eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 26/52

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2023-0013
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2023
2652 Dronsch Strecker Vogel

Wie westlich ist das frühe Christentum?

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2023
Michael Sommer
znt26520071
1 Diesen Artikel möchte ich meiner langjährigen, intellektuellen Dialogpartnerin Elisabeth Hernitscheck widmen. Ich danke dir für die langen Jahre der Freundschaft und für die gemeinsame Zeit des Nachdenkens. 2 Vgl. Hayden White, Metahistory, Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.-M.-1991 (Originalausgabe 1973). Wie westlich ist das frühe Christentum? Modelle frühchristlicher Diversität und die Entwicklung diversitätssensibler Kleingruppenmodelle in der empirischen Soziologie 1 Michael Sommer 1. Einleitung Im Jahr 1973 veröffentlichte Hayden V. White sein inzwischen zum Klassiker der Geschichtswissenschaft gewordenes Werk Metahistory. 2 Seine darin ver‐ lautbarte Theorie der Poetik der Geschichte brach mit den strukturalistischen Fachkonventionen der Geschichtswissenschaften und galt in seiner Zeit als revolutionär. Als einer der ersten historisch Forschenden suchte White eine Brücke zwischen den poststrukturalistischen Diskursen der Literaturwissen‐ schaften und den Methoden seines Faches zu bauen, um durch diesen Dialog Chancen und Grenzen des historisch Sagbaren zu benennen. Für White gilt Geschichte als eine Erzählung. Geschichte ist für ihn ein konstruiertes Narrativ, das sich durch die Kreativität eines forschenden Geistes nährt und aus seiner Fä‐ higkeit, aus überlieferten Quellen ein zusammenhängendes Ganzes zu formen. Gut fünfzig Jahre später zählen Whites Ausführungen zu den guten Standards der Geschichtswissenschaft. Wohl kein universitäres Proseminar in den geis‐ teswissenschaftlichen Disziplinen berührt nicht Metahistory oder eine davon inspirierte Theorie. Dass Geschichte konstruiert, perspektivisch und subjektiv ist, dass sie mit kreativer, aber methodisch reflektierter Fantasie erzählt ist, begleitet Studierende der Geisteswissenschaften (wohl) durch alle Qualifikati‐ onsarbeiten. 3 Zum Begriff Meistererzählung vgl. weiterführend Frank Rexroth, Meistererzählungen vom Mittelalter. Epochenimaginationen und Verlaufsmuster in der Praxis mediävisti‐ scher Disziplinen, (HZ.B 46) München 2007. Ferner der Sammelband Konrad H. Ja‐ rausch/ Martin Sabrow (Hg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach-1945, Göttingen-2002. 4 Einen guten Überblick über die Postkoloniale Theorie bietet Maria do Mar Castro/ Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Stuttgart 2020; Graham Huggan (Hg.), The Oxford Handbook of Postcolonial Studies, Oxford 2013; Ina Kerner, Postkoloniale Theorien. Zur Einführung, Hamburg-2021. 5 Zu Geschichtstheorien weiterführend: Lothar Kolmer, Geschichtstheorien, Stutt‐ gart-2008; Jörn Rüsen, Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln-2013. Und bei dieser Erkenntnis beginnt auch dieser postkoloniale Ausflug in die Welt des frühen Christentums. Wohl kaum ein: e historisch-kritisch denkende: r Forscher: in bestreitet, dass die Entstehungsgeschichte in vielen verschiedenen Geschichten erzählt ist, die auf der Grundlage fragmentarisch überlieferter Quellen erzählt sind. Eine einzige, große Meistererzählung über die Anfänge der ersten christlichen Gemeinden in der Antike gibt es nicht; 3 vielmehr lässt sich die Fachkultur als eine facettenreiche Sammlung vieler verschiedener, teils sich überschneidender und aufeinander aufbauender, teils konkurrierender und gegenläufiger Geschichtserzählungen beschreiben. Gemeinsam haben diese oft rezipierten und weitergeschriebenen Meistererzählungen der Fachkultur, dass sie erzählte Geschichte sind, die aus der Feder westlicher Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts stammt. Diese von Vielen als Geschichtswahrheiten geteilten Narrative sind nicht wertneutral. Diese „stories“ atmen den eurozent‐ ristischen Geist der sozialen, politischen, philosophischen und weltanschauli‐ chen Diskurse westlicher Kulturkreise; 4 sie sind verfasst aus der Perspektive von angloamerikanischen und europäischen Denkerinnen und Denkern, die in den Kategorien und Modellen ihrer Lebenswelt, dem Geist der westlichen Welt, verhaftet sind und aus diesem Blickwinkel auf die schriftlichen und ma‐ teriellen Quellen der Geschichte blicken. Verfasst sind diese Geschichten nicht für irgendwen, sondern für die Wissenschafts- und wissenschaftsinteressierte Community der eigenen Zeitgeschichte. Geschichtsnarrative sind demnach kein in sprachliche Form gegossenes und für die Ewigkeit konserviertes, geronnenes Wissen eines aus seiner Zeit herausgetretenen Universalgenies, sondern Narra‐ tive über Vergangenes, die als bleibende, mahnende und deutende Erinnerung für eine konkrete Gegenwart erzählt ist. 5 Sie haben einen Standpunkt und sind verankert in den westlichen Kulturen, obwohl das von ihnen selbst nicht reflektiert wird. Hier genau setzt die Metaperspektive der postkolonialen Studien an, die kritische Fragen nach der kulturellen Bedingtheit von Denkstrukturen und Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 72 Michael Sommer 6 Vgl. dazu Elisabeth Hernitscheck, Much Ado about Almost Nothing. Eine Forschungs‐ geschichtliche Meta-Analyse zu Apokryphen Evangelienfragmenten als Quellen des Antiken Christentums, Leuven-2018 (online publiziert). 7 Vgl. dazu Franz Mußner, Traktat über die Juden, München-1979. 8 Vgl. dazu Michael Sommer, Eine Re: Lektüre von Franz Mußners Traktat über die Juden - …oder warum Metareflexion zum Handwerkszeug theologischer Praxisarbeit gehört, in: -Lebendige Seelsorge (2022), 147-149. nach Exklusionsphänomenen stellt: Wie genau sind diese europäischen Meis‐ tererzählungen vom Frühen Christentum, die zum Beginn des 21. Jahrhunderts in verschiedenen Formen in Fachpublikationen, Lehrveranstaltungen und Bil‐ dungsformaten verschiedener Couleur begegnen, vom westlichen Zeitgeist gefärbt? Welche Modelle des frühen Christentums begegnen in den großen Narrativen der Fachkultur und was sagen diese Modelle über die Zeit und über den Kulturkreis aus, in dem sie verfasst wurden, und was verschweigen sie? Elisabeth Hernitscheck hat in ihrer Dissertation (2018) eine Metaperspektive auf die Geschichte der Frühchristentumsforschung des deutschen, französischen und englischen Sprachraums entwickelt und gezeigt, dass sich nicht nur Auslegungspatterns frühchristlicher Literatur in den letzten 130 Jahren der Forschungsgeschichte durch gesellschaftliche Wandlungsprozesse änderten, sondern damit auch gesamte Konzeptionen der Anfangserzählungen des frühen Christentums. 