eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 26/52

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2023-0015
121
2023
2652 Dronsch Strecker Vogel

Postcolonial Studies - Über Risiken und Nebenwirkungen eines notwendigen Nachdenkens

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2023
Roland Deines
znt26520093
1 Drei Vorbemerkungen: 1. Ich gehe davon aus, dass die Genese des Postcolonial Criticism und seiner vielfältigen Anliegen und Querverbindungen in diesem Heft an anderer Stelle dargestellt wird. Meine eigenen Bemerkungen sind darum als erste Überlegungen im Gespräch mit dieser neuen ‚Methode‘ der Bibelauslegung zu sehen, die keinen Anspruch erheben, umfassend zu sein. Dass es sich um keine eigentliche Methode handelt, wird von Vertretern desselben selbst hervorgehoben, vgl. z. B. Simon Wiesgickl, Gefangen in uralten Phantasmen. Über das koloniale Erbe der deutschen alttestamentlichen Wissenschaft, in: Andreas Nehring/ Simon Wiesgickl (Hg.), Postkoloniale Theologien II. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum, Stuttgart 2018, 171-185: Es geht bei „postkolonialen Zugänge[n]“ nicht primär um „neue[] Hypothesen oder alternative Lesarten“, sondern um eine „Verunsicherung“ der bestehenden (westlichen) Exegese (184). 2. Wie diese Fußnote bereits deutlich macht („Vertreter“), verwende ich das generische Maskulinum, weil es die meiner Überzeugung nach am wenigsten ideologische und damit ‚bemächtigende‘ Diktion ist. 3. Ich schreibe diesen Beitrag als Professor einer privaten theologischen Hochschule, die zu einem großen deutschen Missionswerk gehört, das bis heute missionarische Mitarbeiter an Kirchen weltweit vermittelt, die in Gemeindegründung, Gemeindeaufbau und theologischer Lehre tätig sind. Die Anfrage, diesen Beitrag zu übernehmen, kam während meines eigenen Aufenthalts an der Evangelical University of Zambia, wo ich als älterer weißer Mann schwarze sambische Schwestern und Brüder unterrichtet habe. Postcolonial Studies - Über Risiken und Nebenwirkungen eines notwendigen Nachdenkens 1 Roland Deines Ein erster Eindruck: Sieht man sich die Tagungs- und Veröffentlichungspro‐ gramme der Society of Biblical Literature an, dann entsteht der Eindruck, dass das Methodenspektrum, zu dem die Postcolonial Studies gehören, ein absolutes „must have“ ist. Ein Eintrag ins Suchfenster der SBL-Website ergibt knapp 700 Resultate seit 2013. Dieses Ergebnis rangiert knapp vor Queer Studies und deutlich vor LGBTQ*, aber auch vor „fundamentalism“ und etwas weniger stark vor „evangelical“. Trotzdem wirft Andrew Mbuvi der SBL vor, nach wie vor in erster Linie „white and male“ zu sein (und damit zumindest den äußeren Merkmalen nach zu denen zu gehören, die „imperialistic and colonizing biases“ perpetuieren), während die „non-white, non-Euro-American groups“, die als 2 Andrew M. Mbuvi, African Biblical Studies. Unmasking Embedded Racism and Colo‐ nialism in Biblical Studies, London 2023, 8f. 3 Zu dieser Entwicklung s.-besonders die Kapitel-3,-4-und-6 in: Ulrich Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014; Arie van der Zwiep, Bible Hermeneutics from 1950 to the Present. Trends and Developments, in: Oda Wischmeyer (Hg.), Handbuch der Bibelhermeneutiken. Von Origenes bis zur Gegenwart, Berlin/ New York 2016, 933-1008; Simon Wiesgickl, Das Alte Testament als deutsche Kolonie. Die Neuerfindung des Alten Testaments um-1800 (BWANT-214), Stuttgart 2018, 95-98. 4 Wiesgickl, Das Alte Testament als deutsche Kolonie (s.-Anm.-3), 21. 5 Für eine erste Zusammenfassung mit exemplarischen Textbeispielen s. Anna Runesson, Exegesis in the Making. Postcolonialism and New Testament Studies (BIS 103), Leiden/ Boston-2011. 6 van der Zwiep, Bible Hermeneutics from 1950 to the Present (s. Anm. 1), 999 f. Die Bibliografie dieses Artikels listet die meisten Hauptwerke des Postcolonial Criticism auf. Vertreter einer postkolonialen Agenda auftreten, „remain largely confined to the margins.