eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 26/52

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2023-0012
121
2023
2652 Dronsch Strecker Vogel

Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala

121
2023
Paula Kautzmann
znt26520045
1 Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2020, 129. 2 Spivak, Subaltern (s.-Anm.-1), 126. 3 Die Übersetzungen der Zitate aus der spanischsprachigen Literatur im vorliegenden Beitrag stammen durchgehend, sofern nicht anders markiert, von mir. 4 Vgl. Sofía Chipana Quispe, La Biblia en los procesos andinos de descolonización e interculturalidad, in: Concilium 382 (2019), 41-54, Fn. 2, s. auch dies., Saberes y espiritualidades relacionales en Abya Yala, in: Concilium 384 (2020), 63-74, Fn. 1, und Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala Paula Kautzmann 1. Statt einer Einführung Ich schreibe hier keinesfalls als Expertin für „lateinamerikanische Exegese“, sondern in dem Versuch ein „Lernen zu erlernen“. 1 Dies erfordert ein stetiges Mit(be)denken und Dekonstruieren der eigenen persona, was auch im struktu‐ rellen Verhaltens-Schreib-Prozess erkennbar wird. Damit ist gemeint: Die von mir eingenommene Schreibhaltung ist als ein „Versuch im Dunkeln“ 2 zu be‐ schreiben, dessen Thematik jedoch selbst keinesfalls im Dunklen ruht. Möchten Sie mich nun als Türöffnerin lesen, dann betreten wir im Übertritt in diesen Raum jedoch nicht einen solchen, der durch meine Arbeit erhellt wird, sondern einen bereits hellstrahlenden. In den ersten Zeilen meines Beitrages möchte ich Voraussetzungen klären, Zugangslegungen und machtbesetzte Problematiken thematisieren, also keine Einführung im klassischen Sinne. Vielmehr eine Dekonstruktion normativer Annahmen und gleichwohl ein Versuch selbstkri‐ tischen Lernen Erlernens. Das Syntagma Abya Yala - im Deutschen oft unter der Betitelung „Latein‐ amerika“ oder auch „Süd-Mittelamerika“ subsumiert - steht als Synonym für „Amerika“: Es bezeichnet den ganzen amerikanischen Kontinent und wird von verschiedenen Ethnien in der Bewegung der indigenen Gruppen auf den Cumbres Continentales - kontinentale Gipfeltreffen indigener Organisationen und Gruppen 3 - verwendet. 4 Carlos Walter Porto-Gonçalves, Abya Yala (https: / / sites.usp.br/ prolam/ es/ abya-yala/ ; letzter Zugriff am 25.04.2023). 5 Dieses Buch bietet in seinen wesentlichen Inhalten den Text der Vorlesungen, die Tamez im Jahr 1985 an der Methodistischen Theologischen Fakultät in S-o Paulo (Brasilien) anlässlich der Wesleyan Week gehalten hat (vgl. Elsa Tamez, Santiago: lectura latinoamericana de la epístola, San José 1985,-12). 6 Für-Sprache meint die Anfrage daran, wer mit wem, über was, in welcher Art und Weise überhaupt sprechen, verhandeln oder sich selbst repräsentieren kann. Damit ziele ich auf die Problematik der Repräsentation von Menschen und Gruppen in unterschiedlichen, hegemonialen Diskursen. 7 Der dritte Blickwinkel „Hoffnung“ kann im Rahmen dieses Beitrags aus Platzgründen nicht skizziert werden. Wie Sie bereits sehen können, wird dieser Beitrag begleitet von und mit‐ gestaltet durch spanischsprachige Begrifflichkeiten aus den Ausgangstexten: Die Kapitelüberschriften stammen aus dem von Elsa Tamez publizierten spa‐ nischsprachigen Werk „Santiago: lectura latinoamericana de la epístola“ aus dem Jahr 1985, das im Zentrum dieses Beitrages steht. 5 Die Überschriften sind von deutschsprachigen Schlagwörtern begleitet, die sich meinerseits aus der Auslegung und Beschäftigung mit Elsa Tamez Werk ergeben (s. u. 1.2.). Inhalt und Methode des vorliegenden Beitrages ergeben sich aus einem krea‐ tiven Umgang mit den drei Ausgangssprachen Altgriechisch, Hebräisch und Spanisch sowie der Zielsprache Deutsch. Dieser Beitrag zeichnet die exegetische Auseinandersetzung von Elsa Tamez mit dem Jakobusbrief nach und wird als Angebot verstanden, die Perspektive aus der Haltung des Lernern Erlernens heraus zu schulen und vorschnelle Raumeinnahmen in Form der Für-Sprache 6 - in diesem Falle einer Nachzeichnung „lateinamerikanischer Bibelexegese“ - zu dekonstruieren. Vorab lege ich die modi und termini operandi für diesen Versuch offen: Kapitel 1 befasst sich mit meiner eigenen Verstrickung in hegemoniale Diskurse und dem Versuch der Sichtbarmachung. Kapitel 2 führt in den Grundgedanken von Elsa Tamez ein, den Jakobusbrief als eine (ab)gefangene Schrift zu be‐ trachten. Diesen Rekurs aufgreifend stellt Kapitel 3 punktuell Bildszenen des Jakobusbriefes vor - stets prozesshaft im Dialog mit Tamez Gedankengängen. Dabei werde ich Tamez Auslegung folgen und den Jakobusbrief aus zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachten: Dem der Niederdrückung und der integren Praxis. 7 Kapitel-4 resümiert die Ergebnisse. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 46 Paula Kautzmann 8 Robyn Westcott, Witnessing Whiteness: Articulating Race and the ,Politics of Style‘, in: borderlands ejournal Volume 3,2 2004 (https: / / webarchive.nla.gov.au/ awa/ 20050616 0840 14/ http: / / www.borderlandsejournal.adelaide.edu.au/ vol3no2_2004/ westcott_wit‐ nessing.htm; letzter Zugriff am 22.03.2023). 9 Stefan Silber, Postkoloniale Theologien. Eine Einführung, Tübingen 2021, 45. 10 Kommunizierendes Lesen meint, dass ich selbst im Kontakt mit Texten und ihrer Verarbeitung in einen Kommunikationsprozess eingebunden bin, der stets auch hege‐ monialen Impetus besitzt. Dies beginnt bereits bei der Auswahl meiner Lektüren, der Autonomie der Texte selbst, der verfassten Sprache und dem damit gelegten Schwerpunkt auf verschriftlichte Kommunikation. Dadurch bilde ich mir stetig eine Meinung, eine Haltung, ein Inter- oder De-Interesse an gewissen Thematiken. 11 Postkoloniale Theorien machen die Vielfalt und Implikationen des Postkolonialismus zum Thema und legen mit ihrem problemorientierten Ansatz Machtstrukturen offen. Vgl. Paula Kautzmann, Wahrheit im interkulturellen und postkolonialen Diskurs. Theologische Untersuchungen im Anschluss an Catherine Keller und Mayra Rivera, Marburg 2020, 18ff. (https: / / doi.org/ 10.17192/ ed.2023.0004). 1.1 Ambigue Positionalität: Eigene Kompliz: innenschaft Das Sichtbarmachen und das damit verbundene Sichtbarwerden der eigenen Positionierung ist ein relationaler Prozess. Er erübrigt sich nicht in der einfachen Benennung: „Ich bin weiß, cis-Frau und deutschsprachige Theologin.“ Vielmehr setzt dieser Prozess eine selbstkritische sowie fortlaufende Haltung meines Eintretens in eine Struktur der Verantwortlichkeit voraus. Eine wesentliche Er‐ kenntnis der Critical Whiteness Studies zusammenfassend, möchte ich betonen: „A recognition that naming the self as white, if regarded as a finite act of penitence, can only ever be a ‘meaningless piety‘.“ 8 Nicht im endlichen Akt der Buße, sondern in dieser Struktur der Verantwortlichkeit verlaufen Antworten und Fragezeichen verstrickt in beide Richtungen. Der Komplexität dynamischer Strukturen befreiungstheologischer, post- und dekolonialer Denk-Praxis, kann in diesem kleinen Beitrag nur punktuell und eklektisch nachgegangen werden. Als forschende Person besitzen weder ich noch mein „Forschungsgegen‐ stand“ einen neutralen status quo, denn „Wissen kann in der Gegenwart nicht mehr einfach als objektiv vorhanden oder zuverlässig erwerbbar gelten“ 9 . Wissen(schaft) wird situativ von Personen hergestellt und sollte mit der grie‐ chischen Formel panta rhei (alles im Fluss) (durch)gedacht werden. In der Generierung von Wissen sind Diskurse von mehrdimensionalen Machtverhält‐ nissen durchdrungen, die eine vermeintliche Objektivität letztlich schon durch die Gegenwart „anderer Vielfalten“ in Frage stellen. Durch das Gegenüber und in Interaktion mit „den Anderen“ sind Forschende im steten Prozess der Konstituierung ihrer Welt und ihrer selbst. Dies gilt sowohl für persönliche Begegnungen mit Menschen als auch für das Kommunizierende-Lesen  10 von Literatur. Postkoloniale Kritik 11 blickt besonders auf die Machtkonstellationen Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 47 12 Judith Gruber, Wider die Entinnerung. Zur postkolonialen Kritik hegemonialer Wis‐ senspolitiken in der Theologie, in: Andreas Nehring/ Simon Wiesgickl (Hg.), Postkolo‐ niale Theologien II. