ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2024-0001
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2024
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Dronsch Strecker VogelDer Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion
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Konrad Schwarz
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1 Mein herzlicher Dank gilt Jens Schröter für eine Reihe inhaltlicher Anregungen zu diesem Beitrag. NT aktuell Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion Tendenzen und offene Fragen 1 Konrad Schwarz Paulus war Jude, er ist Zeit seines Lebens Jude geblieben und hat jüdisch gelebt. Dies gilt auch für die Zeit seit seiner Hinwendung zum Glauben an Jesus als „Christus“ und „Sohn Gottes“, in der er das Evangelium unter den nichtjüdi‐ schen Völkern verkündigte. In der Sicht der gegenwärtigen neutestamentlichen Wissenschaft gilt diese Einschätzung weithin als selbstverständlich. Zugleich schließen sich daran zahlreiche Fragen an, die die Paulusforschung insgesamt und insbesondere die Auslegung des Römerbriefs grundlegend beschäftigen. So wäre etwa genauer zu bestimmen, was es zur Zeit des Paulus bedeutete, jüdisch zu leben; in welchem Verhältnis die Sicht des Paulus auf Gott, die Tora, den Messias etc. zu derjenigen anderer jüdischer Gruppen seiner Zeit steht; welche Stellung nichtjüdischen Menschen zukommt, die den Gott Israels und Jesus als den Messias verehren, und welches Ethos für diese Menschen gelten soll. Als längster der erhaltenen Paulusbriefe und als derjenige, in dem Paulus das von ihm verkündigte Evangelium so grundsätzlich erörtert wie in keinem anderen Brief, ist der Römerbrief Gegenstand einer breiten internationalen Forschung. Die folgende Besprechung der neueren Römerbriefforschung muss sich daher notwendigerweise auf ausgewählte Aspekte der neueren Diskussion beschränken. Mit der Frage, an wen Paulus den Römerbrief adressiert hat, und mit der vielschichtigen Debatte, wie Paulus als christusgläubiger Jude im Kontext des Judentums seiner Zeit zu verstehen ist, sind zwei wichtige Eckpunkte genannt, die 2 Bereits der 1. Clemensbrief, der gegen Ende des 1. Jahrhunderts in Rom verfasst wurde, hebt Petrus und Paulus unter einer größeren Anzahl verfolgter und getöteter Christinnen und Christen als einzige namentlich hervor (1Clem-5f.). 3 Vgl. die Forschungsübersicht in Michael Wolter, Der Brief an die Römer. Teilband 1: Röm 1-8/ Teilband 2: Röm 9-16 (EKK 6/ 1-2), Neukirchen-Vluyn u. a. 2014-2019, hier Bd.-1, 32. die neuere Römerbriefforschung in grundlegender Weise erörtert. Im Anschluss an eine Diskussion dieser grundsätzlichen Fragen soll der Blick auf zwei konkrete Abschnitte des Römerbriefs gerichtet werden, in denen Paulus zum einen auf gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen eingeht (Röm 1,16f.) und zum anderen das Verhältnis der Christinnen und Christen zu den staatlichen Machthabern erörtert (13,1-7). Die intensive Diskussion dieser beiden Abschnitte ist dabei weniger mit ihrem argumentativen Gewicht innerhalb des Römerbriefs selbst verbunden als vielmehr mit ihrer umfangreichen Wirkungsgeschichte und ihrer Relevanz in den theologischen Diskursen der Gegenwart. 1. An wen hat Paulus den Brief adressiert? Die Debatte darüber, wer die Adressatinnen und Adressaten des Römerbriefs waren und in welcher Situation sie sich befanden, gehört seit Langem zu den Schlüsselfragen der Paulusexegese. Dieser Fragenkomplex ist von besonderer Bedeutung, weil sich daraus entscheidende Weichenstellungen für die Interpre‐ tation des Briefes ergeben. Eine wichtige Rolle spielen dabei zum einen die Auswertung der historischen Informationen, die Aufschluss über die Anfänge des Christentums in der Stadt Rom geben, zum anderen mögliche Indizien, die sich aus dem Brief selbst gewinnen lassen. Wenngleich sich gegen Ende des 1. Jahrhunderts die Verehrung der Apostel Petrus und Paulus als zentrale Figuren in der Erinnerung des römischen Christentums zu etablieren begann, 2 sind die ersten Christusgläubigen in Rom namentlich unbekannt. In der neutestamentlichen Wissenschaft werden die Anfänge des Christusglaubens in Rom seit langem in der jüdischen Bevölke‐ rung der Stadt gesehen. Neuere Schätzungen über die Größe des jüdischen Bevölkerungsteils in Rom in der Mitte des 1. Jahrhunderts gehen auseinander, sie bewegen sich jedoch im Bereich mehrerer zehntausend Menschen. 3 Zu berücksichtigen ist weiterhin, dass die Jüdinnen und Juden in Rom - im Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 6 Konrad Schwarz 4 In der neueren Forschung wird für Rom die Zahl von elf inschriftlich belegten Synagogen genannt. Obwohl von einer Vielzahl von Synagogen in der Mitte des 1. Jahrhunderts auszugehen ist und sich dafür Hinweise in der antiken Literatur finden, lassen sich die archäologischen Überreste nicht sicher in die Zeit Neros datieren; vgl. Karl-Wilhelm Niebuhr, Die Juden in Rom unter Nero. Intellektuelle Netzwerke, religiöse Praxis, geistige Horizonte, in: Christian Eberhart u. a. (Hg.), Tempel, Lehrhaus, Synagoge. Orte jüdischen Lernens und Lebens. FS Wolfgang Kraus, Paderborn 2020, 289-321, hier 301. 5 Iudaeos impulsore Chresto assidue tumultuantis Roma expulit (Claud.-25,4). 6 Vgl. Dietrich-Alex Koch, Geschichte des Urchristentums. Ein Lehrbuch, Göttingen 2 2014, 125. 7 Vorausgesetzt ist dabei, dass der Prozess vor dem Statthalter Gallio (Apg 18,12-17) mit Hilfe der sogenannten Gallio-Inschrift auf das Jahr 51/ 52 datiert werden kann, sodass sich die Ankunft des Paulus in Korinth auf das Jahr 49 oder 50 eingrenzen lässt. Die Datierung des Claudiusedikts auf das Jahr 49 wird außerdem durch eine Angabe des spätantiken Historikers Orosius aus dem 5. Jh. gestützt; vgl. Koch, Geschichte des Urchristentums (s.-Anm.-6), 126. 8 Anders als Paulus verwendet die Apostelgeschichte für Priska stets die Namensform Priszilla. Unterschied etwa zu Alexandria - nicht zentral organisiert waren, sondern mehrere Synagogengemeinden bildeten. 4 Diese Erkenntnisse bilden den Hintergrund für die Frage, wie das sogenannte Claudiusedikt zu bewerten ist. In der römischen Geschichtsschreibung wird dieses Edikt erstmals bei Sueton in seiner Claudiusvita vom Anfang des 2. Jahr‐ hunderts erwähnt. Im Zusammenhang mit den innenpolitischen Maßnahmen des Claudius fügt Sueton die kurze Notiz ein: „Die Juden, die sich von Chrestus ständig zu Unruhen anstiften ließen, vertrieb er aus Rom.“ 5 Bei „Chrestus“ han‐ delt es sich wahrscheinlich um eine irrtümliche Verschreibung für „Christus“, die auf Ähnlichkeiten in der Aussprache des Griechischen zurückzuführen ist. Ein Problem bei der Interpretation dieser Notiz besteht vor allem darin, dass die lateinische Formulierung mehrdeutig ist: Sie lässt sich entweder auf alle Juden der Stadt beziehen (im Sinne von „Da die Juden sich … zu Unruhen anstiften ließen …“), oder in begrenzter Weise auf „Diejenigen Juden, die … dauernd Unruhen verursachten …“ 6 Die Datierung des Ereignisses auf das Jahr 49 lässt sich vor allem aus einer Bemerkung in Apg 18,2 ableiten: 7 Lukas berichtet im Zusammenhang mit der Ankunft des Paulus in Korinth, dass er dort auf das jüdische Ehepaar Priska und Aquila trifft, 8 und erklärt, dass die beiden „vor Kurzem aus Italien gekommen“ waren, „weil Claudius angeordnet hatte, dass sich alle Juden aus Rom entfernen sollen.“ Die historischen Informationen über das Claudiusedikt stellten in der neu‐ testamentlichen Wissenschaft lange Zeit den wichtigsten Bezugspunkt dar, um die Situation der römischen Christusgläubigen zur Abfassungszeit des Briefs zu erörtern. So schlussfolgerte etwa Eduard Lohse, dass infolge des Edikts Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 7 9 Eduard Lohse, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 15 2003, 39; ähnlich u. a. bereits James D.-G. Dunn, Romans-1-8 (WBC-38A), Waco, Tex. 1988, liii. 10 So etwa Michael Theobald in einem Beitrag von 1983, der auf einen jüdischen Bevöl‐ kerungsanteil von schätzungsweise 20.000 Personen hinweist. Dennoch geht er von einer „Strukturverschiebung“ infolge des Edikts aus, sodass sich die Christusgläubigen nach und nach aus dem bisherigen Synagogenkontext lösten (Studien zum Römerbrief [WUNT-1/ 136], Tübingen 2001,-10). 