“ 2 Schaut man in deutsche exegetische Veröffentlichungen der letzten Jahre, dann entsteht ein ähnlicher Eindruck: Die Praxis (wenn man von Kommentaren als dem Ziel der exegetischen Arbeit ausgeht) ist weiterhin dominiert von den klassischen historisch-kritischen Methoden, ohne dass über diese eine nennens‐ werte methodische Reflexion stattfindet. Dazu sind in den letzten 50 Jahren ver‐ mehrt literaturwissenschaftliche Methodiken gekommen. In hermeneutischer Positionierung: Die historischen Entstehungsumstände einschließlich Autori‐ nention, mithin das, was - aus der Sicht des Lesenden - hinter dem eigentlichen Text liegt („the world behind the text“), steht im Vordergrund, ergänzt durch Methoden, die den Text als eigenes Subjekt wahrnehmen und die Autonomie des Textes gegenüber seinen Entstehungsumständen und -intentionen abgrenzen. Themenstellungen und verarbeitete Literatur kommen weitestgehend aus dem Bereich der ‚weißen‘ Exegese (West-)Europas und Nordamerikas, Anliegen und Anstöße aus den Postcolonial Studies sind nur vereinzelt zu finden. Die „world in front of the text“, d. h. die von dem Text Betroffenen (ob als Lesende oder un‐ freiwillig mit seinen Aussagen Konfrontierte), findet in der deutschsprachigen Exegese nach wie vor, wenn überhaupt, eher in Nischen statt. 3 Dazu passen die Klagen der Vertreter postkolonialer Theologien, dass ihre Theorien „bisher wenig Anwendung auf das Feld der Theologie im deutschsprachigen Raum gefunden haben.“ 4 Ganz anders ist die Wahrnehmung in der englischsprachigen Forschung 5 und es ist vielleicht kein Zufall, dass auch im „Handbuch der Bibelhermeneutiken“ der entsprechende Abschnitt von einem holländischen Kollegen verfasst wurde. 6 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 94 Roland Deines 7 R. S. Sugirtharajah, Postcolonial Criticism and Biblical Interpretation, Oxford 2002, 40, übers. u.-zit.-Bei-Wiesgickl, Das Alte Testament als deutsche Kolonie (s.-Anm.-3), 23. 8 Stefan Silber, Postkoloniale Theologien (UTB 5669) Tübingen 2021, 21. Zum Problem einer Definition von Postkolonialismus s.-Runesson, Exegesis (s.-Anm.-5), 17-30 9 Marion Grau, Christus und die Axt am Baum. Ein Beitrag zur Soteriologie in postkolo‐ nialer Perspektive, in: Nehring/ Wiesgickl (Hg.), Postkoloniale Theologien II (s. Anm. 1), 242-255, hier 243. 10 Etwas polemisch formuliert: Der Exeget wird zum Erlöser der Marginalisierten und zum Bringer der Gerechtigkeit. 1. Exegese als Mittel zum Zweck einer besseren Welt Zu den Grundanliegen des „Postcolonial Criticism“ gehört es, „Unterdrückung aufzudecken, Miss-Repräsentationen herauszustellen und eine gerechtere Welt voranzubringen.“ 7 In diesem Sinn steht Postkolonialismus nicht nur für eine Perspektive nach dem kolonialen Zeitalter im engeren Sinn, sondern für eine kritische Theorie, „die auf Kontinuitäten kolonialen Denkens und Handelns“ auch heute noch aufmerksam macht. Es geht nicht nur um Kolonialismus „als ein Geschehen in der Vergangenheit“, sondern auch um „seine gegenwärtigen Konsequenzen (im kulturellen, epistemischen, soziologischen, wirtschaftlichen, politischen - und eben auch religiösen Bereich) als eine grundlegende Ursache von Konflikten und Problemen der Gegenwart [zu] analysieren.“ 8 Das Selbst- (und Sendungs-? )bewusstsein seiner Vertreter, die besseren Interpreten von Geschichte und Gegenwart zu sein, ist dabei nicht zu übersehen: Postkoloniale Theorien lenken den Blick auf koloniale Diskurse und Machtverhält‐ nisse in Kontext und Geschichte. Daher kann eine Theologie, die sich als postkolonial versteht, sowohl die koloniale Geschichte besser verstehen, als auch gegenwärtige Ereignisse feinfühliger interpretieren. 9 Mein eigener Lehrer, Martin Hengel, hatte die Angewohnheit, bei solchen selbstbewussten und ausgreifenden Behauptungen mit Bleistift an den Rand zu schreiben: „q.-e.-d.“ (quod esset demonstrandum/ was zu beweisen wäre). Ein weiterer Aspekt, der hier aber nicht im Zentrum stehen soll, ist die - durch eigene Marginalitätserfahrungen geschärfte - Perspektive auf aus‐ gegrenzte oder zum Schweigen verurteilte Personen oder Personengruppen in den biblischen Texten. Indem der Exeget sich in ihre Erfahrungen einzu‐ fühlen vermag, verschafft er ihnen - als einem Akt egalitärer Gerechtigkeit - nachträglich Gehör und wird dadurch zu einem Sprachrohr derer, die in der Gegenwart in vergleichbarer Form zum Schweigen gebracht sind. 10 Die Urheber des (Ver)Schweigens sind die gesellschaftlichen - eben: imperialen oder Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 Postcolonial Studies - Über Risiken und Nebenwirkungen eines notwendigen Nachdenkens 95 11 Fernando F. Segovia, Postcolonial Criticism and the Gospel of Matthew, in: Mark Allan Powell (Hg.), Methods for Matthew (Methods in Biblical Interpretation), Cambridge 2009, 194-238, hier 207. kolonialistischen - Mächte und Gewalten, die sich anmaßen, die Welt zu ordnen und ‚den Anderen‘ ihren Platz zuzuweisen. Im Hinblick auf die biblischen Personen bzw. Autoren stellt sich dabei die Frage, ob sie selbst zu den Marginalisierten gehören (dann können diese bibli‐ schen Texte als Widerstandsliteratur gegen die Kolonialisierung gelesen werden und sie gehören zu den ‚Guten‘) oder ob sie gegebenenfalls als Komplizen kolonialistischer Macht entlarvt werden müssen und damit gleichsam gegen den Strich gelesen werden müssen. Auf diese Weise erklärt Fernando F. Segovia, der zu den Begründern postkolonialer Exegese gehört, in einem einführenden Aufsatz über „Postcolonial Criticism and the Gospel of Matthew“ exemplarisch die Funktionsweise dieser Methode, die - basierend auf einer Hermeneutik des Verdachts - nach „silenced“ bzw. „oppressive voices“ sucht. 11 Zugrunde liegt die Annahme, dass das, was in einem Text nicht gesagt wird, aber nach Meinung des Auslegers unbedingt hätte gesagt werden müssen, nur als „zum Schweigen gebracht“ betrachtet werden kann. Segovia zeigt dies anhand von Mt 8,5-13, der Heilungsgeschichte des παῖς des römischen Centurio von Kapernaum. Das ist ein „thoroughly imperializing text“, dem entweder zu widerstehen ist („is to be resisted“) (220) oder der dahingehend zu dekonstruieren ist, dass er zu einer „exercise in cutting Rome down to size“ wird (235). Dass der Text möglicherweise nichts über das römische Imperium und seine Politik sagen will, wird erst gar nicht in Betracht gezogen. Dadurch stellt sich die Frage, wie und ob ein Text oder ein Autor überhaupt gegen den Vorwurf des „silencing“ verteidigt werden kann? Für das Matthäusevangelium ist es bei einer solchen Lektüre schlicht unmöglich, gegenüber der römischen Reichspolitik gleichgültig zu sein. Es muss entweder - vorsätzlich oder unbewusst - unterstützend oder subversiv antiimperial sein, weil die Methode nichts anderes zulässt. Dabei ist von vornherein festgelegt, dass das römische Reich und seine Expansionspolitik böse waren, denn nur dann kann Gleichgültigkeit als Verweigern des nötigen Widerstands gegen Rom überhaupt angeprangert werden. Das bedeutet, dass die Methode einen totalitären (imperialistischen) Anspruch hat, weil sie den biblischen Autoren nicht erlaubt, sich dem Positionierungsdruck der postkolonialen Kritik zu entziehen. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 96 Roland Deines 12 Runesson, Exegesis (s. Anm. 5), 48, bringt dies so auf den Punkt: „Who is Chief in the Global Village? Is it the one who has ‚Western optics‘ or the one who has ‚postcolonial optics‘? “ 13 Simon Wiesgickl, Weltaneignung dekolonisieren. Oder: Was die Erfindung des Alten Testaments mit dem Humboldt-Forum zu tun hat, in: Interkulturelle Theologie. Zeit‐ schrift für Missionswissenschaft-45 (2019), 106-125, hier 123. 14 Sugirtharajah, Postcolonial Criticism (s. Anm. 7), 156. Es ist allerdings daran zu erin‐ nern, dass die Übersetzung der Bibel die christliche Mission von Anfang an begleitete und darum keine Folge des Kolonialismus ist. 15 Ein vieldiskutiertes Beispiel ist Musa W. Dube, Consuming a Colonial Cultural Bomb. Translating Badimo Into ‘Demons’ in the Setswana Bible (Matthew 8.28-34; 15,22; 10,8), in: JSNT 21 (1999), 33-59; abgedruckt und diskutiert in: Runesson, Exegesis (s. Anm. 5), 141-167 (s.-auch 99-102); Mbuvi, African Biblical Studies (s.-Anm.-2), 61-83. Vereinfachend formuliert: Postcolonial Criticism fragt kritisch nach, wer be‐ stimmt, was gilt. 12 Und damit verbunden: Welche Interessen stehen hinter denen, die bestimmen (wollen). Es geht um die Machtverhältnisse in der Deutung der Welt, wobei die Betonung darauf liegt, dass diese Macht ungleich verteilt ist und - weniger explizit als implizit vorausgesetzt - die Machthabenden diese zu ihrem eigenen Vorteil einsetzen und damit die Unterlegenen zum Schweigen bringen (sowohl metaphorisch als auch tatsächlich bis hin zum Mord). Postcolonial Criticism will dieses Versteckspiel der Mächtigen hinter dem von ihnen präferierten Guten aufdecken und so zur „Dekolonisierung der Weltaneignung“ 13 beitragen und den zum Schweigen Gebrachten eine Stimme geben. Die biblischen Texte sind dabei insoweit wichtig, als sie in der Kolonialgeschichte eine Rolle gespielt haben, die es in ihrer positiven und nachteiligen Wirkung wahrzunehmen gilt. Das fängt bereits mit der Frage der Übersetzung biblischer Texte in die Sprachen kolonisierter Gemeinschaften an, denn, so der vielzitierte Satz von R. S. Sugirtharajah: „In the colonial context, translation acted as a mediating agency between conquest and conversion.