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum, Stuttgart 2018, 27. 13 Vgl. hierzu Concilium 58 (2022) mit der der Heftthematik „Kontextuelle Zugänge zur Bibel“. 14 Vgl. dazu Gruber, Entinnerung (s.-Anm.-12), 23-37. 15 Vgl. Gruber, Entinnerung (s. Anm. 12), 24, und besonders die anekdotischen Beobach‐ tungen auf 23ff. 16 Silber, Postkoloniale Theologie (s. Anm. 9), 206 sowie María do Mar Castro Varela/ Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, 3., komplett überarb. Aufl., Bielefeld 2015, 176. 17 Ein vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gefördertes Projekt mit den Schwerpunkten auf globale, nachhaltige, machtkritische und sensibilisierende Freiwilligenarbeit, vgl. https: / / www.weltwaerts.de/ de/ startseite. html (letzter Zugriff am 30.04.2023). der Generierung von Wissen und den Umgang mit Ressourcen, also das „unhin‐ tergehbare Zueinander von Macht und Wissen in jeder Wissensproduktion“. 12 Das Machtspiel des Ringens um Universalismus und Partikularismus - wie etwa der vermeintliche Gegensatz objektiver Auslesungskunst und engagierter Exegese 13 - zieht sich mit unterschiedlichen Attributiven durch die Erzäh‐ lungen der westeuropäischen bzw. deutschsprachigen Theologiegeschichte. Engagiert-kontextuelle Zugänge werden im universitären deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs noch immer vielerorts als marginale-provinzielle-nicht repräsentative Stilblüten belächelt. 14 Die römisch-katholische Theologin Judith Gruber zeichnet dies in ihrem Beitrag „Wider die Entinnerung. Zur postkolo‐ nialen Kritik hegemonialer Wissenspolitiken in der Theologie“ charmant-pro‐ vokativ nach, indem sie aufzeigt, wie die Tendenzen einer Ausblendung von Machtverhältnissen in der theologischen Wissensproduktion noch immer ein machtvolles momentum im deutschsprachigen Diskurs sind. 15 Mein Anliegen ist es, eurozentrische und besonders deutschsprachige Wissensbestände einer relectura auszusetzen, deren Augenmerk eben nicht auf dem Verschweigen von Machtkonstellationen ruht. Im Kommunizierenden-Lesen von Tamez Auslegung möchte ich Strukturen der Macht identifizieren, entcodifizieren, transparent machen, anstatt sie und mich oder den Untersuchungsgegenstand unsichtbar und damit unantastbar zu machen. 16 In Bezug auf diesen Beitrag ergeben sich folgerichtig einige mächtige Sichtbarkeiten: Ein Beitrag zur Bibellektüre einer renommierten spanischsprachigen Theologin, Elsa Tamez, aus Abya Yala in der Hand einer unbekannten deutschsprachigen Theologin aus Europa. Zu meinem Kontext sei angemerkt, dass ich angeregt durch meinen „weltwärts“ 17 entwicklungspolitischen Lerndienst in Toluca, Mexiko, Spanisch spreche und lese. Im Theologischen Studienjahr an der Dormitio in Jerusalem Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 48 Paula Kautzmann 18 „Von Peripherien und Zentren, (Ohn)-Mächten und Gewalt(en). 500 Jahre nach der Re‐ formation, 100 Jahre nach der Balfour Erklärung und 50 Jahre nach dem Sechstagekrieg.“ 19 Elsa Tamez, Descubriendo rostros distintos de Dios, in: Juan José Tamayo/ Juan Bosh (Hg.), Panorama de la teología latinoamericana. Cuando vida y pensamiento son inseparables. Estella (Navarra), 2001, 647-659 (https: / / www.ensayistas.org/ critica/ libe racion/ TL/ autores/ tamez.htm#_ftnref1; letzter Zugriff am 22.06.2022). 20 María Pilar Aquino/ Elsa Tamez, Teología feminista latinoamericana, Quito-Ecuador 1998, 75. 21 Vgl. Gabriela Miranda García, „Ihr Frauen, vergesst nicht das Salz“. Elsa Támez (*1950), Bibelwissenschaftlerin in Mexiko und Costa Rica, in: Annegret Langenhorst u. a. (Hg.), Mit Leidenschaft leben und glauben. 12 starke Frauen Lateinamerikas, Wuppertal 2010, 177, und Josep Ignasi Saranyana, Teología en América Latina. Volumen III. El Siglo de las teologías latinoamericanistas (1899-2001), Frankfurt a. M./ Madrid 2002, 476 f., sowie Doris Huber, Wenn du keine Bildung hast, hast du keine Befreiung. Die Entwicklung vertiefte ich, dem Jahresthema 18 geschuldet, machtsensible und kritische postko‐ loniale Theorienbildungen. All dies geschah und geschieht aufgrund meiner Si‐ tuiertheit in ambiguer Kompliz: innenschaft - d. h. der komplexen Verstrickung in hegemoniale, eurozentrierte Denkstrukturen, die nicht nur akademische, sondern auch konkrete, praktische Lebenswelten mitbestimmen. - 1.2-Elsa Tamez: Zwischen den Welten Man sagt, Theologie zu betreiben bedeutet, über Gott zu sprechen. Aber über Gott zu sprechen, bedeutet in gewissem Sinne, über sich selbst zu sprechen. Denn wir sprechen über Gott aus unserer eigenen Perspektive. Egal, wie sehr wir uns bemühen, objektiv zu sein. 19 Die protestantische Theologin Elsa Tamez beginnt in einem Beitrag mit dieser kritischen Selbstreflexion und bestimmt sich an anderer Stelle näher als „fe‐ ministische Theologin der Befreiung“. 20 1950 im Norden Mexikos in Ciudad Victoria geboren und aufgewachsen in Monterrey, mit 15 Jahren der Umzug nach Mexiko-Stadt zu ihrer Schwester, drei Jahre später die Entscheidung für das Theologiestudium am Seminario Bíblico Latinoamericano (Lateinamerikanisches Bibelseminar) in San José in Costa Rica, weil ein Studium der Theologie Frauen in Mexiko innerhalb der presbyterianischen Kirche verwehrt war. Dort wechselte sie in die Methodistenkirche und gestaltete den Umbauprozess des Bibelseminars zur Universidad Bíblica Latinoamericana (UBL) in inhaltlicher Profilierung und der Namensgebung maßgeblich mit. Sie wird an der UBL von 1995-2000 als erste Frau Rektorin einer theologischen Universität in „La‐ teinamerika“. 21 Parallel zum Studium der Theologie besucht sie die Nationaluni‐ Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 49 und Relevanz von generativen Schlüsselbegriffen zu Befreiung und Bildung für Frauen in Nicaragua, Diss. theol. Wien 2011, 169 (https: / / services.phaidra.univie.ac.at/ api/ obj ect/ o: 1273653/ get; letzter Zugriff am 04.11.2022). 22 Vgl. Miranda García, Frauen, 176 f. Tamez Dissertation wurde aus dem Spanischen „Contra toda condena. La justificación por la fe desde los excluidos“, San José 1991, ins Deutsche und Englische übersetzt. 23 Vgl. Miranda García, Frauen (s.-Anm.-22), 180ff. 24 Bruno Kern, Theologie der Befreiung, Tübingen 2013, 26. 25 Vgl. Kern, Theologie (s.-Anm.-24), 31-36. versität in San José mit den Studienfächern Literatur- und Sprachwissenschaft. Auch wird sie 1976 Teil des neu gegründeten Departamento Ecuménico de Inves‐ tigaciones (DEI), einem ökumenischen Forschungs- und Ausbildungszentrum in San José. Ihre Promotion zur Doktorin der Theologie erlangt sie 1990 innerhalb dreier Jahre an der theologischen Fakultät Lausanne in der Schweiz zum Thema „Gegen die Verurteilung zum Tod. Paulus oder die Rechtfertigung durch den Glauben aus der Perspektive der Unterdrückten und Ausgeschlossenen“. 22 Tamez agiert sowohl theologisch als auch kontinental souverän zwischen den Welten - eine Welt(en)reisende. Ähnlich Edward Saids travelling stories bewegt sich Tamez gewissermaßen als travelling theologian - und wir schreiben die 80er Jahre - zwischen Europa und Abya Yala, zwischen der Schweiz und Costa Rica und zwischen westeuropäischen Theorien und Praxis-Praktiken Abya Yalas. In diesem Beitrag wird punktuell einem der Hauptanliegen von Elsa Tamez nachgegangen: No discriminen a los pobres - Keine Diskriminierung/ Ausgren‐ zung der Armen. Sie selbst wuchs in Armut auf, Armut bildet bei ihr einen unmittelbaren Erfahrungswert. Auch darf nicht vergessen werden, dass die Verzahnung von der Realität konkreter politischer und wirtschaftlicher Unter‐ drückung, Folter, Mord, Verhaftungen und Enteignung dieser Zeit bei Tamez stets durchkreuzender Kern von biblisch-theologischen Reflexionen ist - als ein politischer Ausdruck des Widerstandes und der Unbeugsamkeit in den komplex-multidimensionalen Realitäten in „Lateinamerika“ und der Karibik. 23 In der Fachliteratur subsumiert man diese Gangart auch gerne mit dem soge‐ nannten „Primat der Praxis“ 24 und dem Dreischritt Sehen-Urteilen-Handeln, die als Kernelemente der Theologie der Befreiung (Teología de la liberación) gelesen werden. 