eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 26/52

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2023-0017
121
2023
2652 Dronsch Strecker Vogel

Postkoloniale und missbrauchssensible Exegese

121
2023
Judith König
znt26520117
Hermeneutik und Vermittlung Postkoloniale und missbrauchssensible Exegese Partnerinnen oder Rivalinnen im Anliegen einer kontextrelevanten Bibelwissenschaft? Judith König 1. Einleitende Gedanken und zentrale Fragestellung Biblische Texte lassen sich auf vielfältige Weise erschließen, sie können mit unterschiedlichsten Methoden und aus beinahe zahllosen Perspektiven bear‐ beitet werden. Die moderne Literaturwissenschaft hat dabei auch in der Bi‐ belwissenschaft zu der zentralen Einsicht geführt, dass den Leser: innen eine ganz entscheidende Rolle in der Konstitution des Sinns eines Textes zukommt. Leser: innen nehmen Texte - auch biblische Texte - nicht einfach passiv auf, sondern bringen sich selbst, ihre Vorerfahrungen, Perspektive, Hoffnungen, Wünsche und Ängste aktiv in die Begegnung mit dem Text ein, dessen Sinn sich erst in dieser Begegnung erschließen kann. Das bedeutet auch, dass die Herausforderungen, die eine Annäherung an Texte der Bibel mit sich bringt, nicht einfach für alle Leser: innen identisch sind. Dies führt dazu, dass es auch risikoreich sein kann, sich der Sammlung biblischer Texte anzunähern, obwohl sie ungeheures Potential für persönliches und kollektives Empowerment birgt. Neben persönlichen Vorerfahrungen beeinflusst auch die Einbindung in Deu‐ tungs- und Auslegungsstrukturen die Art und Weise, wie biblische Texte gelesen werden, und ob sie das lebensdienliche und emanzipatorische Potential auch entfalten können, das in ihnen liegt. Dieser Beitrag möchte diesen grundlegenden Umstand anhand eines kon‐ kreten Textes und zweier hermeneutischer Perspektiven näher untersuchen und fragt davon ausgehend danach, ob (und wenn ja, wie) eine postkoloniale und missbrauchssensible Exegese von Offb 17 fruchtbar miteinander in Verbindung gebracht werden können. Dazu wird zunächst ein genauer Blick auf Offb 17 und 1 Die Übersetzung von pornē als ‚Hure‘ versucht möglichst nahe an die Konnotationen heranzukommen, die frühen Leser: innen der Offenbarung des Johannes mit dem Begriff verbunden haben könnten. Gewählt wurde deshalb bewusst keine neutrale Bezeichnung wie ‚Prostituierte‘ oder ‚sex worker‘ sondern eine, die auch im Deutschen den pejorativen Charakter des griechischen pornē (zumindest in der Offb) beibehält. 2 Dieser Aufsatz nimmt damit auch ein Anliegen auf, das in einer früheren Veröffentli‐ chung der Autorin formuliert worden ist (vgl. Judith König, The ‚Great Whore‘ of Babylon [Rev-17] as a Non-Survivor of Sexual Abuse, in: Religions 13.3 [2022], 267). 3 Für weitere Details zu dieser äußerst spannenden Frage vgl. Julia Snyder, The Canon of the New Testament, in: Patrick Gray (Hg.), The Cambridge Companion to the New Testament, Cambridge 2021, 333-347, und sehr ausführlich Tobias Nicklas, Revelation and the New Testament Canon, in: Craig R. Koester (Hg.), The Oxford Handbook of the Book of Revelation, Oxford 2020, 361-375. spezifisch die Figur der ‚gewaltigen Hure‘ 1 (pornē megalē) geworfen und ihre Eigenart als personifizierte Stadt bedacht. In einem nächsten Schritt werden wichtige Erkenntnisse einer postkolonialen wie einer missbrauchssensiblen Auslegung der Schilderung von der Vernichtung Babylons in Offb 17 vorgestellt, bevor in einem letzten Schritt nach Möglichkeiten einer produktiven Verbin‐ dung beider - in den Augen der Autorin elementarer - Lesarten gesucht wird. 2 2. Methodischer Zugang Diese Untersuchung wird sich Offb 17 aus narrativer Perspektive nähern. Der Text wird im Close Reading untersucht werden, das auch intertextuelle Verbindungen zu anderen - genauer: alttestamentlichen - Texten ernst nimmt. Der historische Kontext der Offb wird aber zusätzlich in der Vorstellung postko‐ lonialer Zugänge zu Offb 17 ebenso eine Rolle spielen wie in den grundlegenden Bemerkungen zur Eigenart der Figur der ‚gewaltigen Hure‘ Babylon. Schließlich sollen auch einige der vielfältigen und divergierenden Perspektiven moderner Leser: innen in den Blick genommen werden. 3. Die Schilderung der Vernichtung Babylons in Offb-17 Der Beispieltext, an dem der Frage nach einer produktiven Verbindung miss‐ brauchssensibler und postkolonialer Bibellektüre nachgegangen werden soll, ist der Offenbarung des Johannes entnommen, einem Text, der wie kein zweiter in der christlichen Bibel umstritten war und es bis heute ist. Dies lässt sich aus historischer Perspektive eindrucksvoll an einem Blick auf die hochkomplexe Geschichte der Offb als Teil einer Sammlung heiliger Schriften erkennen. 3 Wer der Offb in welchem (Verwendungs-)Kontext welchen autoritativen Status zuer‐ kannte, war in Antike und Spätantike regional stark unterschiedlich. Besonders Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 118 Judith König 4 Vgl. Nicklas, Revelation (s. Anm. 3), 366 mit Bezugnahme auf Bruce Metzger, The Canon of the New Testament. Its Origin, Development, and Significance, Oxford 1987, 223f. 5 Vgl. exemplarisch für die Problematisierung der Gewaltdarstellung in der Offb Konrad Huber, der von „massive[r] und erschreckend brutale[r] Gewalt“ spricht (Konrad Huber, Vernichtungsphantasien eines Fanatikers? Gewalt in der Offenbarung des Johannes, in: Thomas Hieke/ Konrad Huber [Hg.], Bibel um-gehen. Provokative und irritierende Texte der Bibel erklärt, Stuttgart 2022, 306-312, hier 307). Problematisiert wird die Gewaltdarstellung in der Offb etwa auch in Gerd Häfner, Anstößige Texte im Neuen Testament, Freiburg u.