“ 14 So sehr die erstmalige Verschriftung indigener Sprachen, die oft die Voraussetzung von Übersetzungen war, zum Erhalt derselben beigetragen hat und ihre Sprecher dadurch befähigt haben, sich in der modernen Welt zu behaupten, so sehr haben Übersetzungen das Weltbild und die Weltaneignung dieser Sprachgruppen auch verändert. 15 Insofern gehören die postkolonialen Fragestellungen zur Wirkungsgeschichte biblischer Texte, ohne allerdings darin aufzugehen. 2. Zur Dekolonialisierung des westlichen Methodenkanons Im Vordergrund steht vielmehr, scheinbar wissenschaftliche Selbstverständlich‐ keiten in Frage zu stellen, die ihre Selbstverständlichkeit unreflektiert daraus beziehen, dass ein Vertreter (meist: männlich, weiß, europäische Herkunft) einer Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 Postcolonial Studies - Über Risiken und Nebenwirkungen eines notwendigen Nachdenkens 97 16 Ernst Troeltsch, Ueber historische und dogmatische Methode, in: Friedemann Voigt (Hg.), Ernst Troeltsch Lesebuch (UTB 2452), Tübingen-2003, 2-25, hier-5. 17 Wiesgieckl, Weltaneignung dekolonisieren (s. Anm. 13), 111; s. ders., Das Alte Testa‐ ment als deutsche Kolonie (s. Anm. 3), 91-120; Runesson, Exegesis (s. Anm. 5), 33-39, und ihr Kapitel 4: „Deconstructing Western Biblical Studies“ (51-88); außerdem Mbuvi, African Biblical Studies (s.-Anm.-2), 25-57. 18 Vgl. Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000. D. h. die Wahrnehmung und Darstellung der Entwicklung der Welt und ihrer ‚Entdeckung‘ (was nur aus der europäischen Perspektive überhaupt Wissenschaft einen Sachverhalt in einer Weise erklärt, als ob er allgemeingültig oder allgemeinmenschlich sei. Damit wird diese eine Wahrnehmung, sofern sie als „wissenschaftlich“ oder „objektiv“ akzeptiert wird, universalisiert. Was für naturwissenschaftliche Basisdaten möglich ist (aber schon in ihrer Anwendung, wie etwa die Medizin zeigt, nicht mehr in derselben Weise, weil Gesundheit, Krankheit, Schmerz etc. sehr unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden), lässt sich jedoch nicht in derselben Weise auf Vorgänge übertragen, deren Geltungsbereich ohne hermeneutische Reflexion nicht darstellbar ist. Das erscheint so selbstverständlich, dass es keiner weiteren Begründung bedarf, aber ein Blick in theologische Klassiker zeigt, dass dies gerade nicht der Fall ist. Stattdessen ist es nach wie vor häufig der Fall, dass Vertreter einer partiellen - aber aufgrund von Machtdiskursen (europäisch, weiß, männlich, wissenschaft‐ lich) präferierten - Perspektive auf ‚die Wirklichkeit‘ (ein Abstraktum, das keineswegs universalisierbar ist, auch wenn das von westlicher Wissenschaft oft mehr intuitiv als argumentativ vertreten wird) für sich in Anspruch nehmen, gültige Aussagen für alle Menschen (zumindest der eigenen Zeit und Bildungs‐ stufe) machen zu können. So kann Ernst Troeltsch in seinem berühmten Aufsatz „Ueber historische und dogmatische Methode der Theologie“ die „Analogie des vor unseren Augen Geschehenden und in uns sich Begebenden“ als „Schlüssel zur Kritik“ bezeichnen. Als historisch kann demnach nur gelten, was „vor uns“ und „in uns“ anschlussfähig ist, weil „wir“ analoge Erfahrungen und Ereignisse erleben. 16 Aber wer ist dieses „uns“? Der deutsche protestantische Theologieprofessor des ausgehenden 19. Jahrhunderts? Ist, was er in sich und um sich herum erlebt und wahrnimmt, der Maßstab dessen, was einst geschehen sein konnte und was als historisches Geschehen ausscheidet, eben weil es dafür in seiner Lebenswirklichkeit keine Analogie gibt? Entsprechend lehnen die verschiedenen postkolonialistischen Ansätze den postulierten „Neutralitäts‐ anspruch“ der westlichen Wissenschaften ab und versuchen stattdessen, „die Eingebundenheit wissenschaftlicher Forschung in Machtstrukturen deutlich zu machen,“ 17 um so die präferierte europäische Perspektive an den Rand zu drängen. 