11 Ausführlichere Berichte liegen dagegen über Tiberius vor, der ägyptische und jüdi‐ sche religiöse Praktiken einschränken ließ und Maßnahmen gegen deren Anhänger verhängte (vgl. Sueton, Tiberius 36; Tacitus, annales 2,85,4; Josephus, antiquitates judaicae-18,83). 12 Vgl. bereits John M. G. Barclay, Is it Good News that God is Impartial? A Response to Robert Jewett, Romans: A Commentary, in: JSNT-31 (2008), 89-111, hier 91-93. „der judenchristliche Teil der werdenden Christenheit in Rom zumindest stark geschwächt wurde, wenn nicht ganz verschwunden ist.“ 9 Nach dem Tod des Claudius habe das Edikt seine Gültigkeit verloren, sodass die Betroffenen, unter denen viele Christusgläubige waren, zurückkehren konnten. Die jüdischen Christusgläubigen hätten sich nun aber in der Minderheit gegenüber den nichtjüdischen Christusgläubigen wiedergefunden, weshalb es zu Spannungen zwischen beiden Gruppen gekommen sei. Gegen diese Darstellung wurden zwar gelegentlich Bedenken geäußert, dennoch schrieb man dem Edikt weiterhin gravierende Auswirkungen zu. 10 In der neueren Forschung werden jedoch grundlegende Einwände gegen diese Auswertung der historischen Informationen erhoben: Angesichts der mutmaßlichen Größe des jüdischen Bevölkerungsteils in Rom und wegen der dezentralen Organisation der Synagogen kann eine Ausweisung aller jüdischen Menschen historisch als sehr unwahrscheinlich gelten, da sie praktisch nicht durchsetzbar und kontrollierbar gewesen wäre. Vor allem ist die Erwähnung in den antiken Quellen, gemessen an der öffentlichen Wahrnehmbarkeit, die ein solches Ereignis gehabt hätte, zu spärlich, zumal der jüdische Historiker Flavius Josephus gar nicht davon berichtet. 11 Die neuere Forschung tendiert deshalb dazu, in dem Edikt eine Maßnahme des Kaisers mit mehr oder weniger begrenzter Reichweite zu sehen. 12 Demnach gehörten Priska und Aquila zu den jüdischen Christusgläubigen, die Rom verlassen mussten, und auch die Notiz, dass Paulus in Korinth bei ihnen wohnte (Apg 18,2), lässt sich damit verbinden, dass Priska und Aquila jüdisch waren. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass mehrere andere Personen von dem Edikt betroffen waren, deren Zahl jedoch unbekannt ist. Die prominente Nennung von Priska und Aquila in der Grußliste des Römerbriefs (16,3-5), wo auch eine „Versammlung“ von Chris‐ tusgläubigen (ekklēsia) in ihrem Haushalt erwähnt wird, bietet sodann einen Anhaltspunkt dafür, dass sie sich zur Abfassungszeit des Briefs wieder in Rom Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 8 Konrad Schwarz 13 Wolter, Römer (s. Anm. 3), Bd. 1, 41; ähnlich Alain Gignac, L’épître aux Romains (Commentaire biblique: Nouveau Testament-6), Paris 2014, 49f. 14 Markus Öhler, Römisches im Römerbrief ? Auf der Suche nach den Adressaten und Adressatinnen, in: Jörg Frey u. a. (Hg.), Paulusmemoria und Paulusexegese. Römische Begegnungen (Rom und Protestantismus-5), Tübingen 2023, 11-40, hier 19. 15 Mark D. Nanos, Der Brief des Paulus an die Römer, in: Wolfgang Kraus u. a. (Hg.), Das Neue Testament - jüdisch erklärt. Lutherübersetzung. Englische Ausgabe hg. v. Amy-Jill Levine und Marc Zvi Brettler, Stuttgart 2021, 304-341, hier 304. 16 Röm 1,5f.13; 11,13.17-24.28-32. Gegenüber der Wiedergabe von ethnē mit „Heiden“ hat die Übersetzung mit „Völker“ den Vorzug, dass damit eine innere Differenzierung angedeutet wird, dass es also verschiedene „Völker“ gibt. Zudem ist der deutsche Begriff „Heiden“ als Gegenbegriff zu „Christen“ geprägt. Bei Paulus ist diese Verwendung von ethnē jedoch selten und stets näher qualifiziert (1Thess 4,5; 1Kor 5,1; 12,2); vgl. dazu Esther Kobel, Paulus als interkultureller Vermittler. Eine Studie zur kulturellen befanden. Welche Auswirkungen das Claudiusedikt darüber hinaus auf weite Teile der jüdischen Bevölkerung in Rom hatte, ist dagegen ebenso unbekannt wie mögliche Folgen dieser Maßnahme in Bezug auf das Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Christusgläubigen. Für die Interpretation des Römerbriefs hält Michael Wolter deshalb pointiert fest: „Das Claudiusedikt hat zu keinem Zeitpunkt die Bedeutung gehabt, die ihm oft zugeschrieben wird.“ 13 Auch wenn das Claudiusedikt hinsichtlich seiner konkreten Auswirkungen inzwischen meist zurückhaltend diskutiert wird, finden sich in der gegenwär‐ tigen Forschung unterschiedliche Einschätzungen des Verhältnisses zwischen den christusgläubigen und den nicht-christusgläubigen Jüdinnen und Juden und den nichtjüdischen Christusgläubigen. Während sich Wolter zurückhaltend in dieser Frage äußert, nimmt etwa Markus Öhler an, dass zurückkehrende jüdi‐ sche Christusgläubige wie Priska und Aquila eine eigene Gruppe bildeten und nicht wieder in ihre früheren Synagogengemeinschaften gingen, weil sie dort nicht mehr erwünscht waren. Zudem geht Öhler davon aus, dass die nichtjüdi‐ schen Christusgläubigen ebenfalls eine eigenständige Gruppe bildeten. 14 Mark Nanos hingegen sieht weiterhin enge soziale Beziehungen zwischen allen drei Gruppen. Nanos argumentiert, der Römerbrief wende sich an die nichtjüdischen Christusgläubigen, damit sie „verstehen (lernen), wie sie leben sollten und wie sie sich gegenüber der jüdischen Gemeinschaft verhalten sollten“; Paulus trete dafür ein, dass sie als „Vollmitglieder der jüdischen Gemeinde“ gelten, und er trete zugleich dem Konzept einer „Proselytenkonversion“ mit Beschneidung, Tora-Beachtung etc. für sie entgegen. 15 Mit den zuletzt genannten Einschätzungen ist bereits die Frage berührt, welche Indizien im Brief selbst erkennbar sind hinsichtlich der Frage, wen Paulus adressiert. Dass Paulus die Adressatinnen und Adressaten mehrfach als Christusgläubige aus den nichtjüdischen „Völkern“ (ethnē) anspricht, 16 wurde Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 9 Positionierung des Apostels der Völker (Studies in Cultural Contexts of the Bible 1), Paderborn 2019, 28-31. 17 Lohse, Römer (s.-Anm.-9), 40 Anm.-9. 18 Ein Teil der Forschung geht davon aus, dass nomos in Röm 7,1 nicht von der Tora spricht, sondern „ganz allgemein von der Gattung Gesetz“; so u. a. Wolter, Römer (s. Anm. 2), Bd.-1, 410. 19 Lohse, Römer (s.-Anm.-9), 41. 20 Für eine ausführlichere Erörterung s. zuletzt Öhler, Römisches im Römerbrief? (s.-Anm.-14), 32-39. 21 Vgl. die häufige Verwendung des Verbs „essen“ (esthiō, 14,2f.6.20f.23) und des Substantivs „Speise“ (brōma,-14,15.17.20). 22 Dies wird erst in Röm 14,21 deutlich. Anders als etwa in der Lutherbibel von 2017 wiedergegeben spricht Paulus in-14,2f. zunächst davon, dass der eine meint, „alles“ essen zu dürfen, aber „der Schwache isst Gemüse.“ 23 Röm-14,21; in V.-17 ist allgemein von „trinken“ die Rede. in der Forschung seit jeher gesehen. Strittig ist jedoch, ob er darüber hinaus auch jüdische Christusgläubige zu den Adressatinnen und Adressaten zählt. Als Indizien, dass Paulus im Brief „keineswegs nur Heidenchristen“ im Blick hat, 17 galten unter anderem die vorausgesetzte Vertrautheit der Adressatinnen und Adressaten mit der Tora (Röm 7,1), 18 die Grußliste in Röm 16 und vor allem die in Röm 14,1-15,13 erörterten Konflikte zwischen „Starken“ und „Schwachen“. Im Hinblick auf das zuletzt genannte Problem wurde zwar angemerkt, dass Paulus im Römerbrief - anders als im 1. Korintherbrief - allgemeiner formuliert und nicht auf konkrete Anfragen eingeht. Die meisten Forscherinnen und Forscher sahen hier jedoch das zentrale Problem in der Paulus „stets bewegende[n] Frage, wie Heiden- und Judenchristen in der Gemeinschaft des einen Leibes Christi zusammenzuleben haben.“ 19 Die Erörterung über die Konflikte zwischen „Schwachen“ und „Starken“ (14,1-15,13) hat in der neueren Forschung zu unterschiedlichen Interpretationen geführt. 20 Der Schwerpunkt des Abschnitts liegt im Bereich der „Speise“. 21 In diesem Zusammenhang thematisiert Paulus zum einen den Fleischverzehr, 22 zum anderen die grundlegende Frage reiner und unreiner Speisen (V. 14.20). Eher am Rande tritt auch das Trinken von Wein als mögliches Problem hinzu. 