ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2024-0003
61
2024
2753
Dronsch Strecker VogelNeue Erkundungen zum Werden und Wesen der Theologie des Paulus
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2024
Jan Dochhorn
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1 Vgl. Jan Dochhorn, Der Adammythos bei Paulus und im hellenistischen Judentum Jerusalems. Eine theologische und religionsgeschichtliche Studie zu Röm 7,7-25 (WUNT-1/ 469), Tübingen 2021. Neue Erkundungen zum Werden und Wesen der Theologie des Paulus Ein Bericht aus eigener Forschung mit Fokus auf der Nomologie Jan Dochhorn 1. Anlass und Anliegen dieses Beitrags Die Redaktion der Zeitschrift für Neues Testament hat mich gebeten, einen Begleitartikel zu verfassen zu meiner Monographie über den Adammythos bei Paulus, die in der Hauptsache die Erzählung des von der Sünde übermannten und besessenen Ichs in Röm 7,7-25 exegesiert, religionsgeschichtlich herleitet und für eine Erschließung systematischer Grundzüge in der Theologie des Paulus auswertet. 1 Ich werde hier nun, diese Aufgabe dankbar annehmend, in Auswahl meine Thesen präsentieren; dies geschieht kompendienartig und leider weitgehend ohne Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur. Es wird in § 2 zunächst um den Traditionshintergrund (und damit das Werden) und dann in § 3-5 um Kernkomplexe (und damit das Wesen) paulinischer Theologie gehen (§-3: zur Hamartiologie; §-4: zur Anthropologie; §-5: zur Nomologie). Anschlie‐ ßend werde ich zur historisch-genetischen Rekonstruktion zurückkehren und umreißen, wie Paulus zu seiner Gesetzeslehre gekommen ist (§-6). 2. Zum religionsgeschichtlichen Kontext und zur Vorgeschichte der Theologie des Paulus Über das vorrabbinische Judentum wüssten wir gerne mehr - und dann speziell auch über das jüdische Milieu, dem Paulus entstammte. Zu diesen Fragen erschließt, so hoffe ich, meine Arbeit neue Aspekte. Den Angelpunkt bildet dabei die Entdeckung, dass Paulus von der Apokalypse des Mose (Apc Mos) abhängig 2 Vgl. Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), §-V (S.-319-365). 3 Vgl. Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), §-VI (S.-367-384). 4 Zu den Diasporarückwanderern in Jerusalem vgl. Dochhorn, Adammythos (s. Anm. 1), §-IX.1-3 (S.-547-594). 5 Zur Frühgeschichte des Paulus vgl. Dochhorn, Adammythos (s. Anm. 1), § IX.4 (S. 594- 620). ist. Ich identifiziere sechs gewichtige und sechs minder gewichtige Parallelen mit eindeutigem Gefälle von der Apc Mos zu Paulus, 2 und dazu vor allem: Ich leite die Erzählung über das der Sünde anheimgefallene und dann den Tod des Sündigenmüssens gestorbene Ich in Röm 7,7-25 von der Erzählung über die Verführung der Schlange, Evas und Adams durch den Teufel in Apc Mos 15-30 ab, erkläre sie als kreative Neugestaltung des in Apc Mos-15-30 Erzählten. 3 Es ergeben sich mit dieser Entdeckung historische Zusammenhänge, die für eine von mir geplante Gesamtdarstellung zur Religionsgeschichte des Urchris‐ tentums entscheidend relevant sein werden: 1. Die Verfasser der Adamdiegesen (der Apc Mos und der von ihr ausgehenden Vita Adae et Evae, die Paulus noch nicht vorliegen hatte) schreiben ihr Werk auf Griechisch und referieren auf die Septuaginta, arbeiten aber exegetisch hauptsächlich mit hebräischer Bibelüberlieferung, wobei sie auch aramäische Sprachkenntnis einbeziehen. Eine solche Konstellation kann man sich gut vorstellen in einem griechisch-jüdischen Milieu, das in Jerusalem zu lokalisieren ist: Dort gab es, wie etwa am Namen des Simon von Cyrene erkennbar (Mk 15,21 par), Diasporarückwanderer, die eine griechisch-jüdische Prägung aus der Diaspora mitbrachten; nicht wenige von ihnen, etwa die Verfasser der Adamdiegesen, dürften in Jerusalem mehr oder minder stark Anschluss gesucht haben an die alteingesessene hebräisch-aramäische Kultur, nicht zuletzt das Schriftgelehrtenmilieu, denn vielfach wird man gerade deswegen nach Jeru‐ salem umgezogen sein; es sind wohl hauptsächlich diese Diapsorarückwanderer, die Lukas mit dem Begriff „Hellenisten“ bezeichnet (Apg 9,29). 