ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2023-0009
61
2023
2651
Dronsch Strecker VogelStefan Alkier, Christos Karakolis und Tobias Nicklas: Sola Scriptura ökomenisch – Leiden: Brill, 2021 (Biblische Argumente in öffentlichen Debatten 1) – XIX. 235 S. ISBN: 978-3-506-76038-8 eISBN: 978-3-657-76038-1
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2023
Susanne Luther
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Buchreport Susanne Luther Stefan Alkier, Christos Karakolis und Tobias Nicklas Sola Scriptura ökomenisch Leiden: Brill, 2021 (Biblische Argumente in öffentlichen Debatten 1) XIX. 235 S. ISBN: 978-3-506-76038-8 eISBN: 978-3-657-76038-1 Unter dem Titel „ Sola Scriptura ökumenisch “ ist 2021 der erste Band der Reihe Biblische Argumente in öffentlichen Debatten erschienen, der sich als eine bibeltheologische Programmschrift aus ökumenischer Perspektive versteht. Tobias Nicklas, Christos Karakolis und Stefan Alkier, ein römisch-katholischer, ein griechisch-orthodoxer und ein evangelischer Theologe, beleuchten gemeinsam - jeweils aus der Perspektive ihrer eigenen Tradition - hermeneutische und methodische Zugänge und ökumenische Ansätze zum Verstehen der Bibel. Die Anordnung der Beiträge in sechs Abteilungen, eingeführt durch eine offene Gesprächseinladung an die Leserinnen und Leser (I.) und eine gemeinsame Thesenreihe aus ökumenischer Perspektive (II.), gefolgt von vier Blöcken (III. - VI.) von jeweils drei Beiträgen, lässt sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten der hermeneutischen Vorannahmen, methodischen Zugangsweisen, interpretatorischen Schlussfolgerungen für die ökumenische Entfaltung und Perspektiven für die schriftgemäße ökumenische Praxis erkennen und erweckt den Eindruck eines Gesprächs zwischen den Positionen, der zu weiterführenden Gesprächen einlädt. Dem Band vorangestellt ist eine Thesenreihe, die auf der Basis der von den Autoren „ praktizierten und intendierten ökumenischen Lektüregemeinschaft “ (xix) in zehn Punkten grundlegende gemeinsame Punkte festhält (S. 3 - 6): Die Schrift wird als „ verbindliche Bezeugungsinstanz des Wortes Gottes “ (These 1) wahrgenommen, wobei Schrift „ als Konzept des Kanons aus Altem und Neuem Testament begriffen [wird], das nicht gebunden ist an eine einzige Version bzgl. Sprache, Auswahl und Reihenfolge der biblischen Bücher “ (These 2). Die „ Bibel als Sammlung der Schriften Alten und Neuen Testaments “ bietet „ [d]en sichersten Zugang zum Wort Gottes “ (These 3), und ist doch zugleich „ historisch gewachsenes Menschenwort in der Vielfalt verschiedener historischer Situationen “ (These 5). Innerbiblische Diversität und Widersprüchlichkeit ist nicht als „ Abbruch ihrer Wahrheitsfähigkeit “ zu werten (These 5) sondern im Rahmen des Kanons zu lesen, der „ als intertextuelle Lektüreanweisung begriffen [wird], die das Zusammenlesen jedes einzelnen Buches der Bibel mit allen anderen Büchern in alle Richtungen eröffnet. Dadurch legt sich die Schrift in unermesslicher Weise selber aus “ (These 4). Die biblischen Schriften sind „ in unterschiedlichen Zeiten, Situationen und Lebenswelten “ je neu auszulegen und die Vielfalt der Interpretationen ist anzuerkennen, solange diese vom „ Geist der Bibel her begründet werden “ können (These 6). Dies führt zu der Folgerung: „ Theologisch sachgemäße Bibelauslegung muss deshalb im Wortsinn evangelisch, katholisch und orthodox sein, d. h.: sie ist der guten Nachricht für alle in richtiger Weise verpflichtet “ (These 8) - und zu der Aufgabe: „ Die Schrift ist für alle verständlich, die sie mit dem Geist der Vernunft und Hingabe in nicht abschließbarer Lektüre auslegen “ , weshalb „ alle zum eigenen kritischen Bibellesen zu ermutigen “ sind (These 10). Der erste der vier thematischen Blöcke steht unter dem Titel Hermeneutische Entfaltungen und wird durch Stefan