23 Ein weiterer Themenbereich ist mit der kurz erwähnten Unterscheidung der „Tage“ angesprochen (V.-5f.). Zu beachten ist grundsätzlich, dass Paulus nur zu Beginn des Abschnitts ausdrücklich eine Position des „Schwachen“ beschreibt, der nicht „alles“ meint essen zu können, sondern nur „Gemüse“ (V. 2). Schon mit Blick auf die Beurtei‐ lung der „Tage“ (V. 5f.) wird nicht gesagt, dass es sich um eine Position der gleichen Personen handelt. Da die Darstellung der verschiedenen Haltungen in Röm 14-15 eher allgemein formuliert ist, wird in der neueren Forschung Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 10 Konrad Schwarz 24 Wolter, Römer (s.-Anm.-3), Bd.-1, 54 bzw. Bd.-2, 348. 25 Vgl. John M. G. Barclay, „Do We Undermine the Law? “. A Study of Romans 14.1-15.6, in: ders., Pauline Churches and Diaspora Jews (WUNT 1/ 275), Tübingen 2011, 37-59, hier 38 f., der in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass die allgemein formulierte Darstellung der Konflikte auf rhetorische Gründe zurückgeführt werden kann. 26 So u. a. Gignac, Romains (s. Anm. 13), 499; William S. Campbell, Romans. A Social Identity Commentary, London u.-a. 2023, 358. 27 So etwa Wolter, Römer (s. Anm. 3), Bd. 2, 352; John M. G. Barclay, Faith and Self-De‐ tachment from Cultural Norms. A Study in Romans 14-15, in: ZNW 104 (2013), 192-208, hier 194. 28 Christina Eschner, Essen im antiken Judentum und Urchristentum. Diskurse zur sozialen Bedeutung von Tischgemeinschaft, Speiseverboten und Reinheitsvorschriften (AJEC-108), Leiden/ Boston 2019, 322. 29 Ein Beispiel ist das Verhalten Daniels und seiner Gefährten, wo auch Wein als Möglich‐ keit der Verunreinigung genannt wird (Dan-1,12.16). mitunter angenommen, dass Paulus über die Situation in Rom „nicht genau Bescheid weiß“; demnach spreche Paulus diese Kontroverse lediglich an, „weil sie für christliche Gemeinden seiner Zeit typisch war“ und er es für denkbar hielt, dass solche Konflikte auch in Rom auftraten. 24 Sowohl die spezifischen Details der dargestellten Positionen als auch die Art und Weise, wie Paulus argumentiert, geben jedoch Grund zu der Annahme, dass Paulus tatsächliche Debatten unter den Christusgläubigen in Rom anspricht. 25 Gegenstand der Forschungsdebatte ist weiterhin, ob die Gegenüberstellung von „Schwachen“ und „Starken“ in Rom in dieser Weise geläufig war und Paulus darauf reagiert, 26 oder ob Paulus diese Bezeichnungen selbst einführt. 27 Strittig ist jedoch vor allem, ob die angesprochenen Fragen vorwiegend im Zusammenhang mit einem jüdischen, auf die Tora bezogenen Ethos stehen. Viele Forscherinnen und Forscher vertreten die Auffassung, die paulinische Darstellung der „Schwachen“ beziehe sich auf „Judenchristen […], die sich dem Gesetz weiterhin verpflichtet fühlen“. 28 In dieser Sicht problematisiert Paulus den Verzehr von Fleisch in Bezug darauf, dass es sich um Fleisch handelt, das nicht den jüdischen Speisegeboten entspricht. Dafür spreche etwa, dass die generelle Vermeidung des Fleischverzehrs durch den „Schwachen“ eine bekannte jüdische Strategie erkennen lassen könnte, ein solches Problem zu bewältigen, 29 und vor allem dass die Bewertung von Speisen als „unrein“ (koinos) und „rein“ (katharos) einen spezifisch jüdischen Sprachgebrauch widerspiegelt. Ebenso wird der Hintergrund bei den Anmerkungen über die Unterscheidung der „Tage“ (V. 5f.) dahingehend bestimmt, dass Paulus sich hier auf die Beachtung des Sabbats und der jüdischen Feste bezieht. In der neueren Forschung mehren sich aber auch die Stimmen, die dieser Interpretation in unterschiedlicher Weise kritisch gegenüberstehen. So vertritt Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 11 30 Nanos, Römer (s.-Anm.-15), 336. 31 John M.-G. Barclay, Paul and the Gift, Grand Rapids, Mich./ Cambridge 2015, 511f. 32 Wolter, Römer (s.-Anm.-3), Bd.-2, 354. 33 Wolter, Römer (s. Anm. 3), Bd. 2, 358 f. Dieser Interpretationsansatz wird näher ausgeführt von Öhler, Römisches im Römerbrief ? (s. Anm. 13), 32-39, der u. a. die antike „Tagewählerei“ als möglichen Hintergrund diskutiert. 34 Wolter, Römer (s.-Anm.-2), Bd.-1, 53. 35 Hier liegt auch ein wesentlicher Unterschied im Vergleich zu 1Kor 8-10, wo diese Terminologie nicht verwendet wird. 36 Wolter, Römer (s. Anm. 3), Bd. 1, 52; Bd. 2, 376; ähnlich auch Öhler, Römisches im Römerbrief ? (s.-Anm.-13), 35. etwa Nanos die Auffassung, dass sich die Darstellung des „Schwachen im Glauben“ auf Jüdinnen und Juden bezieht, die nicht an Christus glauben. Paulus beabsichtige, die nichtjüdischen Christusgläubigen zu unterweisen, „wie sie innerhalb der jüdischen Gemeinden Roms leben“ sollen, ohne die nicht an Christus glaubenden Angehörigen der jüdischen Gemeinschaft zu verachten. 30 Aus der Sicht von John Barclay ergeben sich die von Paulus diskutierten Probleme zwar aus der Beachtung jüdischer Speisegebote und des Sabbats. Da sich Paulus aber selbst auf die Seite der „Starken“ stellt (15,1), seien die Trennlinien zwischen „Schwachen“ und „Starken“ offensichtlich nicht entlang des ethnischen Unterschieds zwischen jüdischen und nichtjüdischen Christus‐ gläubigen verlaufen. 31 Gänzlich anders hingegen interpretiert Michael Wolter: Der Fleischverzicht könne mit jüdischen Speiseregeln in Verbindung stehen, möglicherweise aber auch mit dem „neupythagoreischen Vegetarismus“; 32 ebenso seien die Anmer‐ kungen über die Beurteilung der „Tage“ derart unspezifisch, dass damit zwar das Sabbatgebot eingeschlossen sein könnte, jedoch sei auch die Berücksichtigung anderer Festkalender denkbar. 33 Mit Verweis auf Röm 15,7-13 kommt Wolter daher zu dem Schluss, dass Paulus hier eine Auseinandersetzung „ausschließlich unter den römischen Heidenchristen“ im Blick hat. 34 Ein gewisses Problem stellt für diesen Interpretationsansatz allerdings die spezifisch jüdische Rede von „unreinen“ und „reinen“ Speisen dar (14,14.20). 35 Wolter bestreitet, dass die diskutierten Konflikte vorwiegend aus der Beachtung jüdischer Speisegebote resultieren; vielmehr handle es sich lediglich um eine „interpretatio judaica“ der Probleme durch Paulus selbst. 36 Ein weiterer Abschnitt des Römerbriefs, der Aufschluss über die Situation des frühen Christentums in Rom geben kann, sind schließlich die umfangreichen Grußaufträge (16,3-16). Bemerkenswert ist darin, erstens, dass unter den zu Grüßenden der Anteil von Frauen für antike Verhältnisse sehr hoch ist. Unter anderem gehört inzwischen zum Konsens der Forschung, dass Paulus auch eine Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 12 Konrad Schwarz 37 Röm-16,7; vgl. Christine Jacobi, Art. Junia, in: WiBiLex 2016 (https: / / bibelwissenschaft.de / stichwort/ 51888; letzter Zugriff am 02.01.2024). 38 Bei Priska und Aquila geht dies aus Apg 18,2f. hervor; Andronikus, Junia und Herodeion (Röm 16,7.11) werden von Paulus als „Verwandte“ (syngeneis) bezeichnet (vgl. 9,3). Ob weitere Namen wie z. B. Maria (V. 6) als Hinweis auf eine jüdische Herkunft gewertet werden können, ist umstritten. 39 Öhler, Römisches im Römerbrief ? (s.-Anm.-14), 31. 40 Vgl. Röm-1,8-15; 15,22-29. 41 Lohse, Römer (s.-Anm.-9), 40. Frau namens Junia zu den „Aposteln“ zählt; sie wird zusammen mit Andronikus, ihrem Ehemann bzw. Gefährten, erwähnt und soll bereits vor Paulus zum Christusglauben gekommen sein. 37 Zweitens ist von Bedeutung, dass unter den zu Grüßenden mehrere jüdische Christusgläubige genannt werden, zu denen mit hoher Wahrscheinlichkeit Priska, Aquila, Andronikus, Junia und Herodion gehören. 38 Als Drittes ist anzumerken, dass die Grußliste in Verbindung mit dem Briefpräskript (1,1-7) wichtige Indizien enthält, wie die Christusgläubigen in Rom organisiert waren: Paulus schreibt den Brief nicht an eine „Versammlung“ bzw. „Gemeinde“ (ekklēsia), wie er dies sonst zumeist tut, sondern er wendet sich in offener Weise „an alle, die von Gott geliebt sind, die berufenen Heiligen“ in Rom. Nur im Haus von Priska und Aquila wird eine ekklēsia erwähnt (16,5), während die Versammlungsorte und gottesdienstlichen Gemeinschaften der anderen Gegrüßten unklar bleiben. In jedem Fall wird daran erkennbar, dass es zu dieser Zeit keine stadtweit einheitliche oder zentral organisierte Gemeinde von Christusgläubigen in Rom gab, ähnlich wie dies auch bei den jüdischen Synagogen der Fall war. Zugleich nimmt Paulus offenbar an, dass die Adressa‐ tinnen und Adressaten des Briefes die zu Grüßenden persönlich kennen, da die namentlich genannten Personen nur mit dem Rufnamen (Cognomen) erwähnt werden. 