4 Auch Paulus war so ein Diasporarückwanderer: In seiner Jugend aus Tarsus in Kilikien kommend (Apg 22,3), fand er in Jerusalem vermutlich Rückhalt in der Synago‐ gengemeinschaft der Kilikier (vgl. Apg 6,9); zugleich dürfte er in Jerusalem etwas gelernt haben, das Lukas Hebräisch nennt (Apg 21,40; 22,2; 26,14; wohl das Judäisch-Aramäische); auch nahm er Unterricht bei Schriftgelehrten (in Apg 22,3 erscheint er als Schüler des Gamaliel). Mit den Verfassern der Apc Mos trat er meines Erachtens in persönlichen Kontakt 5 ; diese kommunizierten ihre exegetische Forschung (die vor allem Gen 3 betraf) nach außen, und in der Folge zeigen sich sowohl Paulus als auch die Rabbinen mit dem vertraut, was Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 52 Jan Dochhorn 6 Zu den rabbinischen Texten vgl. Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), 316. 7 Vgl. meine Darstellung zur Entstehung und zur Theologie der Apc Mos und der Vita Adae et Evae, Adammythos (s.-Anm.-1), §-IV (S.-247-317). 8 Zur Geschichte des Adammythos vgl. Dochhorn, Adammythos (s. Anm. 1), § VIII (S.-471-546). 9 Zur Hypostasis der Archonten vgl. Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), 538-539. 10 Vgl. Dochhorn, Adammythos (s. Anm. 1), 539, Anm. 122; Jüdisches im Schlussgebet des Poimandres vermutet Ola Wikander (siehe ibidem). 11 Vgl. Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), 220-224. der Apc Mos (und der Vita Adae et Evae) gedanklich an exegetischer Arbeit zugrundeliegt. 6 2. Die Apc Mos ist über mehrere Generationen in etwa 60 Jahren schich‐ tenweise gewachsen, und aus ihr entwickelte sich schließlich als Ausgabe letzter Hand die Vita Adae et Evae. Hierbei wurde aus einer Erzählung vom paradigmatischen Scheitern des Frommen (v. a. Evas) immer mehr eine Ätiologie der Unbill des Lebens, speziell des Todes - mit der Tendenz, Sünde als ein universales, mit Adam (und Eva) in die Welt gekommenes Phänomen zu sehen. 7 Diese Tendenz zu einer adamitischen Ätiologie des Bösen hat Paulus aufgegriffen und von daher seinen Adammythos entwickelt. Auch andere ließen sich inspirieren, was unter anderem deshalb möglich war, weil der Schulbetrieb, der die Adamdiegesen hervorbrachte, länger aktiv blieb, wohl über die Tempelzerstörung hinaus. Adam-Überlieferung, die zugleich Ätiologie des kosmisch und menschlich Bösen war, wirkte etwa auf die Esra- und Baruch- Literatur ein, die wohl ebenfalls - überwiegend nach der Tempelzerstörung - im griechisch-jüdischen Milieu Jerusalems zu verorten ist. Man kann insgesamt sagen, dass die Adamdiegesen ziemlich weitgehend der Ursprungsort der frühjüdischen und frühchristlichen Adammythologie sind - bis hin zum Mythos von der Erbsünde. 8 Dies betrifft auch die Gnosis. Wohl kaum zufällig etwa gibt es deutliche Berührungspunkte zwischen der Apc Mos und der Hypostase der Archonten (aus dem zweiten Kodex von Nag Hammadi): Beiden Schriften liegt Exegese an hebräischer Bibelüberlieferung zugrunde, beide Schriften enden mit einer trishagionbasierten Doxologie, 9 wie man sie übrigens auch als Endstück in der ältesten Überlieferung zum Testament Salomos und im hermetischen Traktat Poimandres findet. 10 Und wo wir schon einmal beim Poimandres sind: Was man dort liest über den Wesenhaften Menschen (ho ousiōdēs anthrōpos), erinnert nicht zufällig an den Inneren Menschen bei Paulus (Röm 7,22); es dürfte wie bei Paulus durch die Anthropologie der Apc Mos inspiriert sein. 11 Jüdisch-jerusalemitische Adammythologie hat abgestrahlt, auch nach Ägypten, auch zu heidnischen Ägyptern, die judentumsaffin und der aufkommenden Gnosis milieuverwandt gewesen sein dürften. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Neue Erkundungen zum Werden und Wesen der Theologie des Paulus 53 12 Vgl. hierzu Dochhorn, Adammythos (s. Anm. 1), § IX,1 (S. 547-566); zur Baruch- und Esraliteratur vgl. ibidem, 532-535. Zu den Hintergründen der Paralipomena Jeremiou bereite ich eine Publikation vor. 3. Mit den Adamdiegesen sind andere Schriften verwandt, die ebenfalls im Milieu der Hellenisten entstanden sind: Das Testament Hiobs, die Assumptio Mosis, die Historia de Melchisedech, das Testament Abrahams, der Kernbestand der Apokalypse des Sedrach, der vierte Esra, der zweite Baruch, die Paralipomena Jeremiou. Alle diese Schriften sind Parabiblica, die christlich überliefert sind, aber von Juden stammen: von den Hellenisten Jerusalems. 