eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 26/52

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2023-0016
121
2023
2652 Dronsch Strecker Vogel

Postcolonial Studies - eine Chance für die Exegese?

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2023
Stefan Alkier
znt26520105
1 Eindrücklich werden diese Zusammenhänge in der dokufiction von Raoul Peck, Rottet die Bestie aus, in Szene gesetzt, zu sehen in der Arte Bibliothek. Postcolonial Studies - eine Chance für die Exegese? Stefan Alkier 1. Zur Notwendigkeit und zum Nutzen von Postcolonial Studies Um die Frage gleich vorweg zu beantworten: Ja, Postcolonial Studies sind eine Chance nicht nur für die Exegese, sondern mehr noch für Bibelhermeneutik und konfessionelle Theologie insgesamt. Sie zwingen dazu, Rechenschaft dar‐ über abzulegen, warum überhaupt und wie Bibel gelesen wird und inwiefern mit biblischen Texten nicht nur konfessionsgebundene theologische Aussagen getroffen, sondern auch Wissenschafts-, Kultur-, Gesellschafts-, Kirchen- und Machtpolitik geformt und begründet wurden und werden. Sie zeigen auf, dass ein unverkennbarer Zusammenhang zwischen der zentralisierenden Wis‐ sensorganisation in europäischen Universitäten, christlicher Missionierung und der kolonialen Expansion einiger europäischer Nationalstaaten mit verhee‐ renden Folgen für die Kolonisierten bzw. Versklavten und deren Gesellschaften zu konstatieren ist. Sie führen vor Augen, dass der Reichtum Europas und Nordamerikas zu einem erheblichen Teil auf Ausbeutung, Raub, Versklavung, Völkermord beruht und diese brutale Machtpolitik mit der Bibel in der Hand und mit dem europäisch-nordamerikanischen Mythos einer Zivilisierung im Namen von Aufklärung und Menschenrechten christlich-humanistisch verbrämt und legitimiert wurde. 1 Es wird deutlich, dass der wirtschaftliche Vorteil, den Nordamerika und die EU gegenüber etwa Afrika haben, auf der katastrophalen Schwächung der Wirtschaftskraft weiter Teile Afrikas durch die Dezimierung 2 Joseph E. Inikori, Art. Sklavenhandel, in: Jacob E. Mabe (Hg.), Das Afrika-Lexikon. Ein Kontinent in 1000 Stichwörtern, Stuttgart 2004, 556-559, hier: 558: „Und der atlantische S[klavenhandel] hatte noch weitere nachhaltige Auswirkungen auf die lang‐ fristige Wirtschaftsentwicklung in Afrika. Durch das mehrere Jahrhunderte verzögerte Bevölkerungswachstum blieb das subsahar. Afrika spärlich bevölkert. Diese niedrige Bevölkerungsdichte verlängerte angesichts einer extrem geringen Warenproduktion das Vorherrschen der Subsistenzwirtschaft in Afrika und verzögerte die Kommerziali‐ sierung des sozioökonom. Lebens, ohne die eine sinnvolle wirtsch. Entwicklung nicht stattfinden kann.“ Vgl. auch Michael Zeuske, Handbuch Geschichte der Sklaverei. Eine Globalgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Überarb. u. erw. Aufl., 2 Bde, Berlin/ Boston 2020. 3 Pierre Bourdieu u.-a. Das Elend der Welt. Studienausgabe, Paris 2 2010. 4 Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der Europäischen Expansion 1415-2015, München 5 2020. der dortigen Bevölkerung durch Sklaverei und mörderische Ausbeutung be‐ ruht. 2 Postcolonial Studies gehen diesen Zusammenhängen nach und jagen so Ex‐ egese und Theologie aus der Wohlfühlzone angeblich unbeteiligter, objektiver, politikfreier Wissenschaftlichkeit heraus, die sich neben oder mitunter sogar über den Dingen des Alltagslebens und seiner globalen Verwirrungen und Verwerfungen wähnt. Sie legen die Verstrickungen des individuellen wie kol‐ lektiven Lebens in die Verteilungskämpfe um Macht, Einfluss und materiellen Reichtum - was u. a. auch die gute Bezahlung der Professuren