39 Viertens schließlich lässt sich an dieser umfangreichsten Grußliste der erhaltenen Paulusbriefe erkennen, dass Paulus diesem Briefabschnitt eine erhebliche kommunikative Bedeutung beimisst. Paulus war bisher noch nicht in Rom und möchte zu den dortigen Christusgläubigen eine Beziehung aufbauen. 40 Vor diesem Hintergrund sollen die Grußaufträge signalisieren, dass Paulus an den sozialen Beziehungen der Adressatinnen und Adressaten Interesse hat und darüber informiert ist, und es ist anzunehmen, dass er sich von den zu Grüßenden die Unterstützung für sein kommunikatives Anliegen erhofft. In der neueren Forschung zeigt sich jedoch eine wichtige Veränderung im Hinblick darauf, was die Auswertung der Grußaufträge im Römerbrief mit Blick auf die Adressatinnen und Adressaten betrifft. Mit Verweis auf die Grußaufträge an jüdische Christusgläubige wurde häufig geschlussfolgert, Paulus adressiere auch sie und somit „alle Christen in Rom, woher sie auch gekommen sein mögen“. 41 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 13 42 Siehe oben Anm.-16. 43 Wolter, Römer (s.-Anm.-3), Bd.-1, 40. 44 Markus Öhler, Zum Römerbrief, in: Wolfgang Kraus u. a. (Hg.), Das Neue Testament jüdisch erklärt - in der Diskussion, Stuttgart 2023, 52-60, hier 53 Anm.-6. 45 Campbell, Romans (s.-Anm.-26), 18. 46 Dass Paulus nicht bestimmte Gruppen nennt, sondern Verhaltensweisen beschreibt, hebt Wolter, Römer (s.-Anm.-3), Bd.-2, 348, zutreffend hervor. Dem wird jedoch in jüngerer Zeit vermehrt widersprochen und vor allem auf die Anrede der Adressatinnen und Adressaten als Angehörige der nichtjüdischen Völker hingewiesen. 42 So hält Wolter fest, Röm 16,3-16 zeige zwar, dass Paulus „von der Existenz christlicher Juden in Rom“ wusste, jedoch „schreibt er den Römerbrief ausschließlich an nichtjüdische Christen“. 43 Und Öhler hebt hervor: „Die in der Liste der zu Grüßenden (Röm 16) genannten jüdischen Personen […] sind gerade nicht unter den intendierten Leserinnen und Lesern“. 44 Zusammenfassend lässt sich im Anschluss an die neuere Forschungsdiskus‐ sion festhalten, dass die Indizien innerhalb des Briefs und damit die Anrede der Adressatinnen und Adressaten als Christusgläubige aus den Völkern den maßgeblichen Ausgangspunkt für die Interpretation des Römerbriefs bilden: Paulus stellt sich als Missionar für die nichtjüdischen Völker vor und wendet sich an Christusgläubige, die zu diesen Völkern gehören. Wie die umfangreiche Grußliste (16,3-16) andeutet, geht Paulus davon aus, dass die Adressatinnen und Adressaten mit jüdischen Christusgläubigen in Kontakt stehen und sie treffen. Dennoch richtet sich Paulus in dem Brief nicht an die jüdischen Christusgläubigen, sondern, wie William Campbell formuliert: „His concerns are only with the ethnē in Christ.“ 45 Ob und in welcher Weise sich jüdische und nichtjüdische Christusgläubige regelmäßig trafen und ob sie weiterhin gemeinsame gottesdienstliche Versammlungen bildeten, lässt sich anhand des Briefs nicht deutlich in die eine oder andere Richtung entscheiden. Die Erörte‐ rung über die „Starken“ und „Schwachen“ (14,1-15,13) lässt vermuten, dass Paulus Konflikte annahm, die mit dem Sabbat und den Speisegeboten der Tora in Verbindung stehen könnten. Aus der Darstellung des Paulus lässt sich jedoch ableiten, dass die Trennlinien nicht entlang des ethnischen Unterschieds zwischen jüdischen und nichtjüdischen Christusgläubigen verlaufen; vielmehr stellt Paulus verschiedene Verhaltensweisen in den Mittelpunkt: „Der eine handelt so …, der andere aber so …“ 46 Unklar sind darüber hinaus die genauen Auswirkungen des historiographisch spärlich bezeugten Claudiusedikts, wes‐ halb man zurückhaltend sein sollte, zu dieser Zeit für die gesamte Stadt Rom eine einheitliche Entwicklung einer Trennung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Christusgläubigen anzunehmen. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 14 Konrad Schwarz 47 Für eine ausführliche Besprechung der New Perspective in dieser Zeitschrift, hier mit Fokus auf dem Thema der „Gnade Gottes“, s. Lutz Doering, Gnade und Erbarmen Gottes im Judentum der hellenistisch-frührömischen Zeit, in: ZNT 46 (2020), 41-72, hier 41-44. Überblicksartige Einführungen finden sich darüber hinaus bei Michael Bachmann, „The New Perspective on Paul“ und „The New View on Paul“, in: Friedrich W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 30-38, sowie Jörg Frey, Das Judentum des Paulus, in: Oda Wischmeyer/ Eve-Marie Becker (Hg.), Paulus: Leben - Umwelt - Werk - Briefe (UTB-2767), Tübingen/ Basel 3 2021, 47-104, hier 85-100. 48 Kraus u. a. (Hg.), Das Neue Testament - jüdisch erklärt (s. Anm. 15). Die Kommentie‐ rung basiert auf Amy-Jill Levine/ Marc Z. Brettler (Hg.), The Jewish Annotated New Testament. New Revised Standard Version Bible Translation, New York 2 2017. 49 Eine allgemeine Einführung bietet der Beitrag von Kathy Ehrensperger, Die „Paul within Judaism“-Perspektive. Eine Übersicht, in: EvTh 80 (2020), 455-464. Die Position einer weiteren namhaften Vertreterin dieses Forschungsansatzes entfaltet der poin‐ tierte Beitrag von Paula Fredriksen, Was bedeutet es, Paulus „innerhalb des Judentums“ zu sehen? , in: KuI 37 (2022), 124-150, sowie Paula Fredriksen, Als Christen Juden waren ( Judentum und Christentum 27), Stuttgart 2021. Würdigungen und kritische Rückfragen zu Ansätzen der Paul-within-Judaism-Forschung enthält auch der Band von Kraus u. a. (Hg.), Das Neue Testament jüdisch erklärt - in der Diskussion (s. Anm. 44), sowie die in der Neuauflage erweiterte Fassung des Beitrags von Frey, Das Judentum des Paulus (s.-Anm.-47), 97-102. 2. Perspektivwechsel: Paulus und das Judentum - Paulus innerhalb des Judentums Zusammen mit dem Galaterbrief steht der Römerbrief im Fokus einer vielstim‐ migen internationalen Forschungsdebatte, die die Frage nach dem Verhältnis zwischen Paulus und dem Judentum seiner Zeit erörtert. Maßgebliche Impulse zur neueren Forschung erfolgten durch die New Perspective on Paul, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts grundsätzliche Einwände gegen die lutherisch geprägte Paulusexegese und deren Bild des frühen Judentums erhob. 47 Im gegenwärtigen Forschungsdiskurs mehren sich nun jedoch die Stimmen, die wiederum die Darstellung des Judentums und dessen Verhältnisbestimmung zu Paulus in der New Perspective kritisieren und erneut einen Perspektivwechsel einfordern. Grundlage der Paulusforschung soll demnach sein, Paulus „inner‐ halb des Judentums“ zu sehen. Während die Beiträge der - inzwischen nicht mehr ganz neuen - New Perspective on Paul nur mit zeitlicher Verzögerung auf Deutsch publiziert wurden, verhält sich dies bei den Forschungsbeiträgen zu Paul within Judaism nun anders. Zu nennen sind hier unter anderem verschiedene Beiträge in der Ausgabe „Das Neue Testament jüdisch erklärt“, das von renommierten jüdischen Forscherinnen und Forschern erarbeitet wurde, 48 sowie weitere deutschsprachige bzw. ins Deutsche übersetzte Publikationen, die sich auch an eine nicht-akademische Öffentlichkeit wenden. 49 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 15 50 Vgl. Ed P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patters of Religion, Philadelphia 1977. 51 Der einflussreiche Beitrag aus dem Jahr 1983 ist abgedruckt in James D.-G. Dunn, The New Perspective on Paul. Collected Essays (WUNT-1/ 185), Tübingen 2005, 89-110. 52 Neben den in Anm. 47 genannten Überblicksdarstellungen zur New Perspective sei an dieser Stelle auf den umfangreichen Beitrag von Dunn hingewiesen, der den Diskussionsstand Anfang der 2000er reflektiert („The New Perspective: Whence, What and Whither? “, in Dunn, New Perspective [s.-Anm.-51], 1-88). 53 Mark D. Nanos/ Magnus Zetterholm (Hg.), Paul within Judaism. Restoring the First-Cen‐ tury Context to the Apostle, Minneapolis 2015. 