eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 26/52

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2023-0014
121
2023
2652 Dronsch Strecker Vogel

Postcolonial Studies und das Neue Testament

121
2023
Michael Sommer
znt26520091
Kontroverse Postcolonial Studies und das Neue Testament Einleitung in die Kontroverse Michael Sommer Die vorliegende Kontroverse stellt sich der Frage, welche Chancen postkolo‐ niale Perspektiven für die Bibelwissenschaften beherbergen. Die beiden Beitra‐ genden, Stefan Alkier und Roland Deines, unterscheiden sich dabei weniger in ihrem Gesamturteil - beide halten postkoloniale Ansätze für zwingend notwendig und sehen darin einen enormen Gewinn für die Bibelwissenschaften -, denn in ihren Begründungszusammenhängen. Roland Deines reflektiert in seinem Plädoyer für postkoloniale Kritik die Gefahr, dass das Neue Testament selbst zum Ort der Kolonialisierung werden kann. Er beleuchtet imperialistische Machtstrukturen westlicher Weltdeutungssysteme und sieht die Aufgabe der postkolonialen Kritik vordergründig darin, „dieses Versteckspiel der Mächtigen hinter dem von ihnen präferierten Guten aufzudecken“ (R. Deines). Sein Zu‐ gang sieht die Wissenschaften im Zugzwang, ihre Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und ihren Anspruch auf universelle Gültigkeit abzubauen. Stefan Alkier streift hingegen mit einer grundlegenden Unterscheidung zwi‐ schen Postcolonial Studies und postkolonialer Theorie, die vornehmlich an US-amerikanischen Universitäten entwickelt wurde und auf der Rezeption fran‐ zösischer Sozial- und Literaturwissenschaften basiert, das Grundsatzproblem, wie westlich geprägt die Forschungsrichtung ist. Obwohl er die Beschäftigung mit den postkolonialen Theorien für lohnenswert hält, führt Alkier in Alter‐ nativen dazu ein. Die große Leistung postkolonialer Ansätze sieht er darin, die - für ihn positiv konnotierte - Standortgebundenheit und Pluralität der Wissenschaft zu verdeutlichen. Anstelle eines eingleisigen Abbaus eines von der Aufklärung inspirierten westlichen Denkens tritt bei Alkier eine grundlegende Wertschätzung der Vielfältigkeit menschlicher Weltdeutungen, weshalb er in seinem Beitrag als einen unhintergehbaren Weg der Wahrheitssuche einfordert, „Interesse an dem zu haben, was andere sehen, denken und sagen.“ (S. Alkier). Beide Dialogpartner verdeutlichen nicht nur die Notwendigkeit postkolonialer Exegese, sondern führen in die Vielschichtigkeit und die kontroversen Zugänge dieses Forschungsfeldes ein. 92 Michael Sommer