-a. 2017, 199. 6 In Offb 17,6 wird Babylon zumindest als Nutznießerin von Gewalt dargestellt, wenn sie „berauscht vom Blute der Heiligen und vom Blute der Zeugen Jesu“ ist. Kapitel 18 spielt (wohl) auf den Sklavenhandel Babylons an (vgl. Offb 18,13). Siehe dazu Eliza Rosenberg, ‚As She Herself Has Rendered‘. Resituating Gender Perspectives on Revelation’s ‚Babylon‘, in: Adela Yarbro Collins (Hg.), New Perspectives on the Book of Revelation (BETL 291), Leuven u. a. 2017, 545-560, hier 548. Offb 18,23f. wird noch expliziter und spricht von „Giftmischerei“ (pharmakeia) und davon, dass in Babylon „Blut von Propheten und Heiligen gefunden“ wurde. 7 Sofern nicht explizit anders gekennzeichnet folgen alle Zitate des deutschen Textes der Offb der Übersetzung des Frankfurter Neuen Testaments (Stefan Alkier/ Thomas Paulsen, Die Apokalypse des Johannes. Neu übersetzt und mit Einleitung, Epilog und Glossar [Frankfurter Neues Testament 1], Paderborn 2020), das gegenüber der Übersetzung der Einheitsübersetzung oder Lutherbibel den Vorteil hat, dass es sich in der Übersetzung besonders eng an den „syntaktischen, semantischen, pragmatischen und klanglichen Komponenten“ (Alkier/ Paulsen, Die Apokalypse, 3) des griechischen Textes orientiert - ohne freilich der Illusion zu unterliegen, stets alle der aufgezählten Komponenten berücksichtigen zu können. 8 Genau genommen begegnet die Stadtfrau Babylon den Leser: innen bereits im 14. Kapitel der Offb, wo ein Engel die Botschaft ihrer Vernichtung verkündet. Auch dort wird sie bereits als ‚Hure‘ gekennzeichnet, tritt aber als handelnde Figur noch nicht selbst in Erscheinung: „Und ein anderer Engel, ein zweiter, folgte ihnen sprechend mit lauter im Osten blieb die Offb lange umstritten; für Armenien ist etwa erst am Ende des 12. Jahrhunderts eine Übersetzung der Offb ins Armenische belegt, die auch explizit als Teil des Neuen Testaments kanonischen Status besaß. 4 Und auch wenn für die katholische, orthodoxe und protestantische Tradition heute weitgehend unbestritten ist, dass die Offb Teil des Neuen Testaments ist, regt sich auch heute Kritik an ihr. Ein ‚Stein des Anstoßes‘, der für die hier angestrebte Untersuchung besonders relevant ist, stellt die explizite und häufige Darstellung von Gewalt in der Offb dar. 5 Diese Gewalt wird von unterschiedlichen Akteur: innen verübt und richtet sich gegen die Natur ebenso wie gegen verschiedenste Erzählfiguren. Eine Sonderposition unter denen, die in der Offb Gewalt anwenden 6 und denen, die Opfer von Gewalt werden, nimmt die sog. ‚Stadtfrau‘ Babylon ein. Sie wird den Leser: innen in Offb 17,1 als „die Hure, die große“ 7 vorgestellt. 8 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 Postkoloniale und missbrauchssensible Exegese 119 Stimme: ‚Gefallen, gefallen ist Babylon, die Große, die von dem Wein des Ingrimms ihrer Hurerei zu trinken gegeben hat allen Völkern.‘“ (Offb-14,8) Nachdem einer der sieben Engel dem Seher in Offb 17,1 angekündigt hatte, er werde ihm „das Urteil über die Hure, die große“ zeigen, löst der Engel dieses Versprechen auch ein. Johannes sieht „eine Frau sitzend auf einem Tier“ (Offb 17,3), die mit purpur- und scharlachroten Gewändern bekleidet ist und kostbaren Schmuck trägt (vgl. Offb 17,4). In ihrer Hand hält sie „einen Becher, einen goldenen, in ihrer Hand voll von Abscheulichkeiten und hinsichtlich des Unreinen ihrer Hurerei“ (Offb 17,4). Sie ist betrunken vom „Blute der Heiligen und vom Blute der Zeugen Jesu“ (Offb 17,6). In den nächsten Versen folgt ein Monolog des Engels, in dem er Johannes das siebenköpfige Tier mit den zehn Hörnern, auf dem Babylon sitzt, ebenso deutet wie das Wasser, an dem das Tier und Babylon verortet werden (vgl. Offb-17,7-15). Der Engel fährt fort: Und die zehn Hörner, die du gesehen hast, und das Tier, diese werden hassen die Hure und verlassen werden sie sie machen und nackt und ihre Fleischstücke werden sie essen und sie verbrennen im Feuer. Denn Gott gab in ihre Herzen auszuführen seinen Gedanken (Offb-17,16-17a). Bereits wenige Verse später verkündet ein anderer Engel die erfolgreich durch‐ geführte Vernichtung Babylons (vgl. Offb 18,1), die mit der Hurerei (porneia) Babylons begründet wird (vgl. Offb 18,3) und mit der Tatsache, dass „die Kaufleute der Erde aus der Macht ihrer Begierde reich wurden“ (Offb 18,3). Die folgenden Verse kontrastieren die große Trauer der Könige (basileis) und Handelsreisenden (emporoi) über Babylons Untergang (vgl. Offb 18,9-19) mit der Freude, die im Himmel über eben diese Vernichtung Babylons herrscht (vgl. Offb-19,1-4). Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 120 Judith König 9 Im Bewusstsein der Problematik einer Anwendung systematisierender Begriffe gegenwärtiger Debatten auf biblische Texte (vgl. dafür auch König, Babylon as a Non-Survivor [s. Anm. 2]) arbeitet dieser Aufsatz mit dem Begriff ‚sexualisierte Gewalt‘. Möglich ist dies deshalb, weil er in den Augen der Autorin ein Phänomen beschreibt, das sich auch in biblischen Texten prinzipiell erkennen lässt. Gemeint ist mit ‚sexualisierter Gewalt‘ die Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung durch Gewalt, die sich sexueller Mittel bedient um Interessen durchzusetzen, die selbst jedoch nicht primär sexuell sind - wie etwa Machtinteressen (vgl. Doris Reisinger/ Ute Leimgruber, Sexueller Missbrauch oder sexualisierte Gewalt? , in: feinschwarz.net, 2021 [https: / / www.feinschwarz.net/ sexueller-missbrauch-oder-sexualisierte-gewalt-ein-einspruch/ ; letzter Zugriff am 24.06.2023]). 