54 Vgl. Michael F. Bird, An Introduction to the Paul within Judaism Debate, in: Michael F. Bird u. a. (Hg.), Paul within Judaism: Perspectives on Paul and Jewish Identity (WUNT-1/ 507), Tübingen 2023, 1-28, hier-3. Wie bereits angedeutet, ist die New Perspective on Paul weiterhin ein wichtiger Bezugspunkt der Paulusforschung. Hierbei handelt es sich allerdings um eine Forschungsrichtung, die sich über mehrere Jahrzehnte entwickelte und ausdif‐ ferenzierte, weshalb an dieser Stelle einige zusammenfassende Anmerkungen genügen müssen. Die Bezeichnung „New Perspective on Paul“ wurde Anfang der 1980er Jahre von James Dunn geprägt, der den religionsstrukturellen Ansatz von E. P. Sanders 50 vor allem in soziologischer Hinsicht weiterentwickelte. Dunn wandte sich gegen den von Sanders dargestellten Kontrast zwischen jüdischem „Bundesnomismus“ und der paulinischen „Teilhabe“-Christologie. Demgegenüber ging Dunn von der Bezeichnung „Werke des Gesetzes“ (erga nomou) in Gal 2,16 aus und kam zu dem Schluss, es müsse sich dabei um religiöse Praktiken handeln, die einerseits für die Identität des Judentums maßgeblich sind („identity marker“) und andererseits das Judentum von den nichtjüdischen Völkern abgrenzen („boundary marker“), nämlich Beschneidung, Speisegebote und Sabbatruhe. Paulus habe diese jüdische Praxis abgelehnt, weil sie die Tora in „nationalistischer“ Weise auf das Judentum begrenze, und ihr die Rechtfertigung des Menschen aus dem Christusglauben entgegengesetzt. 51 Die von der New Perspective maßgeblich beeinflusste Forschungsdebatte wurde seitdem auf umfangreiche Weise kritisch weitergeführt. 52 Ein spezifi‐ scher Schwerpunkt der Auseinandersetzung bildete sich in Nordamerika und den skandinavischen Ländern heraus. Kritische Stimmen der Forschung aus diesen Ländern fanden schließlich in einer Forschungsgruppe und dem 2015 veröffentlichten Band „Paul within Judaism“ zusammen, wobei sich dieser Band programmatisch als Ausdruck einer „neuen Perspektive in der Paulus‐ forschung“ präsentiert. 53 Die Positionen der beteiligten Forscherinnen und Forscher sind dabei keineswegs in allen Details deckungsgleich, weshalb der Begriff Paul within Judaism eher einen Forschungstrend bezeichnet und nicht eine einheitliche „Schule“. 54 Im Folgenden sollen zu diesem Forschungsansatz Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 16 Konrad Schwarz 55 Ehrensperger, „Paul within Judaism“-Perspektive (s.-Anm.-49), 458. 56 Wie etwa Paula Fredriksen anmerkt: „Wir sollten uns auch in Erinnerung rufen, dass verschiedene Juden damals wie heute die Regeln für jüdische Verhaltensweisen unterschiedlich verstanden“ (Paulus und das Judentum, in: Kraus u. a. [Hg.], Das Neue Testament - jüdisch erklärt [s.-Anm.-15], 684-689, hier-687). 57 Vgl. etwa das Zitat von Dtn 32,43 (LXX) in Röm 15,10, wo die „Völker“ (ethnē) zusammen mit Gottes „Volk“ (laos) zum Jubel aufgerufen werden. 58 Vgl. 2Kor-11,24. einige Eckpunkte dargestellt werden, die im Einzelnen durchaus unterschiedlich gewichtet werden. Ausgangspunkt ist allgemein eine weitreichende Kritik sowohl an der älteren Paulusexegese als auch an der New Perspective, wobei insbesondere die Beiträge von Dunn im Fokus stehen. Die New Perspective habe viele Tendenzen aus der älteren Paulusforschung übernommen, etwa indem sie von einem jüdischen „Nationalismus“ im Kontrast zum „Universalismus“ des Paulus sprach. Ebenso sei zwar nicht mehr das jüdische Gesetz selbst als Problem dargestellt worden, sondern die am Gesetz ausgerichtete jüdische Praxis - und damit die Jüdinnen und Juden zur Zeit des Paulus selbst. Als kritisches Fazit folgt daraus: „Jüdische Tradition, insbesondere jüdische Partikularität, diente auch im Ansatz der New Perspective dazu, die Überlegenheit der Christus-Bewegung darzulegen.“ 55 Die Paul-within-Judaism-Forschung betont demgegenüber, dass Paulus Jude war und dies auch seit seiner Hinwendung zum Christusglauben blieb, und dass er an keiner Stelle christusgläubige Juden dazu auffordert, die Tora nicht mehr zu befolgen, die Beschneidung abzulehnen und den Sabbat nicht zu beachten. Deshalb sei grundsätzlich davon auszugehen, dass Paulus stets Tora-treu lebte, wobei in dieser Hinsicht gewisse Spielräume im antiken Judentum angemerkt werden. 56 Entscheidend ist für diesen Forschungsansatz aber vor allem die Wahrnehmung der Missionstätigkeit des Paulus unter nichtjüdischen Völkern. In diesem Zusammenhang wird betont, dass es sich beim frühen Christentum um eine apokalyptische Bewegung handelt, die auf das nahe Wiederkommen Christi hofft und erwartet, dass in der Endzeit die nichtjüdischen Völker zur Verehrung des Gottes Israels gelangen. 57 Sie seien jedoch weiterhin vom jüdischen Volk unterschieden, sodass die Tora für sie nicht gilt. Die Chris‐ tusverkündigung des Paulus unter den Völkern ist demnach keineswegs als „gesetzesfrei“ anzusehen, da die Gültigkeit der Tora nicht infrage gestellt wird und Paulus konsequent dem folgt, wie die Tora auf nichtjüdische Menschen blickt. Die wiederkehrenden Konflikte des Paulus mit jüdischen Autoritäten - bis hin zur Auspeitschung als Synagogenstrafe 58 - hätten sich nicht daran entzündet, dass man Paulus in irgendeiner Weise einen „Abfall“ vom Judentum vorwarf. Entscheidend sei vielmehr gewesen, dass die jüdischen Autoritäten Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 17 59 Fredriksen, Paulus und das Judentum (s.-Anm.-56), 688. 60 Ehrensperger, „Paul within Judaism“-Perspektive (s.-Anm.-49), 459. 61 Ebd. 62 Vgl. die Anmerkungen bei Karl-Wilhelm Niebuhr, Einführung: Paulus im Judentum seiner Zeit. Der Heidenapostel aus Israel in neuer Sicht. Mit einem Nachtrag zur ‚New Perspective on Paul‘ seit 2010, in: ders., Paulus im Judentum seiner Zeit. Gesammelte Studien (WUNT 1/ 489), Tübingen 2022, 1-40, hier 27f. Zu einer anderen Einschätzung kommt hingegen Udo Schnelle. Er gesteht zwar zu, Paulus sei „zeitlebens dem Judentum eng verbunden“ geblieben (Udo Schnelle, Über Judentum und Hellenismus hinaus. Die paulinische Theologie als neues Wissenssystem, in: ZNW 111 [2020], 124-155, hier 124). Unter anderem mit Bezug auf 1Kor 9,20-23 kommt Schnelle zu dem Ergebnis, dass Paulus „im Vollsinn weder Jude noch Heide, sondern Träger einer neuen Identität und flexibler Repräsentant einer neuen Bewegung“ gewesen sei, denn beispielsweise die „Selbstbeschreibung“ in 1Kor 9,22b.23 „geht weit über das hinaus, was für eine jüdische Identität zumutbar wäre, für die eben nicht ‚alles‘ möglich ist! “ (139f.-Anm.-48). den Anbruch der messianischen Zeit bestritten. Sie hätten vor allem eine Gefahr darin erkannt, dass Paulus nichtjüdische Menschen dazu bewegte, die kultische Verehrung ihrer Götter aufzugeben. Nach antiker Auffassung konnte dies den Zorn der Götter hervorrufen und die Ordnung einer antiken Stadt zerstören, sodass die bislang gesicherte Stellung der Synagogen in Gefahr geriet. 59 Was die Interpretation der Paulusbriefe betrifft, geht die Paul-within- Judaism-Forschung davon aus, dass alle überlieferten Briefe - insbesondere der Römerbrief - an nichtjüdische Christusgläubige adressiert sind. Aus dieser Einschätzung der brieflichen Kommunikationssituation wird die weitreichende Konsequenz gezogen, dass Paulus sich an keiner Stelle unmittelbar an jüdische Menschen wendet, seien sie christusgläubig oder nicht. Die Implikationen der Paulusbriefe für das Judentum ließen sich deshalb „nur indirekt und hypothe‐ tisch erschließen“. 60 Daher sollten insbesondere die Aussagen über die Tora und deren Beachtung in der religiösen Praxis spezifisch darauf bezogen werden, dass „die Christus-Nachfolgenden aus den Völkern sich dem einen Gott Israels zuwenden sollen, ohne jüdisch zu werden.“ 61 Unter den Impulsen für die Forschungsdiskussion, die vom Paul-within- Judaism-Ansatz ausgehen, seien an dieser Stelle vor allem zwei Aspekte her‐ vorgehoben: Zu nennen ist zum einen, dass hier die jüdische Herkunft des Paulus und seine bleibende Zugehörigkeit zum Judentum in den Vordergrund gestellt werden, sodass seine Briefe nicht ohne Bezug auf das zeitgenössische Ju‐ dentum zu verstehen sind. Wenngleich diese grundlegende Einschätzung in der gegenwärtigen Forschung weithin anerkannt ist, 62 wird sie hier in besonderer Weise ins Zentrum gestellt. Als zweiter Impuls ist zu würdigen, dass das frühe Christentum und insbesondere Paulus hier bewusst im Horizont der jüdischen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 18 Konrad Schwarz 63 In der New Perspective war die eschatologische Dimension des frühen Christentums oftmals in den Hintergrund getreten; vgl. Frey, Das Judentum des Paulus (s. Anm. 46), 93. 