eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 27/53

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2024-0002
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2024
2753 Dronsch Strecker Vogel

Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes

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2024
Stefan Alkier
Thomas Paulsen
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1 F.-M. Abel, Grammaire du Grec biblique, Paris 1927, 359; zitiert nach Marius Reiser, Sprache und literarische Formen des Neuen Testaments, Paderborn u.-a. 2001, 73. Zum Thema Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes Stefan Alkier und Thomas Paulsen (14) Deshalb, Geliebte, bemüht euch dieses erwartend, unbefleckt und untadelig vor Ihm gefunden zu werden in Frieden, (15) und haltet die Langmut unseres Herrn für Rettung, wie auch unser geliebter Bruder Paulus gemäß der ihm gegebenen Weisheit euch geschrieben hat (16) wie auch in allen Briefen, redend in ihnen über diese Dinge, in denen manches schwer zu Erkennende ist, das die Ungebildeten und Ungefestigten verdrehen werden wie auch die übrigen Schriften - zu ihrem eigenen Verderben. (2Petr 3,14-16, Übersetzung Stefan Alkier/ Thomas Paulsen, FNT 6 [in Vorbereitung]) Die Perioden, zu denen der heilige Paulus ansetzt, werden selten glücklich zu Ende geführt. Nicht, daß er die Regeln der Grammatik verachtete, aber er vergißt sie einfach (…) und (…) läßt sich (…) fortreißen vom ungestümen Schwall seines Gedankens in unvermittelte Abschweifungen, in Parenthesen, Anakoluthe und häufige Ausflüge ins Unerwartete. (…) der Stil der paulinischen Briefe [ist] voller Irregularitäten und Härten, über die hinweg sich der Faden der Argumentation fortspinnt unter großem Aufwand an Partikeln und Partizipien, die einen Ausgleich bieten für die Lücken des Diskurses. (F.-M.-Abel) 1 1. Eine kurze Vorbemerkung zum Problem der Übersetzung und des Verstehens Übersetzen stellt vor große Herausforderungen. Wir, der Neutestamentler Stefan Alkier und der Gräzist Thomas Paulsen, möchten mit unserer phi‐ lologisch-kritischen Neuübersetzung aller neutestamentlichen Schriften im 2 Bisher erschienen sind: Stefan Alkier/ Thomas Paulsen, Die Apokalypse des Johannes. Neu übersetzt und mit Einleitung, Epilog und Glossar (FNT 1), Paderborn 2020; dies., Die Evangelien nach Markus und Matthäus. Neu übersetzt und mit Überlegungen zur Sprache des Neuen Testaments, zur Gattung der Evangelien und zur intertextu‐ ellen Schreibweise sowie mit einem Glossar (FNT 2), Paderborn 2021; dies., Das Evangelium nach Johannes und die drei Johannesbriefe. Neu übersetzt und mit Überlegungen zu Sprache, Kosmologie und Theologie im Corpus Johanneum sowie einem Glossar (FNT 3), Paderborn 2022; dies., Das Evangelium nach Lukas und die Taten der Abgesandten. Neu übersetzt (FNT 4), Paderborn 2023. FNT 5 wird 2025 erscheinen und die sieben unbestrittenen Paulusbriefe in neuer Übersetzung bieten. FNT 6 mit der Neuübersetzung der übrigen Briefliteratur soll 2026 erscheinen. Als Abschluss wird es dann noch eine Studienausgabe mit den Studienfassungen aller neutestamentlichen Texte geben. 3 Vgl. Martin Rösel/ Hannelore Jahr, „Eine kleine Biblia“. Die Beigaben zur Lutherbibel, in: Margot Käßmann/ Martin Rösel (Hg.), Die Bibel Martin Luthers. Ein Buch und seine Geschichte, Leipzig 2016, 94-116, hier: 96. Vgl. auch Stefan Alkier, Luthers Bibel. Das Septembertestament als Bannbulle der Johannesapokalypse, in: Stefan Alkier/ Thomas Paulsen (Hg.), unter Mitarbeit von Simon Dittmann, Apocalypse Now? Studien zur Intertextualität und Intermedialität der Johannesapokalypse von Dante bis Darksiders (Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main-13), Leipzig 2022, 69-92. Rahmen des Koine-Griechisch ihrer Entstehungszeit die sprachliche Gestal‐ tung dieser Texte im Griechischen so weit wie im Deutschen möglich nach‐ ahmen. 2 Wir wollen diese Texte deshalb auch nicht verständlicher machen, als sie im Griechischen sind. Das aber war und ist das Programm der Lutherbibel und anderer deutschsprachiger Bibelversionen, insbesondere derjenigen, die überwiegend von Kirchenleitungen herausgegeben werden: Durch Verein‐ deutigungen mehrdeutiger Passagen, Weglassen sperriger Formulierungen, erläuternde Ergänzungen und Paraphrasierungen und nicht zuletzt durch Absatzziehungen, Überschriften und erklärende Randbeigaben im Sinne der jeweiligen theologischen Überzeugung werden die Bibelübersetzungen im eigentlichen Sinn zum Buch der jeweiligen Kirche. Auch Luther wollte biblische Schriften nicht primär philologisch-kritisch verständlich machen, sondern theologisch und zwar in dem Sinn, wie er die Bibel verstand. Martin Luther benutzte von Anfang an seine Bibel, um seine Theologie zu verbreiten, 3 was ja auch bewundernswert und sehr erfolgreich gelungen ist. Dabei blieb das Bibelverständnis Luthers weitgehend von der lateinischen Fassung, der Vulgata, geprägt, und wegen des konfessionsübergreifenden Erfolges der Lu‐ therbibel über die Jahrhunderte hinweg ist die Perspektive auch evangelischer Theologien weitgehend von der Vulgata geprägt, die erhebliche theologische Differenzen zu den griechischen Fassungen aufweist. Das Frankfurter Neue Testament dagegen ignoriert die Vulgata methodisch und mit ihr spätere Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 30 Stefan Alkier und Thomas Paulsen 4 Vgl. dazu Stefan Alkier, Hölle, in: WiBiLex 2021 (https: / / bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 52058/ ; letzter Zugriff am 09.01.2024); ders., Spiel mit dem Feuer - oder: Warum es (nicht nur) im Matthäusevangelium keine Hölle gibt, in: JBTh-36 (2021), 73-101. 5 Tobias Nicklas, Neutestamentlicher Kanon und christliche Apokryphen. Trends, Themen und Thesen, in: ZNT-51 (2023), 5-26. theologische Entwicklungen, die eine christlich-religiöse Sondersprache her‐ vorbrachten und die etwa zum Komplex der Sünden-Buße-Höllentheologie führten, von denen die biblischen Texte in ihren ausgangssprachlichen Ver‐ sionen nichts wissen. 