25 Elsa Tamez formuliert: Für mich war und ist Theologie nicht die Auseinandersetzung mit interessanten Ideen, unabhängig von der Realität. Es geht darum, Lebenserfahrungen in bestimmten Si‐ Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 50 Paula Kautzmann 26 Tamez, Rostros (s.-Anm.-19). 27 Vgl. Kern, Theologie (s.-Anm.-24), 31. 28 Eduardo Galeano, Die offenen Adern Lateinamerikas. Die Geschichte eines Kontinents, 4. Aufl. der Neuausgabe (2009), Wuppertal 2013, 363. 29 Kern, Theologie (s.-Anm.-24), 7. 30 Vgl. dazu auch die Zusammenfassung Kerns, Theologie (s.-Anm.-24), 7ff. 31 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 18. tuationen auszudrücken, die die Abwesenheit oder Gegenwart Gottes widerspiegeln. Theologie wird gelebt. 26 Als Ausdruck solcher Erfahrungen und der exegetischen Auseinandersetzung mit den uns überlieferten biblischen Texten als sinnstiftendes Fundament wird ein ethos gefordert. Ausgehend vom konkreten Ort und dem Schritt der Aufklärung von sozioökonomischen Bedingungen wird offengelegt, von welchen Bedingungen theologisches Denken und seine Praxis ausgehen soll und wie diese verändert werden kann. 27 Auch hier zeigt sich: Praxis ist keinesfalls ein machtneutrales Unterfangen, sondern erfordert das genaue (Hin)Sehen und Nachdenken über Bedingungen der (Nicht)Teilnahme und (Nicht)Teilhabe. Wer hat wie, warum und worauf Zugriff ? Eduardo Galeano bringt es folgender‐ maßen zusammen: Diese Realität und diese Bücher zeigen, dass die lateinamerikanische Unterentwick‐ lung eine Folge der Entwicklung anderer ist, dass wir Lateinamerikaner arm sind, weil der Boden, auf dem wir stehen, reich ist, und dass die von der Natur bevorzugten Orte von der Geschichte verdammt wurden. In dieser unseren Welt, eine Welt mächtiger Zentren und unterworfener Vororte, gibt es keinen Reichtum, der nicht zumindest verdächtig wäre. 28 Betonen möchte ich, dass es hier keinesfalls um eine Art von „Genitivtheo‐ logie“ 29 geht, sondern darum, dass ein Perspektivwechsel vorgenommen wird. Damit ist nicht gemeint, die exegetische Auseinandersetzung von Tamez beziehe sich nur auf einen ganz bestimmen, kontextuellen und somit kulturellen Gel‐ tungsbereich. 30 Dieser Beitrag und mein gewählter Ansatz sind keine „exotische“ Stilblüte, sondern die logische Konsequenz daraus, dass die geschaffenen loci theologici von Elsa Tamez uns zum Lernen Erlernen herausfordern. Diese Her‐ ausforderung liegt gerade im „Zwischen“ dieser Theologin, die uns in ihrer kontinentalen und lokalen Bewegtheit innerhalb ihrer Auseinandersetzung mit dem Jakobusbrief fragen wird: „Wann hat ein Dokument, das die Nieder‐ gedrückten (oprimidos) vor Ungerechtigkeiten (injusticias) verteidigt, seine Gültigkeit verloren? “ 31 Ich möchte mich nun, von meinem Ausgangspunkt im Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 51 32 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 13. 33 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 13 und vgl. ebd. 34 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 18. 35 Vgl. Susanne Luther, Der Jakobusbrief in der aktuellen Diskussion. Tendenzen und Perspektiven der neueren Forschung, in: ZNT-50 (2022), 5-25. Lernen Erlernen, den Bildern und Perspektiven nähern, die Elsa Tamez in ihrer Jakobusbriefauslegung entwirft. 2. La carta interceptada: (Ab)gefangen Wenn dieser Brief heute an christliche Gemeinden in Lateinamerika geschickt würde, würde er wahrscheinlich von den nationalen Sicherheitsbehörden einiger Länder abgefangen werden. 32 Dieses heute im Zitat bezieht sich auf die 80er Jahre: Es herrscht die Zeit der Fronten - auch als „kalter“ Krieg bezeichnet -, unterschiedlich spürbar auf den Kontinenten dieser Welt. Tamez konkretisiert für einen Teil der Amerikas: Das Dokument würde als ein subversives gebrandmarkt werden, wenn man die Abschnitte lese, welche die Ausbeutung durch Grundbesitzende ( Jak 5,1-6) und das begnadete Leben der Geschäftsleute (4,13-17) anprangern. Der Abschnitt, in dem es heißt, […] dass ,reine und unbefleckte Religion darin besteht, Waisen und Witwen zu besu‐ chen und sich von der Welt abzusondern‘ (1.27), würde wohl als ,Reduktionismus des Evangeliums‘ oder marxistisch-leninistische Unterwanderung der Kirchen kritisiert werden. 33 Der Fortgang ihrer Eingangsanalyse zur Genese des Jakobusbriefes liest sich für mich wie ein Krimi: Bewusste und unbewusste Abfangversuche im Laufe der Geschichte, Misstrauen und Ablehnung, Diffamierung und Marginalisierung, Empowering und Befreiung. Auf die bereits oben aufgeworfene (An)Frage, wann ein Dokument, das die Niedergedrückten (oprimidos) vor Ungerechtigkeiten (injusticias) verteidige, seine Gültigkeit verloren habe, antwortet sie selbst mit: „Nun, in unserer Geschichte hat es diese immer gegeben. Die Frage ist vielmehr, wer erklärt diesen Brief für obsolet? “ 34 . Die evangelische Theologin Susanne Luther hebt in ihrem aktuellen Forschungsüberblick zum Jak hervor, dass er in der deutsch- und englischsprachigen Fachliteratur erst in den letzten Jahren zunehmend Würdigung gewinnt. 35 Es ist m. E. auffallend, wie divergent dieser neutestamentliche Brief an unterschiedlichen Orten bearbeitet, ausge‐ legt, marginalisiert oder wertgeschätzt wird. Es ist bewegter Ozean, der zwi‐ Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 52 Paula Kautzmann 36 Eine Möglichkeit den englischen Begriff „Mind-Mapping“ in der deutschen Sprache wiederzugeben. 37 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 25-30. 38 Vgl. Tamez, Santiago (s. Anm. 5), 26-28: Die Auswahl der Schlagworte/ -Themen richtet sich nach der anschließenden Auslegung in den Kapiteln 3.1.-3.3. Es gilt der Hinweis, dass diese Auswahl in ambiguer Kompliz: innenschaft geschieht. Meine Auslegung kann und möchte keine exakte Wiedergabe der Gedankengänge von Elsa Tamez sein, sondern zielt auf das Lernen Erlernen als einem relationalen Prozess. schen deutschsprachiger Rezeption, der mehrdimensionalen Machtausübung hegemonialer Strukturen - auch oder besonders in sprachlicher Manier von Übersetzungen - verstärkt auf die Wahrnehmung von Textkorpora einwirkt. Das meint: Deutschsprachige Rezeptionen zum Jakobusbrief wie die seiner wirkmächtigen Deklaration als stroherne Epistel (la epístola de la paja) haben, wie Tamez anhand ihrer Jakobusgenese kritisiert, dazu beigetragen, dass der Jakobusbrief immer wieder und immer noch - auch im deutschsprachigen Kontext - (ab)gefangen wird. Dabei geht sie stets konstruktiv-offen mit der eigenen Verstrickung und Kompliz: innenschaft um, den Brief für den Kontext in „Lateinamerika“ fruchtbar zu machen. 3. El cuadro y sus ángulos: Das Bild und seine Blickwinkel Tamez beginnt in ihrem Buch zum Jak mit einer Gedankenlandkarte 36 des Briefes. Dabei entscheidet sie sich für keine getrennte Lesart der verschiedenen Themen oder den Fokus auf einzelne Kapitel. Ihr Vorgehen beruht darauf, den Jak als ein Bild (cuadro), eine Szene (escena) wahrzunehmen. Das erste Lesen ähnele dabei der Manier einer: s Fotograf: in, sich einem Objekt zu nähern. Es ist das Spiel zwischen Sehen - Nichtsehen - Schärfe und Unschärfe - Scharfstellen. Haben Sie den Brief bereits in einem Zuge gelesen? Für Tamez steht am Ende des Leseprozesses eine lange Liste wichtiger Themen und Worte, die jedoch nicht mit Sicherheit auf ein Hauptthema oder charakteristische Aspekte schließen ließen. Ähnlich den in englisch- oder spanischsprachigen wissenschaftlichen Zeitschriftenbeiträgen vorgelagerten Abstracts, verfasst sie für jedes Kapitel eine Schlagwort-Themenliste. Ihr Vorgehen ist als ein Vorschlag (propuesta) tituliert, es obliegt den Lesenden sich auf diese Lesart einzulassen. 37 Um auch in diesem textlich begrenzten Rahmen nachvollziehen zu können, wie Tamez zu ihren Schlussfolgerungen kommt, das Bild des Jakobusbriefes aus verschiedenen, sich ergänzenden Blickwinkeln zu betrachten, greife ich nun exemplarisch auf ihre Schlagwort-Themenliste zurück. 38 Zu Kapitel-1 z.-B.: Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 53 39 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 26f. 40 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 28. 41 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 28. 