18 Mbuvi erklärt als eines der Ziele seines Buches, „to establish Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 98 Roland Deines gedacht werden kann) sollte nicht länger davon bestimmt sein, als wäre Europa ganz selbstverständlich Dreh- und Angelpunkt der welthistorischen Ereignisse. 19 Mbuvi, African Biblical Studies (s.-Anm.-2), 13. 20 Lukas Bormann, Gibt es eine postkoloniale Theologie des Neuen Testaments? , in: Nehring/ Wiesgickl (Hg.), Postkoloniale Theologien II (s. Anm. 1), 186-204, hier 194. Für Bormann macht dieses „Insistieren auf einem radikalen Bruch“ mit der historisch-kritischen Bibelauslegung „einen Austausch und wechselseitige Anregung nahezu unmöglich.“ Für Versuche des Ausgleichs s. Runesson, Exegesis (s. Anm. 5), 45-48. 21 Mbuvi, African Biblical Studies (s. Anm. 2), 13. Am Ende seines Buches verwendet er eine exorzistische Terminologie („casting it out“), die nötig ist, um den „systemic racism that has undergirded the western biblical interpretive enterprise“ zu überwinden (201). Konkret werden darum Vorschläge für ein eigenständiges afrikanisches Theo‐ logie-Curriculum erarbeitet, s. Johannes Knoetze, Decolonising or Africanisation of the Theological Curriculum. A Critical Reflection, in: Scriptura-120 (2021), 1-15. the historical link of the imperialistic and colonial background from which Biblical Studies emerged and of which it was a full beneficiary and supporter.“ 19 In der Exegese führt dies zur Forderung nach „einem radikalen Bruch mit dem, was als ,epistemisches System des Westens‘ beschrieben wird“ 20 , womit insbesondere die historisch-kritische Methode gemeint ist. Mbuvi geht sogar noch weiter: Er hofft, mit seinem Buch dazu beizutragen „to add to the eroding of western hegemony in Biblical Studies.“ 21 3. Die Methode muss der Sache dienen Was aber ist die „Sache“, wenn es um die Auslegung des Neuen Testaments geht? Die Antwort auf diese Frage entscheidet darüber, welche Bedeutung die postkoloniale Exegese für die eigene Auslegungspraxis hat. Geht es beim Ziel der Beschäftigung mit den Texten - über das reine historische Verstehen von historischen Quellen aus dem 1. Jahrhundert hinaus - um „eine gerechtere Welt“ (s. Anm. 7) oder um „Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben“, wie es im apostolischen Glaubensbekenntnis heißt? Für eine kirchlich orientierte Exegese wird die Antwort anders lauten als für eine gesellschaftspolitisch motivierte. Darum kann ich hier nur eine persönliche Antwort geben. Entscheidend ist für mich das Dienen. Das ist das unpopuläre Gegenteil von Herrschen und Beherrschen. Postcolonial Criticism will, wenn ich es recht verstanden habe, der Sache einer gerechte(re)n Welt dienen, aber es will nicht primär dem Verstehen und letztlich Annehmen der biblischen Botschaft dienen. Die ‚gute Botschaft‘ des Postcolonial Criticism steht schon fest, bevor das Neue Testament gelesen wird, und sein Interesse am Neuen Testament bemisst sich Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 Postcolonial Studies - Über Risiken und Nebenwirkungen eines notwendigen Nachdenkens 99 22 Vgl. z. B. Rosemary Kalenga, The Lambas of the Copper Belt - Zambia’s Behaviours and Taboos ‚Before Colonisation and Christianisation‘. A Literature Review to Accom‐ modate Research in the Indigenous Realm, Indilinga. African Journal of Indigenous Knowledge Systems 14 (2015), 185-194. Ihr geht es um die geistige Befreiung von westlichen, durch Missionare eingeführten Epistemen durch den bewussten Anschluss an die spirituellen Traditionen der eigenen Vorfahren, weil nur so der Weg zu einem harmonischen, sozial und ökologisch nachhaltigen Leben möglich ist. 23 Runesson, Exegesis (s.-Anm.-5), 46, spricht deutlich vom „Battle for Power“. 24 Vgl. R. S. Sugirtharajah, Postcolonial Biblical Interpretation, in: ders., (Hg.), Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World, Maryknoll, 3 2006, 64-84, hier 77f.: „Postcolonial biblical criticism … challenges not only hegemonic biblical interpretations, but also the position and prerogative given to the Bible itself.