Alkiers Beitrag „ Sola Scriptura als engagierte Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0009 132 Susanne Luther Leseanweisung - eine evangelische Perspektive “ (9 - 32) eröffnet. Ausgehend von der „ reformatorischen Lektüreanweisung sola scriptura “ (10) betont Alkier die Notwendigkeit der immerwährenden Interpretation der Schrift für die je gegenwärtige Zeit und die je eigenen Lebenswelten. Diese „ Einsicht in die radikale Dynamik, Prozesshaftigkeit und Geschichtlichkeit der Interpretation und der Plural der Versionen biblischer Schriften, die zur hermeneutischen Einsicht in die Unverfügbarkeit des Auslegungsgegenstandes führt “ (12), lenkt den Blick auf das Ziel der kritischen Interpretation unter theologischer Zielsetzung: das Evangelium aus der Polyphonie der Schriften zu erheben und verständlich zu kommunizieren (22). Daher ist im reformatorischen Sinne eine „ stetige Lektüre durch jede(n) Einzelne(n) “ gefordert, eine „ zugleich kritische und empfangsbereite Lektüre der Schrift “ , „ einer an kritischer philologischer, historischer, literaturwissenschaftlicher und theologischer Forschung interessierten und sich selbst wie alle anderen Lektüren vorher und nachher geschichtlich verortet wissenden Lektüre “ (27). Tobias Nicklas antwortet darauf in seinem Beitrag „ Alle müssen für alle interpretieren und jeder kann irren - eine römisch-katholische Perspektive “ (33 - 54), in dem er von Texten des II. Vatikanischen Konzils ausgehend reflektiert, dass „ [d]ie Vielfalt der Stimmen, in denen sich das Wort Gottes in Menschenworten ausdrückt, [ … ] kein Widerspruch zur Vorstellung von der lebendigen einen Wahrheit des einen Gottes [ist], welche für uns Menschen nie voll erfassbar, definier-, d. h. begrenzbar oder in den Griff zu bekommen ist. Diese muss sich vielmehr in der Vielfalt von Stimmen innerhalb der Schrift ausdrücken, welche wiederum die dauernde Interpretation verlangen, um der unendlichen Vielfalt dessen, was menschliches Leben sein kann, begegnen zu können “ (40). Eine Verhältnisbestimmung von „ Schrift “ und „ Tradition “ zeigt, dass es beiden „ letztlich um das Gleiche [geht], nämlich darum, der Selbstmitteilung Gottes so nahe wie möglich zu kommen “ (46). Denn „ [n]icht nur in der Schrift, sondern auch in der Tradition begegnen sich ‚ Gotteswort ‘ und ‚ Menschenwort ‘ . Dabei aber bleibt die Schrift allen Auslegungen vorgeordnet. Umgekehrt kann ‚ Tradition ‘ in dem Sinne, den das Konzil meint, nur da gegeben sein, wo im Menschenwort Gottes Wort erkennbar ist “ (47). Die Schrift dient als kritisches Korrektiv gegenüber der Tradition. Nicklas betont, dass jede und jeder die Schrift auslegen kann und soll: „ Die Rede vom Lehramt macht dann Sinn, wenn sie sich als eine Art von Repräsentation der Interpretationsgemeinschaft des Wortes Gottes versteht, an der jede und jeder einzelne Gläubige teilhat “ (51 f.). Christos Karakolis betont daraufhin in seinem Beitrag mit der Titelthese „ Die Kirchenväter können das eigene Verstehen anleiten, aber nicht ersetzen - eine orthodoxe Perspektive “ (55 - 72) die hohe Wertschätzung der patristischen Interpretation der Bibel in der orthodoxen Theologie. Er zeigt auf, dass es bereits zur Zeit des 4. Ökumenischen Konzil von Chalzedon zu einer Verschiebung „ vom biblischen und apostolischen zum patristischen Paradigma “ (61) kam, d. h. „ dass die patristische Theologie allmählich einen kanonischen Status erreicht hat “ (61). Karakolis positioniert sich klar: „ Die faktische Gleichsetzung der patristischen Literatur mit der Heiligen Schrift ist aber falsch, da die Bibel die apostolische Stimme der Offenbarung Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0009 Buchreport 133 Gottes authentisch bewahrt, während die patristischen Schriften Interpretationen dieser Stimme sind “ (60). Demgegenüber postuliert er einen Zugang zur