42 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 29. Begrüßung, Freude […], Leiden, vollkommene Werke, Rechtschaffenheit, Gebet, Weisheit, Wankelmut, Beständigkeit, arm-ausgestoßen, reich-ausgestoßen, Freude, Ausdauer […], Gott-Wort der Wahrheit-Leben, bereit zu hören, langsam zu reden […], das Wort tun und nicht nur hören […] 39 [usw.] Tamez resümiert zu ihrer Sammlung, dass Kapitel 1 in gewisser Weise ein Bild entwirft, welches den gesamten Inhalt des Briefes umspannt. Auch ordnet sie diesem Bild durch die Begriffe eine Gewichtung bei, die sie als sehr dicht, schwierig und eklektisch bezeichnet. Eine Verbindungslinie zwischen den einzelnen Einheiten sieht sie in dem in deutscher Sprache kaum übersetzbaren Phänomen der la palabra gancho: Ein „Klammerwort“, welches das letzte Wort einer Redewendung im darauffolgenden Satz wiederholend aufgreift. Ein Bei‐ spiel: Jak 1,1 chairein mit 1,2 chara (grüßen und Freude), Jak 1,4 leipomenoi mit 1,5 leipetai (Mangel leidend [sp. faltando] und wer Mangel leidet [sp. falto]). 40 Für Kapitel 2 bis 4 macht sie eine Ausweitung der bereits im Kapitel 1 ange‐ sprochenen Themen aus, z. B. der Aufruf zur Umkehr in Jak 4,7-10. Kapitel 5 hingegen greife - wenn auch nicht gestochen scharf - wieder Hauptthemen aus dem ersten Kapitel auf. Hier nennt Tamez das Gericht über Reiche (juicio contra el rico), Geduld (paciencia), Gebet (oración), Leiden (sufrimiento), Integrität zwischen Reden und Tun (integridad entre el hablar y el hacer). Haben Sie den Brief noch einmal gelesen? Tamez fordert erneut auf, den Brief zu lesen, um das Bild weiter zu schärfen, die Linse unscharf-scharf zu stellen. Tamez empfiehlt: Das Bild ist immer noch nicht klar, es ist erforderlich noch etwas mehr Konzentration aufzubringen, d. h. die Epistel noch einmal zu lesen, mehrere Male. Danach könnten wir erreichen, das Bild mit mehr Schärfe wahrzunehmen, so kann es aus drei verschiedenen, sich ergänzenden Blickwinkeln betrachtet werden. 41 Das Konvergieren mehrerer Blickwinkel (ángulos) pluralisiert das Bild (cuadro) als solches - ich interpretiere diese Auslegung als ganzen und zugleich fragmen‐ tarischen, als universal-partikularen und prismenbunten-relationalen Aushand‐ lungsprozess. Wer dabei die Linse des Fotoapparats auf das Bild richtet, ist für uns nicht unsichtbar. Elsa Tamez wird sichtbar, weil sie Ihre Linseneinstellung mitteilt: „Dies ist das Bild, das ich mit den Augen eines ,niedergedrückten (oprimido) und gläubigen (creyente)‘ Volkes lese“. 42 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 54 Paula Kautzmann 43 Bibelzitate übersetze ich, wenn nicht anders angegeben, eigenständig vom griechischen Ausgangstext NA28 oder dem hebräischen Ausgangstext der BHS ins Deutsche. 44 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 28. 45 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 31. 46 Sophie Laws, The Epistle of James, Cambridge 1980, 9, zitiert bzw. eigene Übersetzung nach Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 31f. 3.1 El ángulo de la opresión-sufrimiento: Niederdrückung Siehe, der Lohn der Arbeiter: innen, die eure Felder abgemäht haben, der Lohn, den ihr ihnen vorenthalten habt, schreit […] ( Jak-5,4). 43 Tamez kommentiert eingangs zum Kapitel Niederdrückung (opresión): Es gibt eine Gemeinschaft von Gläubigen (adelphoi mou), die leiden - es gibt eine Gruppe reicher Leute, die sie niederdrücken und vor Gericht zerren wollen. Es gibt Menschen im Tagelohn in der Landwirtschaft, die ausgebeutet werden […]. 44 Das Zitat Jak 5,4 zeigt bereits auf, welche Personengruppen ins Blickzentrum rücken. Neben dieser Gruppierung „der Arbeiter: innen“ macht Tamez zwei weitere aus, die leiden, die „Witwen und Waisen“ (1,27) und „die zwölf Stämme in der Diaspora“ (1,1) - allen dreien folgen wir in diesem Blickzentrum. Gegen die Stoßrichtung klassischer form- und traditionsgeschichtlicher Auslegung, welche die vielen Sprüche/ Sprichwörter und Traditionen aus rab‐ binischen Traditionen wahrnimmt, ohne sie unbedingt mit der Realität der damaligen Rezipient: innen in Verbindung zu setzen, hält Tamez die umgekehrte Herangehensweise an den Brief für wichtiger: „[…] dass Jakobus von der Gegen‐ wart inspiriert wurde, um die Überlieferung aufzugreifen, sie auszuwählen und sie aus ihrem eigenen Kontext herauszulesen (releer).“ 45 Sie hält fest: „Es scheint also vernünftig zu sein, anzunehmen, dass die Einbeziehung der Lehre über Arm und Reich, die so kreativ präsentiert wird, ein echtes Anliegen des Autors selbst widerspiegelt.“ 46 Sie macht die Thematik der Niederdrückung (opresión), als eines der Hauptmotive innerhalb des Briefes aus, die den Verfasser folglich zu diesem Schreiben veranlasst hätten. Die Sprichwörter, Einheiten (unidades), Phrasen (frases), Redewendungen (dichos) sowie die traditionellen und zeitge‐ nössischen Materialien (materiales antiguos y contemporáneos) werden somit bewusst genutzt, aber um sie zu aktualisieren. Dabei negiert Tamez nicht, dass jede Einheit (unidad) des Textes durchaus ihre ganz eigene Geschichte besitzt, so wie es bspw. Dibelius in seinem Kommentar zum Jakobusbrief darlegt. Jedoch: […] wir glauben, dass diese Einheit, wenn sie Teil eines anderen Textes ist und mit anderen Einheiten verknüpft wird, neue uns relevante Inhalte bietet. Wenn wir einen Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 55 47 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 32. 48 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 32. 49 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 32f. 50 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 34. 51 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 34. 52 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 61-67. Brief oder eine Meditation schreiben, fügen wir vielleicht Gedichte oder vertraute Sätze ein, aber wir geben diesen Einschlüssen den Inhalt, den wir wollen oder den wir im Lichte unseres Kontextes verstehen, und so wird der Brief von den Lesenden verstanden werden. 47 Tamez postuliert: Vorgeformte Einheiten, die in einem anderen Text verwendet werden, sagen mehr über die gegenwärtige Situation dieses anderen Textes aus als über die Zeit, in der sie entstanden sind, obwohl sie natürlich eine ziemlich enge Beziehung zur ursprünglichen Bedeutung behalten. 48 Sie resümiert: „Wir haben also einen neues, aktuelles Schreiben vor uns, das eine Situation der Ungerechtigkeit (injusticia) und Niederdrückung (opresión) widerspiegelt und die Christ: innen auffordert, sich dieser Situation zu stellen.“ 49 Der Begriff opresión changiert in der Auslegung von Tamez ebenso wie die Begrifflichkeit oprimidos (Niedergedrückte). Ich übersetze opresión mit Niederdrückung, denn in dieser deutschsprachigen Wiedergabe wird erkennbar: Es ist nicht „Unterdrückung“ gewählt, sondern der Begriff Niederdrückung, um die Aktivität dieses Tuns innerhalb eines komplexen und vielschichtigen Settings von diversen Personengruppen hervorzugeben. Um das Blickzentrum der „opresión-sufrimiento: Niederdrückung“ weiter erkennen zu können, lenkt Tamez den Blick u. a. auf die zwei antagonistischen Gruppen: los pobres (die Armen) und los ricos (die Reichen), los opresores (die, die niederdrücken) und los oprimidios (die, die niedergedrückt werden). Tamez schreibt: „An einigen Stellen des Briefes ist die Grenze zwischen den opresores und oprimidos nicht ganz klar, denn es gibt implizite Widersprüche.“ 50 Es gibt somit auch hier ein „Dazwischen“ und es können innerhalb dieser Personengruppen Erfahrungen von Niederdrückung sowie eingesetzte Mechanismen der Niederdrückenden (opresores) beobachtet werden. 51 Der Twist in Tamez Auslegung ist, das Augen‐ merk nicht auf die Thematik „Reich, und nun? “, sondern auf „Arm, was tun? “ zu legen. 52 Es geht Tamez zunächst einmal um das Entlarven absichtlicher Unsichtbarmachung und dann das absichtsvolle Sichtbarmachen: „Anderson zum Beispiel stellt zu Beginn, bevor er den Text untersucht, aus seiner Sicht Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 56 Paula Kautzmann 53 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 64. 54 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 64. 