12 Wir haben sie von den Christen, weil das Christentum in eben diesem Hellenisten-Milieu schon kurz nach dem Osterereignis Anhänger fand und theologisch weiterentwickelt wurde, bevor es sich - nicht zuletzt durch das Wirken des Paulus - in der Welt verbreitete. Christen haben diese Literatur aufgenommen, weil sie ihnen geis‐ tige Heimat war; sie ist, auch durch christliche Überformung, mit Christlichem verwechselbar und hat deswegen in der religionsgeschichtlichen Arbeit einen schlechten Ruf. Dieser ist ihr paradoxerweise gerade deswegen zugewachsen, weil sie eigentlich für dasjenige im Judentum steht, von dem her Christliches am allerehesten erklärt werden muss. 3. Teufel und Sünde bei Paulus Wir haben nun von meiner zentralen These zur Hamartiologie des Paulus zu reden: Wenn Paulus von der Sünde als Macht redet, dann liegt nicht Metaphorik vor, sondern er meint ganz konkret und erheblich mythologischer, als viele Neutestamentler erlauben, den Teufel als personale Macht, und zwar im Anschluss an die Apokalypse des Mose, speziell die Erzählung Evas vom Paradiesgeschehen in Apc Mos 15-30. So wie laut Apc Mos 15-30 der Teufel von außen in das Paradies hineinkam und von außen kommend zuerst in der Schlange, dann in Eva und dann in Adam einwohnte, um deren Handeln ganz und gar zu steuern, ihrem anfänglichen Widerwillen zuwider, so ist auch in Röm 7,7-25 die Sünde eine personale Macht, die, von außen kommend, die Kontrolle über ein als adamanalog zu verstehendes Ich übernimmt - mit der Folge, dass dieses Ich gegen seinen Willen und gegen sein besseres Wissen, gegen die Übereinstimmung seines Inneren Menschen mit dem Gesetz Gottes das Böse tun muss. Es scheint mir klar: Wir sollen in Röm 7,7-25 an den Teufel denken, und zwar so, wie er als der eigentliche Ausgangspunkt der Gebotsüber‐ tretung Adams und Evas in Apc Mos 15-30 dargestellt wird. Wir können es auch, denn Paulus hat schon seit Röm 5,12 immer wieder das der christlichen Erlösung vorausgehende tragische und alle umfassende Menschheitsergehen als Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 54 Jan Dochhorn 13 Vgl. zu dieser Herleitung der paulinischen Rede von der Sünde Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), 378-380. 14 Vgl. Hans Conzelmann: Grundriss der Theologie des Neuen Testaments (UTB 1446), Tübingen 4 1987, 218. ein Adamgeschehen vor Augen geführt, und schon in Röm 3,23 hat er Wissen aus Apc Mos-15-30 aktiviert (s.-u.). Alle haben gesündigt wie Adam; so erfahren wir es in Röm 5,12, und dieser Gedanke beherrscht die Szenerie bis Röm 8,1. Daraus ergibt sich für Röm 7,7-25: Das dort vor Augen geführte adamitische Ich steht für alle Menschen; alle haben gesündigt wie dieses Ich. Diese Adam-Analogie gilt freilich in einer entscheidenden Hinsicht nur für den jüdischen Menschen: Nur dieser ist - wie in Röm 7,7-25 über das Ich und implizit auch über Adam erzählt - bei dem Übermanntwerden durch die Sünde mit dem Gesetz konfrontiert. Aber das Übermanntwerden von der Sünde ist nicht nur ein jüdisches Widerfahrnis, auch bei den Heiden findet es statt, und zwar ausnahmslos, ohne dass wir allerdings genau erfahren, wie es ohne Gesetz vor sich geht (Andeutungen finden sich in Röm-5,13-14). Warum spricht Paulus nun aber nicht vom Teufel, wenn er so von der Sünde als diabolischer Macht spricht? Er kennt ja den Teufel, für den er freilich durchgängig den Titel „Satan“ (satanas) verwendet, vgl. etwa Röm 16,20. Der Grund ist ein exegetischer: Sünde nennt Paulus den Teufel, wenn es ihm um die externe Macht geht, die von außen kommend den Menschen unter ihre Kontrolle bringt, und Paulus tut dies, inspiriert übrigens durch die Apc Mos 15- 30 zugrundeliegende exegetische Arbeit, aufgrund des hebräischen (! ) Textes von Gen 4,7, wo Kain mit der Sünde als jemandem konfrontiert ist, der außen vor seinen Toren lagert. 13 Kain soll ausweislich der Worte Gottes in Gen 4,7 über die Sünde herrschen, wird aber, wie wir wissen, das nicht schaffen, wird vielmehr seinen Bruder töten. Kain wurde, so können wir im Sinne des Paulus sagen, zuerst von der Sünde übermannt, und dann sündigte er. Es ist verfehlt, wenn Conzelmann unter Verweis auf Bultmann die Auskunft gibt, bei Paulus komme die Sünde vom Sündigen. 