an deutschen Universitäten möglich macht - offen und mahnen in aller Deutlichkeit und Komplexität an, die je eigene Verantwortung für Das Elend der Welt  3 wahrzu‐ nehmen und zu einer besseren, gerechteren, lebenswerteren, liebevolleren Welt beizutragen. Postcolonial Studies sind aber auch schon deswegen nötig, weil die Auswirkungen und damit die Gegenwartsrelevanz der Kolonialgeschichte im gesellschaftlichen und auch im akademischen kollektiven Gedächtnis der europäischen Nationalstaaten, die als Kolonialmächte gewirkt und profitiert haben und weiter profitieren - Portugal, Spanien, England, Frankreich, Nieder‐ lande, Belgien und ab 1870 dann auch Deutschland -, kaum bewusst ist. Um zu begreifen, in welcher geschichtlichen Situation heute Exegese geschieht, ist es genauso dringlich, die Geschichte der „europäischen Expansion“ 4 zu vergegenwärtigen, wie die gänzlich veränderte kulturelle, theologische und epistemische Situation nach dem Holocaust bewusst zu halten. Es wird dabei aber unerlässlich sein, Phänomene von offener und verdeckter Kolonisierung und Kolonisation mit kritischer historischer Sorgfalt zu differenzieren und christliche Mission, Kolonialismus, Imperialismus und Eurozentrismus nicht als austauschbare Chiffren für „das Böse“ in der Welt zu gebrauchen oder in anachronistischer Weise antike Reiche mit modernen Nationalstaaten gleich zu Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0015 106 Stefan Alkier 5 Vgl. demgegenüber das differenzierte Verständnis von Imperien bei Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Hamburg 2014. 6 Vgl. dazu Francois Dosse, Geschichte des Strukturalismus Bd. 2: Die Zeichen der Zeit, 1967-1991, übers.-v.-Stefan Barmann, Hamburg 1997. setzen und die Wut auf den gegenwärtigen US-amerikanischen, chinesischen oder russischen Imperialismus auf das Imperium Romanum zu übertragen, 5 wie es in weiten Teilen des sogenannten imperial criticism innerhalb US-amerika‐ nischer Bibelwissenschaften geschieht und auch hierzulande jenseits von kriti‐ scher geschichtswissenschaftlicher Differenziertheit Mode zu werden scheint. (Monty Python’s Leben des Brian ist hier hilfreich: „Was haben uns die Römer gebracht? …“) 2. Zur Unterscheidung von Postcolonial Studies und Postcolonial Theory Es wäre aber eine ungeschickte Verkürzung, Postcolonial Studies mit Postcolo‐ nial Theory gleichzusetzen. Bei weitem nicht alle, die sich intensiv mit der Erforschung kolonialer Machtpolitik und deren Folgen auseinandersetzen, sind der Postcolonial Theory verpflichtet, die im Wesentlichen an US-ameri‐ kanischen Eliteuniversitäten wie Harvard oder Columbia an hoch dotierten US-amerikanischen Eliteprofessuren insbesondere der vergleichenden Litera‐ turwissenschaften wie die von Edward Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi K. Bhabha in Aufnahme, Diskussion und Kritik frankophoner poststruk‐ turalistischer und postmoderner Ansätze 6 insbesondere von Jacques Lacan, Michel Foucault, Julia Kristeva, Roland Barthes, Jacques Derrida, Gilles Deleuze entwickelt und vermarktet wurden. Wer sich also heute den Postcolonial Studies aktiv widmen möchte, steht vor einer vergleichbaren Frage, die sich in den Anfängen der Christusverehrung gestellt haben mag: Muss ein Verehrer der Artemis und des Apollon eigentlich erst Jude werden, um angemessen den Weg der Nachfolge Jesu Christi einschlagen zu können? Müssen also an Postcolonial Studies Interessierte erst frankophonen Poststrukturalismus verinnerlichen und dann dem US-amerikanischen Dreigestirn postkolonialer Theoriebildung folgen (Said, Spivak, Bhabha), bevor der eigene Weg postkolonialer Studien etwa auch an europäischen Universitäten angemessen beschritten werden darf ? Meine klare Antwort lautet: Nein, aber es lohnt auf jeden Fall, sich auch mit Ansätzen und mehr noch, mit den Streitfragen innerhalb des ganz und gar nicht homo‐ genen Feldes der Postcolonial Theory zu befassen, die nicht nur von einem mas‐ siven Konflikt zwischen texttheorieorientierten Literaturwissenschaftler: innen Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0015 Postcolonial Studies - eine Chance für die Exegese? 