6 Dies geschah nicht im luftleeren Raum, sondern der Wechsel erfolgte in impliziter oder expliziter Korrelation zu kulturgeschichtlichen Wandlungsprozessen westlicher sozialer Ordnungen. Das Zweite Vatikanische Konzil, die gesellschaftliche Aufarbeitung des Holocausts und die einsetzende Globalisierung und Digitalisierung des Zeitalters färbten Anfangsnarrative des frühen Christentums mindestens genauso wie die Entdeckung neuer, antiker Quellen. Blicken wir zurück in die 1970er Jahre und lesen die Einleitung von Franz Mußners Traktat über die Juden, 7 wohl einem der wichtigsten Werke für die deutschsprachige Parting-of-the-Ways-Forschung, so wird diese enorme zeitgeschichtliche Prägung theologischer Geschichtsbilder schlagartig bewusst. Mußner reflektiert, dass sein Geschichtsbild eine Reaktion auf die theologi‐ schen Neuerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils und ein Beitrag auf die Aufarbeitung der Grauen von Auschwitz ist. 8 Elisabeth Hernitscheck würdigt dies nicht nur, sondern holt etwas weiter aus und stellt eine weitreichende Vermutung über die kulturelle Bedingtheit gegenwärtiger Vorstellung von frühchristlicher Diversität auf. Nach Hernitschecks Überzeugung konnten sich frühchristliche Diversitäts‐ modelle, die im Moment die Fachkultur beherrschen, nur im Rahmen westlicher Individualgesellschaften entwickeln. Ihr zufolge spiegeln sich nicht nur große Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 Wie westlich ist das frühe Christentum? 73 9 Vgl. dazu ausführlich Hernitscheck, Meta-Analyse (s.-Anm.-6), 37. 10 Ronald Hitzler/ Arne Niederbacher, Szenen, 13; Henri Tajfel, Introduction, in: Henri Tajfel (Hg.), Social Identity and Intergroup Relations (European Studies in Social Psychology), New York 1982, 1-14; Johannes Ullrich/ Rolf van Dick/ Sebastian Stegmann, Intergruppenbeziehungen, in: Dieter Frey/ Hans-Werner Bierhoff (Hg.), Sozial-psychologie - Interaktion und Gruppe, Göttingen u.-a. 2011, 265-284. makropolitische und makroökonomische Veränderungen der westlichen Welt in den Meisternarrativen wider, sondern selbst kleinere, mikrosoziale Wandlungs‐ prozesse der sozialen Lebenswelten. Sie ist nicht nur der Überzeugung, dass sich Geschichtserzählungen der westlichen Welt als Ursprungsnarrative des frühen Christentums in der Forschungslandschaft behaupteten, sondern glaubt, dass diese die westlichen Gesellschaften selbst deuten, weil sie deren Verständnis von nicht-statischen Gruppierungen und dynamisch fluktuierenden sozialen Beziehungen explizit spiegeln. Sie blicken der westlichen Welt in den Spiegel. 9 Diese These bleibt in ihrer Arbeit allerdings (leider) vage und behauptend. Sie lässt sich jedoch verifizieren und sogar argumentativ unterlegen, indem Mo‐ delle frühchristlicher Diversität mit empirischen Arbeiten über Kleingruppen verglichen werden, die soziale Interaktionen und Gruppendynamiken in den westlichen Gesellschaften beleuchten. Ein kurzer Blick auf die Entwicklungs‐ geschichte der empirisch-soziologischen Arbeiten über soziale Gruppen genügt, um strukturelle und sprachliche Ähnlichkeiten, ja sogar explizite Parallelen, mit den Kategorien frühchristlicher Diversitätsforschung zu belegen. Diversi‐ tätsmodelle des frühen Christentums ähneln den Modellen kleiner Gruppen und Gruppennetzwerken einer Szene, die in der empirischen Soziologie auf der Grundlage konkreter Untersuchungen der Lebenswelt des eurozentristischen Raums entstanden sind. Doch dieser Vergleich zeigt nicht nur die westliche Prägung der Modelle auf, sondern legt klare Grenzen der Geschichtskonstruk‐ tionen fest, die nicht zuletzt Praxisrelevanz für theologisches Arbeiten besitzen. 2. Kleingruppenmodelle im Wandel der empirischen Soziologie Methodisch beginnt dieser Aufsatz mit einer Metareflexion soziologischer Kategorien, Denkmuster und Theoriebildung, die sich in westlichen Gelehr‐ tenwerkstätten vollzogen haben. Doch ein Rückblick auf den Wandel der soziologischen Kleingruppenforschung - dies muss klar und deutlich benannt werden - kann nur in Auszügen und unter der Gefahr der starken Verkürzung erfolgen. Dennoch lässt sich Ende der 1980er/ Anfang der 1990er in der anglo‐ amerikanischen und europäischen Forschung ein Einschnitt erkennen, 10 der m. E. gravierende Auswirkungen auf Geschichtsmodelle der Christentumsfor‐ Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 74 Michael Sommer 11 Zur Forschungsgeschichte eines pyramidalen Modells von Gesellschaft vgl. Rainer M.-Lepsius, Soziale Schichtung in der industriellen Gesellschaft. Mit einem Geleitwort von Oliver Lepsius und einer Einführung von Wolfgang Schluchter, Tübingen 2015, 52. 12 Rolf Schwendter, Theorie der Subkultur, Hamburg 4 1993, 11; Siegfried Lamnek, Theo‐ rien abweichenden Verhaltens I.-„Klassische“ Ansätze, Paderborn 9 2013, 147. 13 Schwendter, Subkultur (s. Anm. 12), 28; Rolf Schwendter, Art. Subkultur, in: Ansgar Nünning (Hg.), Grundbegriffe der Kulturtheorie und Kulturwissenschaften, Stuttgart 2005, 207 f. 14 Vgl. zur Einführung Tajfel, Social Identity (s.-Anm.-10), 1-14. 15 Einen Überblick über die Entwicklung der Forschung geben Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 1-14. 16 Vgl. Schwendter, Subkultur (s. Anm. 12), 11-12, 28-58; ferner Stuart Hall/ Tony Jefferson (Hg.), Resistance through Rituals, London 1976; Dick Hebdige, Subculture. The Meaning of Style, London-1979. schung haben sollte. Westliche Modelle von Subkulturen der 1970er Jahre basierten auf einem marxistisch geprägten, vertikalen Gesellschaftsmodell, das von einer Leit- oder Mehrheitsgesellschaft ausging. 11 Davon unterschieden sie gesellschaftliche Untergruppierungen, sog. Subkulturen, die sich klar und deutlich von einer übergeordneten Gesellschaftsstruktur unterschieden, sich von ihr abgrenzten und in ihr sogar ein politisches und ideologisches Gegenüber sahen. 12 Rolf Schwendter beschreibt in seinem 1973 erschienenen Werk „Theorie der Subkultur“ dieses soziologische Phänomen noch mit folgenden Worten: Somit ist Subkultur ein Teil einer konkreten Gesellschaft, der sich in seinen In‐ tentionen, Bräuchen, Werkzeugen, Normen, Wertordnungssystemen, Präferenzen, Bedürfnissen usw. in einem wesentlichen Ausmaß von der herrschenden Institution etc. der jeweiligen Gesellschaft unterscheidet. 13 Mit den Pionierarbeiten des britischen Sozialpsychologen Henri Tajfel 14 än‐ derten sich Ende der 1980er/ Anfang der 1990er Jahre in der Soziologie nicht nur makrosoziologische Gesellschaftsmodelle, sondern Modelle und Beschrei‐ bungskategorien für Klein- und Kleinstgruppen innerhalb einer Gesellschaft. 15 Während Subkulturmodelle der 1970er Jahre noch von einer vertikalen Kul‐ turhierarchie ausgingen und Subkulturen als starre, fest von einer Mehrheits‐ gesellschaft abgrenzbare und klar erkenn- und definierbare gesellschaftliche Untergruppen beschrieben, die in politischer und ideologischer Opposition zur Mehrheitsgesellschaft standen, 16 verabschiedeten sich Kleingruppenmodelle, die eine feste Leitkultur als definitorischen Gegenpart benötigten. Ab den 1990er Jahren verabschiedete sich die Soziologie, sicherlich in einer Antwort‐ bewegung auf Phänomene der gesellschaftlichen Pluralisierung und Individua‐ lisierung, von der Idee einer in sich geschlossenen Leitkultur. Gesellschaftliche Klassen wurden durch soziologische Milieumodelle ersetzt, die dem komplexen Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 Wie westlich ist das frühe Christentum? 