14 Es muss also gelten: Von der Sünde kommt das Sündigen, nicht umgekehrt. Sündigen ist nicht anthropogen, ist ja auch nicht dem Menschen gemäß, sondern ihm zuwider, und zwar dahingehend, dass es Folge einer Niederlage gegen einen Feind ist: Der Mensch sündigt, weil er vorher von seinem Feind, der Sünde, überwältigt und seiner Willensfreiheit beraubt worden ist, so dass nun der Teufel, alias „die Sünde“, wie ein Dämon über ihn herrscht, als ein fremder Bewohner in seinem Fleisch (vgl. Röm 7,18.20). Dieser Zustand des Beherrschtwerdens vom fremden Bewohner ist es, den das Ich in Röm-7,7-25 vor allem beklagt. Es ist ein zwanghaftes Sündigenmüssen. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Neue Erkundungen zum Werden und Wesen der Theologie des Paulus 55 15 Der Zustand Adams nach dem Fall jedenfalls ist analog zu dem Evas in einer entschei‐ denden Hinsicht: In ihm ist ein Krieg, den „der Feind“ (der Teufel) in ihn hineingelegt hat (Apc Mos-28,4); in Eva hat „der Feind“ Feindschaft gelegt (Apc Mos-25,4). 16 Zur Ineinssetzung von Tod und Gericht bei Paulus vgl. zahlreiche, mit Erläuterung versehene Hinweise im Register bei Dochhorn, Adammythos (s. Anm. 1), s. v. Tod (S.-720-721). Bis in Einzelheiten entspricht dabei dieser Menschen-Zustand der Situation Adams mit und nach dem Fall, wie sie in Apc Mos 20-21 vor Augen geführt wird, nur dass Paulus diese Situation versteht als ein auf Dauer gestelltes traumatisches Geschehen. Während Adam und Eva das Gebot übertreten, sind sie besessen vom Teufel. Aus Eva etwa, so erfahren wir in Apc Mos 21,3, sprach der Teufel, als sie Adam verführte. Wir können Analoges auch für Adam vermuten: Auch in ihm ist mit dem Sündigen der Teufel drin. 15 Und so ist eben auch bei Paulus mit der Gebotsübertretung der Mensch besessen - von der Sünde, nur dass dies nun ein Dauerzustand ist. Und noch eine weitere Parallele ist zu konstatieren: Laut Apc Mos 20-21 bestand die aus Gen 3,7 bekannte Entdeckung der Nacktheit darin, dass Adam und Eva den Verlust ihrer Herrlichkeit bzw. der Herrlichkeit Gottes feststellten, die sie umgeben hatte wie ein Gewand. Entsprechend ist für Paulus der sündige Mensch der Herrlichkeit Gottes entbehrend (= entledigt), vgl. Röm 3,23. Und das wiederum heißt: Der Mensch ist nackt, und Nacktsein ist für Paulus identisch mit Tod (2Kor 5,3). Die Situation ist peinlich, zum Sterben peinlich, zum Gestorbensein peinlich, und so hat denn auch der Mensch etwas zu erwarten, das dem Tod entspricht: das Gericht Gottes (es kommt in Apc Mos 22-29; es ist auch nach Paulus zu erwarten, vgl. Röm-2,1-11). 16 Nur ist eben dies alles auf Dauer gestellt: Dauernd sind wir nackt, gestorben, vom Teufel besessen wie Adam (und Eva). Und folglich ist jetzt schon der Mensch unausgesetzt eine Leiche; sein Körper ist ein Körper des Todes (Röm 7,24), in dem er gefangengehalten wird (7,23), was durchaus räumlich zu verstehen ist: In mir drin ist der Innere Mensch, der etwas Gutes will, aber nicht kann (Röm 7,22), und etwas weiter draußen, in meinem Fleisch, wohnt die Sünde (7,18); in meinen Gliedern wohnt sie als einer, dessen von ihm manipuliertes Gesetz als Gesetz der Sünde mich gefangennimmt (7,23). Mein Körper ist ein Todes-Gefängnis; der Gedanke vom Körper als Grab (sōma als sēma), bekannt aus griechischer Tradition, liegt hier gar nicht fern. Hinzu kommt ein Weiteres: Mit der Gebotsübertretung ist dem Menschen etwas zugewachsen, das er vorher gar nicht hatte, nämlich Begierde, näherhin die Begierde, alles mögliche Böse zu tun. In Apc Mos 19 erfahren wir, dass die Schlange (bewohnt vom Teufel), die von ihr Eva zugereichte Frucht mit dem Gift der Begierde „nach jeglicher Sünde“ versetzte; in Röm 7,8 erfahren Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 56 Jan Dochhorn 17 Vgl. Apc Mos 19,4: tote ēlthe kai etheto epi ton karpon, hon edōke moi phagein, ton ion tēs kakias autou, tout’ esti tēs hamartias, epithumia gar esti pasēs hamartias und Röm 7,8: kateirgasato en emoi pasan epithumian. Die Übereinstimmungen in der Begierde-Terminologie sind frappant. 18 Zur Lehre des Tridentinums vom peccatum und dem fomes peccati vgl. Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), 128 f; 443 Anm.-1. 