10 Mutmaßlich hängt die fehlende Problematisierung auch mit der eindeutigen pejorativen Wertung zusammen, die der Text der Offb Babylon gegenüber vornimmt. Bereits in ihrer ersten Erwähnung als ‚Hure‘ kenntlich gemacht, ist sie sowohl durch sexuelle Verfehlungen als auch durch ihre Gefährlichkeit für die ‚Heiligen‘ unzweifelhaft als negativer Charakter gezeichnet. 11 Vgl. exemplarisch Gail Corrington Streete, The Strange Woman. Power and Sex in the Bible, Louisville 1997, bes. 155-158; Tina Pippin, Apocalyptic Bodies. The Biblical End of the World in Text and Image, London und New York 1999, und Caroline Vander Stichele, Re-Membering the Whore. The Fate of Babylon According to Revelation 17.16, in: Amy-Jill Levine/ Maria M. Robbins (Hg.), A Feminist Companion to the Apocalypse of John, London und New York 2009, 106-120. 12 Zum Phänomen der Stadtfrauen im AT vgl. die wichtigen Monografien von Christl Maier (Daughter Zion, Mother Zion. Gender, Space, and the Sacred in Ancient Israel, 4. Feministische Kritik und missbrauchssensible Lektüre von Offb-17: Die sexualisierte 9 und körperliche Gewalt an der Stadtfrau Babylon Während nicht unerhebliche Teile der neutestamentlichen Exegese die Gewalt, die Babylon angetan wird, zwar wahrnehmen aber nicht weiter problemati‐ sieren, 10 gibt es in der feministischen Bibelwissenschaft bereits seit mehreren Jahrzehnten eine kritische Auseinandersetzung mit der oben geschilderten Ankündigung der (und dem Bericht über die) Vernichtung Babylons. 11 Ein wichtiger Ansatzpunkt der feministischen Kritik, die ein wertvolles Fundament für eine missbrauchssensible Lektüre von Offb 17 bildet, ist die Beobachtung, dass in der Offb Babylon zwar an einigen Stellen eindeutig als Stadt erkennbar ist (vgl. Offb 18,2 und explizit Offb 17,18 und 18,10.16.18.19.21), sie an anderen Stellen aber ebenso eindeutig menschlich, genauer: weiblich personifiziert wird. Sie ist eine ‚Stadtfrau‘. Mit diesem Begriff bezeichnet die Bibelwissenschaft das vor allem im Alten Testament häufig vorkommende und auch außerhalb biblischer Texte belegte Phänomen, geografische Gebiete und besonders Städte weiblich zu personifi‐ zieren. 12 Dies kann sowohl durch bildliche Darstellung (z. B. auf Münzen Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 Postkoloniale und missbrauchssensible Exegese 121 Minneapolis 2008) und Milena Heussler (‚War deine Hurerei noch zu wenig? ‘ Zur Metapher der Stadtfrau Jerusalem, Zürich 2021). - Der Zusammenhang von Geschlecht und Land in der Bibel beschränkt sich nicht auf das Phänomen der ‚Stadtfrauen‘. So betont etwa Musa Dube die Tatsache, dass in imperialistischen Narrativen, die sich auch in der Bibel finden, weibliche Erzählfiguren geografische Gebiete repräsentieren können: „In general, if a woman is met, her affections won, then the land she represents will also be entered and domesticated by the colonizer, or it is at least available for the taking of the colonizer, if so desired.“ (Musa Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, St. Louis 2000, 76). 13 Im AT werden beispielsweise besonders häufig Jerusalem/ Zion entsprechend weiblich personifiziert dargestellt, daneben aber z. B. auch Samaria, Niniveh und Babylon (vgl. dazu u. a. Vander Stichele, Re-Membering [s. Anm. 11], 109-110). Für den nicht-literarischen Bereich weist Maier z. B. auf die Darstellung Antiochias als sitzende Frau mit zinnenbewehrter Krone aus dem 3. Jh. v. Chr. hin (vgl. Maier, Daughter Zion [s.-Anm.-12], 68). 14 Vgl. dazu J. Cheryl Exum, Plotted, Shot and Painted. Cultural Representations of Biblical Women, Sheffield 1996, 104, und Nesina Grütter, Die Blöße der Stadt-Frauen. Überle‐ gungen zur Verwendung der Substantive αἰσχύνη und ἀσχημοσύνη in der Septuaginta, in: Eberhard Bons/ Patrick Pouchelle/ Daniela Scialabba (Hg.), The Vocabulary of the Septuagint and Its Hellenistic Background, Tübingen 2019, 14-29, hier 18-19. 15 Vgl. dazu etwa Ulrike Sals, Die Biographie der ‚Hure Babylon‘. Studien zur Intertextu‐ alität der Babylon-Texte in der Bibel, Tübingen 2004, 31. Sals weist auf Jes 47, Ez 16 und-23 sowie Nah-3 hin. 16 Thomas Hieke geht davon aus, dass bis zu 30% des Textes der Offb in hohen Maße von alttestamentlichen Intertexten beeinflusst sind (vgl. Thomas Hieke, Die literarische und theologische Funktion des Alten Testaments in der Johannesoffenbarung, in: Stefan Alkier/ Thomas Hieke/ Tobias Nicklas [Hg.], Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse [WUNT-I/ 346], Tübingen 2015, 271). oder in Form von Statuen) als auch in literarischer Form erfolgen. 13 Im Alten Testament ist dabei auffällig, dass sowohl die Körperlichkeit der Stadtfrauen betont wird als auch ihre spezifisch weiblichen Geschlechterrollen. Häufig steht dabei ihre Sexualität im Fokus: Die Stadtfrauen werden (oder wurden) geheiratet (vgl. z. B. Ez 16,8; Hos 2,20; Jer 2,2) und sie gebären (vgl. z. B. Jes 66,7; Jer 49,24; Ez 23,4). Ihre Brüste werden beschrieben (vgl. z. B. Ez 16,7; 23.3.8.21) und das Entblößen ihrer Genitalien wird erwähnt (vgl. z. B. Ez 23,39; Jes 47,3; Hos 2,9). 14 In einigen der alttestamentlichen Texte, die den Leser: innen Stadtfrauen präsentieren, werden letztere auch mit sexualisierter Gewalt für eigene sexuelle Aktivität bestraft 15 - ebenso wie Babylon in Offb 17. Besonders vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Offb im Allgemeinen häufig auf alttestamentliche Intertexte für die Sinnkonstitution der eigenen Erzählung verwiesen ist, 16 und dass prophetische Texte, in denen auch die oben erwähnten AT-Stadtfrauen häufig begegnen, zu den besonders häufig mit der Offb ver‐ Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 122 Judith König 17 Vgl. Adela Yarbro Collins, Rewritten Prophets. The Use of Older Scripture in Revelation, in: Alkier/ Hieke/ Nicklas, Poetik und Intertextualität (s.