eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 26/52

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2023-0011
121
2023
2652 Dronsch Strecker Vogel

Tendenzen der Bibelauslegung im postkolonialen Ghana

121
2023
Abraham Boateng
znt26520029
Zum Thema Tendenzen der Bibelauslegung im postkolonialen Ghana Wundergeschichten des Neuen Testaments als Fallstudie Abraham Boateng 1. Einführung Dieser Artikel setzt sich mit verschiedenen Bibelauslegungen in Ghana aus‐ einander. Er wird einige westafrikanische Interpretationsansätze der Bibel beleuchten, die die Sicht von Leserinnen und Lesern in westafrikanischen Alltagssituationen einfangen möchten. Im Folgenden sollen diese Blickrich‐ tungen populäre Perspektiven genannt werden. Daneben betrachtet der Artikel jedoch auch die akademische Bibelauslegung Westafrikas. In beiden Bereichen entwickelt diese Untersuchung einige Anfragen aus postkolonialer Perspektive. Es soll ein Überblick über die kulturelle Bedeutung der Bibel in unterschied‐ lichen sozialen Milieus entwickelt werden, um daran anschließend kritische Punkte aus postkolonialer Perspektive zu erörtern. Am Ende des Artikels sollen zudem Diskurse über Wunder des Neuen Testaments in westafrikani‐ schen Auslegungen betrachtet werden. Damit soll gleichzeitig eine Brücke zur theologischen Praxis einer Bibellektüre in Westafrika geschlagen werden. Geographisch beschränkt sich der verfolgte Ansatz auf Gebiete südlich der Sahara. Dieser Bereich ist im Folgenden gemeint, wenn von Afrika gesprochen wird. Insbesondere der Bereich Westafrika soll in den Fokus genommen werden. Trotz des geographisch zentrierten Blickwinkels auf die sozialen Normen und kulturellen Differenzen in Westafrika, begegnen ähnliche Zusammenhänge jedoch auch in anderen afrikanischen Ländern wie Nigeria, Gambia, Sierra Leone. 1 John S.-Mbiti, Bible and Theology in African Christianity, Nairobi/ Oxford 1986, 22. 2 John David Kwamena Ekem, Early Scriptures of the Gold Coast, Ghana/ Rome 2011, 1 (Übersetzung M. Sommer). 2. Die Bibel in Ghana Es ist unter Gelehrten umstritten, wann und wie die Bibel in Afrika eingeführt wurde. Eine in der Forschung weit verbreitete Ansicht besagt, dass die Bibel selbst aus Afrika stammt und somit ein originales Zeugnis afrikanischer Kul‐ turen ist. Als Beleg für diese These wird auf die Übersetzung der hebräischen Bibel im ägyptischen Alexandria verwiesen. Folgt man dieser Auffassung, so ist die Bibel in Afrika kein fremdes und erst in der Neuzeit importiertes Gut, sondern bereits seit dem 3. Jahrhundert vor Christus bekannt. John Mbiti vertritt diese Auffassung und behauptet, dass seit der Erstellung der Septuaginta immer wieder Übersetzungen der Bibel in Afrika angefertigt wurden. Die Bibel hätte deshalb seit jeher Einfluss auf die Entwicklung spirituellen und kirchlichen Lebens gehabt. Dies sei nachhaltig spürbar. Er verweist zudem als weiteres Beispiel auf die koptischen und äthiopischen Übersetzungen (Ge‘ez), die einen fortwährenden Einfluss auf die Kirche und die Kultur Ägyptens und Äthiopiens hatten. 1 Ähnlich argumentiert auch John David Kwamena Ekem und verweist auf die Präsenz der Bibel und des frühen Christentums in Afrika: Es ist signifikant, dass das Christentum innerhalb der ersten drei Jahrhunderte seiner Existenz auf den Boden Ägyptens, Nubiens, Äthiopiens und des römischen Nordafrikas gepflanzt worden ist. 2 Dieser Blickwinkel auf das frühe Christentum und ihre literarischen Produk‐ tionen scheinen die These einer kontinuierlichen Präsenz der Bibel in Afrika zu stützen. Eine zweite Meinung, die sich in der Forschungslandschaft etabliert hat, erkennt zwar die von Ekem und Mbiti vertretene These an, führt die Einführung der Bibel in Afrika jedoch auf die Bemühungen der frühen Missionare zurück. Mit anderen Worten: Die Einführung der Bibel, insbesondere in Afrika südlich der Sahara, ist das Ergebnis der Tätigkeit europäischer Missionare und somit auch des Kolonialismus. Ein großer Teil der Forschungsgeschichte ist der Überzeugung, dass das Christentum im Zuge der europäischen Missionen ab dem 15. Jahrhundert in die afrikanischen Länder südlich der Sahara gelangte. In Ghana erfolgte der erste Kontakt mit europäischen Missionaren - so Ekem - im Jahr 1471, als zwei Schiffe in Shama, einem Dorf an der Westküste, landeten. Ein weiterer einflussreicher Umstand für die Verbreitung des Christentums in Afrika war, dass die Bibel in die Landessprache übersetzt worden ist. Kwame Bediako ist der Ansicht, dass es für die massive Präsenz des Christentums auf Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 30 Abraham Boateng 3 Kwame Bediako, Christianity in Africa. The Renewal of a Non-Western Religion, Edinburgh-1995), 62. 4 Mbiti, Bible and Theology in African Christianity (s. Anm. 1), 28 (Übersetzung M. Sommer). 5 Justin S. Ukpong, Developments in Biblical Interpretation in Africa, in: Gerald West/ Musa Dube (Hg.), The Bible in Africa, Leiden 2000, 11. 