19 Dass Röm 7,7-25 nicht im Sinne des simul iustus et peccator zu lesen ist, hat schon der altorthodoxe Lutheraner Affelmann gesehen, ebenso Francke, Tholuck, Kümmel, um nur ein paar Namen zu nennen für eine wohl immer noch majoritäre Position. Aber hat man immer hinreichend die Konsequenzen gezogen für die Rekonstruktion der Theologie des Paulus und die systematische Theologie? Immer noch anregend ist hier Paul Althaus, Paulus und Luther über den Menschen. Ein Vergleich (Studien der Luther-Akademie 14), Gütersloh 3 1958. Vgl. Dochhorn, Adammythos (s. Anm. 1), 133-136; 138-143. wir dementsprechend, dass die Sünde im Ich „jegliche Begierde“ erzeugte. 17 Begierde gehört eigentlich nicht dem Menschen an; sie kommt ihm sekundär zu, ist akzidentiell. Sie bleibt bei Paulus übrigens dem Menschen auch nach der Erlösung erhalten (Röm 6,12); sie ist ein Residuum der Sünde im Christen, ohne dass mit diesem Residuum Sündunterworfenheit verbunden wäre. Dass in uns Christen etwas ist, was nicht zu uns und Gottes Willen passt, ist für Paulus eine Tatsache, mit der man umgehen kann; erforderlich ist für Christen eine „Abtötung“ der „Praktiken des Leibes“ (Röm 8,13), womit wohl die Begierde gemeint ist, die sich im Körper regt und offenbar als ein Körper-Phänomen gesehen wird, als ein den Körper entscheidend bestimmendes Phänomen. Erst bei den Reformatoren ist dieses Etwas in uns die eigentliche Sünde und damit dasjenige, was uns unweigerlich von Gott trennt. Diese Lehre ist nicht paulinisch, während es Paulus eher entspricht, mit dem Tridentinum von der Begierde als einem fomes peccati zu reden (als einem Zunder der Sünde, der von der Sünde herkommt und nicht Sünde ist, es sei denn, er wird aktiviert bzw. in Brand gesteckt). 18 Für reformatorisch grundierte Theologie ist damit ein erheblicher Anstoß gegeben; es muss geklärt werden, wie damit umzugehen ist. 19 4. Anthropologische Sondierungen und Rückkehr zur Metaphysik Was vorhergehend zur Hamartiologie des Paulus festgestellt wurde, hat an‐ thropologische Implikationen, aufgrund derer eine monanthropologische Rede vom Menschen für die Beschreibung paulinischer Theologie (und meines Erachtens auch theologisch-systematisch) nicht mehr festgehalten werden kann. Abstand zu nehmen ist auch von der im Luthertum tief verwurzelten Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Neue Erkundungen zum Werden und Wesen der Theologie des Paulus 57 20 Vgl. hierzu Hinweise auf Luther, Calov und Bultmann bei Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), 228 f., Anm.-263. 21 Ich lasse Kirchenväterexegese und altprotestantische Orthodoxie und gerne auch den katholischen Exegeten Wilhelm Estius (wirkend um 1600) in meiner Arbeit vielfach zu Wort kommen; vgl. auch den Überblick zur Auslegungsgeschichte in Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), §-III.2 (S.-93-147). 22 Vgl. hierzu die Distinktion zwischen positivum metaphysicum & morale bei David Hollatz, Examen Theologicum Acroamaticum, Darmstadt 1971 (Stargard 1707), I, Pars II, 131. Ansicht, Fleisch sei nicht primär körperlich zu verstehen, sondern sogar noch eher als etwas Seelisches, gar Spirituelles. 20 Es ist mit dem verbunden eine Reaktivierung der Unterscheidung von Substanz und Akzidenz hinsichtlich des Menschlich-Bösen für eine Abbildung paulinischer Konzepte in eigenen, verdeutlichenden Worten (in emischer Deskription). Es lohnt sich, ontologische und überhaupt metaphysische Tradition fruchtbar zu machen für exegetische - und dann auch theologische - Forschung. Dafür gibt es Präzedentien in der Kirchenväterexegese, und behilflich kann auch sein, was wir etwa in der Sündenlehre der Konkordienformel und der altlutherischen Orthodoxie vorfinden. 21 Dieser Zusammenhang ist hier in vier Thesen anzudeuten: 1.-Sündersein ist dem (natürlichen, vorchristlichen) Menschen nicht wesenhaft, sondern akzidentiell: Die Geschichte von der Übermannung des Menschen durch die Sünde impliziert, dass der Mensch Sünder nicht herkömmlich ist, sondern geworden ist - durch etwas, das von außen her ihm zugestoßen ist (quod accedit ei et fecit eum peccatorem per accidens). Zu behaupten ist damit für den sündigen Menschen ein Dualismus von Substanz und Akzidens; substantialiter ist der Mensch gut, und er kannte keine Sünde vor der Begegnung mit der Sünde (Röm 7,7), accidentaliter ist er böse. Dies gilt unangesehen der bei Paulus klar herausgestellten Tatsache, dass der sündige, sündunterworfene Mensch Gutes nicht tut; wir haben es mit einer totalen Verderbnis zu tun, aber eben mit einer Verderbnis, also etwas, das geschehen ist an einem, das