-Anm.-16), 291-300, hier 291. 18 Vgl. etwa Streete, Strange Woman (s. Anm. 11), 7-8 (wörtliches Zitat: 7). Ähnlich bei Brian Blount, Revelation. A Commentary, Louisville 2009, 323. Blount betont aber besonders das Motiv der Prostitution und beschränkt sich in den Beispielen nicht auf Stadtfrauen, sondern bezieht sich etwa auch auf Isebel (vg. 2-Kön-9,30-37). 19 Vgl. zur weiblichen Präsentation Babylons etwa Streete, Strange Woman (s. Anm. 11), bes. 153-157, Vander Stichele Re-Membering (s. Anm. 11), oder Blount, Revelation (s. Anm. 18), 310. Michelle Fletcher betont darüber hinaus: „she [d. h. Babylon, J. K.] is presented to the audience as a fleshly body, not just at the start […], but right through until the end of her destruction“ (Michelle Fletcher, Flesh for Franken-Whore. Reading Babylon’s Body in Revelation-17, in: Joan Taylor (Hg.), The Body in Biblical, Christian and Jewish Texts, London/ New York 2014, 144-164, hier: 152). 20 Kursivsetzung: Judith König. bundenen Texten gehören, 17 ist es plausibel, eine intertextuelle Verbindung der Stadtfrau Babylon aus Offb 17 mit den alttestamentlichen Stadtfrauen anzunehmen. Die Stadtfrauen können vor diesem Hintergrund als „scriptural protoype“ der ‚Hure Babylon‘ angesehen werden. 18 (Nicht nur) Vertreterinnen der feministischen Bibelwissenschaft haben auf dieser Basis argumentiert, dass Offb 17-18 nicht nur von der Zerstörung der Stadt Babylon erzählt, sondern - mindestens auch - von der körperlichen und sexualisierten Gewalt an einer weiblichen Erzählfigur, die mit ihrem Tod endet. 19 Wo und wie genau tritt Babylon in Offb 17 den Leser: innen der Offb nun aber als menschliche und weibliche Erzählfigur gegenüber? Bereits die erste Erwähnung Babylons in der Offb in Offb 14,8 verbindet Babylon mit dem Motiv der ‚Hurerei‘ (pornē). Im gleichen Zug wird Babylon rein sprachlich-grammatikalisch als weiblich vorgestellt: Es ist „von dem Wein des Ingrimms ihrer Hurerei (tēs porneias autēs)“ die Rede. 20 Offb 17,1 wird expliziter: Bevor überhaupt ihr Name genannt wird (die Namensnennung erfolgt erst in Offb 17,5) nennt der Engel die Figur „die Hure (pornē), die große“. Die nächste Information, die die Leser: innen über die ‚Hure‘ erhalten, ist die des Sitzens - zweifellos verstärkt dies die Anthropomorphisie‐ rung der Figur, auch wenn das Sitzen keine geschlechtsspezifische Tätigkeit ist. Offb 17,2 erwähnt die sexuelle Aktivität der „Könige der Erde“, die diese mit der ‚Hure‘ durchführen, und wiederholt leicht abgewandelt gegenüber Offb 14,8 die Rede vom „Wein ihrer Hurerei“. Im nächsten Vers wird die Figur schließlich eindeutig und explizit als Frau (gynē) bezeichnet und die Aussage wiederholt, dass sie (auf einem Tier) sitzt (vgl. Offb 17,3). Auch Offb 17,4 reaktiviert die Vorstellung Babylons als Frau, indem der Vers nicht nur die Bezeichnung gynē wiederholt, sondern zudem Gewand und Schmuck der Figur beschreibt. Auch die Verse sechs und sieben betonen die weibliche Personifikation, nachdem Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 Postkoloniale und missbrauchssensible Exegese 123 21 Kursivsetzung: Judith König. - Michael Bachmann macht sich für eine von den gegenwärtigen kritischen Textausgaben abweichende Akzentsetzung im griechischen Text stark, die einen Genuswechsel zur Folge hätte und die Übersetzung von ‚Mutter der Huren‘ zu ‚Mutter der Hurer‘ ändern würde (vgl. Michael Bachmann, Wo bleibt das Positive? Zu Offb 6,1f. und 17,5 in Rezeptionsgeschichte und Exegese, in: Martin Karrer/ Michael Labahn [Hg.], Die Johannesoffenbarung. Ihr Text und ihre Auslegung [ABIG-38], Leipzig-2012, 201-203). 22 Vgl. Fletcher, Flesh for Franken-Whore (s. Anm. 19), 152 mit Verweis auf David Aune und Elisabeth Schüssler-Fiorenza. 23 Einfügung in eckigen Klammern und Kursivsetzung: Judith König. 24 Für die Bezeichnung Babylons als Königin vgl. Offb-18,7. in Offb 17,5 die nächste spezifisch weibliche Beschreibung eingeführt worden war. Babylon ist nicht nur Frau und ‚Hure‘, sondern „die Mutter (mētēr) der Huren und der Abscheulichkeiten der Erde.“ 21 Offb 17,6 bezeichnet Babylon noch einmal explizit als Frau (gynē), ebenso wie Offb 17,7 und 9 - dort wird sie dann zum insgesamt sechsten Mal als Frau bezeichnet. In Offb 17,15 nennt der Engel Babylon erneut ‚Hure‘ (pornē). Auch in Offb 17,16 während der Beschreibung der Vernichtung Babylons wird diese als ‚Hure‘ (pornē) bezeichnet. Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass den Leser: innen klar, ist, dass es um das Schicksal einer Stadt geht. Auffallend ist trotzdem, dass den zahlreichen oben aufgezählten Bezeichnungen der Erzählfigur als ‚Hure‘, Frau, und Mutter nur eine Erwähnung des Namens Babylon (vgl. Offb 17,5) gegenübersteht, und dass Babylon erst in Offb 17,18 explizit als Stadt (polis) bezeichnet wird - nach der Beschreibung ihrer Vernichtung in Offb 17,16. 22 Auch wenn es inhaltlich um das Schicksal einer Stadt gehen mag - erzählt wird in Offb 17,16, wie einer weiblichen Erzählfigur körperliche und sexualisierte Gewalt angetan wird. Denn Babylon wird von den zehn Hörnern und dem Tier, nicht nur gefressen (genauer: „ihre Fleischstücke“ werden gefressen) und „im Feuer“ verbrannt. Zuvor „werden [sie] hassen die Hure und verlassen werden sie sie machen und nackt“. 