107 7 María do Mar Castro Varela/ Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 3 2020, 13. Vgl. auch Graham Huggan (Hg.), The Oxford Handbook of Postcolonial Studies, Oxford 2013. 8 Franziska Dübgen/ Stefan Skupien, Afrikanische politische Philosophie. Postkoloniale Positionen, Frankfurt 2 2016. Sehr informativ und mit zahlreichen weiterführenden Literaturhinweisen ausgestattet ist der Band von Anke Graneß, Philosophie in Afrika. Herausforderungen einer globalen Philosophiegeschichte, Berlin 2023. 9 Rasiah S. Sugirtharajah, Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World, Maryknoll 1991; Rasiah S. Sugirtharajah, Still at the Margins. Biblical Scholarship Fifteen Years after Voices from the Margin, London 2008; Postcolonialism and Scriptual Reading, Semeia 75 (1996); „Reading With“. African Overtures, Semeia 73 (1996); Race, Class, and the Politics of Bible Translation, Semeia 76 (1996); Justin Ukpong u. a. (Hg.), Reading the Bible in the Global Village, Atlanta 2002; Stephen D. Moore/ Fernando F. Segovia (Hg.), Postcolonial Criticism. Interdisciplinary Intersections, London/ New York 2005; Fernando F. Segovia/ Rasiah S. Sugirtharajah, A Postcolonial Commentary on the New Testament Writings, The Bible and Postcolonialism 13, London 2007; Rasiah einerseits und eher marxistisch-materialistischen Politikwissenschaftler: innen, Soziolog: innen und Philosoph: innen andererseits und wenigen zwischen diesen Positionen Vermittelnden besteht (um die Streitparteien idealtypisch elemen‐ tarisiert zu benennen). Glücklicherweise gibt es hierzu sehr informative ein‐ führende Literatur wie etwa der Band „Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung“, der von María do Mar Castro Varela, einer Professorin für Allge‐ meine Pädagogik und Soziale Arbeit, und von Nikita Dhawan, einer Professorin für Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Gender Studies, verfasst wurde. Sie resümieren: „Eine Beschäftigung mit postkolonialen Theorien ermöglicht es, sich Wissen über die andauernde Vergangenheit anzueignen, ein gelehrtes Hoffen zu lernen und das Archiv der Kritik und Ethik zu erweitern.“ 7 Keineswegs aber sollte sich die notwendige und noch ausstehende Rezeption postkolonialer Theoriedebatten und Studien in den deutschsprachigen Bibelwis‐ senschaften auf die inspirierenden Publikationen von Said, Spivak und Bhabha beschränken. Es lohnt gleichermaßen, deren Kontrahenten zu studieren wie etwa die Monographie Against Decolonisation des 1956 in Nigeria geborenen Olúfémi Táíwò, der ebenfalls in den USA lebt und an der Cornell University lehrt. Seine Hauptthese lautet, dass das maßgeblich an US-amerikanischen Universitäten entwickelte Programm einer politischen und epistemischen De‐ kolonisierung die Handlungskraft und Eigenständigkeit afrikanischen Denkens und politischen Agierens unterminiere. Einblicke in inspirierende Ansätze afrikanischer politischer Philosophie gibt der Band Afrikanische Politische Phi‐ losophie. Postkoloniale Positionen.  