55 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 34. 56 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 34. 57 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 34. 58 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 35. klar: ‚Nicht jeder Reiche ist verdammt, nicht jeder Arme ist sicher, gerettet zu werden‘.“ 53 Tamez kommentiert: Wir sind nicht so sehr über diese Aussage erstaunt, die er vielleicht nach einigem Nachdenken trifft, sondern von der Tatsache, dass er seine Analyse mit einer solchen Prämisse beginnt; seine Sorge um die Reichen (ricos) und nicht um die Armen (pobres) ist offensichtlich […]. 54 Zunächst einmal hält Tamez fest: „Die Niedergedrückten (los oprimidos) im Jakobusbrief sind vor allem die Armen (pobres).“ 55 Nun schließt sie daran jedoch an, welche Unschärfen sich in den Begriffen der los oprimidos (die, die niedergedrückt werden) und dem Begriff der pobres (Armen) verbergen. Es bestehe ein offensichtlicher Zusammenhang zwischen Armut (la pobreza) und Niederdrückung (la opresión). „Die Armen (pobres) sind im Allgemeinen arm, weil sie niedergedrückt (oprimidos) und ab/ ausgenutzt (explotados) werden, die oprimidos sind die Verarmten (empobrecidos).“ 56 Im Hebräischen macht Tamez eine Vielfalt für die Begriffe opresión und pobres aus, auffallend sei hier beson‐ ders die enge Beziehung zwischen den Begrifflichkeiten, die durch die Begriffe Raub (robo) und Gewalt (violencia) ergänzt werden. 57 Für den Jakobusbrief hält sie den Zusammenhang dieser Begriffsfamilie für offensichtlich: Siehe in Jak 5,4 liest sie als ein Signalwort analog zum hebräischen hinneh, um auf das Unrecht aufmerksam zu machen und gleichzeitig Lev 19,13 intertextuell mitschwingen zu lassen: „Du sollst deinen Nächsten nicht niederdrücken, du sollst ihn nicht berauben und den Lohn des Knechtes nicht bis zum nächsten Tag zurückhalten“ (Lev 19,13). Die Weisung, seine Nächsten nicht niederzudrücken und (um ihren Lohn) zu berauben, wird auch in Dtn-24,14 sowie in Jeremia betont und Tamez führt weiter, dass die Thematik der opresión konkret auf die Arbeiter: innen bezogen wird: „Wehe dem, der sein/ ihr Haus nicht auf Gerechtigkeit baut und seine/ ihre Böden ohne Recht! Er/ Sie benutzt seine Nächsten umsonst, und dessen Arbeit wird nicht vergütet“ ( Jer-22,13). Diese intertextuellen Referenzen dienen Tamez als Exempla. Wichtig ist ihr, dass der Jakobusbrief diese Traditionen kennt und für seinen Kontext neu liest. 58 Mit den Arbeiter: innen (gr. ergates) macht Tamez die erste Gruppe der oprimidos aus: „Einem Arbeitenden den Lohn vorzuenthalten, bedeutet, Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 57 59 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 36. 60 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 36 und vgl. ebd. 61 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 36. 62 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 36. 63 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 36. 64 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 36. 65 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 37. 66 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 37. dessen Leben zu bedrohen.“ 59 Auch wenn Grundbesitzende (propietarios) oder Menschen, die das Land verwalten (terratenientes) die Lohnauszahlung zurück‐ halten und exegetisch die griechischen Begriffe apesteremenos als Diebstahl und afusteremenos als Vorenthaltung nicht im Sinne von Verzögerung, sondern von völliger Nichterfüllung betrachtet werden, bleibt das Resultat am Ende gleich: „Arbeitende stehen ohne Lohn da“. 60 Die prekäre Lage von Menschen im Tagelohn auch zur Zeit Jesu lässt sich am besten mit der Umschreibung von der Hand in den Mund zusammenbringen. Die Abhängigkeit von ihrem Lohn war sehr hoch, Menschen im Versklavtenstatus waren bisweilen besser von ihren Besitzer: innen mit Nahrung und Unterkunft versorgt - durch Abhängigkeit vom Tagelohn waren dauerhafte Nichtbezahlung, Zahlungsverzögerung oder eben gar keine Lohnarbeit mehr zu finden eine existenzielle Katastrophe. 61 Vor diesem Hintergrund fasst Tamez zusammen: Deswegen personifiziert Jakobus den Lohn, er sieht ihn als das Blut der ausgebeuteten Arbeitenden, die wie Menschen im Tagelohn in der Landwirtschaft selbst herzzerrei‐ ßend schreien. Menschen im Tagelohn in der Landwirtschaft sterben […], weil die Früchte nicht zu ihnen zurückkehren. Die Menschen können nicht wieder zu Kräften kommen, weil die Reichen ihnen den Lohn vorenthalten. 62 In Jak 5,6 folgt, dass den Reichen vorgeworfen wird, die Gerechten zu verurteilen und zu töten. Die Schreie, die dabei ausgestoßen werden und für die in griechischer Literatur der Begriff boe verwendet wird ( Jak 5,4), das auch für das Heulen von wilden Tieren Anwendung findet, ist ein unzusammenhängendes Schreien. 63 Die Septuaginta führt diesen Begriff im Sinne eines Protests gegen begangenes Unrecht (vgl. Ex-2,23 die Schreie der Versklavten in Ägypten) an. 64 Auch wertet Tamez das Schreiben als Zeichen des Protests, einer Anklage gegen die Ungerechtigkeit. 65 Als eine weitere Gruppe der oprimidos erscheinen die Waisen und Witwen, die „in der Tradition des Alten Testaments […] das Objekt der Liebe Gottes und des Menschen [sind], der danach strebt, Gottes Willen zu tun.“ 66 Tamez verweist hier bspw. auf Dtn 14,29, wo es heißt, Waise und Witwen (und auch Fremde) sollen sich satt essen und auf Ez 22,7, wo es um die Trias der Fremden, Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 58 Paula Kautzmann 67 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 37. 68 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 37. 69 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 38. 70 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 38. 71 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 38. 72 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 38. 73 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 38 und vgl. ebd. 74 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 38f. 75 Vgl. Tamez, Santiago, (s.-Anm.-5) 39. Waisen und Witwen geht, die niedergedrückt werden „[…] mitten in dir war man zu Fremden gewalttätig, in dir hat man Waisen und Witwen niedergedrückt“ (Ez 22,7). 67 Auch in Mk 12,41-44 gehe es um eine Witwe, die all ihr Gut als Opfergabe aus ihrem Mangel herausgab, nicht aus ihrem Überfluss. Tamez betont, dass auch in den frühchristlichen Gemeinden Waisen und Witwen als vulnerable Gruppen galten, denen Fürsorge galt und die Tamez auch als pobres oprimidos (niedergedrückte Arme) bezeichnet. 68 Für Tamez zeigt sich im Jakobusbrief die große Sorge um diese Menschengruppe und der Anspruch - sich selbst und Gott gegenüber als verdadera religión (wahre Religion) - diese Menschen als Dreh-und Angelpunkt zu betrachten. 69 Indem diese „Armen“ besucht und ihnen geholfen wird. Konkret: Zeit mit ihnen zu verbringen und sich mit ihrer opresión zu solidarisieren. 70 An dieser Stelle fächert Tamez den Begriff opresión aus: „Das Wort opresión […] entspricht dem griechischen Wort thlipsis, das in unseren spanischsprachigen Versionen gewöhnlich mit ,Trübsal‘ (tribulación), ,Schwierigkeit‘ (difficultad), ,Bedrängnis‘ (aflicción) usw. übersetzt wird.“ 71 Mit Tomás Hanks zeigt sie auf, dass dieser Begriff im Jakobusbrief oft mit den Begriffen Trübsal, Schwierigkeit oder Bedrängnis wiedergegeben wird, was jedoch die Ambiguität dieses Begriffes mitsamt der skandalösen Bedeutung von wirtschaftlicher Ausbeutung verschleiere. 72 Somit ist die Welt aus der Sicht des Jakobusbriefes in ihrer Struktur eine den Armen gegenüber feindliche, „denn sie grenzt sie aus dem System aus, das von den Herrschenden und den Reichen zu ihrem eigenen Vorteil aufgebaut wurde“. 73 Die Mahnung im Jakobusbrief ziele darauf, auch die Waisen und Witwen vor dieser Welt, die niederdrückt (mundo opresor) zu schützen. 74 Haben Sie noch eine andere Gruppe ausfindig machen können? Tamez weist auf die Gruppe hin, an die sich das Schreiben explizit richtet: „die zwölf Stämme in der Diaspora“ (1,1). Nur im Petrus- und Jakobusbrief wird der Begriff Diaspora (Zerstreuung) im Präskript in der adscriptio verwendet. Tamez folgt der soziologischen Darstellung John H. Elliots, dass Diaspora ein sowohl religiöser identity marker als auch einen sozialen Status als Vertriebene und Fremde bezeichnet. 