“ 25 Christian Senkel, Deskriptivität und Interpretation. Friedrich Nietzsche und die theolo‐ gische Ethik, in: ZThK 109 (2012), 96-121, hier 104; Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887), in: ders., Werke in drei Bänden, Bd. 2, hg. v. Karl Schlechta, Darmstadt 1997, 782-797. daran, inwieweit es dem eigenen Anliegen nützt bzw. schadet oder dieses sogar ursächlich durch die Missionsgeschichte (mit)verschuldet hat. 22 Entsprechend können Teile der neutestamentlichen Botschaft für den eigenen „Kampf um die Macht“ 23 verwendet werden, während andere entlarvt, desavouiert und unschädlich gemacht werden müssen, um weiteren Schaden durch diese Texte zu verhindern. 24 Diese Bemächtigung der neutestamentlichen Texte für die eigene Agenda bzw. Botschaft steht m. E. in der Gefahr, ihrerseits eine Koloni‐ sierung des Neuen Testaments zu sein: Es geht um kulturelle Deutungshoheit, Macht (Lehrstühle, öffentliche Wahrnehmung), Verteilung von Ressourcen (Forschungsgelder, wissenschaftliches Personal), Neuzentralisierungen (z. B. der Kampf für die Marginalisierten als angebliches Zentrum der Botschaft Jesu) und entsprechende neue Marginalisierungen (z. B. „Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben“), dazu die Einteilung der Welt in Gute (die Frauen um Jesus, die zum Schweigen gebrachten Sklaven wie Rhode und Malchus) und Böse (Matthäus, Lukas, Paulus als passive oder aktive Unterstützer des römischen Imperialismus). Wer die Botschaft des Postcolonial Criticism für richtig hält, für den ist sie darum nicht nur eine Chance, sondern eine Notwendigkeit auf dem Weg zu einer besseren Welt. Aber auch da bleibt - angesichts von Nietzsches scharfsichtiger Analyse der „Moral des Ressenti‐ ments“, die von den Unterlegenen eingesetzt wird, um den Siegern ein schlechtes Gewissen zu machen, um sie so dann doch noch zu besiegen - die Frage, „welche Moral hinter dem eigenen Wahrheitspathos lauert.“ 25 Auch für diejenigen, die die Botschaft des Neuen Testaments im „Einver‐ ständnis“ mit derselben und in Loyalität zu ihrer beinahe 2000-jährigen kirchli‐ Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 100 Roland Deines 26 Dass es eine übereinstimmende Botschaft des Neuen Testaments gibt, die sich um Jesus als Messias, seinen stellvertretenden und heilschaffenden Tod und seine Auferstehung als Erfüllung der Schrift zentriert, ist - ich bin geneigt zu sagen: selbstverständlich - in der gegenwärtigen Exegese umstritten, aber darum weder historisch unplausibel noch sachlich defizitär, wie es die jüngste Exposition dieser traditionellen, die Kirche von den Anfängen an prägende Überzeugung erneut darstellt: Simon Gathercole, The Gospel and the Gospels. Christian Proclamation and Early Jesus Books, Grand Rapids 2022. Zum Stichwort „des Einverständnisses mit den biblischen Texten“ im Kontext ihrer Auslegung durch die altkirchlichen Bekenntnisse und die exegetische und spirituelle Tradition der Kirche(n) s. Peter Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik (GNT 6), Göttingen 2 1986. Auch Luz, Theologische Hermeneutik (s. Anm. 3), macht deutlich, dass die Texte Anweisungen geben, „wie sie verstanden werden wollen“ (22). Der „universale[] Wahrheitsanspruch“ der neutestamentlichen Texte in ihren Aussagen über Gott als Schöpfer der Welt, dem sich Luz zwar nicht „normativ“, aber immerhin „dialogisch“ aussetzen will (24), führt bei ihm zu seinem sehr zurückhaltenden Urteil über die „postmoderne Bibelexegese“, zu der er auch „post-koloniale Zugänge zur Bibel“ rechnet. Sie erlaubten „eine unbegrenzte Vielfalt von Bedeutungen eines Textes“, werden aber gerade dadurch beliebigen Interessen untergeordnet. Er bekennt: „Solche ›postmodernen‹ Programme und Versuche von Bibelinterpretation sind für mich darum relativ uninteressant, weil sie einen sang- und klanglosen Verzicht auf den Wahrheitsanspruch einschließen, der zu den von Gott zeugenden biblischen Texten gehört“ (102f. u. ausführlicher 267-287). chen Auslegungstradition rezipieren, 26 ist Postcolonial Criticism eine notwendige Infragestellung von Selbstverständlichkeiten und „ein Stachel im Fleisch“ allzu selbstgefälliger Betriebsamkeit. Der vom Postcolonial Criticism angeregte Refle‐ xionsprozess über die eigene Motivation im Umgang mit den biblischen Texten und ihrer Relevanzvermittlung in die Gegenwart ist hilfreich, um sich der ei‐ genen „Lokalisierung“ im Streit der Mächte bewusst zu werden. Dabei sind Her‐ kunfts- und Statusfragen selbstkritisch zu reflektieren, ebenso wie Privilegien im Hinblick auf die eingenommenen Positionen im Wissenschaftsbetrieb. Das Ernstnehmen nicht nur