8 Diese Streitigkeiten bilden auch die zahlreichen Sammelbände 9 ab, die seit 1991 unter dem Label Postcolonial Biblical Criticism erschienen sind. Sehr Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0015 108 Stefan Alkier S. Sugirtharajah (Hg.), The Oxford Handbook of Postcolonial Biblical Criticism, 2023. Vgl. auch Andreas Nehring/ Simon Tielesch (Hg.), Postkoloniale Theologien. Bibelher‐ meneutische und kulturwissenschaftliche Beiträge, Religionskulturen 11, Stuttgart 2013; Andreas Nehring/ Simon Tielesch (Hg.), Postkoloniale Theologien II. Perspektiven aus dem deutschsprachigen Raum, Stuttgart 2018. 10 Rasiah S. Sgirtharajah, Introduction. The Bible, Empires, and Postcolonial Criticism, in: The Oxford Handbook of Postcolonial Biblical Criticism (s. Anm. 9), 1-21, hier 1: „The central function of postcolonial criticism is to be a contestatory force, more of a moral stance than a theory or dogma.“ 11 Reinhard, Die Unterwerfung der Welt (s.-Anm.-4), 27. aufschlussreich ist es, dass in dem einflussreichen Band Voices from the Margin. Interpreting the Bible in the Third World aus dem Jahr-1991 noch poststruktura‐ listisch und marxistisch orientierte Ansätze zusammenfanden, was aber nach zahlreichen Streitigkeiten und gegenseitiger Verwerfungen für die Fortsetzung unter dem Titel Still at the Margins. Biblical Scholarship Fifteen Years after Voices from the Margin, nicht mehr möglich war. Der Herausgeber beider Bände, Rasiah S. Sugirtharajah, beschreibt die Entwicklung im ebenfalls von ihm herausgegeben Oxford Handbook of Postcolonial Biblical Criticism, 10 sachkundig, aber keineswegs unparteiisch. Das in diesem Jahr (2023) erschienene Handbuch gibt einen breiten Einblick in gegenwärtige Themenfelder, Methoden und Entwicklungen des postcolonial biblical criticism. Da meine Aufgabe hier aber nicht in einem Literaturbericht besteht, möchte ich zumindest zwei Aspekte der Postcolonial Studies und der Postcolonial Theory anreißen, die hoch relevant für die Bibelwissenschaften und zum Teil auch schon in die neuere Diskussion eingeflossen sind: 1.-Räume 2.-Repräsentationen. 3. Räume als analytische Kategorie Schon das Leitwort postcolonial verbindet eine zeitliche adverbiale Bestimmung mit einem Raumbegriff: Kolonialismus setzt wie Kolonialreich und Kolonialherrschaft logisch die Begriffe Kolonie (vom römischen colonia) und Kolonisation voraus. Kolonisation bedeutet einfach die Errichtung von Kolonien, zum Beispiel auch in einem trocken gelegten Moor an der Oder. Kolonie ist also eine Neuansiedlung, die selbständig sein oder unter der Kontrolle des Gemeinwesens bleiben kann, aus dem die Siedler stammen. In übertragenem Sinn wurde aber jedes räumlich von dem betreffenden Gemeinwesen getrennte Herrschaftsgebiet Kolonie genannt, vor allem wenn es in Übersee lag. Der Minimalinhalt des Begriffs Kolonie besteht also in Siedlung oder Herrschaft, der Maximalinhalt in Siedlung und Herrschaft. 11 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0015 Postcolonial Studies - eine Chance für die Exegese? 109 12 Reinhard, Die Unterwerfung der Welt (s.-Anm.-4), 27. 13 Edward W.-Said, Orientalismus, übers. v.-Hans Günter Holl, Frankfurt a.-M. 7 2021. 14 Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen, übers. v. Michael Schiffmann/ Jürgen Freudl, Stauffenburg Discussion 5, Tübingen 2000. Aufgrund dieser Überlegungen unterscheidet der Historiker Wolfgang Rein‐ hard „drei Grundtypen von Kolonien“, „die ihrerseits Varianten aufzuweisen haben“ 12 : Stützpunktkolonien, Siedlungskolonien, Herrschaftskolonien. Was durch die Ausführungen Reinhards schon auf den ersten Blick deutlich wird, ist, dass das Raumkonzept „Kolonie“ immer mit der Frage von Macht, Besitz und Herrschaft verbunden ist, aber jeweils nach Kolonietyp