6 Die religiös-kulturelle Kontinuität legt nahe, dass verschiedene Elemente des afrika‐ nischen religiös-kulturellen Ethos an alte israelitische Glaubensvorstellungen und Praktiken erinnern. Die theologische Kontinuität deutet auf eine Kontinuität zwischen dem Alten Testament und dem afrikanischen Leben und Denken hin, da Gott als Gott der ganzen Erde angesehen wird und daher sowohl in Israel als auch in den anderen Völkern am Werk ist. Vgl. Eric Anum, Comparative Readings of the Bible in Africa. Some Concerns, in: West/ Dube, The Bible in Africa (s.-Anm.-5) 457. dem afrikanischen Kontinent keine wichtigere Erklärung gibt als die Verfügbar‐ keit der Schriften in vielen afrikanischen Sprachen. 3 Auch Mbiti verweist auf die enorme Rolle der übersetzten Schriften für das Wachstum der Kirche in Afrika. Auf diese Weise wird die Bibel in der Landessprache zum unmittelbar einfluss‐ reichsten Einzelfaktor bei der Gestaltung des Lebens der Kirche in Afrika. Die Weisheit des Missionars aus Übersee hat ihren Platz, die Treue des afrikanischen Katecheten und Pastors (Priesters) hat ihren Platz, ein theologischer Abschluss hat seinen Platz, Konferenzen haben ihren Platz. Aber keines dieser Mittel kann einen so großen Einfluss auf die Kirche ausüben wie die Bibel in der jeweiligen Landessprache und hat dies auch nicht getan. 4 Lamine Sanneh, Andrew Walls, Bediako und andere haben auf die Bedeutung der Schrift in Landessprache für die Verbreitung und das Wachstum des Chris‐ tentums in Afrika hingewiesen. Dies ist wissenschaftlich gut erforscht und dokumentiert. 3. Annäherungen an die Bibel Unter afrikanischer Hermeneutik verstehe ich, eine Begegnung zwischen dem biblischen Text und dem afrikanischen Kontext zu reflektieren bzw. die Vielfäl‐ tigkeit dieses Verschmelzens von Text und sozialem Kontext wahrzunehmen. Anders als in der historisch-kritischen Perspektive der westlichen Exegese liegt der Schwerpunkt der Auslegung nicht auf den Produktionsorten und -um‐ ständen des Textes, sondern auf den Gemeinschaften, die den Text rezipieren. 5 Interpretationsansätze können religiös-kulturelle Kontinuität oder Diskonti‐ nuität zwischen Bibel und kulturellen Kontext betrachten, 6 einer postkolonialen Richtung folgen oder sich um Bibelhermeneutik in landessprachlichen Über‐ setzungen drehen. Die Bibel ist für die Afrikanerinnen und Afrikaner mehr Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 Tendenzen der Bibelauslegung im postkolonialen Ghana 31 7 J. Kwabena Asamoah-Gyadu, Contemporary Pentecostal Christianity. Interpretations from an African Context (Regnum Studies in Global Christianity), Minneapolis 2013, 166. 8 Der Begriff „Volkshermeneutik“ ist ein Versuch, den bestehenden Streit über die Definition des gewöhnlichen Lesers zu vermeiden, wie er von Ukpong und anderen afrikanischen Gelehrten vorgeschlagen wurde. Alle Sphären der zeitgenössischen afrikanischen Gesellschaft sind hier involviert, die Gebildeten und Ungebildeten ebenso wie einige Geistliche. als nur ein Stück alltäglich Literatur; sie wird als heilig und als Wort Gottes angesehen. Dass das Christentum in Afrika eine blühende Religion ist, liegt zum Teil daran, dass afrikanische Christinnen und Christen keine Kompromisse in Bezug auf göttliche Inspiration der Bibel eingehen. Alle Christinnen und Christen betrachten die Bibel als heilig, aber für afrikanische Christusgläubige ist diese Heiligkeit von höchster Bedeutung und grundlegend für den Glauben. 7 4. Populäre Hermeneutik Die populäre Hermeneutik 8 bezeichnet im Zusammenhang dieser Arbeit popu‐ läre Interpretationen oder Alltagsauslegungen der Bibel im zeitgenössischen Christentum Afrikas. Diese Perspektive ist durch afrikanische Weltanschau‐ ungen und afrikanische Lebenssituationen geprägt. Die Bibel wird in einem populären Kontext von Menschen interpretiert, die sich selbst als „biblische Christen“ bezeichnen oder dem so genannten biblischen Christentum in Afrika angehören. Dieses so genannte biblische Christentum geht davon aus, dass die Aussagen der Bibel wörtlich zu verstehen sind und in die Gegenwart hinein mit aktueller Gültigkeit gesprochen werden können. Dieselben Zeichen und Wunder, die die apostolische Verkündigung des Evangeliums begleiteten, müssen auch jetzt die Verkündigung begleiten. Es ist interessant, dass die Bibel als ein lebendiges Buch betrachtet wird, das von Gottes Inspiration erfüllt ist, weshalb sie auch vom Deckblatt bis zur letzten Seite als kraftvoll bezeichnet wird. Der Text - sei es in Twi, Ga, Hausa, Ewe Igbo - wird im Rahmen dieser Auslegungstradition als mächtig und wirkmächtig angesehen. Der in Ghana zur Umgangssprache gehörende Ausdruck „Ich glaube an die Bibel von der ersten bis zur letzten Seite“ scheint diese Sichtweise anschaulich zu verdeutlichen. Diese Auffassung ist vor allem bei pfingstlich-charismatischen Christinnen und Christen anzutreffen, aber auch in vielen anderen Formen des Christentums im heutigen Westafrika. Die Bibel findet dort Anwendung, um existenzielle Lösungen für alltägliche Probleme des Lebens zu finden. Dahinter verbirgt sich die Überzeugung, dass die Bibel ein von Gott autorisiertes Buch ist. Der übersetzte Text ist heilig - „holy“ und „sacred“. Es besteht eine untrennbare Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 32 Abraham Boateng 9 Asamoah-Gyadu, Contemporary Pentecostal Christianity (s.