patristischen Literatur, der die Kirchenväter als „ Anleiter zum Verständnis der Bibel “ heranzieht, denn „ [d]ie Zeitlosigkeit der Exegese der Kirchenväter liegt damit nicht so sehr im Inhalt ihrer Interpretationen, sondern vor allem in der Art und Weise, wie sie sich der Bibel annähern, nämlich mit Respekt, kritischem Geist und mit der Bereitschaft, ihre Botschaft in der Sprache der Gesellschaft ihrer eigenen Zeit zu vermitteln “ (59 f.). Ein angemessener Zugang zur Bibel sollte daher die patristischen Texte den biblischen Texten nicht überordnen, da „ die Kirchenväter den direkten Zugang zur Bibel durch ihre Texte nicht ersetzen können, sollten bzw. wollen. Ihr Hauptziel war die biblische Lektüre zu begleiten, zu erleuchten, zu bereichern und adäquat zu übertragen “ (72). Der zweite der vier Blöcke unter der Überschrift Methodische Entfaltungen eröffnet die Diskussion über die konkrete Auslegung der Schrift mit Stefan Alkiers Beitrag „ Wie sich die Schrift selbst auslegt: Die intertextuelle Schreibweise der neutestamentlichen Literatur als Sachgrund für den Kanon aus Altem und Neuem Testament und der Kanon als Lektüreanweisung “ (75 - 101). Alkier betont die intertextuelle Verfasstheit der neutestamentlichen Schriften, die im kanonischen Kontext zugleich eine Leseanweisung für alle biblischen Schriften bereitstellt. Denn die Lektüre der biblischen Bücher im Gesamtgefüge des Kanons, führt zu der Folgerung, dass „ jede Schrift durch die Transposition in das Gewebe des Kanons zu einem autoritativen Kommentar zu jedem anderen Buch desselben Kanons wird “ (95) und die individuellen historischen Entstehungskontexte der einzelnen biblischen Bücher sowie auch die Autoritätszuschreibungen an jedes der Bücher zurückgestellt werden und alle Schriften „ in die normative Position “ erhoben werden, im kanonischen Zusammenwirken „ gemeinsam Zeugen des Wortes Gottes zu sein “ (95). Diese Herangehensweise, die sich in Luthers Forderung, die Schrift „ integram “ zu lesen spiegelt, dient dazu, „ überhaupt erst das Sinnpotential des zwischen diesen Schriften entstehenden Dialogs wirksam “ (99) offenzulegen. Erst in der kanonischen Vernetzung der Schrift entfaltet sich ihr Potential als dialogisches Korrektiv und ihre Bedeutung als norma normans. Dies wiederum führt zu der für die ökumenische Perspektive zentralen Folgerung, dass die im Kanon angelegte Dialogizität „ zum Modell einer kritischen Ökumene “ (101) werden kann. Tobias Nicklas geht in seinem Beitrag „ Rezeptionsästhetische und -geschichtliche Einsichten: Erinnerungskultur und die Zuordnung von Demut und Verantwortung in der Schriftauslegung “ (102 - 130) auf problematische Zugänge und kreative Potentiale der Interpretation ein. Gegenüber einlinigen, gesetzlichen Applikationen biblischer Ethik auf heutige Fragestellungen und Fehlgängen in der Geschichte der Bibelinterpretation eröffnet Nicklas eine zweifache Perspektive: Einerseits ist die Bibel als „ eine erzählte Welt, die ‚ bewohnt ‘ werden und so zu einer Veränderung der Weltwahrnehmung führen will “ (107) zu begreifen, als Ansatzpunkt für „ Prozesse der ‚ Bildung ‘ , in denen sich Menschen existenziell auf den Weg zu sich selbst machen “ (113), als „ Begleiter auf dem Weg, ‚ der zu werden, der ich bin ‘ bzw. ‚ die zu werden, die ich bin ‘“ (114). Zum anderen verweist Nicklas darauf, dass neben dem Bezug der Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0009 134 Susanne Luther biblischen Texte auf unser eigenes Leben eine kritische Distanz in der Auslegung der Texte erhalten bleiben muss. Anhand problematischer Beispiele aus der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Bibel zeigt er auf, dass jede/ r Auslegende in der Verantwortung steht, die Bibelinterpretationen kritisch zu hinterfragen und für Auslegungen einzutreten, die „ im wahrsten Sinne des Wortes