64 Ehrensperger, „Paul within Judaism“-Perspektive (s.-Anm.-48), 463. 65 Vgl. Gal-1,15f.; 1Kor-9,1; 15,8-11; Phil-3,7-11. 66 Vgl. Gal-1,16; Röm-1,5.13; 15,15-19 u.-ö. 67 Dies betrifft etwa die oftmals einseitige Darstellung der differenzierten Arbeiten von Dunn (vgl. Dunn, New Perspective [s. Anm. 50]). Zudem werden neuere Studien au‐ ßerhalb der anglophonen Forschung kaum wahrgenommen (vgl. ausführlich Niebuhr, Einführung [s.-Anm.-62], 28 f.). Die Polemik richtet sich u. a. auch gegen renommierte jüdische Wissenschaftler wie Daniel Boyarin und Shaye J. D. Cohen, deren Studien Fredriksen als „Inszenierungen des protestantischen Paulus durch Nicht-Protestanten“ karikiert (Fredriksen, Paulus „innerhalb des Judentums“ [s.-Anm.-49], 127-Anm.-5). 68 Die Frage nach der historischen Entwicklung des Judentums und des Christentums als zwei verschiedene Religionen wird in der gegenwärtigen Forschung vor allem mit Bezug auf das viel diskutierte Modell des Parting of the Ways erörtert. Vgl. den Überblick zum gegenwärtigen Forschungsstand in Jens Schröter/ Benjamin A. Edsall/ Joseph Verheyden, Introduction, in: dies. (Hg.), Jews and Christians - Parting Ways in the First Two Centuries CE? Reflections on the Gains and Losses of a Model (BZNW-253), Berlin/ Boston 2021, 1-10, hier-1-5. Apokalyptik gesehen werden: 63 Demnach stellt die Einschätzung der Zeit, die mit dem Glauben an Jesus als dem Messias verbunden ist, einen grundlegenden Unterschied zwischen den christusgläubigen und den nicht-christusgläubigen Teilen des Judentums dar. 64 Dies ist von besonderer Relevanz sowohl mit Blick darauf, wie Paulus seine Lebenswende hin zum Glauben an Jesus als den Messias gedeutet hat, 65 als auch für die Frage, wie Paulus seine Missionstätigkeit als Apostel für die nichtjüdischen Völker aufgefasst hat. 66 An verschiedenen Punkten werden in der aktuellen Forschungsdebatte je‐ doch auch kritische Rückfragen zu dieser Forschungsrichtung geäußert. Nur am Rande sei angemerkt, dass in den Beiträgen dieses Ansatzes andere For‐ schungspositionen oftmals selektiv und verkürzt dargestellt oder gar verächt‐ lich gemacht werden, 67 was einem differenzierten, offenen Forschungsdiskurs sicherlich abträglich ist. In inhaltlicher Hinsicht werden vor allem drei wei‐ terführende Anfragen gestellt. Zum ersten ist darauf hinzuweisen, dass der Fokus auf „Paulus innerhalb des Judentums“ umgekehrt zu der Frage führen könnte, wer oder was denn nicht „innerhalb des Judentums“ wäre, zumal die beteiligten Forscherinnen und Forscher die Vorstellung eines Gegensatzes zwischen Judentum und Christentum als verschiedener Religionen zur Zeit des Paulus zu Recht zurückweisen. 68 Im Zusammenhang damit besteht die Gefahr, anachronistische religionsgeschichtliche Vorstellungen einzutragen, denn im 1. Jahrhundert gab es keine religiöse Institution, die autoritativ über eine Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 19 69 Frey, Das Judentum des Paulus (s.-Anm.-47), 102. 70 Jens Schröter, Was Paul a Jew within Judaism? The Apostle to the Gentiles and His Communities in Their Historical Context, in: Schröter/ Edsall/ Verheyden (Hg.), Jews and Christians (s.-Anm.-68), 89-119, hier-113. 71 Fredriksen, Paulus „innerhalb des Judentums“ (s.-Anm.-49), 128. 72 Am häufigsten drückt Paulus dies in der Gegenüberstellung von „Juden“ (Ioudaioi) und „Griechen“ aus (Hellēnes); vgl. 1Kor 1,22-24; Gal 3,28; Röm 1,16 u. ö. Jedoch lässt sich auch beim Begriff Hellēnes fragen, ob damit nicht bereits die Kategorie der Ethnizität verlassen ist, da dieser Begriff hier in ähnlicher Weise verwendet wird wie „Völker“ (ethnē); vgl. Wolter, Römer (s.-Anm.-3), Bd.-1, 118. 73 Jörg Frey, The Relativization of Ethnicity and Circumcision in Paul and His Communi‐ ties, in: Bird u.-a. (Hg.), Paul within Judaism (s.-Anm.-54), 45-62, hier-54. 74 Vgl. 1Thess-1,1; 1Kor-1,2; 2Kor-1,1; Phil-1,1; Gal-1,2; Röm-1,7. 75 Frey, Relativization (s.-Anm.-73), 62. 76 Vgl. Röm 2,11; 3,9.22.29; 10,12f.; ausführlich dazu Samuel Vollenweider, Are Christians a New „People“? Detecting Ethnicity and Cultural Friction in Paul’s Letters and Early Christianity, in: EC-8 (2017), 293-308, hier-305f. 77 Vgl. Phil-3,8-11; 2Kor-11,22f.; Gal-1,13-15; 2,15f. „Zugehörigkeit zum ‚Judentum‘“ hätte entscheiden können. 69 Zudem könnte man bei der Frage nach der Zugehörigkeit zum Judentum auch dahingehend differenzieren, dass diese Frage aus unterschiedlichen Perspektiven verschieden beurteilt werden kann, wie etwa aus der Perspektive römischer Behörden, der jüdischer Zeitgenossen des Paulus oder der christusgläubigen Nicht-Juden. 70 Eine zweite Anfrage an die Paul-within-Judaism-Position bezieht sich darauf, dass hier der „antike ethnische Essentialismus“ in den Vordergrund gerückt und die Unterscheidung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen für Paulus als theologisch leitend verstanden wird, bis hinein in die Eschato‐ logie. 71 Dabei ist zwar durchaus anzumerken, dass Paulus ethnische Aspekte vielfach berücksichtigt. 72 Bereits bei der spezifisch jüdischen Bezeichnung von nichtjüdischen Menschen als „Völker“ (ethnē) ist jedoch fraglich, ob sich dies noch in der antiken Kategorie der Ethnizität erfassen lässt, da es sich bei den „Völkern“ ja nicht um ein einheitliches Volk handelt. 73 Vor allem aber lässt sich bei Paulus das Bemühen erkennen, die Christusgläubigen als eine Gemeinschaft, als „Gemeinde“, „Heilige“, „Berufene“ und „Geliebte“ Gottes anzusprechen 74 und auf deren Einheit zu dringen. Deshalb wird man zumindest sagen können, dass Paulus bestrebt ist, ethnische Differenzen innerhalb der an Jesus glaubenden Gemeinschaft zu relativieren 75 und vor allem in soteriologischer Hinsicht zu überwinden. 76 Dies betrifft in analoger Weise auch die Frage nach dem Selbstverständnis des Paulus, denn an vielen Stellen, an denen Paulus auf seine jüdische Identität zu sprechen kommt, betont er zugleich seine Zugehörigkeit zu Christus. 77 Eine wichtige Frage in der Forschungsdiskussion ist deshalb, ob die Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 20 Konrad Schwarz 78 So John M. G. Barclay, Gift Perspective Response to Zetterholm, in: Scot McKnight/ B. J. Oropeza (Hg.), Perspectives on Paul. Five Views, Grand Rapids, Mich. 2020, 210-215, hier-212. 79 Vgl. Barclay, Gift Perspective (s.-Anm.-78), 213. 80 Vgl. etwa die Wendungen mit „jeder Glaubende“ bzw. „alle Glaubenden“ (Röm 1,16; 3,9.22), „kein Fleisch“ (3,20) und „der Mensch“ (3,28). 81 Vgl. Wolter, Römer (s.-Anm.-3), Bd.-1, 358f. 82 So Nanos, Römer (s.-Anm.-15), 337. Zugehörigkeit zu Christus das Selbstverständnis des Paulus als Jude mindestens näher qualifiziert, wenn nicht sogar relativiert. 78 Eine dritte und weitreichende Anfrage bezieht sich darauf, ob die skizzierten Grundsätze des Paul within Judaism insgesamt geeignet sind, die Aussagen des Paulus über das Judentum, über das „Gesetz“ und die „Werke des Gesetzes“ vollumfänglich zu erklären. Dass Paulus sich als Apostel für die Völker versteht und die Leserinnen und Leser in seinen Briefen in dieser Weise anspricht, wird gegenwärtig von weiten Teilen der Forschung vertreten. Dennoch können die Ausführungen des Paulus nicht in jeder Hinsicht auf diesen Kommunikations‐ rahmen begrenzt werden, als ob seine Aussagen für die jüdischen Zeitgenossen, seien sie christusgläubig oder nicht, keine Relevanz hätten. Zum einen kann die Frage, worüber Paulus spricht, nicht mit Blick darauf eingeengt werden, zu wem er spricht. 79 Zum anderen formuliert Paulus oftmals in einer sehr grund‐ sätzlichen Art und Weise, die den konkreten Zusammenhang übersteigt. 