4 Die lateinischen, römisch-katholischen Traditionen aber haben „mentale Bibeln“ (Tobias Nicklas), 5 also die Überzeugungen davon, was so alles in der Bibel steht, bis heute weit mehr geprägt als die hebräischen, aramäischen und griechischen Fassungen der alttestamentlichen Schriften und die griechischen Fassungen der neutestamentlichen Schriften. Das Frank‐ furter Neue Testament will demgegenüber neu ins Spiel bringen, was die griechischen Fassungen sagen und was nicht. Wir sind selbst überrascht darüber, wie wenig religiöse oder gar theologische Sondersprache die neu‐ testamentlichen griechischen Texte verwenden. Sie bleiben weitgehend im Rahmen des alltäglichen, allgemein verständlichen Koine-Griechisch. Deshalb theologisieren wir diese Texte in unserer mimetischen Bemühung nicht, vereinfachen und vereindeutigen sie auch nicht und übersetzen daher proble‐ matisches, anstößiges oder gar fehlerhaftes Griechisch mit problematischem, anstößigem oder gar fehlerhaftem Deutsch, soweit sich das nachahmen lässt. Leicht zu übersetzende Passagen wechseln in den griechischen Fassungen häufig mit sehr schwierigen und mehrdeutigen Passagen ab, was manchmal an der grundsätzlichen Problematik liegt, dass Ausgangs- und Zielsprache unterschiedlich arbeiten und so manches kaum adäquat in der Zielsprache nachgeahmt werden kann. Manche Schwierigkeiten sind aber auch vom Sprachstil des Verfassers und seiner ganz spezifischen Ausdrucksweise ver‐ ursacht, die es auch schon den Leserinnen und Lesern seiner eigenen Zeit schwer gemacht haben wird, die Aussagen zu verstehen. Die Charakterisierung der Satzperioden in paulinischen Briefen durch F.-M. Abel könnte man beinahe als eine Erläuterung der eingeräumten Schwierig‐ keiten lesen, die Schreiben des Paulus zu verstehen, die schon der 2Petr beklagt und damit zugleich einen sehr frühen Hinweis auf die Sammlung dieser Briefe (und auch anderer Schriften) und Streitigkeiten um ihr Verständnis gibt. Aber welchen Anteil daran haben Sprache, Stil und Schreibweise des Apostels und was hat dann trotz sprachlicher Hürden zu dem enormen Rezeptionserfolg geführt, der nicht nur zu Sammlungen seiner Briefe führte, sondern das Corpus Paulinum zum umfangreichsten Teil der neutestamentlichen Schriftensamm‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes 31 6 Marius Reiser, Sprache und literarische Formen des Neuen Testaments, Stuttgart 2001, 77. lung werden ließ? Letzteres trifft sogar schon für den Gesamtumfang der sieben Briefe zu, die weitgehend als authentisch gelten, nämlich Röm, 1 u. 2Kor, Gal, Phil, 1Thess, Phlm. Liest man aber deutsche Übersetzungen von Luther über die Zürcher Bibel bis zur Bibel in gerechter Sprache und der Einheitsübersetzung, so kommt Paulus doch in einem weitgehend wohl gegliederten, gelehrt temperierten und weitgehend nachvollziehbaren Sprachduktus herüber. Auch wenn manche Gedankenführungen schwer zu verstehen sind und Anlass zu unterschiedlichen Interpretationen geben, so scheint das doch nicht an der Sprache der Paulus‐ briefe zu liegen, die in den deutschen Übersetzungen den Eindruck hinterlassen, dass der gelehrte Verfasser dieser Briefe sich in aller Seelenruhe gemütlich mit einem Getränk seiner Wahl hingesetzt und wohltemperiert und überwiegend eindeutig verständlich geschrieben bzw. diktiert hat. Folgt man den genannten Übersetzungen, bildet der „deutsche Paulus“ keine zu langen Sätze, die Verhält‐ nisse der Satzteile sind klar und stimmig konstruiert und reißen auch nicht plötzlich ab, und die Wortwahl ist ebenfalls auf unanstößige Verständlichkeit hin angelegt. Hat Abel übertrieben? Nein, hat er nicht. Vielmehr trifft zu, was Marius Reiser in seiner Monographie Sprache und literarische Formen des Neuen Testaments dazu schrieb: „In den modernen Übersetzungen ist der Stil des Paulus leider allzu sehr domestiziert und ‚in Ordnung‘ gebracht, so daß in ihnen sein ‚Donner‘ nur noch von ferne hörbar ist und die Blitze merklich an Schein verloren haben.“ 6 Eine Gegenüberstellung von Röm 1,1-7 in der Lutherübersetzung und in der Übersetzung, die wir für den im Entstehen begriffenen fünften Band des Frankfurter Neuen Testaments angefertigt haben, soll davon einen ersten Eindruck geben. Die Lutherübersetzung zerlegt den sich über sieben Verse erstreckenden ersten Satz des Römerbriefes und bildet in Abweichung vom griechischen Text daraus drei Sätze. Damit ermöglicht sie den Lesenden Atem‐ pausen, die der griechische Text aber nicht vorsieht, und raubt ihm so den blitzartigen Einsatz einer atemlosen Satzperiode als donnernde Brieferöffnung. Die philologisch-kritische Neuübersetzung des Frankfurter Neuen Testaments dagegen bemüht sich darum, die griechische Vorlage in ihrer Geschwindigkeit und rastlosen Komplexität nachzuahmen, soweit es die deutsche Grammatik erlaubt, und konstruiert dem griechischen Römerbrief entsprechend einen einzigen Satz: Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 32 Stefan Alkier und Thomas Paulsen Luther 2017: 1,1 Paulus, ein Knecht Christi Jesu, berufen zum Apostel, ausgesondert zu predigen das Evangelium Gottes, (2) das er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in der Heiligen Schrift, (3) von seinem Sohn, der geboren ist aus dem Geschlecht Davids nach dem Fleisch, (4) der eingesetzt ist als Sohn Gottes in Kraft nach dem Geist, der da heiligt, durch die Auferstehung von den Toten - Jesus Christus, unserm Herrn. (5) Durch ihn haben wir empfangen Gnade und Apostelamt, den Gehorsam des Glaubens um seines Namens willen aufzurichten unter allen Heiden, (6) zu denen auch ihr gehört, die ihr berufen seid von Jesus Christus. (7) An alle Geliebten Gottes und berufenen Heiligen in Rom: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus! FNT 5: 1,1 Paulus, Knecht Christi Jesu, berufener Abgesandter, abgesondert zur Frohbotschaft Gottes, (2) die Er vorangekündigt hat durch seine Propheten in heiligen Schriften (3) über seinen Sohn, den Gewordenen aus Samen Davids dem Fleisch nach, (4) den zum Sohn Gottes Bestimmten in Macht dem Geist der Heiligung nach seit der Auferstehung von Toten, Jesus Christus, unseren Herrn, (5) durch den wir Gunst empfangen haben und Abgesandtschaft im Gehorsam des Vertrauens bei allen Völkerschaften für seinen Namen, (6) unter denen auch ihr Berufene Jesu Christi seid, (7) allen in Rom seienden Geliebten Gottes, berufenen Heiligen, Gunst euch und Frieden von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Noch problematischer ist die Zerstückelung von Röm 1,14-16, die sogar noch durch eine Absatzziehung nach 1,15 und eine eigene Überschrift vor 1,16 zementiert wird und es so verunmöglicht, den inhaltlichen Zusammenhang dieser Satzkonstruktion zu begreifen. Luther 2017: 1,14 Griechen und Nichtgriechen, Weisen und Nichtweisen bin ich es schuldig; (15) darum, soviel an mir liegt, bin ich willens, auch euch in Rom das Evangelium zu predigen. Das Evangelium als Kraft Gottes (16) Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. FNT 5: 1,14: Sowohl Griechen als auch Anderssprachigen, sowohl Weisen als auch Unverständigen bin ich Schuldner, (15) so die Bereitschaft meinerseits auch euch, denen in Rom, froh zu verkünden, (16) denn nicht schäme ich mich der Frohbotschaft: Eine Kraft Gottes nämlich ist sie zur Rettung für jeden Vertrauenden, sowohl Jude zuerst als auch Grieche. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes 33 7 In diesem Zusammenhang wird auch der ideologisch hoch belastete Terminus „Ur‐ christentum“ erfunden. Vgl. dazu Stefan Alkier, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin (BHTh-83), Tübingen 1993. Nur wenn man den griechischen Satzzusammenhang von 1,14-16 respektiert und ihn im Deutschen nachahmt, wird verständlich, dass 1,16 erläutert, dass Paulus mit seiner Verkündigung in Rom seine Schuldigkeit zu erfüllen bereit ist, auch wenn dies gefährlich ist. Aus römischer Perspektive ist die Nachricht von einem Gekreuzigten eine von Schimpf und Schande und einen Gekreuzigten zu verkünden stellt sogar einen Rechtsbruch dar. Den ist Paulus aber bereit einzu‐ gehen, denn er schämt sich dieser Geschichte nicht, vielmehr betrachtet er sie als Evangelium, als gute Nachricht, als Frohbotschaft, die selbst eine Kraft Gottes ist, und setzt damit das theologische Grundanliegen des Schreibens in einem Atemzug in den Zusammenhang seiner Reisepläne. Dieser bedeutungsvolle syntaktische Zusammenhang wird mit der Lutherbibel ohne übersetzerische Not unkenntlich gemacht. 2. Das Koine-Griechisch der Paulusbriefe Paulus schreibt wie alle anderen Autoren der neutestamentlichen Schriften‐ sammlung das Koine-Griechisch seiner Zeit. Dieses steht in weitgehender Kontinuität zum seit dem 19. Jahrhundert so genannten „Klassischen Grie‐ chisch“. Als „Klassiker“ galten insbesondere Homer, der im ionischen Dialekt schrieb, und die attisch schreibenden Dramatiker Aischylos, Sophokles, Euri‐ pides und Aristophanes sowie die Philosophen Platon und Aristoteles und die Geschichtsschreiber Thukydides und Xenophon. Die Bezeichnung „Klassisches Griechisch“ hat im Zusammenhang des zwischen 1770 und 1830 explodierenden Ursprungsdenkens 7 dazu beigetragen, dass spätere sprachliche Entwicklungen als minderwertig betrachtet wurden und die als Koine bezeichnete Verkehrs‐ sprache fälschlicherweise in den Geruch kam, „schlechtes“ Griechisch zu sein. Absurderweise wurde dann auch noch die Chimäre eines „neutestamentlichen Griechisch“ davon unterschieden, wohl nicht zuletzt deshalb, weil in die Übersetzung der griechischen neutestamentlichen Schriften zahlreiche Vulga‐ tismen einflossen und so aus dem allgemeinverständlichen Koine-Griechisch der neutestamentlichen Literatur anachronistisch ein katholisch-lateinisches Theologengriechisch mit zahlreichen Sonderbedeutungen gemacht wurde, wie es bis heute durch die gängigen Wörterbücher unsachgemäß verbreitet wird. Der Begriff Koine (mit langem ‚e‘; auf der zweiten Silbe zu betonen; griechisch κοινή, eigentlich κοινὴ διάλεκτος (koinē dialektos-=-„gemeinsame Sprache“) bezeichnet die‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 34 Stefan Alkier und Thomas Paulsen 8 Stefan Alkier/ Thomas Paulsen, Neutestamentliches Griechisch? Notwendige philolo‐ gische Bemerkungen zu einer exegetischen Chimäre und zur Koine der Evangelien nach Markus und Matthäus, in: dies., Die Evangelien nach Markus und Matthäus (s. Anm. 2), 1-36, hier: -3. 9 Stefan Alkier/ Thomas Paulsen, Neutestamentliches Griechisch? (s.-Anm.-8), 4. 10 Vgl. Thomas Paulsen, Koine, in: WiBiLex 2020 (https: / / bibelwissenschaft.de/ stichwort/ 200473/ ; letzter Zugriff am 09.01.2024). 11 Vgl. Robert Morgenthaler, Statistik des Neutestamentlichen Wortschatzes, Zürich 4 1992, 164. jenige weitgehend einheitliche Sprachform des Griechischen, die sich im griechischen Mutterland ab der zweiten Hälfte des 4. Jh. v. Chr. etablierte und sich in Folge der Eroberungen Alexanders III. von Makedonien (des so genannten Großen, reg. 336- 323 v. Chr.) binnen weniger Jahrzehnte im gesamten östlichen Mittelmeerraum und den anschließenden Gebieten (in modernen Termini: Türkei, Syrien, Israel, Irak, Iran, Saudi-Arabien und Ägypten) ausbreitete. Sie fungierte bis ins 6. Jh. n. Chr. als übliche Verkehrssprache der genannten Regionen. 8 Da im 4. Jh. v. Chr. Athen das konkurrenzlose Kulturzentrum der griechischsprachigen Welt darstellte und das dort gesprochene Attisch auch im philhellenischen Makedo‐ nien Philipps II. und seines Sohnes Alexanders III. Amtssprache war, wurde die sich neu entwickelnde Gemeinsprache im Wesentlichen durch das attische Griechisch geprägt. Größere Bedeutung kommt darüber hinaus für die Koine nur noch dem Ionischen zu, dorische Elemente sind spärlich, Einflüsse anderer Dialekte wie etwa des Arkadischen marginal. 9 Zum Koine-Griechisch sind auch die griechischen Versionen der Schriften Israels zu zählen, 10 also die sogenannte Septuaginta (LXX), so dass auch die Septuagintismen in den Paulusbriefen im Rahmen des Koine-Griechisch anzu‐ siedeln sind und nur in sehr wenigen Fällen echte Hebraismen konstatiert werden müssen. 3. Wortschatz der paulinischen Briefliteratur Der Wortschatz der paulinischen Briefe ist zwar mit 2648 Wörtern in absoluten Zahlen der umfangreichste (es folgen Lk: 2055, Apg: 2038). Da das Textcorpus der Paulusbriefe aber auch mit Abstand das umfangreichste ist (einbezogen sind hier nur Röm, 1Kor, 2Kor, Gal, Phil, 1Thess, Phlm), relativiert sich diese Zahl stark, wenn man den Quotienten aus Gesamtwörterzahl und Zahl der verschiedenen Wörter betrachtet (je höher der Quotient, desto geringer der Wortschatz). Die folgende Statistik baut auf Morgenthaler 11 auf, allerdings bereinigt um die nicht sicher echten Paulusbriefe. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes 35 Paulus 24053 Wörter insg. 2132 versch. Quotient: 11,28 z. Vgl.: Mt 18305 - 1691 - 10,82 - Mk 11242 - 1345 - 8,36 - Lk 19428 - 2055 - 9,45 - Joh 15416 - 1011 - 15,25 - Apg 18382 - 2038 - 9,02 - Apk 9834 - 916 - 10,74 - Der paulinische Wortschatz ist damit relativ geringer als der aller narrativen Texte des Neuen Testaments außer Joh. Der Verfasser mit dem größten Wort‐ schatz neutestamentlicher Schriften ist Markus! Natürlich ist ein direkter Vergleich wegen der unterschiedlichen Textgattungen schwierig: In argumen‐ tativen Texten ist grundsätzlich geringerer Wortschatz zu erwarten als in narrativen. Sonderbedeutungen der verwendeten Worte sind nicht zu konsta‐ tieren. Die Semantik der neutestamentlichen Schriften - und das gilt auch für die paulinischen Briefe - wird aus dem Koine-Griechisch verständlich. Das gilt auch für Neologismen, z. B. νέκρωσις (nekrōsis, Absterben, Röm 4,19), προστάτις (prostatis, Vertreterin, Röm 16,2), προσωπολημψία (prosōpolēmpsia, Ansehensvorzug, Röm 2,11), die wohl Paulus prägt, eine Annahme, die unter dem Vorbehalt steht, dass wir nur einen Bruchteil - die Schätzungen liegen zwischen 3-und-10% - der antiken griechischen Literatur kennen. Bei den Lieblingswörtern der paulinischen Briefe ist nicht nur auf ihre absolute Häufigkeit zu achten, sondern auch auf ihre relative gegenüber der sonstigen Verwendung in neutestamentlichen Schriften. Wir verzichten hier aus Raumgründen auf eine weitere Ausdifferenzierung und Kommentie‐ rung, welche die Verwendung auf die jeweiligen anderen neutestamentlichen Schriften darstellen und erläutern müsste. Wie wichtig das aber ist, zeigt etwa, dass das Wort ἐλπίς (elpis, Hoffnung) bei Paulus 25mal zu finden ist, aber in allen Evangelien fehlt. ἀγάπη agapē, Liebe 47 NT sonst: 69 ἀδελφός adelphos, Bruder, Pl. Brüder, Geschwister 113 - 230 ἀκροβυστία akrobystia, Vorhaut 16 - 4 ἐλπίς elpis, Hoffnung 25 - 28 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 36 Stefan Alkier und Thomas Paulsen καυχᾶσϑαι kauchasthai, sich rühmen 34 3 λογίζεσϑαι logizesthai, anrechnen, berechnen, bedenken 33 - 7 νόμος nomos, Gesetz 116 - 75 περιτομή peritomē, Beschneidung 24 - 11 πίστις pistis, Vertrauen 91 - 152 σάρξ sarx, Fleisch 72 - 75 συνείδησις syneidēsis, Gewissen 14 - 16 σῶμα sōma, Körper, Leib 74 - 68 χάρις charis, Gunst 68 - 87 χάρισμα charisma, Gunsterweis 14 - 3 4. Zur Syntax der paulinischen Briefe Paulus schreibt wie alle Autoren der im Neuen Testament gesammelten Schriften überwiegend parataktisch, Hypotaxen umfassen selten mehr als einen Nebensatz I. Ordnung. Seine Syntax ist am ehesten mit der von Lk und Apg vergleichbar: Die Sätze sind wie bei ihnen im Durchschnitt länger als bei Mt, Mk, Joh u. Apk. Sehr lange Perioden sind aber auch in den paulinischen Briefen eher selten und meist an herausgehobenen Stellen zu finden wie am Beginn des Röm: Der erste Satz-(1,1-7) ist zugleich mit 93-Wörtern der längste im Röm. Neben Lk u. Apg orientiert sich Paulus am stärksten an der klassischen Syntax, so insbesondere in der Vorliebe für substantivierte Infinitive und AcIs (z.-B. Röm-1,11.20.24; 4,13.16.18; 12,2; 13,8; 14,13). Singulär im NT ist seine Vorliebe für die Substantivierung des Neutrums von Adjektiven (z. B. Röm 1,19f.), das im klassischen Griechisch häufiger zu beobachten ist (besonders typisch für den späten Platon). In seinem Hang, Satzprädikate wegzulassen (z. B. Röm 2,8-10; 10,1.4.17; 11,11.12.28.29; 12,9) ist er am ehesten mit Apk vergleichbar. Auch hier sei ein Beispiel angeführt. Die Satzperiode Röm 12,9-13 enthält kein Prädikat und ist zudem ein sehr gutes Beispiel für den intensiven Gebrauch von Partizipien. FNT 5: 12,9 Die Liebe ohne Angeberei, verabscheuend das Schlechte, sich anheftend an das Gute, (10) in Geschwisterliebe zueinander herzlich liebend, in der Ehrerbietung einander vorausgehend, (11) im Eifer nicht zögerlich, im Geist brennend, dem Herrn dienend, (12) in der Hoffnung sich freuend, in der Bedrängnis ausharrend, im Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes 37 Gebet standhaltend, (13): an den Bedürfnissen der Heiligen Anteil nehmend, die Fremdenfreundlichkeit verfolgend. Demgegenüber ergänzt die Lutherbibel 2017 nicht nur das Prädikat in 12,9a, sondern löst die ganze Satzperiode in mehrere kurze Sätze auf, indem sie, die Partizipien des griechischen Paulus ignorierend, eine Reihung von Imperativen an ihre Stelle setzt, die einen ganz anderen Sinneffekt erzeugen. Aus den erläuternden und Möglichkeiten einer „Liebe ohne Angeberei“ aufzeigenden Partizipialkonstruktionen der griechischen Satzperiode, die den prädikatlosen Slogan „Liebe ohne Angeberei“ und seine pragmatische Wucht konkretisieren, werden in der Lutherübersetzung separate moralistische Imperative geformt, die zwar gut zu einem lutherischen Obrigkeitsdenken passen, sich aber weit von der gleichermaßen indikativischen wie appellativen Rhetorik der griechi‐ schen Satzperiode entfernen, weil sie den erläuternden Charakter von 12,9b-13 in Relation zu 12,9a ignorieren und ihn für deutsche Leserinnen und Leser unkenntlich machen: Luther-2017: 12,9-Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an. (10)-Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. (11)-Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn. (12)-Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet. (13)-Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft. 5. Stil und Stilmittel der paulinischen Briefe 5.1 Stil Die Satzperiode 12,9-13 ist auch ein gutes Beispiel für den Stil der Paulusbriefe, der darauf schließen lässt, dass sie nicht als Leseliteratur, sondern primär für den mündlichen Vortrag konzipiert wurden. Dadurch lassen sich viele syntaktische Irregularitäten, die aber typisch für gesprochene Sprache sind, erklären. Manche Unklarheiten, die im stillen individuellen Lesen entstehen, lösen sich beim Vor‐ trag auf. Fehlende Prädikate und Anhäufungen von Partizipien erzeugen beim lauten Lesen eine appellative Intensität, die eine Anhäufung von Imperativen nicht erreichen kann. Solche Stilmittel wirken umso mehr, als Paulus immer wieder zwischen Nominal- und Verbalstil wechselt. Diesbezüglich liegt er im Mittelfeld neutestamentlicher Schriften: Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 38 Stefan Alkier und Thomas Paulsen 12 Vgl. dazu Reiser, Sprache (s.