75 Tamez schreibt: Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 59 76 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 39f. 77 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 40. 78 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 40. 79 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 40f. 80 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 41. 81 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 41. Das Wort Diaspora bezieht sich nicht ausschließlich auf Jüd: innen und Heid: innen, seine Bedeutung ist figurativ, es impliziert Vergänglichkeit, und seine Komponente ist soziologisch und charakterisiert die Stellung der Christ: innen in der Gesellschaft. 76 Elliot folgend ist Diaspora also eine frühchristliche Gemeinschaft, die in der Regel als Außenseiter: innen gelesen wurde, sich dauerhaft oder vorübergehend in den Regionen Kleinasiens aufhielt und sowohl rechtlichen, sozialen und politischen Zwängen unterworfen war. 77 Von dieser Annahme ausgehend kon‐ statiert Tamez: […] finden wir im Jakobusbrief eine Gemeinschaft oder Gemeinschaften von Brüdern und Schwestern (gr. adelphoi), marginalisiert oder ausgeschlossen von den bürgerli‐ chen, sozialen und politischen Rechten der Städte oder des Landes, in denen sie lebten. 78 Weiter macht sie innerhalb dieser marginalisierten Gruppe unterschiedliche soziale Schichten aus: Die Armen (gr. ptochoi) - Menschen, die völlig mittellos sind und von den Almosen anderer leben müssen. Die Armen (gr. penes), die eine Lohnarbeit besaßen und sich damit ihren Lebensunterhalt verdienen konnten, sofern der Lohn bezahlt wurde, jedoch keinen Besitz hatten. Teils werden diese Gruppenbezeichnungen auch synonym verwendet, denn gemeinsam ist ihnen, dass sie von den Reichen und Mächtigen ausgebeutet werden. 79 Tamez weist darauf hin, dass im Neuen Testament mehr von ptochoi geredet wird, was sie als Indiz betrachtet, dass damit die Realität der betreffenden Menschengruppe im Blickzentrum steht. 80 Im Jakobusbrief begegnen uns ptochoi bspw. in 2,2 oder in 2,15. Auch die Waisen und Witwen in 1,27 können zu den ptochoi gezählt werden. Jedoch zeigt Tamez an, dass die in 5,4 erwähnte Gruppe der Arbeitenden in der Landwirtschaft keine Armen im Sinne des ptochoi waren, sondern eher penes, da sie einer Arbeit nachgingen. Gleichwohl ist die Differenz von Lohnarbeit zu mittelloser Armut gering, denn „wie wir sehen können, werden viele von ihnen [den penes] ptochoi, weil sie keinen Lohn erhalten.“ 81 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 60 Paula Kautzmann 82 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 71. 83 Tamez, Santiago (s. Anm. 5), 71: Hoffnung in der Situation der Niederdrückung, die die Gemeinde erfährt und an die sich Jakobus richtet, besitzt einen zentralen Stellenwert. Ohne Hoffnung wäre ein Leben nahezu unmöglich. Jedoch nennt Tamez im gleichen Atemzug die Praxis des Handelns - sozusagen nicht als ergänzendes Topping der Hoffnung, sondern als inhärente Notwendigkeit des Zeichens der Hoffnung. 84 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 71f. 85 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 72. 3.2-El ángulo de la praxis: Integre Praxis Werdet aber Täter: innen des Wortes und nicht nur Hörer: innen, sonst betrügt ihr euch selbst ( Jak-1,22)! Das Thema der Praxis beinhaltet laut Tamez das dichteste Blickzentrum, der Inhalt des Schreibens balle sich hier mit höchster Konzentration: „Die Autor: innenschaft verlangt hier mehr Tinte“. 82 Damit meint Tamez, dass sich besonders reiche Bildmotive mit facettenreichen Einzelheiten um „die Praxis, das Handeln (la praxis, el hacer)“ 83 drehen und sich in umfangreicher Textgestalt niederschlagen. Nach Tamez lassen sich drei Herausforderungen für die Gemeinschaft, an die sich Jakobus richtet, zusammenfassen: kämpferische Geduld (paciencia militante), Integrität (integridad) und wirksames Gebet (oración eficaz). Sie bündelt: Wir können auch erkennen, dass der Hintergrund dieser Herausforderungen die bedingungslose und aufrichtige Liebe zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaften und außerhalb der Gemeinschaften ist. Geduld und Integrität, Gebet und Weisheit haben keine Daseinsberechtigung, wenn sie nicht von der Liebe zu anderen motiviert sind. 84 Die vielen Details zum Gebet, der Weisheit und Liebe konvergieren immer wieder in Tamez Auseinandersetzung mit einer wie auch immer gearteten Integrität. Letztere kann ich nicht einfangen, aber dazu einladen, den Worten Tamez zu folgen: „Lassen Sie uns unsere Wegstrecke (recorrido) beginnen“ 85 : Wenn ein Bruder oder eine Schwester ohne Kleidung sind und Mangel leiden ohne das tägliche Brot und einer von euch sagt zu ihnen: Geht hin in Frieden, wärmt und sättigt euch! , ihr gebt ihnen aber nicht, was sie zum Leben brauchen - was hilft ihnen das? ( Jak-2,15f.) Die Verse zielen auf die Kernelemente der Praxis: Eine Kohärenz zwischen glauben-hören-reden-und-tun, die Integrität bedeuten. Dabei weitet Tamez Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 61 86 Vgl. oben die Ausführung zum Begriff „arm“. 87 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 76f. 88 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 78 und vgl. ebd. 89 Den gr. Begriff dipsychos gebe ich mit gespalten, zwei Seelen habend oder unentschlossen wieder. 90 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 78f. 91 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 78f. den Begriff der Integrität, indem sie nicht nur auf die individuell persönliche verweist, sondern auch auf eine gemeinschaftliche. Einender Faktor in dieser frühchristlichen Gemeinschaft ist die Liebe, die sich gegen Feindseligkeiten von außen (seien es politische, soziale oder alimentäre) und innerhalb der Gemeinschaft richtet. Unter Ausschluss und Anfeindung haben besonders diejenigen Menschen zu leiden, die arm (sp. pobres) 86 sind. 87 Tamez zeigt an, dass in dem Bestreben des Briefes die christliche Gemein‐ schaft zu stärken und zu ermutigen, gleichzeitig mitschwingt, über Niederdrü‐ ckung nachzudenken und zu handeln - damals zur Zeit seiner Abfassung wie heute. Nicht der Erfahrung von Niederdrückung wegen, um Belohnung eines ungerechten Leidens zu gegebener Zeit zu erlangen, sondern in der Praxis, sich auf dem Weg der Gemeinschaft befindend, können sie Ganzheit (totalidad) und Integrität (integridad) in sich selbst spüren: Auf paradoxe Weise ist dies bereits ein Prozess der Humanisierung! Durch den Widerstand gegen entmenschlichende Kräfte werden Gemeinschaften und ihre Mit‐ glieder humanisiert. Die Erfahrung, sich vollkommen (teleioi) zu fühlen, was bei Jakobus vollständig ganz (completo), ganz (total), integer (íntegro) bedeutet, erinnert den Leidenden an sein Personsein. 88 D. h. ein Teil von Integrität ist umgekehrt gewandt, die Frucht schmerzlicher Erfahrung. Einen weiteren Aspekt, den Tamez in ihrem Kapitel zur Integrität aufführt, richtet sich gegen den Menschen mit zwei Gesichtern oder den Menschen mit Doppelleben (hombre de vida doble). Bezug nimmt sie dabei auf den griechischen Begriff dipsychos in 1,7f. und 4,8. 89 Im Jakobusbrief würde er als Negativ verwendet werden: Ein gespaltener Mensch, im Gegensatz zu einem einfachen Menschen (hombre simple) - im Griechischen gibt sie dies mit haplous an, was sich auch als „offen“, „ohne Hintergedanken“ übersetzen ließe. 90 Adjektivisch mit haplotes gesprochen, könnte es auch Einzigartigkeit des Herzens (singula‐ ridad de corazón) oder reines Herz (corazón puro) bedeuten. 91 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 62 Paula Kautzmann 92 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 79. 93 Vgl., Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 79. 94 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 79. 95 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 79f. 96 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 80. 97 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 80. 