-Anm.-7), 170. 10 Asamoah-Gyadu, Contemporary Pentecostal Christianity (s.-Anm.-7), 166. 11 Kwame Bediako, Christianity in Africa (s.-Anm.-3), 61 (Übersetzung M. Sommer). Verbindung zwischen der Bibel als Text und der Bibel als heiligem Material, das mit ehrfürchtigem Respekt behandelt werden muss. 9 Die Bibel ist nicht nur übersetzter Text, der in einem historischen Kontext gewachsen ist, sondern ein Buch voller Lösungen, Zusagen und Anleitungen zur Bewältigung der Schwierigkeiten des Lebens. Sie ist auch eine Waffe gegen die Angriffe durch spirituelle Feinde. Diese Glaubensauffassung hat natürlich auch Auswirkungen darauf, wie die Bibel ausgelegt und gepredigt wird und welchen Zwecken sie in einer christlichen Erziehung dient. Dieser Ansatz steht im völligen Widerspruch zu der in der westlichen Universitätstradition entwickelten Bibelkritik. 10 Ein allgemeiner Ausdruck in Westafrika lässt sich mit „was sagt die Bibel? “ über‐ setzen; er vermittelt eine gute Vorstellung über den Gebrauch der Bibel im Alltag und über ihre Autorität in afrikanischen Lebenswelten. 5. Bibelhermeneutik in der Muttersprache Kwame Bediako schreibt, dass in the African Christianity of the post-missionary era, the extent to which a church can be said to possess a viable heritage of Christian tradition in its indigenous language is the extent of that church’s ability to offer an adequate interpretation of reality and a satisfying intellectual framework for African life. 11 Die biblische Hermeneutik in der Muttersprache versucht, eine angemessene Interpretation der Wirklichkeit vor dem Hintergrund der Bibel in der Lan‐ dessprache anzubieten. Damit ist ein kontinuierlicher Auslegungsprozess im Rahmen einer postkolonialen Hermeneutik intendiert. Die Muttersprache wird hierbei zu einem hermeneutischen Kanal für die Wahrnehmung des lebens‐ weltlichen Kontexts. Es geht darum, die biblischen Begriffe und Gedanken in der Sprache des Volkes wiederzugeben. Dieses Bemühen zielt darauf ab, die Botschaft der Bibel durch die kulturelle Identität der Menschen relevant zu machen. Es werden die richtigen Worte und Ausdrücke in der Muttersprache gesucht, um die Botschaft der Heiligen Schrift zu erklären und anzuwenden. Dies wird erreicht, indem Brücken zwischen den biblischen Sprachen (Hebrä‐ isch, Griechisch und Aramäisch) und den Muttersprachen geschlagen werden. Josee Ngalula Tsianda beschreibt die Muttersprache als Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 Tendenzen der Bibelauslegung im postkolonialen Ghana 33 12 Josee Ngalula Tshianda, Quest for Theological Lexicons in African Languages, in: Jean-Claude Loba-Mkole/ Ernst R. Wendland (Hg.), Interacting with Scriptures in Africa Nairobi, 2005, 40. 13 Siehe Asamoah-Gyedu, Contemporary Pentecostal Christianity (s.-Anm.-7), 162. the language in which each of us says ‘yes’ or ‘no’, in which we rejoice or cry, in which we love or hate, in which we thrill or dance. Hence without making meaning of the message of the Bible in this regard, contact with the Gospel will be superficial. 12 6. Wissenschaftliche Hermeneutik (Akademische Hermeneutik) Die akademische Hermeneutik folgt den international anerkannten Methoden und Herangehensweisen an den Bibeltext. Leseweisen der Bibel, die im europäi‐ schen und nordamerikanischen Sprachraum entwickelt und verbreitet wurden, werden hier rezipiert. Dabei hat die Bibel einen anderen Stellenwert und auto‐ ritativen Status als in den oben dargestellten Hermeneutiken. Für die meisten Wissenschaftlerlinnen und Wissenschaftler ist sie schlichtweg ein Text, der als solcher behandelt werden soll und muss. Der Inhalt der Bibel und ihre Botschaft müssen nach den Standards und Prinzipien literarischer Textauslegungen be‐ trachtet werden. Das Besondere an der akademischen Auslegung in Westafrika ist, dass die westlichen Methoden nicht von europäischen Missionaren nach Afrika importiert wurden. Vielmehr sind sie von afrikanischen Gelehrten, die im Ausland wissenschaftliche Qualifikationen erworben haben, nach Afrika gebracht worden. Diese Forschenden verstehen sich als afrikanische Gelehrte, tragen dabei aber westliche Ketten um den Hals. (Sollten nicht alle Theologen die Perspektive der Armen, der Beeinträchtigten, der Opfer von Krankheiten und Gewalt oder Krieg einnehmen? War das nicht die Perspektive von Jesus? ) Eine andere Gruppe von Akademikerinnen und Akademikern versucht, die Bibel in ihrem historischen Kontext literarisch auszulegen, möchte dabei aber gleichzeitig nach Anwendungsmöglichkeiten für die gegenwärtige Situation suchen. Die dafür angewandten Methoden stammen jedoch aus dem Westen. Sie bleiben misstrauisch gegenüber explizit übernatürlichen Themen wie Geis‐ testaufe, Exorzismus und geistlicher Heilung. Sie stehen demnach ein wenig in Kontrast zu dem, was in vielen afrikanischen Kontexten zum Alltag der Bibel‐ auslegung gehört. 