lucy-Caravaggio_(1608).jpg (letzer Zugriff am 08.01.2022, Public Domain) Abb. 7: Caravaggio, Martyrium der hl. Ursula, 1610, Öl auf Leinwand, 142 x 180 cm, Neapel, Papazzo Zevallos Stigliano, Sammlung Banca Intesa Sanpaolo; Quelle: https: / / de. m.wikipedia.org/ wiki/ Datei: Caravaggio- Ursula.jpg (letzer Zugriff am 08.01.2022, Public Domain). Abb. 8: Caravaggio, David mit dem Haupt Goliaths, 1609/ 10, Öl auf Leinwand, 125 x 101 cm, Rom, Galleria Borghese; Quelle: https: / / de. m.wikipedia. org/ wiki/ Datei: Caravaggio_-_David_con_la_testa_di_Golia.jpg (letzer Zugriff am 08.01.2022, Public Domain). Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 128 Stephanie Hallinger © Dietrich Beutlhauser Stephanie Hallinger studierte Kunstgeschichte und Germanistik in Regensburg, promovierte ebendort und war von 2008 bis 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur fürÄltere Deutsche Literatur. Von 2014 bis 2018 leitete sie die Redaktion des NM Verlags in Bogen, seit 2018 ist sie als Wissenschaftliche Koordinatorin des Centres for Advanced Studies „ Beyond Canon “ unter der Leitung von Tobias Nicklas, Harald Buchinger und Andreas Merkt an der Universität Regensburg tätig. Sie forscht vornehmlich zu Text-Bild- Relationen in der christlichen Ikonographie zwischen Spätantike und Barock. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0008 Im Raum zwischen „ kanonisch “ und „ parabiblisch “ 129