75 17 Vgl. ausführlicher Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s. Anm. 10), 13-15. Laszlo A. Vasko‐ vics, Subkulturen - ein überholtes analytisches Konzept? , in: Max Haller/ Hans-Joachim Hoff-mann-Nowotny/ Wolfgang Zapf (Hg.), Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentags, des 11. Österreichischen Soziologentags und des 8. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988, Frankfurt a.-M.-1989, 587-599. 18 Vgl. dazu Michael A. Hogg/ Dominic Abrams, Social Identification. A Social Psychology of Intergroup Relations and Group Processes, London/ New York-1988, 18-19. 19 Wilfried Ferchhoff, Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert. Lebensformen und Lebensstile, Wiesbaden-2007, 184. 20 Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 11. Erscheinungsbild einer diversen Gesellschaft besser gerecht werden konnten ( J. Ueltzhöffer/ B. Flaig; in den 1990ern: H. Breking/ S. Neckel, K.H. Hörning/ M. Michailow, G. Schulze, T. Mueller-Schneider, S. Hradil; H.-P. Thurn). 17 Natürlich hatte dies enormen Einfluss auf die soziologische Kleingruppenforschung. Die Beschreibungskategorien und die Sprache, um kleine Gruppierungen innerhalb einer Gesellschaft erfassen zu können, orientierten sich nicht mehr wie in den Anfangstagen der Subkulturtheorie, an einem geschlossenen gesellschaft‐ lichen Überbau, sondern versuchten der Idee einer pluralen und diversen Gesellschaft gerecht zu werden, in der unterschiedliche Milieus nicht nur ne‐ beneinander existierten, sondern miteinander interagierten. 18 Im Gegensatz zur Subkulturtheorie der 1970er vertreten gegenwärtige Ansätze die Meinung, dass Kleinstgruppen sich nicht von der Leitgesellschaft abgrenzen, sondern gesell‐ schaftliche Pluralität durch eine Vielzahl kleiner, heterogener und nicht statisch voneinander abgegrenzten Gruppen gebildet wird. Klein- und Kleinstgruppen sind nicht gesellschaftsspaltend, sondern bilden gesellschaftliche Pluralität. 19 So sprechen sich Ronald Hitzler und Arne Niederbacher - sie sind wohl die aktuellsten Vertreter der soziologischen Kleingruppenforschung im deutschen Sprachraum - in ihrem Modell eines Netzwerks aus verschiedenen Klein‐ gruppen gegen das in der frühen Subkulturforschung vertretene hierarchische Pyramidenmodell aus. Hitzler und Niederbacher setzen in ihrer modellhaften Beschreibung einer Szene bei der empirischen Erfahrung von Diversität des sozialen Raumes ihrer Lebenswelt an: Das Leben in modernen Gegenwartsgesellschaften ist typischerweise hochgradig in‐ dividualisiert. Subjektivierungs-, Pluralisierungs- und Globalisierungsprozesse lösen nicht nur die lebenspraktische Relevanz (die individuelle und kollektive Selbst- und Fremdverortung im sozialen Raum) der in der Moderne herkömmlicher Weise dominierenden Klassen- und Schichtenstrukturen zunehmen ab. 20 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 76 Michael Sommer 21 Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10) 13f. 22 Vgl. dazu Hogg/ Abrams, Identification (s.-Anm.-18), 18f. 23 Zur empirischen Methode in der Kleingruppenforschung vgl. auch Ferchhoff, Jugend‐ kulturen (s.-Anm.-19), 180. Beide fahren mit ihrer Kritik an gesellschaftlichen Schichtenmodellen fort und entwickeln daraus einen Unterbau für ihr Gruppenmodell. Beide orientieren sich an der empirisch erfahrbaren Überschneidung gesellschaftlicher Milieus. Ihr Ausgangspunkt eines Netzwerkmodells an Kleingruppen ist eine empirische Analyse des sozialen Raumes ihrer Lebenswelt. Modernisierungssensible Sozialstrukturanalytiker versuchen seit geraumer Zeit, diese Entwicklung zu erfassen, indem sie erfahrungsobsolete Klassen- und Schichtenmo‐ delle durch Milieumodelle ersetzen […]. Dies geschieht in der plausiblen Annahme, dass die individuellen Orientierungen und Sinnsetzungen auch in einer komplexer werdenden Welt typischerweise keineswegs ‚autonom‘ vor sich gehen, sondern weiterhin wesentlich in ‚Sozialisationsagenturen‘ vermittelt werden - als welche möglicherweise eben in erster Linie ‚Milieus‘ fungieren könnten. Aber anscheinend halten sich die Akteure nicht an diese analytisch abgesteckten Milieugrenzen. Sie nehmen vielmehr auch ganz woanders im sozialen Raum Kontakte auf, suchen Anschlüsse, gehen Beziehungen ein, schließen Freundschaften, finden sich zurecht, gewöhnen sich […]. Denn gerade die Konfrontation mit einer immer komplexeren ‚Realität‘ verunsichert den Einzelnen. Diese Verunsicherung wiederum erhöht seinen Bedarf an bzw. sein Bedürfnis nach kollektiven ‚Vorgaben‘. 21 Ihre Modellvorstellung über Kleingruppen innerhalb einer Gesellschaft basiert darauf, dass soziale Räume und Wissensdiskurse nicht isoliert voneinander bestehen, sondern sich überschneiden und vermischen. Individuen partizipieren nicht nur an einem einzelnen Milieu, sondern an mehreren und tragen deshalb dazu bei, dass sich Wissensdiskurse miteinander vernetzen. 22 Eine solche, empirisch verifizierbare Annahme ist die Bedingung für das spezifische Modell von Hitzler und Niederbacher; beide gehen davon aus, dass in Kleingruppen die gleichen sozialen Dynamiken und ein ähnlicher Wissenstransfer zu beobachten sind wie in den großen Sozialmilieus einer Gesellschaft. Auch Kleingruppen sind ihnen zufolge nicht statisch, starr und hierarchisch, sondern vernetzen sich fließend untereinander und mit ihrer Umwelt. In ihrem Werk wird diese Theorie belegt mit einer empirischen Analyse 23 von 20 Szenen, die europäische Jugendkulturen ab den 2000er Jahren (bis in die jüngere Gegenwartsgeschichte) nachhaltig prägten (Antifa; Black Metal; Cosplay; Demoszene; Gothic; Graffiti; Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 Wie westlich ist das frühe Christentum? 77 24 Vgl. zur Methode Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 27. 25 Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 27. 26 Hitzler/ Niederbacher (s.-Anm.-10), 25-34. 27 Zur Applikation des Modells Hitzler/ Niederbacher (s.-Anm.-10), 27-34. Hardcore; Hip-Hop; Indie; Gaming; Parkour; Punk; Rollenspieler; Skateboar‐ ding; Skinheads; Sportklettern; Techno; Ultras; Veganer; Warez). 