13 Justin Ukpong, Eric Anum und andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellten fest, dass der Ansatz dieser Hermeneutik sich dem Text, seinem Entstehungskontext und der Gegenwart auf einer vergleichenden Ebene annähert, um hier einen Ansatz für eine Theologie zu finden. Diese Form des theologischen Denkens ist auch in der westlichen Welt verbreitet. Die Bibelauslegung der Mainline-Kirchen oder der so genannten historischen Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 34 Abraham Boateng 14 Zitiert von Gerd Theißen, Der Schatten des Galilaers. Historische Jesusforschung in erzählender Form, Gütersloh 13 1993, 168: „Wenn ich oder andere ihm Lebensmittel schicken, Brote, Fischund Fruchte, und meine Leute holen sie plotzlich heraus, dann erscheint es der Menge wie einWunder. Diese armen Leute haben oft noch nie so viel Lebensmittel auf einmal gesehen. Wenn man so will, geschieht auch tatsachlich ein Wunder.“ Vgl. auch die englische Fassung: Gerd Theißen, The Shadow of the Galilean: The Quest of the Historical Jesus in Narrative Form, Augsburg, 2007; Heinrich E. G. Paulus, Philologisch-kritischer und historischer Kommentar uber die drei ersten Evangelien, in welchem der griechische Text, nach einer Recognition der Varianten, Interpunctionen und Abschnitte, durch Einleitungen, Inhaltsanzeigen und ununterbro‐ chene Scholien als Grundlage der Geschichte des Urchristenthums synoptisch und chronologisch bearbeitet ist, 3-Bde., Lübeck 1800-1802. 15 Stefan Alkier, For Nothing will be impossible with God (Luke 1: 37), in: Stefan Al‐ kier/ Annette Weissenrieder (Hg.), Miracle Revisited. New Testament Miracles and their concepts of Reality Berlin/ Boston 2013, 5-22. Missionskirchen wie der Presbyterianischen und der Methodistischen Kirche möchte Anwendungsmöglichkeiten für die Lehre des Textes eruieren. Diese Herangehensweise an den Text ist hochgradig rational und universell anspre‐ chend. Man muss beachten, dass der Rationalismus des Ansatzes nicht auf der von Heinrich E. G. Paulus oder Gerd Theißen 14 intendierten Ebene liegt, sondern auf einer dezidiert eigenen Ebene. Dieser Ansatz geht nicht von einer Wiederholbarkeit und eine praktischen Manifestation von biblischen Wundern im gegenwärtigen Lebenskontext aus. Wundergeschichten bieten Lektionen für das Leben und die Möglichkeit, aus dem zu lernen, was zur Zeit Jesu geschah, aber können nicht in der Gegenwart appliziert werden. Um es mit den Worten von Stefan Alkier 15 auszudrücken, nähern sich akademische Gelehrte den neutestamentlichen Wundergeschichten nicht als Fiktion oder Tatsachen, sondern als limitierte Brüche. Die Kollision mit dem Text wird durch die Enzyklopädie der Wissenschaft beeinflusst, die sich auf westliche, allgemein akzeptierte Ansätze konzentriert. 7. Die Hermeneutik der Wunder im ghanaischen Kontext In der afrikanischen/ ghanaischen Vorstellung von der Wirklichkeit gelten Wunder als Tatsachen. Wenn Afrikanerinnen und Afrikaner die Wunderer‐ zählungen der Bibel rezipieren, entstehen häufig bei vielen hoffnungsvolle Stimmungen der Ermutigung und freudigen Erwartung. Diese Gefühle können sich in einem glücklichen Gesichtsausdruck, einer entsprechenden Körperhal‐ tung, einem unbeschreiblichen Gefühl im Magen oder sogar einem brennenden Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 Tendenzen der Bibelauslegung im postkolonialen Ghana 35 16 Siehe Alkier, The Reality of the Resurrection. The New Testament Witness, Waco 2013, 228. 17 Alkier, The Reality of the Resurrection (s.-Anm.-16), 228. 18 Vgl. A. A. Anti, Akwamu, Denyira, Akuapem and Ashanti in the lives of Osei Tutu an d Okomfo Anokye, Tema 1971; vgl. Molefi Kete Asante, Okomfo Anokye Asante priest (https: / / www.britannica.com/ biography/ Okomfo-Anokye; letzter Zugriff am 03.08. 2023): „Okomfo Anokye had a profound impact on the Asante nation in its origin. He is the principal architect of Asante laws, customs, and beliefs about religion and supernatural powers. He has a record of great deeds and miraculous cures. It is said that, among other things, he climbed palm trees with his sandals on and carved a game of Oware—a strategy game utilizing shallow indentations and pebbles or the like—out of a stone slab with his bare fingers. The sandals and the slab of stone are on display in Awukugua, Ghana. Other exploits of Anokye include the redirecting of rivers, the restructuring of Asante institutions, the fetching of water in a basket without spilling a drop, and the commanding of the Golden Stool to land on the knees of his friend Osei Tutu, thus making him the first king. Everything that Anokye did seemed to attest to his power over nature. He was even said to have lived in a house without a roof, but he was never wet because the rain did not fall inside his house. Tradition also holds that Anokye buried a sword in the ground to the hilt, and the sword reportedly cannot be removed without destroying the Asante Nation. The sword said to be the one that Anokye buried remains firmly in place on the grounds of a hospital in Kumasi that bears his name. The Asante wrote songs in Anokye’s name, and he was honoured in praise poetry. His fame and reputation grew immensely after his death, and the Asante remember his warning that if the Golden Stool were ever to be destroyed or captured by the enemies of the Asante, the nation would descend into chaos.