evangelisch, katholisch und orthodox, d. h. der guten Nachricht für alle in richtiger Weise verpflichtet sind “ (130). Christos Karakolis ’ Beitrag „ Die Gleichzeitigkeit von Lesern und Gelesenem: Wie das Lesebuch zum Lebensbuch wird - Wie die Bibel präsent werden kann “ (131 - 145) zeigt auf, wie die Rezeption und Aktualisierung biblischer Erzählungen im liturgischen Leben orthodoxer Gottesdienste und persönlicher Spiritualität, z. B. in Theologie, Liturgie, Hymnologie, Ikonographie, Spiritualität und ethischer Praxis umgesetzt wird. Er nennt den biblischen Bezug bzw. die biblische Orientierung dieser unterschiedlichen Komponenten orthodoxer Spiritualität eine „ Verschmelzung von örtlichen und zeitlichen Horizonten “ (131) und beschreibt damit „ den Sachverhalt, nach dem die Gläubigen in erster Linie durch das liturgische Leben zu der Glaubenserfahrung kommen, dass im jeweiligen Ort und in der jeweiligen Gegenwart alles im Verlauf der Heilsgeschichte vom ersten Moment der Schöpfung bis hin zur Endzeit Geschehene zusammengefasst und realisiert wird “ (131). Die in den biblischen Texten verschriftlichten - sowohl vergangenen wie zukünftigen - heilsgeschichtlichen Ereignisse, werden im kirchlichen Leben für die Gläubigen aktualisiert und erfahrbar gemacht, d. h. die Gläubigen interagieren synchron mit dem Text, „ so dass ihre eigene persönliche oder kollektive Geschichte, ihre psychologischen Befindlichkeiten, ihre Lebenserfahrungen, ihre Wahrnehmungsfähigkeiten, ihre Lebensinteressen usw. zusammen mit dem Text reflektiert werden können bzw. dass der Text auf sie selbst, ihre Gemeinde und ihre Welt ein neues Licht aus einer erhellenden Perspektive wirft “ (133) und die Möglichkeit bietet, „ sich im eigenen Leben von dessen Sinngehalten leiten zu lassen “ (133). Der dritte Block steht unter der Überschrift Ökumenische Entfaltungen und wird wiederum durch einen Beitrag von Stefan Alkier eröffnet, der unter dem Titel „ Gemeinsam auf dem Weg - oder: keine Christen erster und zweiter Klasse “ (149 - 157) auf das Ideal der Jüngergemeinschaft verweist, um einen schriftgemäßen ökumenischen Weg der Gläubigen aller Konfessionen für die Gegenwart aufzuzeigen. Wie z. B. die Apostelgeschichte „ eine kollektive Identität der im Namen Jesu Christi auf dem ‚ Weg ‘ Befindlichen nicht durch die Etablierung einer kollektivierenden Terminologie und schon gar nicht durch eine institutionalisierte Gemeinschaft “ (153) konstruiert, sondern „ im Namen Jesu Christi durch ein Netz von Erzählungen, Überzeugungen und komplementären Terminologien “ (154), so stehe es „ im krassen Widerspruch zur Schrift, irgendjemandem den Zugang zur Gemeinschaft, zum Gottesdienst, zum Ritus zu verwehren, weil er oder sie einem anderen Kollektiv angehört. Es kann biblisch begründet keine Christinnen und Christen erster oder zweiter Klasse geben. Wer immer sich auf den Weg der Nachfolge Christi begibt, darf nicht abgewiesen werden. [ … ] Man muss [ … ] nicht erst römisch-katholisch oder Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0009 Buchreport 135 griechisch-orthodox oder evangelisch-lutherisch werden, um gemeinsamen Gottesdienst zu feiern und sich gemeinsam um den Tisch des Herrn zu versammeln “ (156). Daraus folgert Alkier: „ Diese Offenheit der Schrift dürfen die Konfessionen nicht beschneiden. Sie vergehen sich sonst am Geist des Evangeliums und setzen ihr begrenztes konfessionelles Verständnis an die Stelle der Liebe und Barmherzigkeit Gottes “ (156). Dies wiederum bedeutet: „ Sola Scriptura als Primat der Schrift vor der je eigenen Konfession als spezifischer kollektiver Identität ermöglicht eine Ökumene des sich gemeinsam auf den Weg der Zeugenschaft Begebens “ (156), auf dem sich die unterschiedlichen Konfessionen „ als Lern- und Lehrgemeinschaft begreifen “ (157) und „ in gegenseitiger Anerkennung der Aufrichtigkeit