24 Die ‚Kartografie‘ der Szenelandschaft auf der materiellen Basis von 20 hier zusam‐ mengetragenen, heterogenen Fallbeispielen soll als ein Versuch verstanden werden, eine Art Modell […] zu entwickeln. […] Eine derartige Szenen-‚Kartografie‘ setzt die Festlegung von Kriterien voraus, entlang derer Szenen beschrieben werden sollen. Dabei muss sich die Auswahl der Kriterien an die ‚Architektur‘ der Szenen anlehnen, was bedeutet, dass diese Kriterien im Forschungsprozess - immer wieder aufs Neue - zu reflektieren und gegebenenfalls zu ergänzen bzw. zu verändern sind. 25 Damit beschreiben Hitzler und Niederbacher nicht nur ihren methodischen Zugang hinter ihrem Modell, sondern legen auch klare Grenzlinien des Modells fest. 26 Sie setzen ein postmodernes Menschen- und Gesellschaftsbild voraus, das sich nach der europäischen Aufklärung entwickelt hat und beschränken ihre empirischen Analysen - also das Herzstück ihres Modells - und die empirischen Studien, die sie übernehmen, auf westliche Individualgesellschaften ab den 2000er Jahren. Ihre Erkenntnisse decken sich mit vergleichbaren Studien aus der westlichen Welt; sie können von daher eine gewisse Allgemeingültigkeit beanspruchen. Allerdings markieren die beiden Soziologen die Tragweite der auf empirischen Analysen basierenden Modelle klar und deutlich. 27 Ihr Modell umfasst acht Merkmale kleiner Gruppen und Gruppennetzwerke; diese Charakteristika beschreiben Demarkations- und Relationsphänomene zwischen Kleingruppen und ihrer Umwelt sowie innere Stabilisierungsmecha‐ nismen, die Kleingruppen innerhalb komplexer Milieugesellschaften trotz ihres fließenden, schwer abgrenzbaren Charakters identifizierbar machen. (1) Szenen als thematisch verbundene, soziale Netzwerke: Szenen sind keine sozial homogenen Entitäten, sondern bestehen als Netzwerk aus diversen, sozial-heterogenen Gruppierungen, die aufgrund eines gemeinsamen Interesses bzw. eines gemeinsamen Themas in einer Verbindung stehen. Eine Szene ist ein künstlich geschaffener Überbegriff für diverse Gruppierungen, die durch gemeinsame Inhalte, gemeinsame Symbole oder Sprache als Teil einer größeren Bewegung angesehen werden können. Die einzelnen Gruppierungen müssen nicht zwingendermaßen im Austausch zueinander stehen, sondern lassen sich nur durch thematische und habituelle Merkmale einem umbrella term Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 78 Michael Sommer 28 Vgl. dazu Hitzler/ Niederbacher (s.-Anm.-10), Szenen, 16-20. 29 Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 20. 30 Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 24. 31 Vgl. dazu Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 154. 32 Vgl. dazu Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 17f. 33 Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 17. zuordnen. 28 „Gruppierungen werden offensichtlich vor allem dadurch zu einem Teil von Szenen, dass sie sich auf der Basis gemeinsamer Interessenlagen zu anderen Gruppierungen hin öffnen.“ 29 Die Inhalte und übergeordneten Ideen werden - so Hitzler und Niederbacher weiter - ortsabhängig von den Gruppierungen unterschiedlich realisiert. Die Gruppierungen müssen sich gegenseitig nicht zwingend akzeptieren, sondern können miteinander konkurrieren bzw. in ablehnender Haltung einander ge‐ genübertreten. „Gerade eine solche Unschärfe bzw. eine solche Offenheit und Durchlässigkeit macht Szenen aus.“ 30 Das Netzwerk einer Szene ist also nicht statisch, sondern in sich instabil und verändert sich stetig und in Abhängigkeit von den sozialen Interaktionen seiner einzelnen Gruppierungen. 31 (2)-Szenen als kommunikative Diskurse und kollektive Identitäten: Die inhalt‐ lichen und äußerlichen Merkmale einer Szenegruppierung legen die Mitglieder selbst fest. Eine Szene gestaltet sich selbst diskursiv, indem sie einen „Wir-Aus‐ druck“ konstruiert und die Merkmale ihrer Selbstwahrnehmung festlegt und Momente der Fremdwahrnehmung steuert. Traditionen, Erinnerungskulturen, Sprachspiele, Symbole sowie Performanzen, die die Gestalt einer Szene nach innen hin festlegen und nach außen hin unterscheidbar machen, entstehen in einem kommunikativen Akt des Austausches. Die Mitglieder legen fest, was sie stabilisiert und abgrenzbar macht. Sie produzieren Medien, um ihre kollektive Identität kommunizierbar zu machen. Die kollektive Identität einer Szene spiegelt nicht die soziale Realität ihrer einzelnen Splittergruppierungen wider. Vielmehr ist der inszenierte und medial gesicherte „Wir-Ausdruck“ einer Szene das thematische Verbindungsglied ihrer heterogenen Gruppierungen: 32 Im sinnlich erfassbaren Gebrauch szenetypischer Symbole, Zeichen und Rituale inszenieren diese ihre eigene Zugehörigkeit und konstituieren tatsächlich zugleich, sozusagen ‚beiläufig‘ die Szene. Vor allem in diesem Sinne lässt sich eine Szene mithin als Netzwerk von Personen verstehen, die bestimmte materiale und/ oder mentale Formen der kollektiven (Selbst-)Stilisierung teilen und diese Gemeinsamkeiten kom‐ munikativ stabilisieren, modifizieren oder transformieren. 33 (3) Fließende Grenzen der Szenegruppierungen: Hitzler und Niederbacher ent‐ werfen ihr Modell einer Szene im Rahmen einer Modellvorstellung einer Milieu‐ Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 Wie westlich ist das frühe Christentum? 79 34 Vgl. dazu Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 18 f. 35 Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 19. 36 Vgl. dazu Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 17-19. 37 Vgl. dazu Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 18. gesellschaft. Sie beschreiben die Gruppierungen einer Szene als offene Gebilde, die sich mit anderen Diskursen und Gruppierungen eines sozialen Raumes überschneiden. Szenegruppierungen bilden sich nicht auf der Grundlage der formalen Mitgliedschaft ihrer Mitglieder, sondern dadurch, dass Menschen gewisse Diskursregeln befolgen. Deshalb stehen Szenen, wenn es die Diskurs‐ regeln erlauben, allen Mitgliedern einer Gesellschaft offen; sie bilden den Querschnitt des sozialen Gefälles ihrer Umwelt ab, bieten aber ihren Mitgliedern die Möglichkeiten, soziale Hierarchien ihres Alltagslebens neu zu schreiben. 34 Auf eine zuverlässigere Basis des Umgangs miteinander, wie etwa die Herkunft der beteiligten Personen, deren Berufe, deren Bildung oder deren (szenetranszendente) Besitzverhältnisse zu rekurrieren, ist im Szene-Alltag in der Regel wenig hilfreich. Das heißt, das „Wir“(-Bewusstsein) konstituiert sich eben nicht aufgrund vorgängiger gemeinsamer Standes- und Lebenslagen-Interessen, sondern aufgrund des Glaubens an eine gemeinsame Idee bzw. aufgrund der (vermeintlichen) Bestätigung der tatsäch‐ lichen Existenz dieser gemeinsamen Idee durch bestimmte Kommunikationsformen und/ oder kollektive Verhaltensweisen. 