“ Herzen äußern. 16 Die afrikanische Idee oder das afrikanische Konzept der Realität erzeugt dieses Gefühl, ohne dass die Wundererzählungen der Bibel dabei kritisch analysiert werden. Ein Wunder erhält seine Offenbarungskraft gerade als ein Phänomen der vorkritischen Wahrnehmung. Dieses Gefühl lässt sich in seiner Denkbarkeit oder Kohärenz nicht von anderen Erfahrungen und Erkenntnissen unterscheiden. 17 Dieses praktische Gefühl, wie Stefan Alkier es nennt, fasst die afrikanische Komposition einer Lebenswirklichkeit zusammen. In der afrikanischen Weltanschauung ist dieses praktische Gefühl im inneren Kern des afrikanischen Geistes verankert. Als Beispiel hierfür dient der aus der traditionellen Geschichte der Akan stam‐ mende Mythos von Okomfo Anokye. 18 Es ist anzumerken, dass die anfängliche Akzeptanz und der Glaube an Wunder im afrikanischen Kontext im Gegensatz zur Idee einer Welterfahrung in westlichen Kontexten jenseits der Aufklärung stehen, in denen die anfängliche Vorstellung von Wundern als Repräsenta‐ tion der Realität abgelehnt wird. Wunder werden in der Lebenswirklichkeit Westafrikas nicht als fiktive Phänomene bezeichnet. Sie werden vielmehr als regelmäßige Ereignisse betrachtet, die dem Gott der Bibel zugeschrieben werden. Im postkolonialen Afrika sind diese Vorstellungen intrinsisch, d. h. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 36 Abraham Boateng 19 Emmanuel Lartey, Living Color. An Intercultural Approach to Pastoral Care and Counselling, London/ New York 2003, 113 (Übersetzung M. Sommer). ohne westliche Einflüsse, entstanden. Dennoch ist die Basis der Theologie und des Theologisierens mit den Nabelschnüren des Kolonialismus verbunden. Die übersetzten Schriften tragen koloniale Prägungen und atmen westliche Ideologien. Die wundersame Heilung des epilepsiekranken Jungen oder die Austreibung des unreinen Geistes beispielsweise finden im afrikanisch-ghanaischen Kontext einen breiten Anklang. Westafrikanische christliche Bibelleserinnen und -leser haben keinen Grund, an diesen Wundererzählungen vor dem Hintergrund ihrer Perspektive auf Wirklichkeit zu zweifeln. Wundergeschichten spielen im westafrikanischen Christentum eine wichtige Rolle. Das Christentum in Ghana besitzt eine Art der Spiritualität, die Wunder und göttliches Handeln oder Eingreifen erwartet und erlebt. Emmanuel Lartey gibt einen detaillierten Einblick in diese Spiritualität: Spiritualität ist ein Stil, der sich auf die menschliche Fähigkeit zur Beziehung zu sich selbst, zu anderen, zu Gott und zu dem, was über die sinnliche Erfahrung hinausgeht, bezieht, der oft in den Besonderheiten bestimmter historischer, räumlicher und sozialer Kontexte zum Ausdruck kommt und der oft zu spezifischen Formen des Handelns in der Welt führt. 19 Der Schlüssel zu dieser Definition liegt darin, dass Individuen in der Lage sind, Erfahrungen zu machen, die sie mit anderen in Beziehung setzen. Nach afrikanischer Vorstellung äußert das Bewusstsein in verschiedenen Situationen Bedürfnisse, das die Anwesenheit eines Trägers der numinosen Kraft erfordert. Diese Bedürfnisse können von sozioökonomischer, von politischer und von anderer Art sein. Sie erfordern eine starke Hand, um erfüllt zu werden. Folgt man dem, so wird Afrika seine finanzielle Freiheit nur erlangen, wenn die Mächte es zulassen. In seinem jetzigen Zustand ist es dieser Aufgabe nicht gewachsen. Die größten Defizite sind durch die Jahre der Kolonisierung entstanden. Wenn wir zum Thema zurückkehren, so bedingen der Glaube an Hexerei sowie die Überzeugung, dass Krankheiten und Unfälle eine spirituelle Ursache haben in afrikanischen Wirklichkeitskonzeptionen den Glauben an göttliches Eingreifen in die Welt, d. h. an Wunder. Häufig begegnet in westafrikani‐ schen Lebenswelten der Slogan „Jesus, power, superpower! “ Dieser Ausspruch wird von vielen benutzt, die die Wunder Jesu in der Gegenwart persönlich erfahren und in eine Beziehung zu ihnen eintreten wollen. In diesem Zu‐ sammenhang werden die Wundergeschichten der Bibel als Tatsachenberichte Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 Tendenzen der Bibelauslegung im postkolonialen Ghana 37 20 See J. Kwabena Asamoah-Gyadu, African Charismatics. Current Developments within Independent Indigenous Pentecostalism in Ghana, Leiden 2005, 18. 21 Sunsum ist Geist und sore ist Anbetung oder Kirche und gehört zu den unabhängigen afrikanischen Kirchen (AICs). Sie gehören zur ersten Welle des Pfingstchristentums in Ghana, die als spontane Reaktion auf den kometenhaften Aufstieg und die parallelen Aktivitäten einer Reihe afrikanischer Propheten begann, deren magnetische Persön‐ lichkeiten und Kampagnen der Erweckung und Erneuerung Massen zum Christentum zogen. Dies sind die Ansichten von Asamoah-Gyadu. Siehe Asamoah-Gyadu, African Charismatics (s.-Anm.