80 Wenn er beispielsweise feststellt, dass die Tora zu der Verstrickung des Menschen in Sünde und Tod „hinzugetreten“ ist, „damit die Verfehlung sich vermehrt“ (Röm 5,20), 81 oder wenn Paulus die Tora aufs engste mit der Hervorbringung von „Leidenschaften der Sünden“ in Verbindung bringt (7,5), sind das innerhalb des vielfältigen antiken Judentums in jedem Fall provokante Aussagen. Ebenso verhält es sich mit den Formulierungen, wonach „nichts aus sich heraus unrein“ sei (14,14), ja sogar „alles ist rein“ (V. 20), da Paulus dies nicht bloß in begrenzter Weise als „halachische Entscheidungen“ für nichtjüdische Christusgläubige äußert. 82 Vielmehr stellt er dies in betonter Weise als seine eigene Überzeugung „in dem Herrn Jesus“ dar (V.-14). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Einschätzung des Paulus als Tora-treuer Jude nähere Qualifizierungen erfordert und nicht zuletzt davon abhängt, von welcher Perspektive aus die Frage der Treue zur Tora betrachtet wird. In jedem Fall ist jedoch mit Blick auf die aktuelle Forschungsdiskussion festzustellen, dass vom Paul-within-Judaism-Ansatz bedeutende Impulse aus‐ gehen, die die Debatte über die theologische Verortung des Paulus im Judentum seiner Zeit intensiv anregen. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 21 83 Röm 1,24.26.28. Die Formulierung „Gott lieferte sie aus“ lehnt sich an die antike Gerichtssprache an, in der das Verb paradidōmi als terminus technicus verwendet wird, dass der Verurteilte an die Personen, die die Strafe ausführen, überstellt wird (vgl. Mk 15,15 parr.). Da Röm 1,18-32 im Hinblick auf juristische Termini jedoch zurückhaltend ist (dies setzt erst in 2,1f. ein), könnte auch die alttestamentliche Tradition anklingen, wonach Gott das Volk wegen seiner Vergehen an Feinde ausliefert (Ps-105,41-LXX u.-ö.). 3. Ethische Konkretisierungen: Der Blick auf gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen und das Verhältnis zu den staatlichen Machthabern Die Aussagen des Paulus über gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen (Röm 1,16f.) und über das Verhalten gegenüber den staatlichen Machthabern (13,1-7) sind für den Römerbrief selbst von eher geringem argumentativem Gewicht. In der neutestamentlichen Wissenschaft werden diese Textpassagen jedoch intensiv erörtert, da sie in der Geschichte des Christentums stark rezipiert wurden und mitunter auch in der Gegenwart herangezogen werden. Hinsichtlich des ersten Textabschnitts ist zunächst der Kontext in den Blick zu nehmen: Röm 1,18-32 bildet den ersten Teil einer umfangreich angelegten Argumentation, wonach „Juden und Griechen alle unter der Sünde sind“ (3,9). Nachdem Paulus in 1,16f. das Evangelium als göttliche „Kraft zur Rettung“ für alle Glaubenden präsentiert, entwickelt V. 18-32 das Bedrohungsszenario einer eschatologischen Lebensgefahr: Der offenbar werdende „Zorn Gottes“ richtet sich gegen alle „Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit unterdrücken“ (1,18) und schließlich den Tod verdienen (V. 32). Weite Teile des Abschnitts sind im Rückblick formuliert (V. 21-28): Trotz ihrer einstigen Gotteserkenntnis, die Paulus den Menschen an dieser Stelle zugesteht, hätten sie sich von Gott abgewendet, ihn nicht verehrt und seine Herrlichkeit mit dem „Abbild eines vergänglichen Menschen und von Vögeln, Vierfüßern und Schlangen“ vertauscht. Dreimal wiederholt Paulus die Wendung, Gott habe die Menschen daraufhin in strafender Weise „ausgeliefert“ an die „Begierden ihrer Herzen“, an „entehrende Leidenschaften“ usw. 83 Aus der Sicht des Paulus resultiert daraus ein ungeheuerliches ethisches Fehlverhalten, das in einem sogenannten Lasterkatalog zusammengefasst wird (V.-29-31). Das theologisch grundlegende Argument des Abschnitts ist die Überzeugung, dass es der Gott Israels ist, der die Welt geschaffen hat und allein als Gott und Schöpfer zu verehren ist. Mit Blick auf die Wortwahl ist allerdings zu bemerken, dass Paulus bestimmte jüdisch-hellenistische Begriffe vermeidet, die Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 22 Konrad Schwarz 84 So u. a. eidōlon („Götzen“), eidōlolatria („kultische Verehrung von Götzen“) oder porneia. Letzteres hat keine deutsche Entsprechung. Der Begriff bezeichnet verschie‐ dene Formen sexueller Kontakte, die als illegitim galten, sodass die Übersetzung mit „Ehebruch“ unzutreffend ist; vgl. Christine Gerber, Liebe ohne Sex, Sex ohne Liebe - der Apostel Paulus gibt zu denken, in: ZPT-74 (2022), 17-28, hier-21. 85 Etwa epithymiai („Begierden“), pathē („Leidenschaften“), physis („Natur“), nous („Sinn, Verstand“) und to kathēkon (Röm 1,28). Der zuletzt genannte Begriff wurde insbesondere in der stoischen Philosophie verwendet und bezeichnet das richtige Handeln, das der Natur eines Lebewesens entspricht, bzw. das ihm „Angemessene“; zum diesem Begriff vgl. Jens Schröter, Ποιεῖν τὰ μὴ καθήκοντα (Röm 1,28). Ein Beitrag zum Ansatz der paulinischen Ethik, in: Jochen Flebbe/ Matthias Konradt (Hg.), Ethos und Theologie im Neuen Testament. FS Michael Wolter, Neukirchen-Vluyn 2016, 157-184, hier-174. 86 So u.-a. Nanos, Römer (s.-Anm.-15), 307; sowie Campbell, Romans (s.-Anm.-26), 71. 87 Vgl. Röm 1,23.25 mit Ps 105,20 LXX (ähnlich Apg 7,41f.); so u. a. Wolter, Römer (s. Anm. 3), Bd. 1, 136.144f.; Wolter weist außerdem darauf hin, dass Röm 1,18-32 signifikante Abweichungen von SapSal 13f. aufweist, sodass Röm 1,18-32 nicht allein vor diesem Hintergrund zu interpretieren ist. 88 Vgl. Röm-3,9. an dieser Stelle zu erwarten wären. 84 Zugleich treten insbesondere geprägte Begriffe der griechisch-römischen Popularphilosophie hervor, 85 verbunden mit der in der Antike verbreiteten sozialen Kategorie von Ehre und Schande. Paulus beabsichtigt offensichtlich, das menschliche Fehlverhalten vor dem Hintergrund allgemeiner antiker Moralvorstellungen aufzuzeigen. In der Forschungsdiskussion umstritten ist, wer mit den in Röm 1,18-32 erwähnten Menschen gemeint sein könnte. In Teilen der Forschung wird die Auffassung vertreten, dass sich dieser Textabschnitt gegen die nichtjüdischen Völker richtet, da die kultische Bilderverehrung und das ethische Fehlverhalten vor dem Hintergrund jüdischer Polemik gegen die Völker zu verstehen sei. 86 Andere Forscherinnen und Forscher verweisen hingegen darauf, dass Paulus von den „Menschen“ (V. 18) allgemein spricht und der Text deutliche Anklänge an die jüdische Überlieferung vom Goldenen Kalb zeigt. 87 Dies spricht dafür, den Textabschnitt nicht nur auf die nichtjüdischen Völker, sondern auf die gesamte Menschheit zu beziehen. 88 Die Bemerkungen des Paulus, die auf gleichgeschlechtliche sexuelle Prak‐ tiken eingehen (V. 26f.), erwähnen zuerst die „Weiblichen“ (thēleiai) und danach die „Männlichen“ (arsenes), wie es wörtlich übersetzt heißt. Normativ leitend ist der Begriff „natürlicher Gebrauch“ (physikē chrēsis), was auf einem Konzept von Sexualität beruht, das nicht auf Konsens und gegenseitigen Lustgewinn inner‐ halb einer Partnerschaft ausgerichtet ist, sondern ein hierarchisch bestimmtes „Gewaltverhältnis“ voraussetzt, „bei dem ein aktives Subjekt ein passives Objekt Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 23 89 Wolter, Römer (s.-Anm.-3), Bd.-1, 150. 90 Wolter, Römer (s. Anm. 3), Bd. 1, 151. Er argumentiert dabei, dass das Adverb homoiōs („ebenso“) am Beginn von V. 27 eine gerichtete „Relation“ beschreibe, wonach das „Verhalten der Frauen […] Vergleichsspender“ für die Männer sei, nicht umgekehrt. 91 Bernadette J. Brooten, Liebe zwischen Frauen. Weibliche Homoerotik in hellenis‐ tisch-römischer Zeit und im frühen Christentum, Münster 2020, 285. Laut Brooten „präzisiert“ homoiōs in Röm-1,27 die Bedeutung von V.-26. 92 Gerber, Liebe (s.-Anm.-84), 27. 93 Stefan Krauter, Studien zu Röm 13,1-7. Paulus und der politische Diskurs der neroni‐ schen Zeit (WUNT 1/ 243), Tübingen 2009, sowie weitere Einzelbeiträge des Autors; daneben noch Manuel Vogel, Römer 13,1-7 als Lobrede auf die Verfolger, in: Stefan Alkier/ Christfried Böttrich (Hg.), Neutestamentliche Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung. Studien im Anschluss an Eckart Reinmuth, Leipzig 2017, 221-248, sowie der umfangreiche Abschnitt in Wolter, Römer (s.-Anm.-3), Bd.-2, 306-329. sexuell ‚gebraucht‘.