der Wahrheitssuche und Fremdheit des Anderen “ (157) einen „ schriftgemäße[n] Weg der Ökumene [beschreiten] “ (157). Tobias Nicklas reflektiert unter dem Titel „ Auch die anderen können die Bibel angemessen verstehen “ (158 - 170) aus römisch-katholischer Sicht die Frage, wie Bibelauslegung in Theologie und Kirche(n) im Dialog, in der Auseinandersetzung mit „ anderen “ Positionen kreative, inspirierende und herausfordernde Potentiale entwickeln kann. Auch er geht von der biblischen Perspektive aus, um aufzuzeigen, dass es oft der andere ist, der durch sein Handeln oder seine Textinterpretation Entscheidendes, Neues und zum Umdenken Führendes in die Diskussion einbringen und zu einem erneuerten, vertieften Verständnis führen kann. Dies führt zu der Folgerung, dass es - von frühchristlicher Zeit bis heute „ auch konkrete Stimmen der anderen [waren], die im Verlauf der Auslegungsgeschichte Grenzen überschreitend Anstöße gegeben haben “ (163), seien es frühchristliche Apostel, altkirchliche Theologen und Exegeten, die Reformatoren, die jüdische Perspektive auf das Neue Testament, kontextuelle Zugänge oder neuere Impulsgeber in der hermeneutischen Diskussion wie z. B. gender-gerechte oder disability-sensible Exegese. Diese Impulse führen Nicklas dazu, für die immerwährende, weiterführende Interpretation in Anerkennung der LeserInneninspiration und in der „ Demut gegenüber dem eigenen Wissen, Erkennen und Interpretieren “ (163) zu plädieren. Christos Karakolis grenzt sich in seinem Beitrag „ Auch von den anderen kann man lernen und bereichert werden “ (171 - 188) von der orthodoxen Position ab, alleine „ im Besitz der Wahrheit zu sein “ (171). Entgegen der Position, „ alles, was von außerhalb der Orthodoxie kommt, a priori für fehlerhaft, gefährlich, häretisch und potenziell destruktiv “ (171) zu halten, berichtigt Karakolis, dass „ solche Positionen weder für die orthodoxe Kirche als Ganzes noch für den Geist der Heiligen Schrift noch der Kirchenväter repräsentativ “ (171) seien und plädiert für eine Offenheit für die Bereicherung durch äußere Einflüsse. Diese entdeckt er in der Bibel (z. B. in Semantik, Ethik, Inkulturation), bei den Kirchenvätern (z. B. Philosophie, Rhetorik, Methodik), aber auch in der neueren orthodoxen Theologie (z. B. westliche Bibelwissenschaft, neuere wissenschaftliche Methodik) im Austausch mit ihren jeweiligen Lebenswelten. Daraus folgert er: „ Da es jedoch prinzipiell, wie wir gesehen haben, sowohl zur biblischen als auch zur patristischen Tradition gehört, dass die Theologie äußere Einflüsse aufnehmen, durchdringen und verarbeiten kann und soll, muss das auch für Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0009 136 Susanne Luther die orthodoxe Kirche von heute gelten “ (184). Er plädiert dafür für eine weitergehende Offenheit der Orthodoxie gegenüber der modernen Welt ebenso wie gegenüber den anderen christlichen Kirchen. Der letzte der Blöcke bietet Perspektiven auf Ermöglichungen schriftgemäßer ökumenischer Praxis. Hier eröffnet Christos Karakolis die Diskussion unter dem Titel „ Gemeinsam am Herrenmahl teilnehmen - gemeinsam Eucharistie feiern “ (191 - 206) und legt zunächst die Praxis des Herrenmahls in den paulinischen Gemeinden dar. Daraus schließt er, „ dass im Neuen Testament die eucharistische Praxis als äußerst inklusiv verstanden wird, da alle Glaubenden zum eucharistischen Mahl eingeladen sind “ (204). Wenngleich aber das Neue Testament „ keine fertigen Antworten auf die heutigen komplexen Probleme anbieten “ (205) kann, so wird doch „ in interkonfessionellen Dialogen der Verweis auf die Bibel und insbesondere auf das Neue Testament üblicherweise vernachlässigt “ (204), denn „ [e]s ist in der Regel einfacher und bequemer, sich auf historisch bedingte Situationen in der Geschichte des Christentums zu beziehen, als seine anfänglichen Schritte