der Verquickung von Mission und Kolonialismus (wobei dies nur ein Teil der Missionsgeschichte ist), sondern auch von kolonialistischen Tendenzen der westlichen Exegese, sowie die ungeschönte Betrachtung der biblischen und exegetischen Wirkungsgeschichte auf kolonisierte Menschen ist unbedingt nötig. Dabei ist die Aufarbeitung und Anerkennung der eigenen Fehler, die in der Regel trotz guter Absichten durch das persönliche Verfangensein in den religiösen, kulturellen und epistemischen Prägungen im Kontext der Missions‐ geschichte geschehen sind, vielleicht der wichtigste Beitrag, den die westliche Wissenschaft den aufstrebenden Kirchen und theologischen Traditionen des globalen Südens zu leisten vermag. Denn hier sind die Folgen des Missbrauchs von biblischen Texten zu Gunsten von triumphalistischen Kirchenidealen, Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 Postcolonial Studies - Über Risiken und Nebenwirkungen eines notwendigen Nachdenkens 101 27 Zu afrikanischen Ahnen-Christologien s. Mbuvi, African Biblical Studies (s. Anm. 2), 180f.189f.; einen guten Überblick über die verschiedenen Versuche, Jesus mit afrika‐ nischen Heilern und Heilsmittlern zu verbinden ist Djiokou Sadrack, Afrikanische Christologie. Kontext und Aktualität (Schriften der Hans Ehrenberg Gesellschaft 27), Kamen 2021. 28 Zum „conceptual lock“ (der Begriff stammt von Keith W. Whitelam), s. Wiesgickl, Phantasmen, 172: Er kritisiert, dass „der Methodenkanon der historisch-kritischen Forschung, der bis in die 1960er Jahre hinein fast ungebrochen herrschte, sich Grundan‐ nahmen des 19. Jahrhunderts verdankt, die forschungsgeschichtlich kaum aufgearbeitet scheinen“ (vgl. auch 185 u. ders., Das Alte Testament als deutsche Kolonie [s. Anm. 3], 85 f.). ideologischen Programmen oder bestimmter Gruppen, Völkern oder Nationen schon sichtbar und ermöglichen aus der Distanz einen besseren, weil kriti‐ scheren Blick. Die Auseinandersetzung mit dem theologischen und kirchlichen Antijudaismus kann hierfür als Beispiel genannt werden. Auch die Aufarbeitung des Bemühens der Deutschen Christen, eine ‚völkische‘ Theologie zu formen, in der die biblischen Texte für die Ideologie des Dritten Reiches kolonisiert wurden, kann hier genannt werden. Die damaligen Versuche, Germanentum - als „Ahnenerbe“ verklärt - und Christentum miteinander zu verbinden, sind nämlich nicht völlig verschieden von gegenwärtigen afrikanischen Theologien, die traditionelle Verehrung der Ahnen christologisch zu integrieren. 27 Die damit nur angeschnittenen Fragen der Inkulturation der biblischen Botschaft ist eine bleibende Aufgabe, bei der die herkömmliche, historisch-phi‐ lologische und kritische Exegese, die nach dem Ursprungssinn des Textes fragt, eine wichtige, aber bisher noch wenig wahrgenommene Aufgabe hat. Hier gilt es einerseits, den „conceptual lock“ 28 der westlichen Exegesetradition im bzw. seit dem 19. Jahrhundert aufzubrechen, und andererseits endlich damit anzufangen, die exegetischen Beiträge aus Afrika, Südamerika und Asien (selbst Osteuropa wird weitgehend außer acht gelassen) ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen, zu diskutieren und dann auch zu kritisieren. Denn nur wenn westliche Wissenschaftler die Beiträge aus dem globalen Süden in derselben Weise kritisch in Hinsicht auf historische, philologische oder Ideologie-geleitete Exegesen beurteilen, wie sie das gegenüber den Fachkollegen aus dem eigenen kulturellen Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 102 Roland Deines 29 Vgl. Alkuin Schachenmayr, The Corruption of Theological Institutions by Plagiarism in Dissertations (Studies in Research Integrity 1), Leiden/ Boston, 2022. Der Band analysiert eine Reihe von Promotionsschriften katholischer Priester aus dem globalen Süden, die entgegen wissenschaftlichen Standards als Dissertation an österreichischen und deutschen katholischen Fakultäten angenommen wurden. Schon ein oberflächliches Nachforschen würde wohl auch an evangelischen Fakultäten vergleichbare Vorfälle finden. Dass es Schachenmayr dabei nicht um Diskriminierung, sondern akademische Integrität geht, zeigt seine Auseinandersetzung mit dem irischen Bischof Stephen Robson, gegen den er ebenfalls Plagiatsvorwürfe erhob, die letztlich dazu führten, dass Schachenmayr seine damalige Position verlor. 