eigens in seinen jewei‐ ligen historischen politischen und geographischen Konstellationen untersucht werden muss. Die Vernachlässigung der Differenzierung zwischen „Kontinen‐ talexpansion“ und „Überseeexpansion“ führte nämlich zu der weitgehenden Konzentration auf Europa als dem (H)Ort des kolonialen Imperialismus unter Vernachlässigung des kontinentalexpansiven Kolonialismus etwa Russlands, Chinas oder den USA. Die literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten etwa von Said zum „Orientalismus“ 13 und Bhabha zur „Verortung der Kultur“ 14 greifen das geogra‐ phisch-politische Raum- und Herrschaftskonzept des Kolonialismus auf und überführen es in ein metaphorisches Analyseinstrument unter der Fragestel‐ lung, wie Räume und semantische Füllungen und Bewertungen von Räumen durch Texte entstehen und damit universale Deutungsmachtansprüche und Identitätspolitiken befördert wurden und werden, die alle Bereiche mensch‐ licher Gesellschaften, Kulturen, Religionsgemeinschaften durch ein binäres Denken der Ungleichheit zwischen dem Eigenen und dem Anderen zu Un‐ gunsten des Anderen kontaminiert. Dekolonisierung wird dann zum morali‐ schen Kampfbegriff westlicher Eliten, die sich für eine Welt der Gleichheit einsetzen sollen. Dabei wird das zeitliche post-kolonial zur wissenschafts- und kulturethischen Aufgabe des de-kolonial transformiert. Es sollte bei aller Kritik am zuweilen selbstherrlichen Dekolonisierungs‐ konzept nicht in Abrede gestellt werden, dass diese Konzepte maßgeblich zum spatial turn in den Literaturwissenschaften beigetragen haben, von dem bereits zahlreiche alt- und neutestamentliche Studien profitiert haben. Die Frage nach der Imagination und semantischen Codierung von Räumen ist aber nicht nur objektsprachlich interessant. Vielmehr zeigt sie sich auch in der enzyklopädischen Aufgabenverteilung und fragwürdigen Grenzziehung etwa zwischen dem Fach Alte Geschichte und der Orientalistik, wofür Saids Orientalismusstudien höchst aufschlussreich sind: Das Fach Alte Geschichte ist maßgeblich auf Europa beschränkt und zeugt als solches von einem unsach‐ Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0015 110 Stefan Alkier 15 Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, übers. v. Alexander Joskowicz/ Stefan Nowotny, m. e. Einl. v. Hito Steyerl, Wien/ Berlin 2 2020. 16 Donna Landry/ Gerald Maclean/ Gayatri Chakravorty Spivak, Ein Gespräch über Subal‐ ternität, in: Spivak, Can the Subaltern speak? (s.-Anm.-15), 119-148, hier: 119f. gemäßen Eurozentrismus. Unter Einbeziehung der Kritik an epistemischen Raumkonzepten zur Verortung der Welt dürften die Fächergrenzen neu zu ziehen sein, was erheblichen konzeptionellen Einfluss auf die Erforschung der Geschichte christlicher Religionsgemeinschaften und ihren unterschiedlich ausgebildeten Expansionsinteressen haben könnte. 4. Repräsentationen Kaum ein Essay aus dem Feld der Postcolonial Theory hat so viel kontroverse Diskussionen ausgelöst wie Gayatri Chakravorty Spivaks provokante Frage‐ stellung „Can the Subaltern Speak? “ 15 Spivak vertritt darin die These, dass Subalterne, die abgeschnitten sind von jeglicher Mobilität der fremden und auch der einheimischen Eliten, sich kein Gehör verschaffen können, weil sie niemals als Subalterne gehört, sondern stets für andere Interessen vereinnahmt würden, wenn sie überhaupt öffentlich zu Wort kommen. In einem sehr interessanten Interview berichtet sie dann über diesen Essay: Ich habe nicht alle Reaktionen gelesen, die der Aufsatz provoziert hat. Der allgemeine Tenor der Reaktionen war, glaube ich, ich hätte nicht erkannt, dass die Subalternen doch sprechen. Von einigen wurde sogar behauptet, ich erlaube es dem Widerstand nicht, zu sprechen. Nun, ich glaube doch, dass mein Aufsatz zu kompliziert ist. […] Ich stand am Anfang von etwas. […] als ich von den Herausgeberinnen einer dem französischen Feminismus gewidmeten Nummer der Yale French Studies um einen Beitrag zum Thema gebeten wurde und als ich vom Critical Inquiry angefragt wurde, über dekonstruktiven Feminismus zu schreiben. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass etwas Seltsames passiert. […] Wie ich in ‚French Feminism Revisited‘ geschrieben habe, begann ich den Umstand, dass ich von zwei wichtigen US-Zeitschriften darum gebeten wurde, über französischen Feminismus zu schreiben, als problematisch anzusehen. 16 Das Problem, das Spivaks Essay thematisiert und auch im Interview zu ihrem Essay reflektiert, ist das identitätslogische Problem der Repräsentation schlechthin. Wer kann für wen sprechen? Wer spricht, wenn US-amerikanische Professor: innen wie der in Palästina geborene Edward Said, die in Indien geborenen Gayatri Chakravorty Spivak und Homi K. Bhabha, und der in Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0015 Postcolonial Studies - eine Chance für die Exegese? 111 17 Barack Obama, Bruce Springsteen, Renegades. Born in the USA. Dreams - Myths - Music, New York 2021: „What makes America exceptional isn’t our wealth or size or skyscrapers or military power. It’s the fact that America’s the only nation in human history that’s made up of people of every race, religion, and culture from every corner of the globe. And that we’ve had faith in our democracy, our common creed, to blend this hodgepodge of humanity into one people.“ Das ganze Buch dieser doch eigentlich beiden klugen und sympathischen US-Bürger ist ein erschreckendes Zeugnis eines naiven religiös überhöhten Nationalismus mit einem erstaunlichen moralischen Überlegenheitsgefühl und einer kompletten Ausblendung der Genozide an der indigenen Bevölkerung. den USA geborene und lebende Olúfémi Táíwo die Stimme erheben? Ist ihr gegenüber anderen Denkerinnen und Denkern - wie z. B. Julia Kristeva oder Michel Foucault, um nur zwei zu nennen, die noch glimpflich davonkommen - erhobener moralischer Zeigefinger nicht Ausdruck des US-amerikanischen Mo‐ ralismus und Überlegenheitsgefühls, wie er sich auch in dem Gespräch zwischen Barack Obama und Bruce Springsteen 17 findet. Ist der erbittert geführte Kampf zwischen eher an poststrukturaler und eher an marxistischer Theoriebildung orientierter Wissenschaftler: innen im Zeichen des postcolonial nicht lediglich ein inneres US-amerikanisches Problem der gesellschaftlichen Spaltung im Zeichen moralistischer Rechthaberei? Was hat aber die Frage der Repräsentation, die auch schon Denker wie Jacques Lacan oder Jacques Derrida stellten, mit der Exegese biblischer Texte zu tun? Grundlegendes, denn sie führt zu der hoch relevanten Frage nach dem Verhältnis von Ausleger und Auslegungsgegenstand: Welchen Anspruch haben Exeget: innen, wenn sie Bibeltexte analysieren, auslegen, interpretieren? Welche Haltung, welche Position nehmen sie gegenüber biblischen Texten ein? Was erwarten sie von ihrer eigenen Arbeit? Welche übergriffigen Machtphantasien impliziert etwa das Selbstverständnis als Exeget „Anwalt des Textes“ sein zu wollen, eine ziemlich hinkende Meta‐ pher, da Texte niemanden beauftragen können und diejenigen, die die Texte geschrieben haben, nicht mehr leben, sich also auch keinen Anwalt nehmen können. Und warum brauchen Texte eigentlich einen Anwalt? Ist mit dieser Metapher nicht eher so etwas wie eine Schutzmacht gemeint, demzufolge sich der Exeget vor den