der Verderbnis gegen‐ teilig ist, nämlich vollkommen dem Wesen nach. Mit altlutherischer Theologie kann man sagen, im Sinne des Paulus sagen: Ethisch ist der (natürliche) Mensch böse, metaphysisch ist er gut. 22 Kirchliche Verkündigung muss sich mit Paulus (und Augustin, der Formula Concordiae etc.) davor warnen lassen, Sündlichkeit und Geschöpflichkeit miteinander zu assoziieren. Es ist dabei hervorzuheben, dass die vorhergehende Beschreibung des Men‐ schen ausschließlich dem natürlichen Menschen gilt, dem Menschen vor der Erlösung durch Jesus Christus. Christen sind für Paulus nicht sündunterworfen; die Sünde im Fleisch, in ihrem Fleisch, ist Röm 8,3 zufolge durch Christus zum Tode verurteilt (was bedeutet: Sie ist getötet, was wiederum bedeutet: Sie ist Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 58 Jan Dochhorn 23 Zum Machtaspekt und zur erweiterten Bedeutung von Tod und Leben bei Paulus vgl. Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), 420-422 (dort hinauslaufend auf die Kurzformel: „Tod ist ein Leben, das man nicht führen will“); 435-438 (ein Porträt, eine Lebens-/ To‐ desgeschichte der Sünde). 24 Vgl. August Tholuck, Commentar zum Brief an die Römer, Halle 5 1856, 369. entmachtet, dem Menschen wieder extern und prinzipiell so machtlos, wie der Teufel eben machtlos ist, wenn er des Menschen nicht Herr wird). 23 Christen sind nicht simul iusti et peccatores; sie haben aber mit der Begierde zu bösem Tun als einem Residuum der Sünde in ihrem Leibe zu schaffen (weswegen Paulus den Leib der Christen auch in Röm 8,10 als tot wegen der Sünde bezeichnen kann, als Immer-Noch-Leiche, die aber nicht wie das adamitische Ich eine Leiche ist, die durch Sündigen anderen schadet). 2. Das Fleisch ist nicht an sich böse: „Was ist gegen das Haus zu sagen, wenn ein Räuber es bewohnt? “ (ti para ton oikon, ei lēstēs en autō tis katoikei; ) soll Chrysostomus Tholuck zufolge über das Fleisch gesagt haben, 24 und das entspricht ganz gut dem, was auch von Paulus her über das Fleisch zu sagen ist. Gewiss redet Paulus von einem Fleisch der Sünde (Röm-8,3), aber danach redet er von einer Sünde im Fleisch, von der wir aus Röm 7,7-25 wissen, dass sie eine ins Fleisch hineingekommene Sünde ist. Gewiss sagt Paulus auch, das Fleisch sei feindlich gesinnt gegen Gott (Röm 8,7), aber dahinter steckt die genannte Ge‐ schichte: Das Fleisch ist feindlich, weil etwas in ihm wirkt, durch das es feindlich geworden ist; nicht selten redet Paulus ohne Nuancen negativ vom Fleisch und von Fleischlichkeit, und dann liegen Abbreviaturen für den komplexeren Hintergrundzusammenhang vor, wie wir ihn in Röm 7,7-25 kennenlernen. Ist nicht das Fleisch an sich böse, so wird besser verständlich, warum Paulus vom Fleisch auch reden kann, ohne dass dabei ein moralisches Negativum mitschwänge: Abraham ist „unser Vater dem Fleische nach“ (Röm 4,1); das Fleisch des Paulus bedarf der Ruhe (2Kor 7,5), wie übrigens auch sein Geist (2Kor 2,13). Des Fleisches Waffen, mit denen Paulus nicht kämpft, stehen im Gegensatz zu den „mächtigen“ Waffen Gottes, mit denen Paulus Festungen stürmt (2Kor 10,4), und die man wohl mit dem Geist assoziieren darf (vgl. Gal 3,4, wo „Machttaten“ mit dem Geist im Gegensatz zum Fleisch assoziiert sind). In seiner Beschaffenheit sollten wir uns das Fleisch als weich denken und den Geist als hart; passend dazu kann das Fleischerne auch im Gegensatz zum Steinernen stehen - und dann etwas Gutes bedeuten: Die fleischernen Tafeln des Herzens sind gut im Unterschied zu den steinernen des Gesetzes (2Kor 3,3ff.). Wenn man eine Kurzformel braucht für das, was Fleisch nach Paulus sein soll, eignet sich am besten die Folgende: Es entspricht dem, was bei ihm der äußere Mensch ist (2Kor 4,16), die Außensphäre des Menschen: Diese ist weich, korrosionsanfällig, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Neue Erkundungen zum Werden und Wesen der Theologie des Paulus 59 25 Vgl. hierzu die Dokumentation bei Jan Dochhorn, Persönlichkeit, Auktorialität und Wissenschaftsfreiheit. Über die Neugründung eines Persönlichkeitsideals als Voraus‐ setzung für eine Kultur der Wissenschaftsfreiheit, Endnote 15 (im Druck). für äußere Einwirkungen anfällig, und eine dieser Einwirkungen, eine ziemlich wichtige, ist die Sünde, die von außen in das Fleisch eindringt und dann darin wohnt. Es hat den Anschein, dass für Paulus der Mensch als ein Raumwesen dem Bösen ausgesetzt ist und gegen dieses sein Territorium, den Körper, zu sichern hat, gewöhnlich ohne Erfolg. 