30 Letzter Zugriff am 3.6.2023. Kontext tun, ist das koloniale Gefälle überwunden. Das ist vielfach noch nicht der Fall. 29 Nur ein Beispiel für den Nachholbedarf bei der bloßen Kenntnisnahme nichtwestlicher Bibelwissenschaft: In der „Africa Bible Commentary Series“ erschien 2012 der Rö‐ merbriefkommentar des ivorischen Theologen Solomon Andria. Nach Auskunft von Worldcat.org 30 steht dieser Kommentar jedoch nur in den Bibliotheken von Marburg und Leiden, dazu je einmal in England, Schottland und Wales (obwohl er z. B. über amazon.de bestellbar ist). In amerikanischen Universitäten und Seminarbibliotheken ist er dagegen häufig zu finden. Der weitverbreitete einbändige „Africa Bible Com‐ mentary“, den der nigerianische Theologe Tokunboh Adeyemo (1944-2010) herausgab (er erschien 2006 in Nairobi), ist laut Worldcat.org immerhin in fünf deutschen Uni‐ versitätsbibliotheken nachgewiesen. Schaut man sich allerdings die Kommentarlisten etwa der neuen Bände des EKK oder ThHK durch, dann tauchen dort die genannten afrikanischen Beispiele nicht auf. Beim schnellen Durchsehen sind mir auch keine Hinweise auf die Bände der Reihe „The Bible and Postcolonialism“ aufgefallen, in der als Band 13 der von Fernando F. Segovia und R. S. Sugirtharajah herausgegebene „A Postcolonial Commentary on the New Testament Writings“ (London 2007) erschienen ist. Das ist nicht als Vorwurf gedacht, da dieser Sachverhalt auch alle meine eigenen Veröffentlichungen betrifft, sondern nur eine Beobachtung, um zu verdeutlichen, dass privilegierte Wissenschaft(ler) selten aus eigenem Antrieb ihre Privilegien und gegebenenfalls auch deren kolonialistischen Implikationen wahrnehmen. Gerade wenn man dem historisch falschen oder doch unterkomplexen Verständnis, wonach das Christentum eine westliche Religion sei, die der Welt in der Zeit der Kolonialreiche gewaltsam aufgezwungen wurde, entgegentreten will, ist es nötig, in der eigenen exegetischen Arbeit den Kontext der alten Kolonialmächte zu überschreiten und Anschluss an den Umgang und die Beschäftigung mit der Bibel in der weltweiten Christenheit zu gewinnen. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 Postcolonial Studies - Über Risiken und Nebenwirkungen eines notwendigen Nachdenkens 103 Zu einer Neuorientierung gehört auch, darüber nachzudenken, warum be‐ stimmte Sprachen selbstverständlich gegenüber anderen privilegiert werden. Das führt dazu, dass alle Nicht-Muttersprachler gezwungen sind, in einer fremden Sprache zu lernen und zu publizieren, um gehört zu werden. Wenn daran aus praktischen Gründen auch nur begrenzt Veränderungen möglich sind, dann wäre es doch immerhin geboten, wenigstens ihre englischsprachigen Veröffentlichungen zur Kenntnis zu nehmen und von ihnen zu lernen. Das ist für die engagierten Vertreter des Postcolonial Criticism noch immer viel zu wenig, aber es wäre immerhin ein Anfang. Noch einmal anders stellt sich die Situation für diejenigen dar, die Ange‐ hörige einer von kolonialer Herrschaft betroffenen Gemeinschaft sind. Für sie können die Analysen des Postcolonial Criticism ein hilfreiches Instrument sein, um die eigene Situierung im Kontext des Metanarrativs der biblischen ‚Heilsgeschichte‘, die sie vielfach nur in Verbindung mit der (Unheils)Geschichte des Kolonialismus erlebt haben, wahrzunehmen, kritisch zu reflektieren und idealerweise die negativen Auswirkungen auf diesem Weg zu überwinden. Hier kann Postcolonial Criticism dazu verhelfen, zwischen der erfahrenen kolonialen Verwendung der Bibel und ihren Selbstaussagen zu unterscheiden, so dass die Bibel ein heilsames Instrument der eigenen Identität vor Gott werden oder bleiben kann. Roland Deines studierte Evangelische Theologie in Basel und Tübingen, wo er 2003 mit einer Arbeit zum Matthäusevangelium habilitiert wurde. Nach ver‐ schiedenen akademischen Positionen in Tübingen, Jena, Beer-Sheva (Israel) und von 2006-2016 in Nottingham (GB) ist er seit 2017 Professor für Biblische Theologie u. Antikes Judentum u. seit 2022 Prorektor an der Interna‐ tionalen Hochschule Liebenzell. Er gehört zum Leitungsteam des Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti und arbeitet an einem Kommentar zum Matthäusevangelium. Wer mehr wissen will: https: / / ihl.eu/ personen / roland-deines/ #tab-id-7 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0014 104 Roland Deines