35 (4) Dynamiken einer Szene: Im Gegensatz zu den kollektiven Identitäten von Szenen, die i. d. R. der Bewegung eine gewisse Stabilität und Statik zuschreiben, sind Szenen sehr labile soziologische Gebilde. Sie verändern ihre Gestalt und ihr soziales Gefälle stetig; auch die Adaption der kollektiven Identität einer Szene in ihren einzelnen Splittergruppierungen folgt keiner Regelmäßigkeit. Szenen entwickeln sich ständig weiter, passen sich an oder sterben aus. 36 (5) Abgrenzungsphänomene: Eine Szene kreiert durch ihre kollektive Identität gleichzeitig eine Grenzlinie, die sie von der Außenwelt unterscheidbar macht und Mitgliedern eine Weltsicht für das Eigene und das Fremde vermittelt. Diese Demarkation besteht jedoch nur auf einer diskursiven Ebene. Eine Abgrenzung der Szene von ihrer Umwelt tritt dann in Kraft, wenn sich Szenegruppierungen treffen und Grenzlinien inszenieren. Sobald sich das Zusammentreffen auf‐ löst und die Mitglieder in ihr Alltagsleben zurückkehren, verschwimmen die Konturen der Demarkation. Die Grenzlinien verschwinden, wenn sich ein Szenetreffen auflöst. 37 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 80 Michael Sommer 38 Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 18. 39 Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 19. 40 Vgl. dazu Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 18-21. 41 Vgl. dazu Hitzler/ Niederbacher, Szenen (s.-Anm.-10), 19f. Szenen sind im schlichten Wortsinn „Inszenierungsphänomene“, denn sie manifes‐ tieren sich für Szenegänger und für Außenstehende nur insofern, als sie „sichtbar“ sind - an Orten, an denen Kommunikation und Interaktion stattfinden. 38 (6) Temporale Teilzeit und Fluktuation: Durch den performativ-diskursiven Charakter von Szenen haben sie Teilzeitcharakter. Sie existieren nur, wenn sich Mitglieder bewusst dazu entschließen, Zeit zu investieren und Ideen der Szene zu realisieren bzw. weiterzuentwickeln. Phasen des Engagements sind für Mitglieder unstetig und wechseln abhängig von ihren Lebensphasen. Wir-Gefühle [werden] nur im Rahmen der konstituierten Szene (re-)produziert. Nun ist Szene-Engagement aber eben symptomatischerweise ein Teilzeit-Engagement. Dazwischen befinden sich Phasen der Engagiertheit in anderen Lebensbereichen, sei es in Ausbildung, Beruf, Familie oder einer anderen Szene. Während dieser Zwischenphasen ist das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu der einen Szene oft nur latent vorhanden. 39 (7)-Szenen bilden die soziale Zusammensetzung einer Gesellschaft ab: Die Partizi‐ pation an Szenen ist i. d. R. unabhängig vom sozialen Status und von den sozialen Hintergründen. Eine Szene steht allen offen, die Zeit investieren und Diskurs‐ regeln befolgen. Dementsprechend betonen Hitzler und Niederbacher, dass eine Szene den Querschnitt einer Gesellschaft abbilden kann. Es können sich in Sze‐ negruppierungen Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus, Wohlstandsverhältnissen und unterschiedlichem Bildungsstand begegnen. 40 (8) Heterogene Hierarchie: Szenen sind i. d. R. hierarchisch organisiert; Führungsrollen werden abhängig von der Intensität des Engagements und von der repräsentativen Performanz der Mitglieder verteilt. Es gibt Kern- und Randfiguren sowie Grenzgänger und Freunde, die einer Gruppierung nur nahestehen, ohne sich ihr anzuschließen. I. d. R. legt jede einzelne Gruppe vor Ort ihre sozialen Hierarchien selbst fest bzw. verändert sie, wenn dies notwendig ist. Das Autoritätsgefälle innerhalb einer Splittergruppe ist meist ortsgebunden. Die Gruppierungen einer Szene müssen die Autoritäten der jeweils anderen Gruppierungen nicht akzeptieren bzw. können diese sogar komplett ablehnen. Hitzler und Niederbacher gehen davon aus, dass sich Machtstrukturen in einzelnen Gruppierungen sowohl überschneiden als auch miteinander konkurrieren können. 41 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 Wie westlich ist das frühe Christentum? 81 42 Philip F. Esler, Response to Part 1. Theoretical Perspectives on the Stratification of Wealth, Power, and Status in the Ancient Mediterranean World, in: Anthony Keddie/ Michael Flexsenhar III/ Steven J. Friesen (Hg.), The Struggle over Class. Socioeconomic Analysis of Ancient Christian Texts (Writings from the Greco-Roman World, Supple‐ ment-19), Williston-2021, 149-160, hier 149. 43 Hernitscheck, Meta-Analyse (s.-Anm.-6), 297. 44 Hernitscheck, Meta-Analyse (s.-Anm.-6), 37. 45 Hernitscheck, Meta-Analyse (s.-Anm.-6), 37. 3. Ist das frühe Christentum eine westliche Szene? - ein kritischer Vergleich von Sprachspielen und Denkmustern soziologischer und historischer Narrative Nach diesem Blick auf die empirische Forschung zu Kleingruppen sowie ihren sozialen Relationen in westlichen Gesellschaften, soll bewusst ein Perspektiven‐ wechsel erfolgen. Wir betrachten Modellvorstellungen zur Sozialisation und Verbreitung frühchristlicher Gruppierungen und sensibilisieren uns für Paral‐ lelen zwischen Geschichtsbildern und empirischen Sozialmodellen. Auch wenn in diesem Rahmen nur ein oberflächlicher Vergleich vorgenommen werden kann, so zeigen sich doch starke Parallelen auf struktureller und sprachlicher Ebene zwischen der Entwicklung der soziologischen Kleingruppenforschung und den Frühchristentumsmodellen. Auch wenn sich hier kaum Vollständigkeit erzielen lässt und der dargelegte Vergleich nur exemplarischen Charakter haben kann, stechen Ähnlichkeiten deutlich ins Auge. Die Christentumsforschung blickt durch die Linse frühchristlicher Quellen auf die westliche Welt. Dabei ist P. F. Eslers Programm sicher zuzustimmen, der in einer kritischen Ausein‐ andersetzung mit Sozialtheorien der Christentumsforschung zur Überzeugung kommt: „It is useful to begin by reflecting on what we are doing when we try to apply a modern theoretical construct […] to ancient data […].“ 42 So räumt Elisabeth Hernitscheck in ihrer Metareflexion ein, dass die „Idee eines pluriformen Christentums […] vor dem Hintergrund einer pluralen Gesell‐ schaft zu sehen“ 43 ist und dass „Geschichtsbilder Orientierungsbedürfnisse und Wertvorstellungen der jeweiligen Gegenwart reflektieren.“ 44 Sie folgert weiter: „Ohne der heute so wichtigen Kategorien des Pluralismus, Individualismus und Subjektivismus wären derartige Modelle vom frühen Christentum und auch das Nachdenken über den (positiv besetzten) Begriff der Diversität wohl kaum vorstellbar.“ 45 Damit legitimiert Hernitscheck einen kritisch-wertschätzenden Vergleich zwischen Modellen des frühen Christentums und den Modellen jener Wissenschaften, die den gesellschaftlichen Wandel und davon abhängige soziale Mechanismen legitimieren. Sicherlich zeigen die in Sammelbände Stefan Alkier/ Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 82 Michael Sommer 46 Stefan Alkier/ Hartmut Leppin (Hg.), Juden - Christen - Heiden. Religiöse Inklusion und Exklusion in Kleinasien bis Decius (WUNT-I/ 400), Tübingen-2018. 47 James C. Paget/ Judith Lieu (Hg.), Christianity in the Second Century. Themes and Developments, Cambridge-2017. 48 Vgl. dazu ausführlicher den lesenswerten Beitrag Stefan Alkier, Identitätsbildung im Medium der Schrift, in: Marianne Grohmann (Hg.), Identität und Schrift. Fortschrei‐ bungsprozesse als Mittel religiöser Identitätsbildung, Göttingen 2017, 105-161, hier 141. 