3.-Ich bin nicht mein Körper: Was über Sünde und Fleisch festgestellt wurde, deutet auf ein Bild von mir als Subjekt, das klar einen Unterschied zwischen Innen und Außen, zwischen Eigentlich-Persönlichen und Körpersphäre er‐ kennen lässt. Ich bin ich seit je, schon vor dem Übermanntwerden durch die Sünde; ich stimme dem Gesetz zu, dass es gut sei (Röm 7,16), und so will ich das Gute, das ich nicht tun kann wegen der mir einwohnenden Sünde (7,15-20). Ich habe Freude am Gesetz Gottes nach dem Inneren Menschen (Röm 7,22), das deswegen auch das Gesetz meiner Vernunft ist (Röm 7,23). Ich, mein Wollen, mein Innerer Mensch, meine Vernunft: Das ist die Innensphäre. Diese umgibt mein Fleisch, in dem die Sünde wohnt, umgeben meine Glieder, in denen „ein anderes Gesetz“ (hetero[s] nomo[s]) wohnt, welches mich zu einem Gefangenen des Gesetzes der Sünde (7,23) macht, so dass ich verzweifelt fragen muss: Wer erlöst mich aus dem Leib dieses Todes (7,24)? Will ich herauskommen aus mir? Nein, ich will erlöst werden von einem Körper-Gefängnis, und dies geschieht auch dank Jesu Christi. Freilich habe ich auch danach den Körper - als eine Leiche: Er ist tot um der Sünde willen (8,10), aber es gibt das Leben im Geiste (ibidem und überhaupt Röm-8,5-17). 4. Selberseinwollen ist nicht Sünde: Mit dem Abschied von monistischer An‐ thropologie entfällt für die Theologie des Paulus ein hamartiologisches Konzept, das von der deutschen Mystik (Theologia deutsch) sowie der reformatorischen Theologie herkommt und in moderner Paulusexegese eine beträchtliche Rolle gespielt hat (etwa bei Althaus, Bultmann, Bornkamm): Die Rede vom Selber‐ seinwollen des Subjekts als der Ursünde, 25 die vermutlich durch monistische Anthropologie mindestens begünstigt ist, insofern hier das Subjekt als eine Einheit mit einer Gesamtausrichtung verstanden wird, die im gegebenen Falle verkehrt ist. Die Verkehrtheit besteht nach dieser Sicht darin, dass sich das Subjekt nicht Gott verdanken will, sondern sich selbst. In stärker ontologischer Rede könnte man auch sagen, wohl im Sinne der Theologia deutsch: Das Subjekt will Gott in seinem Gott-Sein und das heißt: in seiner ausschließlichen Seinshaftigkeit nicht gelten lassen, indem es ein Selbersein für sich in Anspruch nimmt, indem es neben dem kausierenden Sein Gottes auch für das von Gott Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 60 Jan Dochhorn Kausierte Seinshaftigkeit geltend machen will. Speziell in dieser ontologischen Wendung scheint dieses Konzept genau die Präzision zu gewinnen, die man braucht, um seinen Schwachpunkt aufzuzeigen: Soll ich etwa sagen: Deus non creat entia? Das sagt man gewöhnlich über den Teufel. Schafft aber Gott Seiendes, warum soll das Seiende sich dann nicht als das wollen, als was Gott es erschaffen hat, nämlich als Seiendes? So wird man argumentieren können, etwas von Paulus abhebend, aber doch nicht allzu weit von ihm entfernt, konnte doch immerhin der Autor des Epheserbriefs, der ihm sehr ähnlich ist, Selbstliebe und die Liebe zum eigenen Fleisch (! ) als etwas völlig Natürliches darstellen, über das man gar nicht erst diskutieren muss (Eph 5,26-27). Mehr noch, mit Paulus wage ich das Folgende zu sagen: Nicht zu viel Ich ist Sünde, sondern zu wenig: Das von der Sünde gefangene Ich ist in seinem Tun nicht es selber, will es aber sein. Diesem Willen entsprechend soll es befreit werden durch Jesus Christus. Erlösung ist Selbstwerdung, etwas, das man mit C. G. Jung als Individuation bezeichnen kann. 5. Das Gesetz Eher en passant kam bisher das Gesetz zur Sprache, als ein Faktor in der Sündengeschichte Adams und in der Sündengeschichte des - aufgrund des Gesetzeskontakts - adamanalogen jüdischen Menschen, wie in er in Röm 7,7-25 vorgestellt wird (hier einmal alle Menschen vertretend, wiewohl es bei den Heiden ohne Gesetz gehen muss). Auf Dauer können wir aber das Gesetz nicht einfach nur en passant behandeln; dafür ist es bei Paulus zu wichtig. In zwei Schritten ist nun die Nomologie des Paulus zu umreißen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): 1.