-Anm.-6), 74f. am stärksten nominal: Apk Subst. 34,5% Verben: 33,9% - Paulus - 33,7% - 35,8% am stärksten verbal: Lk - 32,8% - 38,9% Die Argumentationsgänge der paulinischen Schriften sind stark durch Paralle‐ lismen und Antithesen geprägt. Viele Passagen sind rhetorisch durchgefeilt, aber nicht immer auf dieselbe Weise: Ganz im Sinne klassischer Rhetorik mit paralleler Syntax- und Gedankenführung sind z. B. das „Hohelied der Liebe“ in 1Kor 13 und die Schilderung der leiblichen Auferstehung in 1Kor 15,42- 44 geprägt. 12 Regelrecht „klassisch“ formuliert ist Röm 2,12f. mit Antithese, Parallelismus, Polyptoton, Geminatio, Anapher. Typisch aber für Paulus ist eine sukzessive und assoziative Denkweise mit Gedankensprüngen, verkürzten Formulierungen, Ellipsen, Parenthesen und Anakoluthen, die das Verständnis manchmal sehr erschweren (vgl. z. B. Röm 2,14-16; 11,17-24). Oft kreisen die Gedanken lange und wiederholungs‐ reich um ein Thema (vgl. z.-B. Röm-2,25-29). Es finden sich auch Elemente der Diatribe: häufige Fragen (für die man sich oft einen fictus interlocutor vorstellen kann, dies besonders deutlich Röm-9,19), die unmittelbar beantwortet werden (z. B. Röm 8,31-35; 9,30.32; 11,4.7). Häufig sind paradox anmutende Fragen, deren Beantwortung mit μὴ γένοιτο (mē genoito, das geschehe nicht) eingeleitet wird (z.-B. Röm-6,15; 11,1.11). Die paulinischen Briefe arbeiten häufig mit Metaphern, die z. T. kühn und schwer verständlich sind, gerne auch, indem ein konkreter Begriff durch einen abstrakten ersetzt wird. Ein krasses Beispiel bietet Röm 2,25-28, wo „Vorhaut“ metonymisch für die nicht Beschnittenen, „Beschneidung“ als abstractum pro concreto für die Beschnittenen verwendet wird: Wir stellen auch hier noch einmal unsere Übersetzung der glättenden Übersetzung der Lutherbibel gegen‐ über: FNT 5: 2,25 Beschneidung nämlich nützt, wenn du das Gesetz ausführst. Wenn du aber ein Überschreiter des Gesetzes bist, ist deine Beschneidung zur Vorhaut geworden. (26) Wenn nun die Vorhaut die Rechtssätze des Gesetzes bewahrt, wird nicht seine Vorhaut als Beschneidung angerechnet werden? (27) Und richten wird dich die das Gesetz aus Natur erfüllende Vorhaut, der du durch Schrift und Beschneidung ein Übertreter des Gesetzes bist. (28) Nicht nämlich ist der im Offensichtlichen Jude und nicht die Beschneidung im Offensichtlichen, im Fleisch-[…]. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes 39 13 Vgl. dazu Reiser, Sprache (s.-Anm.-6), 76. Luther 2017: 2,25 Die Beschneidung nützt etwas, wenn du das Gesetz hältst; hältst du aber das Gesetz nicht, so bist du aus einem Beschnittenen schon ein Unbeschnittener geworden. (26) Wenn nun der Unbeschnittene hält, was nach dem Gesetz recht ist, meinst du nicht, dass dann der Unbeschnittene vor Gott als Beschnittener gilt? (27) Und so wird der, der von Natur aus unbeschnitten ist und das Gesetz hält und das Gesetz erfüllt, dir ein Richter sein, der du unter dem Buchstaben stehst und beschnitten bist und das Gesetz übertrittst. (28) Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist, auch ist nicht das die Beschneidung, die äußerlich am Fleisch geschieht-[…] Gelegentlich werden in den paulinischen Briefen auch Gleichnisse verwendet, die Paulus allerdings kaum als großen Gleichniserzähler erkennen lassen, nach Reiser sogar meist misslingen: Töpfergleichnis (Röm 9,21f.); Gleichnis vom gepfropften Ölbaum (Röm-11,17-24); Glieder des Körpers (Röm-12,4-8). 13 5.2 Stilmittel Wie sehr die paulinischen Briefe sprachlich in der griechisch-römischen Kultur beheimatet sind, zeigt sich nicht zuletzt an ihren Stilmitteln, die in antiken Texten aller Zeiten, griechischen wie lateinischen, gängig sind. Mehrfach finden sich asyndetische (ohne Konnektor) oder polysyndetische (durchgehend mit Konnektoren) Aufzählungen, in denen oft eine assoziative Aneinanderreihung herrscht, in der die Glieder oft nur teilweise zueinander passen. Bestes Beispiel dafür ist eine asyndetische Aufzählung in Röm 1,29-31, die insgesamt 21 Glieder umfasst. Diese sind in drei Gruppen unterteilt. Hierbei finden sich auch zwei Paronomasien, also Wortspiele mit ähnlich klingenden Begriffen, die wir durch Fettdruck hervorheben: 1. vier instrumentale Dative, die als feminine sich reimende Substantive ein Homoioteleuton ergeben, abhängig von dem Partizip πεπληρωμένους: πάσῃ ἀδικίᾳ, πονηρίᾳ, πλεονεξίᾳ, κακίᾳ (peplērōmenous: pasē adikia, ponēria, pleonexia, kakia; angefüllt mit jeglicher Ungerechtigkeit, Bosheit, Habgier, Schlechtigkeit) 2. fünf Genitivattribute, abhängig von dem Adjektiv μεστούς: φϑόνου, φόνου, ἔριδος, δόλου, κακοηϑείας (mestous, phthonou, phonou, eridos, dolou, kakoētheias; voll von Mißgunst, Mord, Streit, List, schlechtem Charakter) 3. zwölf Substantive oder substantivierte Adjektive, deren letzte vier alliterieren: ψιϑυριστάς, καταλάλους, ϑεοστυγεῖς, ὑβριστάς, ὑπερηφάνους, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 40 Stefan Alkier und Thomas Paulsen ἀλαζόνας, ἐφευρετὰς κακῶν, γονεῦσιν ἀπειϑεῖς, ἀσυνέτους, ἀσυνϑέτους, ἀστόργους, ἀνελεήμονας (psithyristas, katalalous, theo‐ stygeis, hybristas, hyperēphanous, alazonas, epheuretas kakōn, goneusin apeitheis, asynetous, asynthetous, astorgous, aneleēmonas; Gerüchtema‐ cher, Verleumder, Gotthasser, Frevler, Hochmütige, Aufschneider, Erfinder von Schlechtem, den Eltern Ungehorsame, Unverständige, Wortbrü‐ chige, Lieblose, Unbarmherzige). Ein markantes Beispiel für eine polysyndetische Aufzählung bietet Röm 8,38f. Diese zehngliedrige Aufzählung besteht zum Teil aus Gegensatzpaaren (fett markiert), zum Teil aber auch aus einer locker assoziativ wirkenden Reihung: οὔτε ϑάνατος οὔτε ζωὴ οὔτε ἄγγελοι οὔτε ἀρχαὶ οὔτε ἐνεστῶτα οὔτε μέλλοντα οὔτε δυνάμεις (39) οὔτε ὕψωμα οὔτε βάϑος οὔτε τις κτίσις ἑτέρα […] (oute thanatos oute zōē oute angeloi oute archai oute enhestōta oute mellonta oute dynameis oute hypsōma oute bathos oute tis ktisis hetera; weder Tod noch Leben noch Engel noch Herrschaften noch Bestehendes noch Künftiges noch Mächte noch Höhe noch Tiefe noch irgendein anderes Geschöpf) Der