49 Jörg Rüpke, Religion und Gruppe. Ein religionssoziologischer Versuch zur römischen Antike, in: Brigitte Luchesi/ Kocku von Stuckrad (Hg.), Religion im kulturellen Diskurs. Religion in Cultural Discourse. Festschrift für Hans G. Kippenberg zu seinem 65. Ge‐ burtstag. Essays in Honor of Hans G. Kippenberg on the Occasion of His 65 th -Birthday (RVV 52), Berlin/ New York 2004, 235-257, 238; Jörg Rüpke, Integrationsgeschichten. Gruppenreligionen in Rom, in: Jörg Rüpke (Hg.), Gruppenreligionen im römischen Reich. Sozialformen, Grenzziehungen und Leistungen, (STAC 43), Tübingen 2007, 113- 126, hier 118f. Hartmut Leppin „Juden - Heiden - Christen? “ 46 und James C. Paget/ Judith Lieu, „Christianity in the Second Century“ 47 in ihren Einführungen an, dass sich Diversitätsmodelle in der europäischen und amerikanischen Christentumsfor‐ schung nicht mehr wegzudenken sind. Stefan Alkiers Gedanke, das Christentum in der Antike als einen umbrella term zu verstehen, wird sicherlich von vielen Forschenden geteilt. 48 Schlagworte und Leitthemen wie soziale Netzwerkstruk‐ turen, Diversität, diskursive Erzeugung kollektiver Identität und rhetorischer Abgrenzungsstrategien mittels Textproduktion, Teilzeitcharakter, offene und fließende Gruppengrenzen begegnen in der jüngeren Forschungsliteratur regel‐ mäßig; ihre auf der Leseweise frühchristlicher Texte basierenden Modelle be‐ dienen sich der Sprachspiele und Denkmuster jüngerer Kleingruppenforschung, deren Modelle auf der Analyse moderner, westlicher Milieugesellschaften ba‐ sieren. Jörg Rüpke und David Brakke reflektieren dies sogar, insofern sie in ihrer Fuß- und Endnotendiskussion auf die soziologischen Modelle verweisen, deren Sprachspiel sie für ihre Geschichtsbilder rezipieren. Jörg Rüpke übernimmt aus der empirisch-soziologischen Diskussion der 1990er Jahre die Definition einer Gruppe ohne statische und starre Grenzen, die sich durch einen Kommunikati‐ onsprozess herausbildet: Der Begriff der Gruppe ist ein soziologisches Konzept, das relativ einfach empirisch einzusetzen ist. Eine Gruppe ist zu verstehen als eine begrenzte Anzahl von Menschen, die miteinander kommunizieren und dadurch aufeinander einwirken; dieses Gemein‐ schaftshandeln weist ein Minimum an Regelhaftigkeit und Dauerhaftigkeit auf. 49 Auch in der angloamerikanischen Forschung begegnet ein ähnliches Ver‐ ständnis, insofern David Brakke sein Modell frühchristlicher Gruppen und ihre Vernetzung mit ihrer Umwelt folgendermaßen beschreibt: „People and Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 Wie westlich ist das frühe Christentum? 83 50 David Brakke, The Gnostics. Myth, Ritual, and Diversity in Early Christianity, Cam‐ bridge-2010, 10. 51 Brakke, Gnostics (s.-Anm.-50), 12. 52 Brakke, Gnostics (s.-Anm.-50), 12. 53 Karen L. King, Which Early Christianity? , in: Susan Ashbrook Harvey/ David G. Hunter (Hg.), The Oxford Handbook of Early Christian Studies, Oxford-2008, 66-84, hier 73. ideas travel back and forth and all around socially and intellectually.“ 50 Brakke führt seine Idee fort, insofern er aus der soziologischen Kleingruppenforschung ein sprachliches und gedankliches Subkulturmodell übernimmt, das in der jüngeren Forschung selbst in die Kritik geraten ist. Er reflektiert über „ways that dominate and subordinate cultures mutually interact and create new cultural forms“, 51 wenn er über das frühe Christentum spricht, und argumentiert, dass „religious symbols and social practices combine to form integrated subcultures in which people find meaning.“ 52 Beide Autoren, sowohl David Brakke als auch Jörg Rüpke, die ohne jeden Zweifel großen Einfluss auf die Fachkultur der Christentumsforschung hatten und haben, unterstreichen, dass westliche Modelle der empirischen Soziologie die Basis ihrer Geschichtskonzeptionen bilden. Blicken wir von diesem Punkt aus etwas breiter auf die Fachkultur, so begegnen zahlreiche Parallelen. So basieren die Modelle von Karen L. King und Jörg Rüpke beide auf der Voraussetzung, zwischen der soziologischen Gestalt antiker religiöser Gruppierungen und ihrer kollektiven Identität, die ihre von ihnen produzierten und gebrauchten Medien konstruieren, zu unterscheiden; Karen King definiert einen frühchristlichen Diskurs, der zur sprachlich-me‐ dialen Etablierung einer kollektiven Identität dient, und trägt dabei acht Punkte zusammen, die an Hitzler und Niederbachers Modellvorstellung erinnern: It aims to understand the discursive strategies and processes by which early Christians developed notions of themselves as distinct from others within the Mediterranean world (and were recognized as such by others), including the multiple ways in which Christians produced various constructions of what it means to be Christian. Methodo‐ logically, it is oriented toward the critical analysis of practices, such as producing texts; constructing shared history through memory, selective appropriation, negotiation, and invention of tradition; developing ritual performances such as baptism and meals; writing and selectively privileging certain theological forms (e. g., creeds) and canons; forming bodies and gender; making place and making time; assigning nomenclature and establishing categories; defining „others“ and so on. 53 Neben der Textproduktion produzierten Christen gemeinsame Traditionen und Erinnerungsstrukturen, legten Genderrollen mittels Erzählungen fest, beschrieben religiöse Praktika und Performanzen, die beim Vollzug einer Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 84 Michael Sommer 54 Jörg Rüpke, Religiöse Identitäten. Topographische und soziale Komponenten, in: Martina Böhm (Hg.), Kultort und Identität. Prozesse jüdischer und christlicher Identi‐ tätsbildung im Rahmen der Antike (BThSt-155), Göttingen-2016, 19-43. 55 Rüpke, Identitäten (s.-Anm.-54), 42. 56 Vgl. Lewis Ayres, Continuity and Change in Second-Century Christianity. A Narrative against the Trend, in: Paget/ Lieu, Christianity in the second Century (s. Anm. 47), 106-121. 57 Vgl. Cavan W. Concannon, Assembling Early Christianity. Trade, Networks, and the Letters of Dionysios of Corinth, Cambridge-2017. 58 Vgl. Anna Collar, Religious Networks in the Roman Empire. The Spread of New Ideas, Cambridge-2013. 59 Vgl. Greg Woolf, Only Connect? Networks and Religious Change in the Ancient Mediterranean World, in: Hélade 2 (2009), 43-58; Greg Woolf, Empires, Diasporas and the Emergence of Religions, in: Paget/ Lieu (Hg.), Christianity in the Second Century (s.-Anm.-47), 25-38. Gruppierung innere Stabilität verliehen, beschrieben räumliche und zeitliche Versammlungsmöglichkeiten und konstruierten Feindbilder und Grenzlinien nach außen. Jeder einzelne dieser Punkte spiegelt sich auch in Beschreibungen neuzeitlicher Szeneidentitätskonstruktionen wider. Jörg Rüpke folgert, dass die Produktion kollektiver Identitäten durch diskursiv bestimmte Meinungsführer erfolgt und die Vermittlung des medialen „Wir-Ausdrucks“ in Netzwerken verläuft. 