im Detail zu untersuchen, da die neutestamentliche Vielfalt an theologischen Positionen und kirchlichen Praktiken uns nicht nur inspirieren, sondern zugleich auch vor neue Problematisierungen stellen kann. Aber genau dieser Reichtum der neutestamentlichen Texte hätte sie zum wertvollen Fundament in interkonfessionellen Kontakten machen sollen “ (205 f.) - Karakolis plädiert daher dafür, die in der Heiligen Schrift vertretene eucharistische Inklusivität in den Blick zu nehmen und die aktuellen Debatten von der Autorität und Inspiration der Schrift beeinflussen zu lassen. Tobias Nicklas reagiert unter dem Titel „ Gemeinsam mit dem Herrn auf dem Weg zum Herrn “ (207 - 214) mit apokalyptisch-hoffnungsvollen Bildern und beschreibt das gemeinsame auf dem Weg sein aller, in der Rückbindung und dem Bewahren des Vergangenen, in dem Wissen darum, dass der Weg vom Geist bestimmt wird, der trotz allem auch von „ Zweifel bis hin zu Verzweiflung und Gottesfinsternis “ (212) geprägt sein kann, zugleich aber die - nicht immer erkennbare - Gegenwart Christi und die Hoffnung mit sich führt, dass dieser Wege auf ein Ziel zuläuft - und dass diese Wahrnehmung des Weges „ die Möglichkeit zu einer radikalen Neubestimmung gegenwärtiger Existenz “ (213) ermöglicht. Die Ausführung endet in dem Statement: „ Wo der letzte Horizont, den die Bibel beschreibt, die - wiederum im Horizont des „ Trotz Allem “ stehende und deswegen über alle Maßen unbegreifliche und im wahrsten Sinne des Wortes wunderbare - Gnade des Herrn Jesus ist, kann keine Form ausgrenzender Gnadenlosigkeit unter denen, die in dieser Welt für den Leib Christi stehen wollen, als dem Willen Christi gemäß akzeptiert werden “ (214). Stefan Alkier fokussiert im abschließenden Beitrag des Bandes auf ein „ Gemeinsam hoffentlich handeln “ (215 - 225), denn „ [w]er die Heilige Schrift richtig versteht, wird handeln. Sich herauszuhalten aus den Konflikten, den Problemen, dem Unentscheidbaren, dem Leiden ist ebenso wenig eine schriftgemäße Option, wie dauerhaft dem zusammen Feiern, Singen und Fröhlichsein fern zu bleiben “ (215). Denn die Botschaft des Evangeliums, „ die, richtig verstanden, allen gilt, bewegt zu einem Handeln, das in keiner Weise naiv ist, sondern um die Macht des Bösen, die Feindschaft von Menschen, Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0009 Buchreport 137 die Gewalt der Natur, die erbarmungslose Logik der Ausbeutung und Gewinnmaximierung auf Kosten jeglichen Mitgefühls weiß “ (216). Die sich auf dem Weg der Nachfolge Befindenden verbleiben somit in der Welt, verstehen sich aber als Gottes Kinder im Kontext der neuen Wirklichkeit Gottes und können so - auf der Grundlage der Schrift - hoffnungsvoll handeln (225). Der Band Sola Scriptura ökumenisch bietet einen anregenden Einblick in die ökumenische Diskussion über die Bedeutung und Auslegung der Schrift. Alle drei Beiträger formulieren klare, zum Teil herausfordernde Positionierungen aus ihrer jeweiligen konfessionellen Perspektive, bringen eine Vielzahl an wichtigen Impulsen für den ökumenischen Dialog ein und zeugen von einem Ringen um Offenheiten und Gemeinsamkeiten, die in der gemeinsamen Rückbindung auf die maßgebliche Schrift begründet liegen. Zugleich werden Differenzen und mögliche Neujustierungen von traditionellen konfessionellen Positionen angeboten, die einen klaren Willen zur Verständigung und Verbundenheit über die Konfessionsgrenzen hinaus erkennen lassen. Der Band ist als kritisches und inspirierendes Gesprächsangebot im ökumenischen Dialog konzipiert. Es steht zu hoffen, dass er in Universitäten, Kirchen und in der breiteren Gesellschaft gebührend rezipiert und als kreativer und innovativer Gesprächsanstoß genutzt wird. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 51 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0009 138 Susanne Luther