23 Offb 17,16 schildert damit den Fall der scheinbar so mächtigen Königin 24 Babylon „mit der zusammen hurten die Könige der Erde“ (Offb 17,2). Von der begehrten Sexualpartnerin wird sie zur Gehassten und Verlassenen und schließlich auch zu einer, die gewaltsam entblößt wird. Dass das Nacktsein Babylons in Offb 17,16 nicht freiwillig geschieht, markiert der Text deutlich. Die ‚Hure‘ wird von den Hörnern und dem Tier nackt gemacht (poiēsousin autēn … gymnēn). Die sexuelle Konnotation des Nackt-Seins in Verbindung mit der Herbeiführung dieses Zustandes durch andere und der Tatsache, dass das gewaltsame Entblößen von brutaler körperlicher Gewalt flankiert wird, rechtfertigt die Bezeichnung des in Offb 17,16 Geschilderten als sexualisierte Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 124 Judith König 25 Für eine Definition des Begriffs ‚sexualisierte Gewalt‘ siehe Anmerkung 9. - Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kommt John Marshall, der Isebel (vgl. Offb 2,22f.) und Babylon als Frauen „condemned by God to suffer sexual violence“ bezeichnet ( John Marshall, Gender and Empire. Sexualized Violence in John’s Anti-Imperial Apocalypse, in: Levine/ Robbins [Hg.], A Feminist Companion (s. Anm. 11), 17-32, hier 31). - Parallelen hat eine Bezeichnung erzwungener Nacktheit als sexualisierte Gewalt auch in der Diskussion um die Kreuzigung Jesu als sexualisierte Gewalt. Auch hier wird die erzwungene Nacktheit Jesu explizit thematisiert (vgl. etwa Jayme Reaves und David Tombs, Introduction. Acknowledging Jesus as a Victim of Sexual Abuse, in: Jayme Reaves/ David Tombs/ Rocio Figueroa (Hg.), When Did We See You Naked? Jesus as a Victim of Sexual Abuse, London 2021, 1-11, hier: 1). 26 Vgl. dazu die einflussreiche Monographie von Phyllis Trible, die die überwiegend sexualisierte Gewalt an Tamar, Hagar, der namenlosen Frau aus Ri 19 und der Tochter des Jeftah thematisiert und problematisiert: Phyllis Trible, Texts of Terror. Literary-Feminist Readings of Biblical Stories, Philadelphia 1984. - U. a. Irmtraud Fischer wendet den Begriff „Terrortexte“ dann auch auf die Erzählungen an, in denen den (alttestamentlichen) Stadtfrauen Gewalt angetan wird (vgl. Irmtraud Fischer, Liebe, Laster, Lust und Leiden. Sexualität im Alten Testament [Theologische Interventionen 5], Stuttgart 2021, 164). 27 Vgl. etwa Barbara Rossing, The Rapture Exposed. The Message of Hope in the Book of Revelation, Boulder 2004, bes. 133 f.; Brian Blount, Can I Get a Witness? Reading Reve‐ lation through African American Culture, Louisville 2005, sowie bereits Allan Boesak, Comfort and Protest. Reflections on the Apocalypse of John of Patmos, Philadelphia 1987, bes. 111-122, und Pablo Richard, Apocalypse. A People’s Commentary on The Book of Revelation, Maryknoll 1995, bes. 122f. Gewalt. 25 Für die Theologie - besonders für eine solche Theologie, die sich ihrer Verantwortung auch in Auseinandersetzung mit kirchlichem Handeln bewusst ist - ergibt sich daraus im Jahr 2023 ein massives Problem: Wer die Darstellung Babylons als weiblich personifizierter Erzählfigur ernst nimmt muss sich damit auseinandersetzen, dass in einem Text, der als Teil der Sammlung heiliger Schriften eine normative Position für die eigene Religionsgemeinschaft besitzt, sexualisierte Gewalt an einer weiblich-anthropomorphen Erzählfigur nicht nur erzählt wird. Vielmehr wird diese Gewalt auch explizit als göttlich veranlasst beschrieben (vgl. Offb 17,17; 18,5.20) und damit von höchster Stelle legitimiert. 5. Postkoloniale Kritik: Die Vernichtung Babylons als Triumph über die Kolonialmacht Rom? Die Erzählung von der Vernichtung Babylons lässt sich aber nicht nur als „text of terror“ 26 lesen, der die gewaltsame Kontrolle weiblicher Sexualität mit den Mitteln (sexualisierter) Gewalt göttlich legitimiert, sondern ganz im Gegenteil auch als Text, der seinen Leser: innen Hoffnung macht - Hoffnung auf göttliche Befreiung aus Unterdrückung. 27 Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 Postkoloniale und missbrauchssensible Exegese 125 28 Gelegentlich werden auch die Jahre kurz vor oder nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels für die Datierung der Offb vorgeschlagen. Für eine Zusammenstellung der Datierungsansätze und der dafür aufgeführten Argumente vgl. Akira Satake, Die Offenbarung des Johannes (KEK 16), Göttingen 2008, 51-58, und Martin Karrer, Johannesoffenbarung (Offb. 1,1-5,14) (EKK 24/ 1), Ostfildern 2017, 50-70. - Die Adressat: innen-Frage ist weitgehend unbestritten. 29 Für eine ausführliche Untersuchung zur Geschichte der römischen Kolonien in Klein‐ asien vgl. Eckhard Stephan, Honoratioren, Griechen, Polisbürger. Kollektive Identitäten innerhalb der Oberschicht des kaiserzeitlichen Kleinasien (Hypomnemata 143), Göt‐ tingen 2002 (bes. Kapitel-3.1. Römische Provinzialverwaltung). 30 Vgl. dazu etwa Blount, Can I Get a Witness? (s. Anm. 27), ixf.; Stephen Moore, The Revelation to John, in: F. Segovia und R. Sugirtharajah (Hg.), A Postcolonial Commentary on the New Testament Writings (The Bible and Postcolonialism 13), London 2009, 436-454, hier 441, und Rossing, Rapture Exposed, bes. 105-106 und 157-158. Die oben angeführten Linien der Forschung zur Offb als Imperiumskritik bleiben notwendigerweise holzschnittartig. Für eine ausführlichere Beschäftigung mit wichtigen Argumenten sowie den Vorschlag, die Offb differenzierter und damit weder ausschließlich überzeitlich-mythologisch noch rein imperiumskritisch zu lesen vgl. Tobias Nicklas, Die Johannesapokalypse zwischen Sozialkritik, Geschichtsdeutung und ‚Mythos‘, in: Cambry Pardee/ Jeffrey Tripp (Hg.), Sacred Texts & Sacred Figures. The Reception and Use of Inherited Traditions in Early Christian Literature (Festschrift Edmondo F. Lupieri; Judaïsme antique et origins du christianisme 25), Turnhout 2022, 201-232. 