54 Gerade die Meinungsführer, deren Autorität auf der Stärke der auf sie bezogenen kollektiven Identität der Angesprochenen beruht, verfassen Texte; gerade Texte, die die kollektive Identität stark machen, haben Chancen, innerhalb eines Netzwerkes oder einer Institution tradiert zu werden. 55 Gedanken zur Kommunikation kollektiver Identitätsstiftungsangebote durch Netzwerke im frühen Christentum verbreiteten sich in der jüngeren For‐ schungsgeschichte schlagartig (Lewis Ayres; 56 Cavan W. Concannon; 57 Anna Collar; 58 Greg Woolf 59 ). King ist der Überzeugung, dass sich in den diversen und heterogenen Gruppierungen mittels eines Netzwerks ein gemeinsames Sprachspiel einer kollektiven Identität verbreitete, das Gruppierungen je unter‐ schiedlich adaptierten und ausgestalteten, um innere und äußere Grenzlinien zu konstruieren: We see notable continuity with well-known Christian rhetoric used to define boun‐ daries between themselves and others, argue for construct a relationship to Jewish Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 Wie westlich ist das frühe Christentum? 85 60 Karen King, The Gnostic Myth. How does its Demise impact Twenty-first Century Historiography of Christianity’s Second Century? In: James Carleton Paget/ Judith Lieu (Hg.), Christianity in the Second Century. Themes and Developments, Cambridge 2017, 123-136, 133. 61 Woolf, Empires (s.-Anm.-59), 27. 62 Stefan Alkier, Einleitung. Juden, Christen, Heiden? , in: Alkier/ Leppin, Juden - Christen - Heiden (s.-Anm.-46), 1-18, hier-7. scripture and tradition. And yet, they do not always employ these polemics in the same ways, to the same ends, or against the same „opponents“. 60 Und Greg Woolfe sieht in der Struktur des römischen Reiches ideale Bedin‐ gungen, dass sich über Reise- und Handelsrouten Netzwerke für den ideellen Austausch von Ideen herausbilden konnten. Traffic across the Romano-Persian border was easy and ideas, images and ritual practices were easily transferred to and from central Asia, northern India and beyond. Greek representational styles had already been imitated in Gandhara and beyond the Oxus. Buddhist maxims appear from central India to what is now Afghanistan. There were Jewish communities scattered from Rome to Babylonia, and perhaps beyond. Along Rome’s long temperate European frontier, local deities were repeatedly hybridized and interpreted in Roman terms. For some historians it is primarily this increased movement of traders, soldiers and slaves that explains the appearance in Italy and in Rome’s western provinces of dedications and temples to deities originating in Asia Minor, Syria, Palestine and Egypt. People moved - rather than religions - and took with them their ancestral gods. 61 Ebenso scheinen Aussagen über das Verhältnis zwischen christlichen Gruppie‐ rungen und ihrer Umwelt Parallelen aufzuweisen mit der jüngeren Kleingrup‐ penforschung. Die Idee, dass die Grenzen sozialer Gruppierungen fließend ineinander übergehen, weil Individuen an vielen verschiedenen Gruppen einer Gesellschaft teilhaben, die Diversität der Mehrheitsgesellschaft sich dadurch auch in Kleingruppen abbildet, findet sich auch in der Christentumsforschung. Stefan Alkier schreibt: „Die Diversität der kleinasiatischen Gesellschaft wie die des Imperium Romanum im Ganzen verbindet sich mit der Diversität christlicher Gemeinschaften und Individuen, die ein Teil dieser Gesellschaft waren.“ 62 Judith Lieu blickt auf die Forschungsgeschichte zurück, um diesen von Stefan Alkier markierten Wandel der Forschungslandschaft darzustellen, und deutet gleichzeitig an: Already at the beginning of the century, some members of the so-called Chicago School were keen to challenge the tendency to treat doctrinal ideas as abstract Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 86 Michael Sommer 63 Judith Lieu, Laboratory. Modelling the Second Century as the Age of the Laboratory, in: Paget/ Lieu, Christianity in the second Century (s.-Anm.-47), 294-308, hier-294f. 64 Vgl. dazu ausführlicher Anthony Keddie, Introduction. The Struggle over Class in the Study of Early Christianity, in: Keddie/ Flexsenhar III/ Friesen, The Struggle over Class (s.-Anm.-42), 1-50. and absolute, and instead sought to emphasise the social dynamics that shaped early Christianity. Among others, Shailer Mathews and Shirley Jackson Case were determined to understand the emergence and development of Christianity within the social and cultural conditions of its time. However, in practice their accounts worked within the then prevailing models of ‘Judaism versus Hellenism’, of the focal role of Gnosticism, and perhaps most significant for present purposes, of a process of organic evolution in which ‘Christianity’ remained an active and monochrome subject. 63 Beide deuten an, was Elisabeth Hernitscheck als Ausgangsbasis ihrer Metarefle‐ xion postuliert hat: Dynamische Modelle des frühen Christentums entwickelten sich parallel zur Dynamik der Gesellschaft, die sie produzierte. Gleichzeitig manifestierte sich ein sozioökonomischer Wandel in den Geschichtsmodellen der antiken Welt, der sicherlich den Erfolgszug der Kleingruppenmodelle be‐ günstigte. Mit den Arbeiten von Wayne Meeks und Gerd Theißen, die die Sozialgeschichte über lange Strecken prägten, verabschiedeten sich von Marx geprägte Ideen hierarchischer Gesellschaftsklassen in der Antike zu Gunsten von dynamischeren Status- und Milieumodellen. 64 Durch diese Akzentverschie‐ bung wurde begünstigt, dass Kleingruppenmodelle, die in einem hierarchischen Gesellschaftsmodell rein logisch nicht funktionierten, von der Forschung adap‐ tiert werden konnten. 4. Jenseits des Vergleichs - Wie westlich ist das frühe Christentum? Was können wir lernen? Ein Vergleich zwischen den Modellen des frühen Chris‐ tentums und der empirischen Kleingruppenforschung zeigt nicht nur, wie stark westlich gefärbt Vorstellungen und Konzeptionen des frühen Christentums sind. Vielmehr erlaubt diese postkoloniale Perspektive eine kritische Neubewertung öffentlichkeitspräsenter Stereotypen und Meinungen über die Ursprünge des Christentums. Denn westliche Diversitätsmodelle begegnen nicht nur in jün‐ geren akademischen Publikationen. Viele der Erkenntnisse der frühchristlichen Diversitätsmodelle sind bereits, wohl über Hand- und Lehrbuchtraditionen vermittelt, öffentlichkeitswirksam rezipiert worden. Blicken wir beispielsweise auf das Bildungsfernsehen, so begegnen in Formaten über die Anfänge des frühen Christentums zumindest in Ansätzen Spuren frühchristlicher Diversität. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 Wie westlich ist das frühe Christentum? 