Text stellt, um ihn vor Verfremdung und Missbrauch zu schützen? Dann wären Exeget: innen so etwas wie bodyguards? So oder so scheint es sich um Gewalt- und Machtphantasien zu handeln. Der Exeget als „Anwalt des Textes“ möchte ihn mit seiner exegetischen Macht vor Gewalt beschützen. Aber wer entscheidet, wann einem Text Gewalt angetan wird, der Text oder sein Exeget als „Anwalt“, der weiß, was der Text „eigentlich“ sagen will? Der parajuristische Anspruch eines Anwaltexegeten beansprucht Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0015 112 Stefan Alkier 18 Um zumindest ein Beispiel für diese verurteilende und ersetzende Bibelkritik zu geben, verweise ich auf Musa W. Dube, Reading for Decolonization ( John 4: 1-42), Semeia 75 (1996), 37-60. Vgl. dazu auch im selben Heft die Kritik von Susan van Zanten Gallagher, Mapping the Hybrid World. Three Postcolonial Motifs, 229-240, insbes. 230. 19 Vgl. zu diesen drei interpretationsethischen Minimalforderungen Stefan Alkier, Fremdes verstehen wollen. Überlegungen auf dem Weg zu einer Ethik der Lektüre biblischer Schriften. Eine Antwort an Laurence L.-Welborn, in: ZNT-11 (2003), 48-59. notwendigerweise, die Stimme der Texte oder gar die seiner Autor: innen zu kennen und sie mit seiner eigenen Stimme adäquat zu repräsentieren. Sollte man davon nicht Abstand nehmen und besser zu einem „zeitgemäßen“, sub‐ jektivistischen und konstruktivistischen Selbstverständnis gelangen? Solchen Exeget: innen ginge es nur darum, eigene Lektüren zu konstruieren, also einen Beliebigkeitskonstruktivismus zu propagieren, der an den Lektüren anderer nicht mehr ernsthaft interessiert sein kann, weil es um nichts mehr geht. Jede: r macht halt gleichermaßen sein: ihr eigenes Ding. Zu schnell aber ist man dann auch nicht mehr an den Texten selbst interessiert, sondern nur noch daran, was sie zu repräsentieren scheinen - und das bestimmt dann wieder die je eigene Interpretation des Textes. Quasijuristisch landen biblische Texte so auf der Anklagebank, nun aber als Beschuldigte, als Protagonisten sexistischer Gewalt, als Komplizen des imperialen Kolonialismus. Sie werden dafür verurteilt, nicht das zu repräsentieren, was den Werten und Bedürfnissen der Auslegenden entspricht. Sie werden in ihrer vermeintlichen Scheinheiligkeit dekonstruiert, entlarvt, vorgeführt, ersetzt, weil sie nicht demokratisch, nicht gendergerecht, nicht humanistisch, kurz, nicht so sind, wie man sie zur Unterstützung der eigenen Weltsicht gern als Verbündete hätte. 18 Die herausfordernde und zum Teil auch verstörende Fremdheit biblischer Texte wird dann nicht als Anlass zur kritischen Auseinandersetzung wahrgenommen, sondern als zu beseitigendes Ärgernis. Die Einsicht in die Problematik der Repräsentation als solcher könnte aber aus der unnötigen Alternative „Anwaltexeget: innen vs. Anklageexeget: innen“ herausführen, wenn Hermeneutiken des Verdachts als repräsentationslogischer Holzweg erkannt würden und sich Exeget: innen mit dem begnügen würden, was sie als Interpret: innen zu leisten vermögen: Mit eigener Stimme ihre je eigene Lektüre des Textes mit Respekt vor der Gegebenheit der Textzeichen (Realitätskriterium), mit Respekt vor der aufrichtigen Wahrheitssuche anderer Interpret: innen (Sozietätskriterium) und mit der Einsicht in die geschichtliche, kulturelle, politische Bestimmtheit und Perspektivität der je eigenen Methodik, Fragestellung und Auslegung (Kontextualitätskriterium) klug und fleißig zu erarbeiten und mit anderen ergebnisoffen zu diskutieren. 19 Solche Auslegungen Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0015 Postcolonial Studies - eine Chance für die Exegese? 