98 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 80 und vgl. ebd. In Jak 1,8 beziehe sich Jakobus auf jene Menschen, die „schwankend, zwei‐ felnd beten“, 92 vergleichbar mit einem Meer, dessen Wellenkrone vom Wind hin- und her geworfen würde (vgl. 1,6). Die Problematik mit dieser Gruppe Menschen innerhalb der Gemeinschaft ergebe sich durch das damit verbundene Fehlen der Vertrauenswürdigkeit gepaart mit der Sorge um Entschlussfähigkeit und Wil‐ lenskraft. Ein Kampf gegen die Niederdrückung im Kontext des Jakobusbriefes sei mit dieser Art von Mitgliedern ein verlorener - wankelmütig (gr. katastatos) bezeichnet die wankelmütige Eigenschaft der Mehrdeutigkeit (sp. ambiguo). Für die Praxis könnten Zwiespalt (ambigüedad) sowie Unbeständigkeit und Instabilität sehr destruktive Faktoren sein. 93 Reinigt die Hände, ihr Sünder: innen, und heiligt die Herzen, ihr, die ihr zwei Seelen habt/ unentschlossen seid (dispsychoi) ( Jak-4,8). Tamez legt diesen Vers folgendermaßen aus: „Diese Ermahnung richtet sich an diejenigen, die dazu neigen, sich mit der Welt anzufreunden (amistad con el mundo), mit anderen Worten, den Werten der korrupten Gesellschaft zu folgen, die sich im Jakobusbrief widerspiegelt.“ 94 Forschungsgeschichtlich herrscht laut Tamez Einigkeit, dass es in diesem Kapitel 4 um den Götzendienst gehe - Freundschaft mit der Welt bedeutet Freundschaft mit dem Mammon, man kann nicht zwei Herr: innen gehorchen oder sie anbeten. 95 Dieser Linie folgend appelliere Jak 4,8 auch an bzw. für Integrität: Kein Doppelleben zu führen, aufzuhören Böses zu tun und verdorben zu sein, sondern sich Hände und Herzen zu reinigen (vgl. 4,7f.). Der Kontext spiele im Jakobusbrief hier wohl auf eine Gemeinschaft an, in der einige Mitglieder, mehr oder minder wohlhabend, eine Leidenschaft für Gewinn hätten (ähnlich in 4,13-17 die Handeltreibenden). 96 Quintessenz dieser Zusammenschau ist nach Tamez: „In der Praxis muss man eine klare Entscheidung treffen.“ 97 Für Jakobus, könne man nicht im Zwiespalt (ambigüedad) leben oder gar zwei verschiedene Arten von Leben führen: „Entweder man freundet sich mit Gott an oder mit der ungerechten Welt.“ 98 Bezugnehmend auf die Verse 1,7f und 4,8 zeigt der Fortgang der Lesart Tamez’, dass dem gespaltenen (dipsychos) und wankelmütigen Menschen in Vers 1,5 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 63 99 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 81. 100 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 82 (Kursivsetzung im spanischsprachigen Ausgangstext). 101 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 82. 102 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 82. 103 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 82-88. 104 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 82. 105 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 83. 106 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 83 und vgl. ebd. die konträrere Haltung des großzügigen, einfachen Gebens analog zu Gott gegenübergestellt wird. Gottes Geben ist haplos, ein Geben großzügig und ohne Zögern, ein vorbe‐ haltloses Geben, ein Geben ohne Zins. 99 Tamez schlussfolgert für den Jakobus‐ brief auf eine enge Verbindung zwischen „Einheit“ und „Ganzheit“: „Gott ist nicht nur eine: r, weil es keine anderen Gottheiten gibt, sondern weil Gott in Übereinstimmung mit der Sache handelt, die in Jakobus die Sache der Armen ist.“ 100 Gottes Integrität bedeute folglich Beständigkeit (vgl. 1,17), woraus auch die der Glaubenden folge. 101 Konkret heißt das nach Tamez, dass Jakobus beständig auf die christliche Praxis Bezug nimmt: […] es muss betont werden, dass sein Hauptanliegen nicht der allgemeine Lebensstil der Gemeinde ist, sondern, wie Donato Palomino sagt, ‚die theoretisch-praktische Einheit des biblischen Glaubens für die Nachfolge, in der er den aktiv-aktivistischen Charakter (el carácter de sus militantes) den Strukturen des wirtschaftlichen, politi‐ schen und religiösen Systems der Zeit des Jakobus gegenüberstellt‘. 102 Einem letzten weiteren Aspekt der integren Praxis möchte ich folgen: Tamez betitelt ihn mit „Glaube und übender Praxis“ (fe y práctica), dem Herzstück (meollo) der Integrität. 103 „Für Jakobus ist die Brücke zwischen der Erfahrung der Niederdrückung und der eschatologischen Hoffnung die Praxis des Glaubens.“ 104 Was das konkret bedeutet, haben wir bereits in den vorangehenden Kapiteln verfolgt, nämlich die Liebe und Fürsorge für die Waisen und Witwen (1,27), die nackten Brüder und Schwestern (2,15f.) und die Armen (sp. pobres): Nämlich diejenigen, die Teil der Niederdrückung sind, die ab-/ ausgenutzt und ausge‐ beutet werden sowie des Weiteren „[…] die Welt, die für die Niedergedrückten verantwortlich ist, [und] die Institutionen, Strukturen, die Werte dar[stellt], die Ungerechtigkeit vorantreiben oder ihr gegenüber gleichgültig sind“ 105 . Die frühchristlichen Gemeinschaften im Jakobusbrief sind dazu aufgerufen, sich dieser Welt nicht anzupassen (vgl. die Kritik daran in Jak 2,1-7.12) und sich klar „[…] gegen die Bevorzugung der Reichen und die Missachtung der Armen“ auszusprechen. 106 Ziel oder vielmehr die Verpflichtung dieser Gemeinschaften sei das Entgegensetzen von Werten der Gerechtigkeit, den Marginalisierten Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 64 Paula Kautzmann 107 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 83. 108 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 83. 109 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 83. 110 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 83. 111 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 83. 112 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 84. 113 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 85. 114 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 85. oprimidos beizustehen. 107 Dabei verbinde Jakobus die Praxis mit dem Gesetz der Freiheit, des Glaubens und der Weisheit: Alle drei wirken, sofern sie durch die Praxis der Gerechtigkeit kenntlich werden (vgl. z. B. 2,14). 108 Das Wort hören-halten-tun; das vollkommene Gesetz der Freiheit (ley perfecta) betrachten (contemplar) und praktizieren. 109 Gebündelt finden wir diese im Jakobusbrief in 2,8 - die Nächsten zu lieben wie sich selbst. 110 „[D]aher sind die anderen Ge‐ bote/ Weisungen (mandamientos) im Sinne dieses einen zu verstehen.“ 111 Tamez legt aus, dass bei Jakobus Wort und vollkommenes Gesetz der Freiheit (1,25) gleichbedeutend sind, allein das Wort zu hören, ohne es auch zu praktizieren, bedeute, nicht aufrecht zu sein und gegen sich selbst zu handeln, letztlich sich zu betrügen. Das Wort wird nur im bloßen Hören geschwächt, Lebendigkeit erfährt es durch das Erfüllen (adquiere vida), die Praxis selbst bringt Freude, denn dann gelinge es kohärent und ganz zu sein (vgl.-1,2ff.). 112 Folgen wir Tamez weiter, so kommen wir zu einer sehr umstrittenen Stelle des Briefes, der vielerorts als Widerspruch zu Paulus’ Rechtfertigung allein durch den Glauben gelesen wird: „Ihr seht, dass der Mensch durch Werke gerechtfertigt wird und nicht durch den Glauben allein“ (2,24). Auch hier geht es um Integrität, konkret um die Integrität von Glauben und Tun, als komplementäre Einheit. „Die Rechtfertigung durch den Glauben bedeutet für manche einen Glauben ohne Engagement für den Nächsten, ohne Werke; Jakobus versucht also, diese Vorstellung zu korrigieren, indem er Werke als wichtige Elemente der Rechtfertigung einführt.“ 113 Was Jakobus mit Glauben meine, könne nicht genau analysiert werden, was er mit Werken meine jedoch schon: In seinem ganzen Brief bezieht er sich auf die guten Werke, von denen die Evangelien im Hinblick auf die befreienden Taten Jesu immer wieder sprechen und die mit Handlungen der Gerechtigkeit zu tun haben; es sind die sozialen Werke, die von den alttestamentlichen Prophet: innen gefordert und in der sinaitischen Tradition gelesen werden. 114 Paulus hingegen, so Tamez, wende sich gegen Werke, die mit Ritualen (las obras relacionadas con lo ritual), Opfern (sacrificios) und andere Arten von Opfergaben Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 65 115 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 85. 