87 65 Das Vermächtnis der ersten Christen. Petra Gerster auf den Spuren der Urgemeinde. Ein Film von Daniel Sich und Stephan Koester, 2013 (https: / / programm.ard.de/ TV/ p hoenix/ das-vermaechtnis-der-ersten-christen/ eid_28725186984599; letzter Zugriff am 07.08.2023). 66 Keddie, Introduction (s.-Anm.-64), 5. 67 Vgl. dazu Hernitscheck, Meta-Analyse (s.-Anm.-6), 37. Auch wenn sich TV-Produktionen wie z. B. Das Vermächtnis der ersten Christen mit Petra Gerster 65 nicht der komplexesten Diversitätsmodelle bedienen, so vermitteln sie dennoch den Eindruck einer pluriformen Ausdifferenzierung frühchristlicher Identität, wahrscheinlich weil sie (vermutlich) auf westlichen Lehrbuchtraditionen basieren. Die populären Meinungen über die Anfänge des frühen Christentums spiegeln westliche Kulturen wider. Schon allein deshalb ist eine Reflexion dieser Modelle für die theologische Praxis unabdingbar, weil sie in mehr oder minder stark ausgeprägter Form bereits ins öffentliche Bewusstsein eingedrungen sind. Eine Diskussion über die Herkunft, Chancen und Grenzen dieser Modelle ist deshalb mehr als angebracht. Ein Vergleich zwischen den Klein- und Kleinstgruppenmodellen der empi‐ rischen Soziologie und zumindest einem Querschnitt der wichtigsten Diver‐ sitätsmodelle des frühen Christentums lässt deutliche Parallelen erkennen. Die Parallelen zeigen sich nicht nur auf struktureller Ebene, sondern ebenso sprachlich. Es scheint, als ob Diversitätsmodelle aus dem deutschen und dem an‐ gloamerikanischen Sprachraum Begriffe aus der Soziologie angewandt haben, um ihre Interpretation antiker Quellen in ein narratives Gerüst eines antiken Sozialraums und dessen Mikrostrukturen zu übersetzen. Das betrifft jedoch nicht nur die Gruppenstrukturen des frühen Christentums, sondern auch - wie jüngst der Sammelband von G. Anthony Keddie, Michael Flexsenhar III. und Steven J. Friesen gezeigt hat - auch den makroökonomischen Sozialraum der Antike, in dem sich das frühe Christentum entwickelt hat: „Therefore, there is no question that scholars […] rely on modern definitions“ 66 . Hernitscheck hat mit ihrer Vermutung dementsprechend nicht unrecht; Modelle des frühen Christentums, die sich in der gegenwärtigen Forschungslandschaft finden, spiegeln die Gesellschaft, aus der sie stammen. 67 Das ist zunächst keine wertende Erkenntnis, weil diese Korrelation zwischen Geschichte und Gegenwart unver‐ meidbar ist. Menschen können sich nicht vollkommen von den Kategorien, Denkmustern und Sprachmöglichkeiten ihrer Lebenswelt lösen, um zu einer objektiven Metaebene einer wertneutralen Thesenbildung durchzudringen. Jedoch sagen diese starken Parallelen etwas über den Eurozentrismus der For‐ schungsgeschichte aus. Die Modelle, die sich in der gegenwärtigen Forschungs‐ landschaft breit durchgesetzt haben, ermöglichen es zwar, einer komplexen und Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 88 Michael Sommer 68 Vgl. Daniëlle Slootjes, Response to Part 5. Reflections on Class in Late Antiquity, in: Keddie/ Flexsenhar III/ Friesen, The Struggle over Class (s. Anm. 42), 419-434, hier 431. diversen Quellenlandschaft gerecht zu werden (zumindest gerechter als simple Modelle). Jedoch können sie nicht den Anspruch erheben, Geschichte objektiv darzustellen. Sie spiegeln die Lebenswelt, aus der sie stammen, wahrscheinlich in einem höheren Grade, als dass sie antiken Lebenswelten gerecht werden können. Und dennoch sind sie hilfreich, solang man ihre Grenzen kennt, ihre Herkunft kritisch reflektiert und sich dessen bewusst ist, dass sie nicht die einzigen Modelle für eine Auslegung biblisch gewordener Texte sein können. Gerade die empirische Soziologie macht dies deutlich, weil sie die historische Tragweite ihrer Modelle schon alleine durch ihre empirische Eingrenzbarkeit auf einen sozialen Ort und einen Zeitraum beschränkt. Sie als Blaupause für ein Narrativ des frühen Christentums heranzuziehen, ist zwar möglich, allerdings kann dies nur in einem Bewusstsein geschehen, dass die Modelle in erster Linie dabei helfen, Quellen zu ordnen. Sie liefern Sprache für Geschichte, vermögen es aber mit Sicherheit nicht, Vergangenheit ungebrochen darzustellen. Die wahre Gestalt des frühen Christentums und seiner soziologischen Ausbreitung bleibt wohl in der Vergangenheit. Warum ist ein Nachdenken über die Modelle des frühen Christentums und ihre westliche Prägung für die Praxis von Religionslehrer: innen in der Schule, pastorale Mitarbeiter: innen in der Gemeinde und Lehrende in der Erwachsenen‐ bildung genauso notwendig wie für Forscherpersönlichkeiten, die aus Quellen Geschichte konstruieren? Gerade weil uns der Vergleich mit den empirischen Modellen der Soziologie gezeigt hat, dass Geschichte ein subjektives Konstrukt ist, schützt diese Erkenntnis vor fundamentalistischen Annäherungen an die Welt der Bibel. We constantly have to check the way in which we apply modern terminology to the ancient world, as it is almost always part of larger modern discussions on issues that our current society is trying to come to grips with. 68 Kein Geschichtsnarrativ der Welt, und zumal keine westlichen Narrative, die sich aufgrund der Dominanz westlicher Wissenschaftsmodelle innerhalb der theologischen Forschung leichter verbreiten konnten als andere, können für sich behaupten, das einzig legitime und wahre zu sein. Geschichte ist keine in sich geschlossene Form, sondern ein konstruierter Lernort, der ohne Gegenwartsbezug und ohne Bewusstsein für die Bedingtheit der Gegenwart wohl kaum sinnvoll ist. Geschichtliche Rückfragen in der Theologie können sich alleine hinter ihrem Auftrag verstecken, die geschichtliche Dimension der Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 Wie westlich ist das frühe Christentum? 89 Offenbarung wahrzunehmen. Vielmehr führt ein Blick auf die Geschichte dazu, gegenwärtige und als selbstständig an- und hingenommene Strukturen der Kirche konstruktiv zu hinterfragen. Geschichte dient der Prävention vor der Manifestation gefährlicher Machtstrukturen und -traditionen genauso wie dem nachhaltigen Abbau von Stereotypen und Klischees. Und dies sollte zu den Auf‐ gaben und Standards einer verantwortungsvollen und zeitsensiblen Theologie gehören, egal ob sie in den Hörsälen der Akademie, in den Schulklassen oder in den Praxisstätten der theologischen Bildung stattfindet. Michael Sommer studierte Katholische Theologie an der Uni Regensburg, wo er 2013 mit einer Arbeit zur Johannesoffenbarung promoviert und 2020 mit einer Untersuchung über Witwen im frühen Christentum ha‐ bilitiert wurde. Von 2014 bis 2020 war er Juniorprofessor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; er lehrte und forschte als Lehrstuhl- und Professurvertreter in München, Duisburg-Essen und Regensburg und hatte Gastprofessuren in Hildesheim und Hannover. Seit 2023 ist er Professor für Exegese und Theologie des Neuen Testaments an der Goethe-Universität Frankfurt a.-M. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0013 90 Michael Sommer