nachdrücklichen Betonung einzelner Wörter dienen Anadiplose (unmittel‐ bare Wiederholung eines Wortes vom Ende eines Satzes oder Teilsatzes am Beginn des Folgenden) und Epanalepse (Wiederholung eines Wortes mit einem oder mehreren Wörtern dazwischen), beide Stilmittel kombiniert in Röm-9,30: ἔϑνη τὰ μὴ διώκοντα δικαιοσύνην κατέλαβεν δικαιοσύνην, δικαιοσύνην δὲ τὴν ἐκ πίστεως […] (ethnē ta mē diōkonta dikaiosynēn katelaben dikaiosynēn, dikai‐ osynēn de tēn ek pisteōs; dass Völkerschaften, die nicht Gerechtigkeit verfolgen, Gerechtigkeit empfangen haben, Gerechtigkeit aber aus Vertrauen) sowie die Repetitio (unmittelbare Wiederholung einer Wortgruppe, hier fett markiert) und die Anapher (Wiederholung eines Wortes jeweils am Beginn des folgenden Satzes oder Teilsatzes, hier unterstrichen) in Röm 13,7: ἀπόδοτε πᾶσιν τὰς ὀφειλάς, τῷ τὸν φόρον τὸν φόρον, τῷ τὸ τέλος τὸ τέλος, τῷ τὸν φόβον τὸν φόβον, τῷ τὴν τιμὴν τὴν τιμήν (apodote pasin tas opheilas, tō ton phoron ton phoron, tō to telos to telos, tō ton phobon ton phobon, tō tēn timēn tēn timēn; gebt allen das Geschuldete hin, dem die Abgabe die Abgabe, dem die Steuer die Steuer, dem die Furcht die Furcht, dem die Ehre die Ehre.). Eines der gebräuchlichsten Stilmittel antiker Literatur ist das bei Paulus eben‐ falls häufige Polyptoton, im engeren Sinne die Aufeinanderfolge verschiedener Formen desselben Wortes (nicht notwendig unmittelbar hintereinander), z. B. Röm-2,12-14: Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes 41 ὅσοι ἐν νόμῳ ἥμαρτον, διὰ νόμου κριϑήσονται· (13) οὐ γὰρ οἱ ἀκροαταὶ νόμου δίκαιοι παρὰ τῷ Θεῷ, ἀλλʼ οἱ ποιηταὶ νόμου δικαιωϑήσονται. (14) ὅταν γὰρ ἔϑνη τὰ μὴ νόμον ἔχοντα φύσει τὰ τοῦ νόμου ποιῶσιν, οὗτοι νόμον μὴ ἔχοντες ἑαυτοῖς εἰσιν νόμος (hosoi en nomō hēmarton, dia nomou krithēsontai; ou gar hoi akroatai nomou dikaioi para tō Theō, all‘ hoi poiētai nomou dikaiōthēsontai. hotan gar ethnē ta mē nomon echonta physei ta tou nomou poiōsin, houtoi nomon mē echontes heautois eisin nomos; wie viele sich im Gesetz verfehlt haben, durch das Gesetz werden sie gerichtet werden. Denn nicht die Hörer des Gesetzes: Gerechte bei Gott, sondern die Täter des Gesetzes werden für gerecht erklärt werden. Wenn nämlich Völkerschaften, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das des Gesetzes tun, sind diese, das Gesetz nicht Habenden, sich selbst Gesetz). Ein Polyptoton im weiteren Sinne als Folge verschiedener Formen von Wörtern desselben Wortstammes enthält z. B. Röm 2,1-3 mit dem Wortstamm κρίν- (krin-): διὸ ἀναπολόγητος εἶ, ὦ ἄνϑρωπε, πᾶς ὁ κρίνων· ἐν ᾧ γὰρ κρίνεις τὸν ἕτερον, σεαυτὸν κατακρίνεις, τὰ γὰρ αὐτὰ πράσσεις ὁ κρίνων. (2) οἴδαμεν δέ, ὅτι τὸ κρίμα τοῦ Θεοῦ ἐστιν […]. (3) λογίζῃ δὲ τοῦτο, ὦ ἄνϑρωπε ὁ κρίνων […], ὅτι σὺ ἐκφεύξῃ τὸ κρίμα τοῦ Θεοῦ; (dio anapologētos ei, ō anthrōpe, pas ho krinōn; en hō gar krineis ton heteron, seauton katakrineis, ta gar auta prasseis ho krínōn. oidamen de, hoti to krima tou Theou estin […] logizē de touto, ō anthrōpe ho krinōn […], hoti sy ekpheuxē to krima tou Theou? ; deshalb bist du unentschuldbar, Mensch, jeder Beurteilende. Worin du nämlich den anderen beurteilst, verurteilst du dich selbst, denn dasselbe tust du, Beurteilender. Wir wissen aber, dass das Urteil Gottes ist. Rechnest du aber damit, Mensch, der die solches Tuenden Beurteilende und es Machende, dass du dem Urteil Gottes entrinnen wirst? ). Folgen die Begriffe kurz aufeinander, entsteht eine staccato-artige Klangwir‐ kung, z.-B. Röm-12,3: λέγω γὰρ […] ἐν ὑμῖν μἠ ὑπερφρονεῖν, παρʼ ὃ δεῖ φρονεῖν, ἀλλὰ φρονεῖν εἰς τὸ σωφρονεῖν […] (legō gar […] en hymin mē hyperphronein, par’ ho dei phronein, alla phronein eis to sōphronein […]; ich sage nämlich unter euch nicht hochmütig gesinnt zu sein in Anbetracht dessen, wie man gesinnt sein muss, sondern gesinnt zu sein mit Blick auf das besonnen gesinnt Sein). Ein besonders wirkungsvolles Polyptoton, das auch als Paronomasie bezeichnet werden kann, ist die unmittelbare Aufeinanderfolge von Worten desselben Wortstammes, z.-B. in Röm-2,21f.: Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 42 Stefan Alkier und Thomas Paulsen ὁ κηρύσσων μὴ κλέπτειν κλέπτεις; (22)-ὁ λέγων μἠ μοιχεύειν μοιχεύεις; (ho kēryssōn mē kleptein klepteis? ho legōn mē moicheuein moicheueis? ; der du nun einen anderen lehrst, belehrst dich selbst nicht? Der du verkündest nicht zu stehlen, stiehlst? Der du sagst nicht ehezubrechen brichst die Ehe? ) Mehrfach findet sich eine Form der Klimax (Steigerung), bei welcher der zweite Begriff des vorangehenden zugleich der erste des folgenden Gliedes ist, z. B. Röm-8,30 (andere Bsp. Röm-5,3-5; 10,14f.): οὓς δὲ προώρισεν, τούτους καὶ ἐκάλεσεν· καὶ οὓς ἐκάλεσεν, τούτους καὶ ἐδικαίωσεν· οὓς δὲ ἐδικαίωσεν, τούτους καὶ ἐδόξασεν (hous de proōrisen, toutous kai ekalesen; kai hous ekalesen, toutous kai edikaiōsen; hous de edikaiōsen, toutous kai edoxasen; die er aber vorherbestimmt hat, diese hat er auch gerufen, und die er gerufen hat, diese hat er auch für gerecht erklärt. Die er aber für gerecht erklärt hat, diese hat er auch verherrlicht.). Manche Passagen enden mit einer feierlichen Klausel, z.-B. Röm-1,25 u.-9,5: εὐλογητὸς εἰς τοὺς αἰῶνας, ἀμήν (eulogētos eis tous aiōnas, amēn; gepriesen in die Zeitalter hinein, ja wirklich! ). Schließlich sei noch ein Beispiel für ein „Stilmittelcluster“ in Röm 12,9-15 angeführt: (9)-ἡ ἀγάπη ἀνυπόκριτος (hē agapē anhypokritos; die Liebe ohne Angeberei). (Alliteration) ἀποστυγοῦντες τὸ πονηρόν (apostygountes to ponēron; verabscheuend das Schlechte), κολλώμενοι τῷ ἀγαϑῷ (kollōmenoi tō agathō; sich anheftend an das Gute), (Parallelismus der Konstruktion, Antithese) (10) τῇ φιλαδελφίᾳ εἰς ἀλλήλους φιλόστοργοι (tē philadelphia eis allēlous philostorgoi; in Geschwisterliebe zueinander herzlich liebend), (Chiasmus: dieselbe Konstruktion, Reihenfolge umgekehrt) τῇ τιμῇ ἀλλήλους προηγούμενοι (tē timē allēlus prohēgoumenoi; in der Ehrerbietung einander vorausgehend), (11)-τῇ σπουδῇ μὴ ὀκνηροί (tē spoudē mē oknēroi; im Eifer nicht zögerlich), (Parallelismus mit Anapher der femininen Artikel) τῷ πνεύματι ζέοντες (tō pneumati zeontes; im Geist brennend), (Parallelismus mit Anapher des maskulinen Artikels) τῷ Κυρίῳ δουλεύοντες (tō Kyriō douleuontes; dem Herrn dienend), (12)-τῇ ἐλπίδι χαίροντες (tē elpidi chairontes; in der Hoffnung sich freuend), (Parallelismus mit Anapher der femininen Artikel) Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes 43 14 Hans Dieter Betz, Der Galaterbrief. Ein Kommentar zum Brief des Apostels Paulus an die Gemeinden in Galatien, aus dem Amerik. übers. u. für die dt. Ausg. red. Bearb. v.