-20), 19-21. wahrgenommen und entsprechend behandelt. Der christliche Gott, der gemäß dieser afrikanischen Weltanschauung gegenwärtig handelt und Wunder wirkt, muss angebetet werden. Historische Missionskirchen wie die Methodistische Kirche Ghanas und andere Konfessionen mit tiefen europäischen und aufkläre‐ rischen Wurzeln haben einen Interpretationsansatz entwickelt, der die Wunder‐ geschichten der Bibel mit Hilfe einer westlichen Bibelhermeneutik interpretiert. In diesen Kirchen schienen Gelehrte und Theologinnen und Theologen in früheren Zeiten den Geistern als reale Mächte in afrikanischen Wirklichkeits‐ verständnissen wenig oder gar keine Beachtung zu schenken. Dieses koloniale Erbe beeinflusst das alltägliche und gottesdienstliche Leben von westafrikani‐ schen Menschen bis in die Gegenwart hinein. Asamoah Gyadu schreibt, dass diese Kirchen in historischer Kontinuität mit den westlichen Missionen stehen und eine rationalistische, systematische und bekenntnisorientierte Form des Christentums geerbt haben. Die zeitgenössische christliche Spiritualität befindet sich, wie er argumentiert, „in a state of renewal which involves a rethinking of traditional church pneumatologies including the practical articulation of a response to the reality of evil, as a non-negotiable element in the religious consciousness of indigenous Christians.“ 20 Umdenken und zeitgemäßes Enga‐ gement in einem postkolonialen Kontext sind der richtige Weg auf der Suche nach relevanten Theologien. Die neue Welle der charismatischen Erneuerung betont als zentrale Forderung, dass Wunder, das Wirken des heiligen Geistes und eine göttliche Intervention zur Realität gehören. Die Phänomene der Sunsum Sore, 21 der spirituellen Kirchen, und der charismatisch-pentekostalen Bewegung sind als Hinweis auf diesen Sinneswandel zu verstehen. Dieses Gefühl einer neuen Spiritualität konzentriert sich auf den Glauben an göttliche Intervention im postkolonialen Afrika. Wundergeschichten erfahren im zeitgenössischen Christentum in Afrika eine neue und intensive Würdigung. Der Gott, der Wunder vollbringt, muss in Gebetslagern, bei nächtlichen Zusammenkünften und besonders in Wundergottesdiensten erfahren und angebetet werden. Bei dieser Form der Spiritualität handelt es sich keineswegs um ein Randphänomen. Diese Einstellung zur realen Erfahrbarkeit und unmittelbaren Gegenwart von Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 38 Abraham Boateng 22 Werner Kahl, Jesus als Lebensretter. Westafrikanische Bibelinterpretationen und ihre Relevanz für die neutestamentliche Wissenschaft, Neutestamentliche Studien zur kontextuellen Exegese-2, Frankfurt a.-M. 2007, 343. 23 Rev. Prof. Emmanuel Martey ist ehemaliger Präsident des Trinity Theological Seminary, Legon, und ehemaliger Moderator der Generalversammlung der Presbyterianischen Kirche Ghanas. 24 Siehe Kwame Bediako, Jesus in African Culture. A Ghanaian Perspective, Accra 1990. 25 Siehe Benhardt Y. Quarshie, St. Paul and the Contextualization Imperative. The Chris‐ tian Faith, Religion and Culture, in: Trinity Journal of Church and Theology 3 (1993), 1-16. 26 Kahl, Jesus als Lebensretter (s.-Anm.-22), 352 f. Wundern wird nicht nur von Menschen ohne Bildungshintergrund vertreten, sondern begegnet in allen Gesellschaftsschichten und Bildungsmilieus. Auch in der akademischen Theologie Afrikas findet sich dieser auf die erfahrbare Gegenwart bezogene Wunderglaube. Bibelwissenschaftler, auch wenn sie an öffentlichen Universitäten in Ghana lehren, sind entweder als Priester tätig oder engagieren sich stark im pastoralen Feld ihrer Kirchen. Letzteres ist begründet in dem Umstand, dass sämtliche Neutestamentler in Ghana in Vergangenheit und Gegenwart - wie übrigens der überwiegende Teil der an den zwei von drei staatlichen Universitäten unterrichtenden Theologen und Religionswissen‐ schaftler neben ihrer hauptamtlichen akademischen Beschäftigung als aktive Pastoren tätig (gewesen) sind. 22 Die afrikanische Theologie bejaht die Realität von Wundern im postkolonialen Kontext, aber natürlich in einem unterschiedlichem Ausmaß. Der bekannte Befreiungsprediger Rev. Prof. Emmanuel M. Martey 23 bekräftigt regelmäßig, dass übernatürlich wirkende Geister, Dämonen real und erfahrbar sind und dass der mächtige Name Jesu sie besiegen kann. Dies ist schon allein aufgrund der Bekanntheit von M. Martey erwähnenswert. Wunder gehören laut Martey zur Wirklichkeit und zum Lebenskontext für betende Christinnen und Christen. Bibelwissenschaftler wie Bediako, 24 Ekem, Quashie, 25 Pobee und Osei Bonsu schließen sich dem an. Sie haben in ihren Schriften versucht, die Rolle Jesu für Afrikanerinnen und Afrikaner kontextuell theologisch zu erschließen. Werner Kahl urteilt, dass dieser kontextsensible Ansatz fest zur afrikanischen Christologie gehört: Im Zentrum des afrikanischen Inkulturationsbzw. Kontextualisierungsinteresses steht die Problematik der Erfassung der Bedeutung Jesu mittels traditioneller Vor‐ stellungen und Begrifflichkeiten… . Die Christologie sollte aus der „Gefangenschaft der Nordkirchen“ befreit werden, um unter afrikanischen Lebensbedingungen und innerhalb der afrikanischen Enzyklopädie bedeutsam werden zu können. 