116 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 85f. 117 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 86. 118 Vgl. Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 86. 119 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 86f. 120 Tamez, Rostros (s.-Anm.-19). (ofrendas) und Festivitäten zu tun hätten. 115 Sie markiert Unterschiede in der Herangehensweise von Paulus und Jakobus: Es sind die unterschiedlichen Kontexte aus denen sie sprechen. 116 Für Jakobus hält sie fest: Jakobus hat nicht in erster Linie die Absicht, die Rechtfertigung zu erörtern, er erwähnt sie beiläufig und wahrscheinlich aufgrund eines Missverständnisses der paulinischen Formulierung ,Rechtfertigung durch den Glauben‘ - wenn wir glauben, dass der Autor später als Paulus und mit dieser Lehre vertraut war. 117 Das Blickzentrum, das Tamez scharfstellt - der Blickwinkel der Praxis - zeige, dass Jakobus daran interessiert sei, die Einheit von Glaube und Werken als ein glauben-hören-reden-und-tun zu unterstreichen. 118 Was hilft’s, Brüder und Schwestern, wenn jemand sagt, er: sie habe Glauben, und hat doch keine Werke? Kann etwa der Glaube einen solchen retten? So auch der Glaube: Für sich alleine, wenn er keine Werke hat, ist er tot ( Jak-2,14.17). Es ist die Bemühung um Integrität, Konsistenz und Kohärenz zwischen Theo‐ logie und Praxis, die Tamez anhand des Jakobusbriefes herausarbeitet. Das sogenannte Tun (al hacer) innerhalb der Rechtfertigung sei das novum für viele aus dem lutherischen Protestantismus - „[…] eine Tatsache, die für viele von uns zweifellos skandalös ist“. 119 4. Prozesshafte Auswertung - 4.1 La carta abierta: Offengehalten Träume und Solidarität für eine Gesellschaft, in die alle passen, sind zwei menschliche Dimensionen, die ich zu Beginn dieses dritten Jahrtausends nicht verlieren möchte. 120 Die Worte von Elsa Tamez geben die Richtung vor, mit der sie auch in ihrem Werk zum Jakobusbrief das letzte Kapitel gestaltet: Ein offengehaltener Brief der Hoffnung, der Zuversicht, der herausfordernden integren Praxis und gleich‐ zeitig einer, der uns in die Krise bringt: „Dieser Brief, das haben wir auch gesehen, hat im Laufe der Geschichte viele Probleme gehabt; seine Geschichte Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 66 Paula Kautzmann 121 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 97f. 122 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 96. 123 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 98. 124 Vgl. Kapitel-1. 125 Tamez, Santiago (s.-Anm.-5), 99. ähnelt Dokumenten, die auf Verdacht abgefangen werden, weil sie nicht in das herrschende Denken passen.“ 121 Vielleicht erinnern Sie sich noch an die Frage, die Tamez uns gestellt hat: Wann hat ein Dokument wie das des Jako‐ busbriefes seine Gültigkeit verloren? Wann bekommt ein Glaubenszeugnis, das sich inhaltlich an der Lehre und der integren Praxis Jesu abarbeitet, marginalen Charakter? Das Herzstück (meollo) ist die Zusage der Parteilichkeit Gottes für jene, an die sich Jakobus zu wenden scheint, die Armen - gr. ptochoi und penes - und gegen jene, die sie niederdrücken und in dieser Lage halten: Die Situation der Niederdrückung und des Schmerzes neigt dazu, die Menschen zu deprimieren, sie zu entmenschlichen, nicht nur ihren Körper, sondern auch ihren Lebensgeist zu zerstören, die Realität als natürlich und normal zu betrachten. 122 Gleichzeitig hinterfragt Tamez an dieser Stelle kritisch: „Es wäre interessant zu wissen, was die Armen, die Niedergedrückten, über den Brief denken: Würden sie ihm zustimmen? “ 123 Ich würde dieser Rückfrage von Tamez notwendiger‐ weise nicht ein „interessant“ (interesante) vorschalten, sondern für meinen deutschsprachigen Kontext mit Spivak die dekonstruktive Einsicht: Eine solche Frage impliziert zunächst mein Einüben der Haltung eines Lernen Erlernens, einem verantwortlichen Zuhören, um nicht zu vorschnellen oder gar einfachen Lösungsansätzen zu gelangen. 124 Augenscheinlich ist es, wie bereits in der Einleitung zu diesem Beitrag erwähnt, zentral, nicht auf jene zu blicken, die den Brief in der Vergangenheit angegriffen haben, sondern auf jene, die ihn verteidigten: Diese Arbeit wird sicherlich schwierig sein, weil die Armen (pobres) die offizielle Geschichte, die wir kennen, nicht geschrieben haben, aber die Hinweise müssen vorhanden sein und sie werden uns helfen, diese Geschichte von der Kehrseite/ von hinten zu rekonstruieren. 125 Dass der Jakobusbrief ein offenes Beispiel für eine Fülle relevanter theologischer, praktischer und politischer Hoffnungsschimmer ist, mag hierzulande vielleicht gerade erst entdeckt werden. Ich hoffe jedoch, dass mein Beitrag gezeigt hat: Es Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 67 126 Dazu dann genauer in meinem Dissertationsprojekt unter dem aktuellen Arbeitstitel „Der Jakobusbrief - eine re: lectura befreiungstheologischer, post- und dekolonialer Ambiguität nach Elsa Tamez“. 127 Hans J.-Vermeer, „Sprache oder Kultur? “, in: Heidemarie Salevsky (Hg.), Dolmetscher- und Übersetzerausbildung gestern, heute und morgen. Berliner Beiträge zur Translati‐ onswissenschaft. Akten des internationalen wissenschaftlichen Kolloquiums anläßlich des 100jährigen Jubiläums der Dolmetscher- und Übersetzerausbildung Russisch an der Berliner Universität (1894-1994), veranstaltet an der Humboldt-Universität zu Berlin am 12.-und 13.-Mai 1995, Frankfurt a.-M. u.-a. 1996, 164. 128 Tamez, Rostros (s.-Anm.-19). gibt Türen, hinter denen es hell strahlt und in denen Räume voller Hoffnung liegen, die der Jakobusbrief zu erhellen weiß. 126 - 4.2 Ein Lernen Erlernen Man lernt nie eine Sprache allein, man lernt eine ganze Welt mit ihr und um sie, und ohne diese Welt lernt man die Sprache nicht […]. 127 Lernen Erlernen, das hatte ich zu Beginn dieses Beitrages erwähnt, erfordert einen Perspektivwechsel: So wie der Kompetenzerwerb einer Sprache eine Tür zu einer Welt eröffnet, zeigt sich auch, dass ohne diese Welt - eine Welt mit Menschen, Erzählungen, materiellen Nöten - der bloße Erwerb der Sprache nicht möglich zu sein scheint. Gerade auch weil Sprache zum einen konstruiert ist und zum anderen konstruiert, ist es von wesentlicher Bedeutung, in der Hal‐ tung des Lernen Erlernens nicht das tragendende momentum der Handlung des glauben-hören-reden-und-tun unsichtbar zu machen. Das meint: Schriftsprache benötigt gelebte Sprachkommunikation - Theologie benötigt gelebte, integre Praxis. Ein gelebtes ethos oder mit Jak gesprochen, Täter: innen des Wortes und nicht nur Hörer: innen zu werden, impliziert eine Haltungs-Handlung. Diese Haltung hat m. E. auch damit zu tun, vermessene Vorstellungen sogenannter „kontextueller Theologien“ oder „eurozentrischer Objektivität“ angemessen anzuhören. Gleichzeitig impliziert sie ebenso eine tatkräftige (De)Konstruktion und integre Praxis gegen Niederdrückung, egal in welcher Sprache und in wel‐ chem Kontext. Ein Lernen Erlernen in der Auseinandersetzung mit kolonialen und postkolonialen Geschichten und Theorien, eurozentrischen Lehrinhalten an Schulen oder in Predigten und dem ganz gemeinen Alltagsleben in Deutschland, mag vielleicht eine Haltung schulen, die hoffen lässt auf „Träume und Solidarität für eine Gesellschaft, in die alle passen“ 128 . Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 68 Paula Kautzmann Mag. Theol. Paula Kautzmann promoviert als wissen‐ schaftliche Mitarbeiterin im Fach Neues Testament am Institut für Evangelische Theologie an der Universität Gießen. Das Studium der Evangelischen Theologie ab‐ solvierte sie von 2014 bis 2021 in Hamburg, im Theolo‐ gischen Studienjahr in Jerusalem, Münster, Kopenhagen und Marburg. Erstes Theologisches Examen erfolgte vor dem Prüfungsamt der EKHN, der Abschluss Mag. Theol. an der Universität Marburg. Seit 2021 ist sie Mitglied im „Network of Young Scholars in Jewish Christian Dialogue“ der Universität Salzburg. Forschungsschwer‐ punkte sind Post- und Dekolonialismus, Abya Yala, Theologie(n) der Befreiung, Feminismus und Gender, Interreligiöser Dialog. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0012 Der Jakobusbrief - eine relectura aus Abya Yala 69