-Sibylle Ann, München 1988. 15 Stefan Alkier, Neues Testament (UTB-Basics-3404), Tübingen 2010, 273. τῇ ϑλίψει ὑπομένοντες (tē thlipsei hypomenontes; in der Bedrängnis ausharrend), τῇ προσευχῇ προσκαρτεροῦντες (tē proseuchē proskarterountes; im Gebet standhal‐ tend), (bei gleicher Wortzahl wachsende Länge der Glieder) (13) ταῖς χρείαις τῶν ἁγίων κοινωνοῦντες (tais chreiais tōn hagiōn koinōnountes; an den Bedürfnissen der Heiligen Anteil nehmend), τὴν φιλοξενίαν διώκοντες (tēn philoxenian diōkontes; die Fremdenfreundlichkeit verfolgend). (7-aufeinanderfolgende Partizipien mit derselben Endung) (14)-εὐλογεῖτε τοὺς διώκοντας ὑμᾶς (eulogeite tous diōkontas hymas; segnet die euch Verfolgenden), εὐλογεῖτε καὶ μὴ καταρᾶσϑε (eulogeite kai mē katarasthe; segnet und verflucht sie nicht! ). (Anapher und Antithese) (15) χαίρειν μετὰ χαιρόντων, κλαίειν μετὰ κλαίοντων (chairein meti chairontōn, klaiein meta klaiontōn; sich freuen mit sich Freuenden, weinen mit Weinenden). (Polyptoton in Kombination mit Parallelismus, Antithese und Homoioteleuton) 6. Makrosyntax des Röm So sehr die Diktion der Mikrosyntax eine Schreibweise aufweist, die zuweilen spontan, rastlos und experimentell wirkt, so sehr zeigt eine rhetorische Analyse einen nachvollziehbaren Aufbau des Schreibens, der um die in Röm 1,16f. for‐ mulierte Kernthese zur Bestimmung des Evangeliums als einer wirkmächtigen Kraft Gottes kreist. Hans Dieter Betz 14 hat mit seiner minutiösen rhetorischen Analyse des Gal gezeigt, wie ertragreich es ist, diese nicht nur auf die Mikro‐ syntax, sondern gerade auch auf die Makrosyntax, also auf die rhetorische Argumentationsstruktur des Gesamtschreibens zu beziehen. Hier können wir nur in aller Kürze eine rhetorische Gliederung vorstellen, die Stefan Alkier für sein Lehrbuch NT basics erarbeitet hat. 15 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 44 Stefan Alkier und Thomas Paulsen 6.1 Rhetorische Gliederung des Römerbriefes Briefeingang (1,1-17) 1,1-7 Präskript (Orientalische Form) 1,1-7a superscriptio 1,1-6 intitulatio 1,7a adscriptio 1,7b salutatio 1,8 Proömium (Danksagung) 1,9-17 Selbstempfehlung 1,16f. propositio Briefkorpus (1,18-15,13) 1,18-3,26 Entfaltung der in der propositio implizierten Wirklichkeit mit Blick auf das Verhältnis Gott (Schöpfer) und Mensch (Geschöpf) 1,18-3,20 Vor dem/ ohne das Christusereignis 3,21-26 Seit/ durch das Christusereignis 3,27-31 Folgerung aus der propositio: Gerechtigkeit durch Glauben 4 Schriftbeweise: Zuschreibung der Gerechtigkeit aus Glauben für Abraham um unseretwillen 5-8 Folgen der in der propositio implizierten Verwandlung 5,1-11 Versöhnung („Was wurde bewirkt? “) Wir sind gerechtfer‐ tigt ➔ Frieden mit Gott, Liebe Gottes in unsere Herzen durch Hl. Geist 5,12-21 Adam/ Christus („Durch wen wurde es bewirkt? “) 6 Die sich aus der propositio ergebende Handlungsmaxime des neuen Le‐ bens: Orientierung an Tod und Auferweckung Jesu Christi (Taufe in den Tod Jesu Christi) 7 Das sich aus der propositio ergebende Gesetzesverständnis 8,1-17 Das „Gesetz des Geistes“ - die sich aus der propositio ergebende präsenti‐ sche *Eschatologie 8,18-39 Die „Neue Schöpfung“ - die sich aus der propositio ergebende futurische Eschatologie 9-11 Folgen der propositio für Israel (10,9 *soteriologisches Glaubensbekentnis) Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes 45 12,1- 15,13 Konkretisierungen - Leben als „vernünftiger Gottesdienst“ (12-Geistesgaben; 13-Obrigkeit, Zehn Gebote, Naherwartung; 14-Götzen‐ opferfleisch; 15,1-12-Proexistenz; 15,13-Doxologie) Briefschluss (15,14-16,27) 15,14- 15,33 Schlussparänese (Beispiel des Apostels; Reisepläne Jerusalem/ Rom/ Spanien; Aufforderung zur Fürbitte für den Apostel) 16,1-24 Postskript 16,25-27 Schlussdoxologie 7. Zur intertextuellen Schreibweise der Paulusbriefe Eine philologisch-kritische Analyse endet aber nicht mit der Beschreibung der intratextuellen sprachlichen Gestaltung. Vielmehr sei hier abschließend darauf verwiesen, dass es sehr hilfreich ist, Stil und Schreibweise zu unterscheiden. Während der Stil eines Verfassers oder auch eines Autorenkollektivs eher einem Fingerabdruck vergleichbar ist, so nimmt das Konzept der Schreibweise die Wahlmöglichkeiten im Schreibprozess in den Blick. Stefan Alkier erläutert dazu: Fragt man nach der intertextuellen Schreibweise der Paulusbriefe, bewegt man sich vornehmlich auf dem Feld produktionsorientierter Intertextualität. Es geht bei dieser Fragestellung einer generativen Poetik nicht um die psychologische bzw. historische Rekonstruktion des inneren Schreibprozesses eines realen Autors. Es handelt sich auch nicht um Stilfragen oder um literarkritische bzw. redaktionsgeschichtliche For‐ schungen. Es geht vielmehr um eine Analyse der Textur als Sinn erzeugendes Gewebe von Zeichen, die auf andere Zeichen verweisen. Auf welche Art und Weise und mit welchen Sinneffekten und Pointen wurden die verwendeten und eingespielten Zeichen ausgewählt und verknüpft, so dass beim Lesen der Eindruck eines kohärenten Ganzen entstehen kann? Der Begriff der Schreibweise, wie ich ihn von Roland Barthes übernehme, betont den Aspekt der Wahl in einem Schreibprozess, der eben nicht alles miteinander verknüpfen kann, aber auch gar nicht alles miteinander verknüpfen will. Aufgrund der Ökonomie der Sprache bleibt jede intertextuelle Schreibweise immer eklektisch und daher positionell. Barthes schreibt: ‚Der Horizont der Sprache und die Vertikalität des Stils bezeichnen also für den Schriftsteller etwas Gegebenes, denn er wählt weder das eine noch das andere. […] In beiden Fällen handelt es sich um Gegebenheiten, um ein vertrautes gestuarium, ein Reservoir an Gesten und Gewohnheiten, in dem die Energie lediglich operativer Natur ist und einmal zur Aufzählung, ein andermal zur Umwandlung verwendet wird, niemals aber, um zu urteilen oder um eine Wahl Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 46 Stefan Alkier und Thomas Paulsen 16 Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, in: ders., Am Nullpunkt der Literatur. Literatur oder Geschichte. Kritik und Wahrheit, aus dem Frz. von Helmut Scheffel, Frankfurt am Main 2006, 7-69, hier: 17f.; vgl. dazu Stefan Alkier, Positionierung - Transpositionierung - Dialogizität. Zur aktuellen hermeneutischen Relevanz der paulinischen Schriftrezeption, in: Florian Wilk/ Markus Öhler (Hg.), Paulinische Schrift‐ rezeption. Grundlagen - Ausprägungen - Wirkungen - Wertungen (FRLANT 268), Göttingen 2017, 275-296, hier: -284. 