31 Marshall, Gender and Empire (s.-Anm.-25), 32. 32 So etwa bei Streete, Strange Woman (s. Anm. 11), 153; Blount, Revelation (s. Anm. 11), 274 und 314; Klaus Berger, Die Apokalypse des Johannes. Kommentar, Bd. 2), Freiburg i. Br. 2017, 1188; Lynn Huber, Revelation, in: Benjamin H. Dunning (Hg.), The Oxford Handbook of New Testament, Gender, and Sexuality, Oxford 2019, 349-369, hier 355, und Lynne St. Clair Darden, Scripturalizing Revelation. An African American Postcolonial Reading of Empire (SemeiaSt 80), Atlanta 2015, 120 und 136. - Anders Edmondo Lupieri, der es für wahrscheinlicher hält, dass die Leser: innen Babylon Diese Lesart ergibt sich zum einen im Blick auf die Entstehungssituation der Offb als plausible Leseperspektive früher Leser: innen. Folgt man der Mehrheit der gegenwärtigen Forschung zur Offb, lässt sich der Text in das späte 1. oder frühe 2. Jahrhundert datieren und als Erzählung verstehen, die sich an Christusanhänger: innen in Kleinasien richtet 28 - einem Gebiet, das im 1. und 2. Jahrhundert vom Imperium Romanum kontrolliert wurde. 29 Zahlreiche Exeget: innen interpretieren vor diesem historischen Hintergrund die Offb als einen Text der mehr oder weniger offenen Kritik am Imperium Romanum und als einen Text der Ermutigung für diejenigen, die unter der Brutalität des Imperiums und seiner Zwänge litten. 30 So betont etwa John Marshall: „Revelation is a document of resistance to Rome’s colonial empire.“ 31 Auch Offb 17-18 spielen in dieser Lesart der Offb eine wichtige Rolle, wird die ‚große Hure‘ Babylon doch üblicherweise als Chiffre für Rom verstanden: 32 „She is Rome. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 126 Judith König mit Jerusalem identifizieren sollen (vgl. Edmondo Lupieri, A Commentary on the Apocalypse of John, Grand Rapids 2006, bes. 223-225). Aufgenommen wurde diese Interpretationsmöglichkeit in jüngerer Zeit etwa von Francis Moloney, The Apocalypse of John. A Commentary, Grand Rapids 2020, bes. 260. 33 Blount, Revelation (s.-Anm.-11), 323. 34 So verweist Michael Bachmann etwa darauf, dass die „Johannesoffenbarung in Krisen‐ zeiten der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit - etwa unter dem südafrikanischen Apartheidsystem […] als Trostschrift gelesen wurde und wird“ (Bachmann, Wo bleibt das Positive? [s.-Anm.-21], 198). Vgl. auch Rossing, Rapture Exposed, 127. 35 Freilich ist in der Rezeptionsgeschichte der Offb auch das Gegenteil zu finden, wenn Kolonialmächte etwa die Verheißung der tausendjährigen Herrschaft der Zeug: innen mit Christus in Offb 20 als Ermutigung für die eigene Tätigkeit lasen. So weisen Judith Kovacs und Christopher Rowland auf den spanischen Dominikaner und Missionar Francisco de la Cruz und seine Interpretation von Offb 20 im Licht der Kolonialisierung Südamerikas hin: „De la Cruz predicted the coming of an idyllic society free from the attacks of Satan […]. The millenium was the ideal model of a colonial society ruled by a morally liberal Creole aristocracy. The encomienda system, in which indigenous people would work for the colonizers in return for the protection of Spain, would continue within a hierarchical society“ ( Judith Kovacs/ Christopher Rowland, Revelation. The Apocalypse of Jesus Christ, Malden u.-a. 2004, 212). 36 Vgl. etwa Bachmann, Wo bleibt das Positive? (s. Anm. 21), 198; Boesak, Comfort and Protest, und Rosenberg, As She Herself Has Rendered (s. Anm. 6), 549-550 (mit Verweis u. a. auf Allen Callahan, The Talking Book. African Americans and the Bible, Yale und London 2006). […] [Together with the beast she] represents the reality of Rome’s power. The woman particularly represents Rome’s economic seduction.“ 33 Im Anschluss an diese Rekonstruktion der ursprünglichen Funktion des Textes als Ermutigung in der Situation des Leidens unter einer brutalen Kolo‐ nialmacht wurde die Offb über die Jahrhunderte hinweg aber auch in anderen historischen Kontexten als Text gelesen, der im Angesicht von Unterdrückung die Hoffnung auf göttliche Gerechtigkeit kommuniziert. 34 Dies ist auch - und in besonderer Weise - in solchen Kontexten zu beobachten, die besonders spürbar von kolonial-rassistischen Strukturen geprägt waren und sind. 35 Neben dem Apartheid-Regime in Südafrika werden dabei in der Forschungsliteratur immer wieder auch die Sklaverei in Nordamerika des 17. bis 19. Jahrhundert genannt. 36 Wandelt sich vor diesem Hintergrund das Gesicht von Offb 17-18? Schließ‐ lich ist aus postkolonial-exegetischer Perspektive stets die zentrale Frage zu berücksichtigen, die Musa Dube in ihrem Aufsatz Rahab Says Hello to Judith (2003) stellt: „Do they [i.e. biblical texts] provide us with any paradigm for relations of liberating interdependence in economic, political, and cultural spheres? Or do they provide for oppressive relations, and, if so, how can our Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 Postkoloniale und missbrauchssensible Exegese 127 37 Musa Dube, Rahab Says Hello to Judith. A Decolonizing Feminist Reading, in: Fernando F. Segovia (Hg.), Toward a New Heaven and a New Earth. Essays in Honor of Elisabeth Schüssler Fiorenza, Maryknoll 2003, 54-72, hier 55. 38 Dube, Postcolonial Feminist Interpretation (s.-Anm.-12), 17. 39 James Resseguie interpretiert die Aufzählung der 28 (4 x 7) verschiedenen Waren, die die Kaufleute in Offb 18,12f. als die Dinge aufzählen, die sie vorher an Babylon verkauft hätten, als Symbol der vollkommenen „world-wide dominance“ Babylons ( James Resseguie, The Revelation of John. A Narrative Commentary, Grand Rapids 2009, 230). 