“ 89 Dies schließt etwa auch sexuelle Beziehungen eines verheirateten Mannes zu Sklavinnen oder unverheirateten Frauen ein. Die Aussagen über das sexuelle Verhalten von Männern (V. 27) sind um‐ fangreicher und drastischer als die über die Frauen: Die „Männlichen“ hätten den „natürlichen Gebrauch des Weiblichen verlassen“, sie seien „gegenseitig in Verlangen entbrannt“ und hätten miteinander „Schande“ hervorgebracht (V. 27). Von den Frauen wird nur gesagt, dass sie „den natürlichen Gebrauch durch den widernatürlichen vertauscht“ hätten. In der Forschung wird deshalb diskutiert, was Paulus bei den Frauen im Blick hatte. So diskutiert Wolter etwa verschiedene Interpretationen der neueren Forschung und kommt zu dem Schluss, hier gebe es eine „Leerstelle“, da Paulus „in der Tat keine bestimmte sexuelle Praxis der Frauen in den Blick nimmt.“ 90 Aufgrund der Bewertung weiblicher Sexualität in der Literatur der römischen Zeit kommen jedoch die meisten Forscherinnen und Forscher zu dem Ergebnis, dass Paulus hier „sexuelle Beziehungen zwischen Frauen“ meint. 91 Deutlich ist in jedem Fall, dass Paulus die erwähnten Verhaltensweisen als Folge eines strafenden Handelns Gottes hinstellt. Mit Blick auf moderne theologische Diskurse lässt sich daher in jedem Fall festhalten: „Eine Applikation dieser Polemik zur Bewertung von Menschen, die sich mit ihrer gleichgeschlechtlichen Neigung als Gottes Geschöpfe verstehen, verbietet sich von selbst.“ 92 Was die neuere Forschungsdiskussion zu Röm 13,1-7 betrifft, ist zunächst eine bemerkenswerte Auffälligkeit festzustellen: Nachdem im 20. Jahrhundert vor allem die protestantische deutschsprachige Forschung intensiv mit diesem Text gerungen hat, wird er hier seit der Jahrtausendwende kaum noch disku‐ tiert, wobei die Studien von Stefan Krauter eine wichtige Ausnahme bilden. 93 Insgesamt zeigt sich an dieser Stelle ein auffälliger Kontrast zwischen der deutschsprachigen Forschung und der weiteren internationalen Forschung, in Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 24 Konrad Schwarz 94 Siehe dazu den Überblick von Tat-siong Benny Liew, The Roman Empire in Paul’s Letters, in: R. S. Sugirtharajah (Hg.), Oxford Handbook of Postcolonial Biblical Criticism, Oxford/ New York 2023, 190-212, sowie die Diskussion aktueller Forschungsliteratur bei Stefan Krauter, Paulus gegen das Imperium? , in: VuF-68 (2023), 31-42. 95 Scot McKnight, Reading Romans Backwards. A Gospel of Peace in the Midst of Empire, Waco, Texas 2019, 25. 96 Nanos, Römer (s.-Anm.-15), 335. 97 Vgl. die Übersicht bei Stefan Krauter, Auf dem Weg zu einer theologischen Würdigung von Röm-13,1-7, in: ZThK-109 (2012), 287-306, hier: 289-293. 98 Krauter, Auf dem Weg (s.-Anm.-97), 297. der dieser Text stark debattiert wird. Eine wichtige Rolle spielten zunächst so‐ zialgeschichtliche Zugänge, die nach der politisch-sozialen Situation des frühen Christentums fragten, während sich die gegenwärtige Forschung insbesondere auf Grundlage der postkolonialen Hermeneutik diesem Text zuwendet. 94 Ähnlich wie bei der bereits angesprochenen Frage, welche Gruppen mit den „Schwachen“ und „Starken“ (14,1-15,13) gemeint sind, werden differierende Ansätze vorgeschlagen, an wen sich Paulus in 13,1-7 richtet. So bezieht etwa Scot McKnight die Aussagen zu den „Schwachen“ in Kap. 14-15 auf jüdische Christusgläubige und argumentiert, dass sich Paulus auch in 13,1-7 an diese „Schwachen“ wendet, da sie aufgrund ihrer „zelotischen Tradition“ versucht sein könnten, die Steuerzahlung an den römischen Staat zu verweigern. 95 Laut Mark Nanos hingegen richtet sich Paulus hier - wie im gesamten Brief - an nichtjüdische Christusgläubige und fordert sie dazu auf, die „Oberen der Synagoge“ als „Autorität ihrer kommunalen Führung“ anzuerkennen, und da die nichtjüdischen Christusgläubigen als „vollwertige Mitglieder der jüdischen Gemeinden“ gelten sollen, seien sie auch zum Entrichten der Tempelsteuer verpflichtet. 96 Die meisten Forscherinnen und Forscher sehen jedoch weiterhin das Verhältnis der Adressatinnen und Adressaten des Briefs zu den römischen Machthabern und den staatlichen Institutionen als Leitthema des Textabschnitts an. Was die theologische Ebene von Röm 13,1-7 betrifft, wurde in der älteren Forschung vielfach bemängelt, dass Paulus nicht christologisch argumentiert. Daraufhin wurde oftmals in relativierender Weise erklärt, Paulus gebe hier im Wesentlichen traditionelle jüdische Ansichten wieder, und teilweise wurde sogar geschlussfolgert, der Textabschnitt stamme gar nicht von Paulus und sei von späterer Hand eingefügt worden. 97 Demgegenüber herrscht in der neueren Forschung die Einschätzung vor, dass Paulus hier ausgehend von seinem jüdischen Hintergrund einige sorgfältig formulierte Anmerkungen zum Verhalten gegenüber der politischen Herrschaft entwickelt, die bewusst „theo-logisch“ gestaltet sind. 98 Ebenso gehört zum Forschungskonsens, dass Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 25 99 Krauter, Auf dem Weg (s. Anm. 97), 305; zur Frage der Apokalyptik s. a. a. O., 300; ähnlich auch Wolter, Römer (s.-Anm.-3), Bd.-2, 326. 100 Campbell, Romans (s. Anm. 26), 350; als unterstützendes Argument verweist Campbell dabei auf die Rolle des Pharao als Herrscher in Röm-9,17 (a.-a.-O., 347). 101 So ausdrücklich Campbell, Romans (s.-Anm.-26), 347f. Paulus die herrschenden Institutionen als „Anordnung“ des Gottes Israels (V. 1f.) und als dessen „Diener“ (V. 4) versteht und damit den Abstand zu griechisch-römischen Herrscherkulten wahrt, in denen der Herrscher als „gött‐ lich“ gilt. Unterschiedliche Einschätzungen finden sich jedoch mit Blick auf die Frage, welche Rolle die Eschatologie an dieser Stelle spielt. So misst etwa Krauter der Eschatologie hier keine besondere Relevanz zu. Paulus lege den Christusgläubigen zwar untereinander ein verändertes Ethos nahe, jedoch empfehle er nach außen ein Verhalten, „sich in vorgegebene Strukturen zu fügen“, zumal dieses „zugleich gesellschaftskritische und gesellschaftskonforme Verhalten […] für eine Minderheitensituation typisch“ sei. 99 Demgegenüber sieht William Campbell in der Betonung, dass die politische Herrschaft von Gott angeordnet und ihm als „Diener“ untergeben ist, einen impliziten Hinweis darauf, dass dies nur für eine begrenzte Zeit gilt und die Adressatinnen und Adressaten sorgfältig abwägen sollten, wem tatsächlich „Furcht“ und „Ehre“ gebührt (V.-7). 100 Die erstgenannte Interpretation ist somit stärker am Wortlaut des Textes orientiert, während die zweite die „hidden transcripts“ 101 erkundet und damit gewissermaßen „zwischen den Zeilen“ zu lesen versucht. 4. Fazit Wie in der Darstellung dieser ausgewählten Themen der Forschungsdiskussion deutlich wird, sind in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Römerbrief in mehrfacher Hinsicht neue Ansätze und weiterführende Perspek‐ tiven festzustellen. Dabei richtet sich der Blick zum einen auf Paulus als Jude, der an Christus glaubt und sich als Missionar der nichtjüdischen Völker versteht, und auch die Debatte über die intendierten Adressatinnen und Adressaten des Römerbriefs geht neue Wege. Dass sich die differenzierte Beantwortung dieser grundlegenden Fragestellungen in vielfältiger Weise auf die Interpretation des Briefs auswirkt und von da aus wiederum auf die grundlegenden Fragen zurückwirkt, konnte hier nur mit Blick auf einige ausgewählte Textbereiche erläutert werden. Angesichts der angeregten gegenwärtigen Diskussionslage ist dabei kaum zu erwarten, dass das Forschungsinteresse am Römerbrief in den kommenden Jahren abnimmt. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 26 Konrad Schwarz Dr. Konrad Schwarz studierte Evangelische Theologie in Berlin und Pietermaritzburg (Südafrika). Seit 2013 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Schwer‐ punkte seiner Forschung sind das Thomasevangelium, die Gleichnisse und Parabeln Jesu und die Ethik des Paulus im Römerbrief. Derzeit arbeitet er zusammen mit Andreas Lindemann und Jens Schröter an der Neuauflage des „Arbeits‐ buchs zum Neuen Testament“. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 Der Römerbrief in der neueren Forschungsdiskussion 27