113 20 Vgl. Jörg Volbers, Perpektivität ist kein ‚Käfig‘. Eine kurze Einführung in den Schwer‐ punkt, Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 44 (2019), 241-249. Vgl. auch Vgl. Eckart Reinmuth, Positionen im Konflikt. Neutestamentliche Antagonismen in neuer Perspektive, in: Stefan Alkier (Hg.), Antagonismen in neutestamentlichen Schriften. Studien zur Neuformulierung der „Gegnerfrage“ jenseits des Historismus (Beyond Historicism - New Testament Studies Today-1), Paderborn 2021, 45-70. verstecken sich dann nicht mehr hinter der vermeintlichen Stimme des Textes, mit der ihre eigene Stimme identitätslogisch verschmilzt, sondern akzeptieren die grundlegende Differenz zwischen Ausleger: in und Auslegungsgegenstand. Sie übernehmen damit die Verantwortung für ihre exegetische Stimme im Konzert oder aber auch im Streit der Auslegungen. Gerade das, was Exegese und Interpretation sein kann und sein will, bedarf einer auch von postkolonialer Theorie angeregten Selbstreflexion der Präsuppositionen, Repräsentationskon‐ zepte, impliziten Machtdiskurse, Grenzziehungen und Denkverbote alt- und neutestamentlicher Wissenschaft. Wie, mit welchen Themen und welchen Methoden kann engagierte Exegese im globalen Netzwerk von Freundinnen und Freunden des Wortes in gemeinsamer inter- und transdisziplinärer Arbeit an Entwürfen und Gestaltungen einer besseren Welt mitwirken? Was ist wissenschaftlich verantwortbar und redlich sagbar und was nicht? Welche Fragestellungen sind es wert, mit viel Zeit und Geld bearbeitet zu werden? 5. Fazit Das Wichtigste vor allem anderen, wozu postkoloniale Theoriebildung bei‐ tragen kann, ist die verstärkte Einsicht in die Perspektivität jeglicher Wissens‐ bildung, auch die der so leistungsfähigen europäischen Aufklärung mit all ihren Ambivalenzen, die schon die frühen Romantiker kritisierten und in die Schranken wiesen. Das ist sicherlich keine neue Erkenntnis, auf die postkolo‐ niale Theoriebildung ein Urheberrecht einklagen könnte, aber sie könnte zu einem Katalysator für die Verbreitung dieser Einsicht werden. Perspektivität 20 als Standortgebundenheit darf dabei keinesfalls mit subjektiver Beliebigkeit verwechselt werden. Jede und jeder sieht von seiner Perspektive aus etwas, das die anderen so nicht in den Blick bekommen, und nicht als bloße Konstruktion des selbstherrlich autonomen Subjekts abgetan werden kann. Für diejenigen, die an aufrichtiger Wahrheitssuche und lebensrelevanter Erkenntnis interessiert sind, ist das Grund genug, Interesse an dem zu haben, was andere sehen, denken und sagen. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0015 114 Stefan Alkier © Stefanie Alkier-Karweick Prof. Dr. Stefan Alkier ist seit 2001 Professor für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche am Fach‐ bereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt/ Main. Er gibt den neutestamentlichen Teil des bibelwissenschaftlichen Internetlexikons www.wib ilex.de heraus. Zusammen mit dem Gräzisten Thomas Paulsen fertigt er eine philologisch-kritische Überset‐ zung aller neutestamentlichen Texte an; die Bände 1- 4 des „Frankfurter Neuen Testaments“ sind bereits er‐ schienen. In der von ihm begründeten Buchreihe „Biblische Argumente in öffentlichen Debatten“ hat er zuletzt zwei Bände zum Thema „Zuver‐ sichtsargumente - Biblische Perspektiven in Krisen und Ängsten unserer Zeit“ herausgegeben. Sein semiotisch-kritischer Ansatz vereint kritische philologische und historische Forschung mit Fragen der Gegenwartsrele‐ vanz biblischer Texte. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0015 Postcolonial Studies - eine Chance für die Exegese? 115