40 Vgl. Rosenberg, As She Herself Has Rendered (s.-Anm.-6), bes. 548-549. 41 Dass der Hinweis auf Sklav: innen die Aufzählung beschließt und infolgedessen an besonders exponierter Stelle in der Aufzählung steht, betont etwa Rosenberg, As She Herself Has Rendered (s.-Anm.-6), 548. 42 Vgl. dazu etwa Jennifer Glancy, Slavery in Early Christianity, Oxford 2002, 10, und Rosenberg, As She Herself Has Rendered (s.-Anm.-6), 548. reading practices transform them into liberating texts? “ 37 In anderen Worten: „a postcolonial reader is challenged to ask […] how to read for empowering the disempowered areas and races or creating a better system.“ 38 Vor diesem Hintergrund sollte in der Tat das rassismus- und kolonia‐ lismus-kritische Potential der Offb ernstgenommen werden. Für die Lektüre von Offb 17 und 18 bedeutet dies, dass es zumindest widerspruchslos möglich ist, die Vernichtung der ‚großen Hure‘ als Befreiung von einer imperialen Macht zu lesen, die enormen wirtschaftlichen Einfluss hat (vgl. Offb 18,3.11-13.15- 17.19) 39 und die sich überdies am Sklav: innenenhandel beteiligt. 40 Die Liste der Waren, die die Kaufleute nun nicht mehr an Babylon verkaufen können, schließt in Offb 18,13b mit dem Hinweis auf (Ware von) „Pferden und von Wagen und von Leibern und Leben von Menschen“. 41 Das bei Alkier und Paulsen als ‚Leiber‘ übersetzte sōma(ta) ist im Griechischen eine der gängigen Bezeichnungen für Sklav: innen. 42 Die Vernichtung Babylons beendet in dieser Perspektive gelesen nicht nur die (sexuell chiffrierte) Untreue der Menschen gegenüber Gott, sondern auch die Abhängigkeit und wirtschaftliche Ausbeutung durch die imperiale Macht ‚Babylon‘. 6. Missbrauchssensible und postkoloniale Perspektiven in Verbindung bringen? - 6.1. Forschungsethische Erwägungen Schließen sich missbrauchssensible und postkoloniale Lesarten der Offb also gegenseitig aus? Bleiben die sexuell missbrauchte und brutaler Gewalt ausge‐ Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 128 Judith König 43 Die Überlegungen oben beziehen sich bewusst auf den wissenschaftlichen Kontext. Selbstverständlich können in anderen Kontexten weitere Erwägungen eine wichtige Rolle spielen, darunter z. B. traumasensible Bibellektüren für die Begleitung von Überlebenden sexualisierter Gewalt. 44 Dube, Postcolonial Feminist Interpretation (s.-Anm.-12), 16. 45 Dube, Postcolonial Feminist Interpretation (s.-Anm.-12), 122. setzte weibliche Erzählfigur und die endlich für ihre Taten zur Rechenschaft gezogene Kolonialmacht unverbunden nebeneinander stehen? Eine solche Trennung beider Perspektiven hätte aus forschungsethischer Sicht ernsthafte Folgen. 43 Beide Lesarten würden dann nämlich jeweils einen Kontext aus‐ blenden, der aus gegenwärtiger Perspektive nicht einfach als einer unter vielen möglichen gesehen werden sollte, sondern in der deutschen theologi‐ schen Bibelwissenschaft in den Augen der Autorin des vorliegenden Beitrags besondere Beachtung finden muss. Diese prioritäre Bedeutung missbrauchs‐ sensibler und postkolonialer Bibellektüren ergibt sich zum einen aus der Ver‐ antwortung von Theologie für eine kritischen Analyse kirchlichen Handelns, das gegenwärtig ganz besonders in Bezug auf den Umgang mit sexualisierter Gewalt, Missbrauch und Vertuschung zu begleiten und hinterfragen ist. Zum anderen aber ist Deutschland ehemalige Kolonialmacht. „[This] challenges Western readers to be aware of their history of hegemonic power and to scrutinize their current interpretations to avoid repetition of the victimizing of non-Western races.“ 44 - 6.2. Die Impulse der postkolonialen Exegese Glücklicherweise fordert die postkoloniale Exegese nicht nur dazu auf, sich der eigenen Verantwortung als - im Fall der Autorin des vorliegenden Beitrags weiße europäische - Bibelwissenschaftlerin zu stellen. Sie bietet interessierten Leser: innen auch wertvolle Impulse, wie dies gelingen kann, ohne feministische (und im Fall von Offb 17-18: missbrauchssensible) Anliegen aufzugeben. Musa Dube betont: „feminist readers of colonizing nations can choose to also read for decolonization.“ 45 Für unseren Testfall Offb 17-18 wird dies deutlich, wenn man (und frau) sich vor Augen hält, dass Babylon nicht entweder als Opfer von körperli‐ cher und sexualisierter Gewalt interpretiert werden muss oder als besiegte Kolonialmacht. Stattdessen ist mit der Stadtfrau Babylon eine „ambivalent identification as representing both imperial power as well as a victim of Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 Postkoloniale und missbrauchssensible Exegese 129 46 Shanell Smith, The Woman Babylon and the Marks of the Empire. Reading Revelation with a Postcolonial Womanist Hermeneutics of Ambiveilence, Minneapolis 2014, 133 (Kursivsetzung: Judith König). 47 St. Clair Darden, Scripturalizing Revelation (s. Anm. 32), 138. Ähnlich bei Moore, der betont: „Revelation, though passionately resistant to Roman imperial ideology, paradoxically and persistently reinscribes its terms […]. For the divine empire that Revelation proclaims is anything but independent from the Roman Empire. Instead, it is parasitic on it“ Moore, Revelation (s.-Anm.-30), 451. 48 Moore, Revelation (s. Anm. 30), 446. Zur Problematik der Imitation imperialer Strukturen als Versuch des Empowerment vgl. auch Dube, Postcolonial Feminist Interpretation (s. Anm. 12), 37 (dort in Anwendung auf das Kyriarchie-Konzept Elisabeth Schüssler Fiorenzas). 