17 Vgl. dazu ausführlicher Stefan Alkier, Positionierung (s.-Anm.-17). zu treffen. Jede Form ist aber auch Wert; deshalb besteht zwischen Sprache und Stil noch Raum für eine andere formale Realität: für die ‚Schreibweise‘. In jeder beliebigen literarischen Form findet sich die allgemeine Wahl eines Tones, oder wenn man so will: eines Ethos, und hier individualisiert sich ein Schriftsteller eindeutig, denn hier engagiert er sich.‘ 16 Die intertextuelle Schreibweise des Paulus zeigt sich nicht nur in der Wahl seiner intertextuellen Bezüge, doch schon diese erzeugt ein klares Statement. Sehr häufige Bezüge zu und Zitate aus den Schriften Israels, insbesondere in ihrer griechischen Fassung, der sogenannten Septuaginta (LXX), geben den autoritativen Denkhorizont des Paulus wieder, mit dem er Wirklichkeit erschließt. Dies wird umso augenfälliger, da sich referentielle intertextuelle Bezüge zu paganen Texten kaum finden, sondern diese eher texttypologisch eine Rolle spielen, wenn man etwa den Argumentationsstil der Paulusbriefe mit der Diatribe vergleicht oder antike rhetorische Stilmittel der Mikrosyntax und Modelle der Makrosyntax zur Analyse der Paulusbriefe nutzbar macht. Der Wahlaspekt des analytischen Konzepts der Schreibweise lenkt die Auf‐ merksamkeit darauf, dass keineswegs alle Schriften Israels in jeden Paulusbrief gleichermaßen eingespielt werden. Es finden sich in den Briefen mal mehr, mal weniger intertextuelle Bezugnahmen. Im Röm sind sie von besonderer Dichte. Die Schriften, die intertextuell in das Argumentationsnetz des jeweiligen Briefes eingewoben werden, werden zudem nicht in gleicher Intensität einge‐ bunden. Paulus konstruiert vielmehr mit seiner Auswahl und Frequenz der zitierten Schriften einen intertextuell erstellten Geltungszusammenhang, der wiederum seine eigenen Positionen legitimieren soll. Die notwendig eklektisch verfahrende intertextuelle Schreibweise wird somit als positionelle und damit auch als machtförmig kontingente Auswahl möglicher Schriften und Schriftbe‐ züge sichtbar. Der Machtaspekt der paulinischen intertextuellen Schreibweise gerät vollends in den Blick, wenn ihr monologischer Charakter in Betracht gezogen wird. Wir können das hier 17 nur an einem Beispiel verdeutlichen: Mit der Argumentation in Röm 4 möchte Paulus seine theologische Leitthese, wie er sie in Röm 1,17; 3,21.28 prägnant und variierend zugleich formulierte, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes 47 18 Vgl. dazu Michael Rydryck, Paulus als kontroverser Mediator. Konfliktpraxeologische Beobachtungen im Corpus Paulinum, in: Stefan Alkier (Hg.), unter Mitarbeit von Dominic Blauth, Antagonismen in neutestamentlichen Schriften. Studien zur Neufor‐ mulierung der „Gegnerfrage“ jenseits des Historismus (Beyond Historicism - New Testament Studies Today-1), Paderborn 2021, 75-102. © Stefanie Alkier-Karweick mittels zweier Schriftzeugen beweisen. Konstruiert er die These in 1,17 durch die Zuordnung von Vertrauen (πίστις, pistis) und Gerechtigkeit Gottes, so entfaltet er sie im Argumentationsgang in 3,21-28 mittels der Opposition von Vertrauen und Werk. Mittels dieser von Paulus kreierten Opposition interpretiert er nicht nur Gen 15,6, sondern die Figurenzeichnung Abrahams insgesamt und ebenso auch Psalm 31 (LXX) und überschreibt damit ihre eigene Stimme, denn weder Psalm 31 noch die Abrahamserzählungen in Genesis kennen eine Opposition von Vertrauen und Werken. Man sollte Paulus nicht unterstellen, in unredlicher Absicht die Schriften Israels für seine Zwecke zu missbrauchen. Sein monologischer Schriftgebrauch lässt eher darauf schließen, dass Paulus davon ausging, dass sein Verständnis und seine Verwendung der Schrift übereinstimmen mit der Stimme der ge‐ brauchten Texte, ja, dass Gott, die zitierten Schriften und Paulus selbst wei‐ testgehend mit einer Stimme sprechen. Das dürfte nicht der geringste Anlass seiner Briefe gewesen sein, der antagonistische Streitigkeiten 18 schon in ihrer frühesten Rezeption ausgelöst hat. Stefan Alkier ist seit 2001 Professor für Neues Testa‐ ment und Geschichte der Alten Kirche am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frank‐ furt/ Main. Er gibt den neutestamentlichen Teil des bi‐ belwissenschaftlichen Internetlexikons www.wibilex.de heraus. Zusammen mit dem Gräzisten Thomas Paulsen fertigt er eine philologisch-kritische Übersetzung aller neutestamentlichen Texte an; die Bände 1-4 des „Frank‐ furter Neuen Testaments“ sind bereits erschienen. In der von ihm begründeten Buchreihe „Biblische Argumente in öffentlichen Debatten“ hat er zuletzt zwei Bände zum Thema „Zuver‐ sichtsargumente - Biblische Perspektiven in Krisen und Ängsten unserer Zeit“ herausgegeben. Sein semiotisch-kritischer Ansatz vereint kritische philologische und historische Forschung mit Fragen der Gegenwartsrele‐ vanz biblischer Texte. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 48 Stefan Alkier und Thomas Paulsen Thomas Paulsen studierte Gräzistik und Latinistik in Konstanz, wurde 1992 in Bochum promoviert und habilitierte sich dort 1998. Seit 2005 ist er Professor für Klassische Philologie mit Schwerpunkt Gräzistik an der Goethe-Universität Frankfurt. Seine Forschungsschwer‐ punkte sind antiker Roman, Rhetorik und Tragödie, seit Neuerem insbesondere die Johannes-Apokalypse. Zusammen mit dem Theologen Stefan Alkier arbeitet er derzeit an einer vollständigen Neu-Übersetzung des Neuen Testaments, von der vier von sechs geplanten Bänden bereits erschienen sind. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Philologisch-kritische Beobachtungen zur sprachlichen Gestaltung des Römerbriefes 49