26 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 Tendenzen der Bibelauslegung im postkolonialen Ghana 39 Die Realität und Faktizität von Wundern und die Erfahrbarkeit des Göttlichen gehört zur Lebenswelt Ghanas untrennbar dazu. In ihrer seelsorgerischen Arbeit sind afrikanische Theologinnen und Theologen sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehalten, für Mitglieder zu beten, die an Gott glauben und ein Wunder, göttliche Heilung oder Lösungen für ihre Probleme erwarten. So gehört es zum Beispiel fest zur Jahrestagung vieler großer Kirchen in Ghana, dass im Kontext eines Fastentages ein Gottesdienst stattfindet, in dem Pastoren, die sich eine göttliche Begegnung ersehnen, die Möglichkeit für ein spezielles Gebet eingeräumt wird. Sie dürfen sich im Rahmen des Gottesdienstes dafür nach vorne bewegen. Diese Gebete werden meist von führenden Mitgliedern der Konfessionen geleitet und zusammengefasst. Es handelt sich bei ihnen um erfahrene und gelehrte Theologen mit nationaler und internationaler Reputation. Solche Zusammenfassungen beinhalten eine Bitte um Heilung, Befreiung, Durchbruch und natürlich auch um ein Wunder. Diese theologische Perspektive auf Wunder als Tatsachen ist signifikant für Afrika. Neben den charismatisch-pfingstlerischen oder neureligiösen Bewegungen, die Wunder aus eigenem Antrieb propagieren, besitzen aber auch die traditionellen Kirchen Afrikas verwandte Sichtweisen. Geistliche der Methodistischen Kirche Ghanas, der Presbyterianischen Kirche Ghanas und anderer Konfessionen sind häufig Redner oder Gastgeber bei sogenannten „Wunderrevivals“, „Wunder‐ evangelisationen“ oder ähnlicher Veranstaltungen. Diese Geistlichen predigen hauptsächlich über die Wunderkraft im Namen Jesu und fordern ihre Zuhörer auf, sich auf Wunder einzulassen. Ein gutes Beispiel für ein solches Programm ist das sogenannte „Miracle Wave“. Dieses Event, von Pater Obed Quao geleitet, ist bei Angehörigen der anglikanischen und methodistischen Kirche in Accra, der Hauptstadt Ghanas, sehr beliebt. Es findet jeden ersten Samstag im Monat zwischen 7: 00 und 9: 30 Uhr im Gemeindesaal von St. Barnabas in Osu in Accra statt. Auf den Plattformen der sozialen Medien und auf diversen Onlineportalen wird es sehr stark beworben, was sicherlich als ein Indiz für den hohen sozialen Stellenwert des Miracle Wave im sozialen Kontext von Ghana gewertet werden darf. Das Miracle Wave ist nach Angaben des Leiters und Gründers ein Gebetsdienst, der sich der Suche nach Gottes Willen für die Errettung der Unerretteten verschrieben hat. Der Gottesdienst selbst besteht aus einer frühmorgendlichen Anbetung mit einer Predigt, einer intensiven Gebetszeit und der Manifestation von Zeichen und Wundern. Pater Obed Quao schreibt über die Wirklichkeit von Wundern bei diesem Event Folgendes: Ja, ich glaube an das Wunderbare (Lukas 5,17), die Kraft Gottes war da, um zu heilen und zu befreien. Auf dieser Grundlage glauben wir an das Übernatürliche. Es gibt viele Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 40 Abraham Boateng 27 Obed Quao, Miracle Wave, Accra 2019, unpublished notes (Übersetzung M. Sommer). Menschen, die von der Güte des Herrn zeugen. Wir haben Zeugnisse von Heilungen, Wundern und Befreiungen erhalten. In der Januar-Ausgabe heilte Gott ein Ohren- und Rachenproblem. Wir vertrauen darauf, dass Gottes offenkundige Gegenwart mit uns ist. 27 Pater Obed Quao schloss 2015 das Trinity Theological Seminary Legon mit einem Bachelor of Theology ab. Derzeit ist er Pfarrer der St. Barnabas Anglican Church Osu. Der biblische Text (Wundergeschichte) wird bei seiner ersten Begegnung in einer postkolonialen Situation als faktische Realität und Tatsache rezipiert. Die gegenwärtige charismatisch-pfingstlerische Präsenz in Afrika unterstützt diesen Ansatz: Unter afrikanischen Charismatikerinnen und Cha‐ rismatikern begegnen häufig Redewendungen, die dies belegen. Ausdrücke wie „Wunder geschehen, wenn wir beten“ oder „Bete für ein Wunder, empfange dein Wunder, komm für dein Wunder“ sind nur einige von vielen Exempeln hierfür. Alle, die den Text der Bibel nicht wörtlich auslegen, gelten als ungläubig. Es wird ihnen unterstellt, dass ihnen der Glaube an die Bibel fehlt. Auslegende, Prediger und Pastoren, die die Bibel nicht auf diese Weise verstehen und verkünden, werden als verwestlicht betrachtet; sie befinden sich in den Augen der Bewegung noch im Schoß der Kolonialherren. Gläubige werden ermutigt, Menschen zu suchen, die über solche göttliche Fähigkeiten und numinose Kräfte verfügen. Sehr häufig wird dies in Westafrika auch beworben. Man sieht regelmäßig riesige Plakatwände, die für „Wunderkreuzzüge“ werben. Den Besuchern werden Wunder in Aussicht gestellt, ja sogar versprochen: Es ist von Heilungen und von Totenauferweckungen die Rede; Blinde sollen wieder sehen und Lahme wieder gehen können. Bei diesen Propheten, Gründern und Wundertätern handelt es sich um afrikanische Christen, die auf dem Kontinent ein enormes Ansehen genießen. Bei ihrer Performance liegt ein Schwerpunkt darauf, Zeugnisse und Bestätigungen des Wunders erfahrbar zu machen, um die Realität der Wunder zu unterstreichen. In diesen Wunderprogrammen kursieren deshalb auch Schlagworte wie Wunderzeit, Zeugniszeit oder ähnliche Begriffe. Dieser Fokus auf die empirische Überprüfbarkeit ist natürlich für viele Menschen ein Anreiz, diese Treffen