49 St. Clair Darden, Scripturalizing Revelation (s.-Anm.-32), 155. oppression“ 46 verbunden. An der Figur der Stadtfrau Babylon und der Art und Weise, wie die Offb über ihr Schicksal erzählt, lässt sich nämlich exemplarisch zeigen, was die neuere postkolonial orientierte Exegese für die Offb insgesamt konstatiert: In der literarischen Inszenierung des kosmischen Kampfes gegen die Mächte des Bösen, zu denen auch Babylon gehört, erzählt die Offb nicht die Überwindung imperialer Systeme und ihrer Denkweisen. Stattdessen kann sie selbst als „recycled imperialism“ 47 interpretiert werden. In ihrem Versuch, den römischen Kaiserkult parodierend als schwach, ja letztlich satanisch, zu entlarven, gelingt es der Erzählung doch nicht, sich aus den vorherrschenden imperialen Mustern zu lösen. Stephen Moore betont: „[in Revelation, J. K.] parody or mockery of the imperial order constantly threatens to keel over into mimicry, imitation and replication“. 48 Dies gilt auch für die Beschreibung der Vernichtung Babylons in Offb 17 und 18. So wird die gewalttätige Macht ‚Babylons‘ mitnichten gewaltlos gebrochen. Stattdessen setzt sich die Gewalt, die ‚Babylon‘ in Offb-17 vorgeworfen wird, mit und auch nach ihrer Entmachtung ungebrochen fort: Instead of reconceptualizing the performances as preliminiary acts for establishing the nonviolent, peaceful, and holistic transformation of the old world into the new Jerusalem, John maintains the status quo and imagines a new world order founded on violence and bloodshed. 49 Diese ‚new world order‘ trägt auch außerhalb ihrer Charakterisierung als grundsätzlich gewalttätig deutlich imperiale Züge, wenn man einen Blick auf das Thema Sklaverei wirft. Auch wenn in Offb 18,13 die Beteiligung ‚Babylons‘ am Sklav: innenhandel markant am Ende der Liste ihrer Verfehlungen steht, ist das neue Imperium, dessen Sieg herbeigesehnt wird, mitnichten frei von Abhängigkeit. Zumindest sprachlich finden wir auch nach Offb 18 Sklav: innen: Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 130 Judith König 50 Vgl. Marshall, Gender and Empire (s. Anm. 25), 32. Für die Konstruktion eines Systems der Abhängigkeiten als eines der zentralen Kennzeichen von Imperialismus vgl. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation (s.-Anm.-12), 36. 51 Dube, Postcolonial Feminist Interpretation (s.-Anm.-12), 73. Dann, wenn von den ‚Knechten‘ Gottes (douloi - neben sōma ein weiterer geläufiger Begriff für Sklaven) die Rede ist (vgl. Offb-19,2.5; 22,3.6). 50 Und schließlich ist der Einsatz von Gewalt gegen Frauen innerhalb von Narrativen nicht nur Thema feministischer (und missbrauchssensibler) Ansätze, sondern elementarer Bestandteil postkolonialer Theorien. Denn: „imperialism employs gender relations to articulate ideologies of subordination and domi‐ nation.“ 51 Auch hinsichtlich dieses Prinzips bleibt die Offb in der imperialen Denklogik verhaftet: Kontrolle und Einfluss werden auch in Offb 17 und 18 über die Kontrolle weiblicher Sexualität ausgedrückt. Ein derartig kritischer Blick auf die Perpetuierung imperialer Strukturen durch ihre Reinszenierung in der Offb kann gleichzeitig auch ein feministischer und missbrauchssensibler - und damit ein intersektionaler - Blick auf die Offb sein. 7. Fazit Entscheidend dafür, ob biblische Texte das ihnen eigene Potential entfalten können, die befreiende Botschaft eines Gottes, der immer an der Seite der Unterdrückten steht, zu erzählen, ist der Kontext in denen sie gelesen, erzählt, gehört und diskutiert werden. Jedes In-Kontakt-Kommen mit biblischen Erzäh‐ lungen geschieht in einem komplexen Netz aus gesellschaftlichen, religiösen und individuellen Bezügen. Für den Kontext wissenschaftlicher Theologie in Deutschland scheint es der Autorin des vorliegenden Beitrags unverzichtbar darauf zu achten, mul‐ tiperspektivisch zu denken und sensibel besonders auch für die jeweiligen intersektionalen Verflechtungen zu bleiben. Ein konkreter Punkt für weitere Untersuchungen, die sowohl feministisch-missbrauchssensible als auch postko‐ loniale Perspektiven ernst nehmen möchten, könnte beispielsweise die genauere Untersuchung der Machtstrukturen auf den verschiedenen kommunikativen Ebenen von Offb 17-18 sein. Wie genau konstruiert und dekonstruiert die Erzählung Macht? Wer hat (keine) Macht über andere und warum? Ein multiperspektivisch-sensibler Blick auf den Text kann zusätzlich nur dann gelingen, wenn im wissenschaftlichen Diskurs auch die Perspektive derer wahr- und ernstgenommen wird, die von den verhandelten Fragen direkt betroffen sind. Der vorliegende Aufsatz hat versucht, dies nicht nur durch Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 Postkoloniale und missbrauchssensible Exegese 131 52 Zur elementaren Wichtigkeit der Auswahl von Sekundärliteratur für die Ausgewogen‐ heit wissenschaftlich-theologischer Diskurse vgl. Ute Leimgruber, ‚Hidden Patterns‘. Überlegungen zu einer machtsensiblen Pastoraltheologie, in: ET-Studies 11.2 (2020), 207-224, hier 220. intellektuelle Anstrengung, sondern auch durch die bewusste und zielgerichtete Auswahl der verwendeten Sekundärliteratur umzusetzen. 52 Judith König studierte Katholische Theologie in Re‐ gensburg. Seit November 2023 ist sie Akademische Rätin a.Z. am Lehrstuhl für Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments an der Universität Regensburg wo sie bereits seit 2017 forscht und lehrt. Ihre Forschungs‐ schwerpunkte liegen im Bereich der narrativen Exegese, Körperlichkeit, und Sexualität. Zeitschrift für Neues Testament 26/ 52 (2023) DOI 10.24053/ ZNT-2023-0016 132 Judith König