zu besuchen. Die vermeintlich Blinden, die jetzt sehen können, die Lahmen, die jetzt gehen können, oder alle, die ein Wunder erlebt haben, werden dazu gebracht, öffentlich Zeugnis abzulegen. In den meisten Fällen - so auch bei T. B. Joshua aus Nigeria - werden Zustände vor und nach dem Wunder gezeigt. Ein ursprünglicher Zustand der Not wird beseitigt und die Empfangenden des Wunders präsentieren sich geheilt. Der Bischof Charles Agyin Asare aus Ghana erscheint häufig mit Hilfsmitteln wie Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 Tendenzen der Bibelauslegung im postkolonialen Ghana 41 28 Die Anrufer sind die Zuhörer dieser Gottesmänner. Sie sind hauptsächlich Mitglieder oder Anhänger dieser Gottesmänner. Diese Anrufer rufen in der Regel nach Gebeten den Mann Gottes im Radio an, um zu bestätigen oder zu bekräftigen, dass sie ein persönliches Wunder erlebt haben. 29 Werner Kahl, Miracle Accounts in the New Testament - new exegetical and theological Perspectives, in: Trinity Journal of Church and Theology-19 (2018), 47-76, hier 55. z. B. Krücken, die die Patienten vor ihrer Heilung benutzten. Oftmals moderieren diese „Gottesmänner“ auch Sendungen am Radio, in denen „Anrufenden“ 28 viel Zeit eingeräumt wird, ihre Heilungen zu bestätigen. Natürlich wirft dies mehrere Fragen auf und eine Diskussion über die Echtheit dieser Zeugnisse ist mehr als berechtigt. Dennoch herrscht unter der Bevölkerung Ghanas eine breite Akzeptanz des Wunderbaren als Tatsache. Wunder gehören im postkolo‐ nialen Afrika zur faktischen Realität. Dieses Programm wird von einheimischen Predigern, Propheten und Kirchengründern gefördert und propagiert; wer etwas anderes predigt, wird mit dem „weißen Mann“ verglichen, der an nichts glaubt. 8. Überlegungen und Ausblick Bei der Entwicklung einer angemessenen afrikanischen Hermeneutik muss im postkolonialen Afrika ein umfassender Ansatz für die empirischen, existenti‐ ellen und spirituellen Perspektiven des Textes verfolgt werden. Eine angemes‐ sene Hermeneutik der Bibel muss die Lebenswirklichkeiten Afrikas und die des Textes zur Kenntnis nehmen. Wie Alkier feststellt, muss der Wundertext, um sein kritisches Potenzial voll entwickeln zu können, in dem jeweiligen Diskursuniversum - in diesem Falle das postkoloniale Afrika - diskutiert werden; nur so wird deutlich, dass die biblischen Wunder kein Selbstzweck sind, sondern Ausdruck einer Wirklichkeitserschließung der Schöpfung Gottes in Bezug auf die Theologie des Kreuzes. Dieses interessante Zusammentreffen zwischen dem Text und seiner möglichen Bedeutung im afrikanischen Kon‐ text muss aufgegriffen werden. Afrikanerinnen und Afrikaner dürfen bei der Begegnung mit dem Text nicht ihre Vorstellungen von der Wirklichkeit voraus‐ setzen, sondern müssen dem Text erlauben, ihnen in ihrem lebensweltlichen Kontext zu begegnen. Alle verfügbaren hermeneutischen Methoden dürfen und sollen eingesetzt werden, um den Text als Literatur wahrzunehmen und zu untersuchen. Jedoch sollen diese westlichen Ansätze mit afrikanischen Wirklichkeitsauffassungen konfrontiert werden. Dies ist, was Kahl das konven‐ tionalisierte Weltwissen der mediterranen Antike nennt, wie es im frühen Christentum geteilt wurde. 29 Dies muss für afrikanische Bibelleserinnen und Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 42 Abraham Boateng -leser von vitalem Interesse sein, wenn sie den biblischen Text ernstnehmen und verstehen wollen. Die Bibelstelle muss von ihrem talismanischen Etikett befreit und analysiert werden. Afrikanische/ ghanaische Christen sollten zunächst mit einem wissenschaftlich analysierten Text konfrontiert werden und dann die Möglichkeit haben, den Text und seine Auslegung mit ihren Realitäten zu verschmelzen und einen lebensweltlichen Bezug herzustellen. In diesem Zusam‐ menhang sollten afrikanische Bibelwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler versuchen, Kommentare und Lexika in ihren Muttersprachen zu erstellen. Die Bibel wird als ein Produkt ihres Autors in einem postkolonialen afri‐ kanischen Kontext betrachtet, der für die mögliche Manifestation göttlichen Handelns fruchtbar ist. Die wissenschaftliche Legitimation der göttlichen Of‐ fenbarung darf nicht den Kolonisierern zugeschrieben werden. Sie dürfen nicht bestimmen, was das Göttliche in zeitgenössischen afrikanischen Kontexten bewirken kann oder nicht. Rev. Dr. Abraham Boateng lehrt Neues Testament, Griechisch, und Homiletik am Trinity Theological Semi‐ nary Legon in Accra Ghana. Er promovierte im Fach Neues Testament an der Johann Wolfgang-Goethe-Uni‐ versität Frankfurt am Main in Deutschland. Seine Doktorarbeit befasste sich mit der Übersetzung der jüdisch-christlichen Schriften (Wunder) in ghanaische Muttersprachen. Zu seinen Interessengebieten gehören Septuaginta-Studien, biblische Hermeneutik in Muttersprachen, postkoloniale Hermeneutik und afrika‐ nisch-theologische Antworten auf Klimafragen. Er lebt mit seiner Familie in Accra, Ghana, und arbeitet als Pastor in der Methodistischen Kirche Ghanas. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0011 Tendenzen der Bibelauslegung im postkolonialen Ghana 43