-Das Gesetz ist Instrument der Sünde; vermittels des Gesetzes wird gesündigt: Des Gesetzes bedient sich die Sünde als eines Anlasses (aphormē), um im Menschen „jegliche Begierde“ zu erwecken; das Gesetz wird von der Sünde instrumentalisiert, um den Menschen zur Sünde anzuregen. Dies ist es, was in Röm 7,7-13 das Bild des Gesetzes bestimmt, soweit es um das faktisch Geschehende geht, denn wesensmäßig - und im gegebenen Zusammenhang nicht faktisch - ist das Gesetz gut (vgl. Röm 7,10.12). Es passiert bei diesem Faktischen etwas mit dem Gesetz; es ist passiv; es fällt ihm eine Rolle zu (als etwas Akzidentielles, nicht Wesensmäßiges); mit beidem ist das Gesetz dem Ich analog, das auch eine Passivrolle einnimmt und dem auch etwas zufällt, nämlich das Sündersein. Es ist diese für die Sünde instrumentelle Funktion des Gesetzes, die in Röm 7,7-13 zu identifizieren ist; heißt es in Röm 7,7, dass durch das Gesetz das Subjekt die Sünde erkenne, so darf dies nicht im Sinne eines usus elenchticus Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Neue Erkundungen zum Werden und Wesen der Theologie des Paulus 61 legis verstanden werden, also dahingehend, dass durch das Gesetz das Subjekt nur unterrichtet würde darüber, was als Sünde zu gelten habe; die Erkenntnis der Sünde ist Tat-Erkenntnis, Sünden-Erfahrung des tätigen Sünders. Exegeten müssen es entschieden vermeiden, Röm 7,7-13 im Sinne eines usus elenchticus legis zu lesen; wo es geschieht, ist es aus altprotestantischer Nomologie ein‐ getragen, der sich neuprotestantische Exegese im gegebenen Falle deshalb anschließen mag, weil das, was bei Paulus faktisch vorliegt, kontraintuitiv ist, paradoxal, den Verstand belastend und daher bei oberflächlicher Betrachtung vernunftwidrig (mit einem Rekurs auf die Vernunft geht Oberflächlichkeit nicht selten einher, freilich nicht als etwas ihm Wesensmäßiges). Das Gesetz als Instrument der Sünde: So widersinnig das scheint, es dominiert diese Funktion des Gesetzes in der Nomologie des Paulus geradezu. Sie kann sich in Kurzformeln ausdrücken, wenn etwa Paulus sagt, dass der Buchstabe des Gesetzes töte (2Kor 3,6), wo wie bei der Rede vom gottesfeindlich gesinnten Fleisch die Hintergrundgeschichte überbrückt ist: Man könnte meinen, das Gesetz sei ein Mörder, es ist aber ein Mordinstrument und damit ganz etwas anderes als ein Mörder. Noch etwas mehr sieht man, wenn Paulus redet von den „Sünden-Leidenschaften, die durch das Gesetz [gewirkt werden]“ (ta pathēmata tōn hamartiōn ta dia tou nomou); hier zeigt wenigstens die Präposition dia, dass wir das Gesetz nicht als das Agens des Bewirkens der Sünden-Leidenschaften sehen müssen (dann würde hupo verwendet), sondern als das für den Vorgang Instrumentale. Nicht ausdrücklich genug kann gesagt werden: Es hat diese Rolle des Gesetzes zur Folge, dass nicht die Forderungen des Gesetzes die Menschen realisieren, sondern deren Gegenteil; faktisch wird das Gesetz nicht erfüllt, sondern wird aufgrund des Gesetzes gesündigt. Dies ist für Paulus empirische Realität, wie wir speziell in Röm 2 sehen, wo Paulus gar nicht erst nachweist, sondern selbstverständlich voraussetzt, dass die Juden das Gesetz zwar haben, aber faktisch Sünder sind (die Heiden sündigen sowieso - und kennen dabei als ein Gesetzesanalogon die Rechtsforderung des Gesetzes, die sie willkürlich missachten; Röm-1,32). Es ist hier auch der Grund zu sehen, warum das Gesetz nicht Rechtfertigung wirkt (3,20): Es wird nicht verwirklicht, und stattdessen kommt mit ihm Erkenntnis der Sünde (ebenda), was wir wohl mit Röm 7,7-13 dahingehend verstehen müssen, dass mit dem Gesetz die Menschen sündener‐ fahrene Verbrecher werden. Soweit zum nahezu dominanten Brauch des Gesetzes bei Paulus. Die lutheri‐ sche Tradition, die uns so viele gut hantierbare Begriffe zur Verfügung stellt und herkömmlich drei Bräuche des Gesetzes unterscheidet, kennt diesen Gebrauch des Gesetzes nicht. Eine lateinische Bezeichnung müsste erfunden werden; Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 62 Jan Dochhorn am besten gefällt mir gegenwärtig der Begriff usus catachreticus legis, „der missbräuchliche Brauch des Gesetzes“, da mit diesem Terminus das Paradoxale dieses Brauches gut zum Ausdruck kommt; der missbräuchliche Brauch des Gesetzes ist seinem eigentlichen Wesen zuwider. Ist das Wesen des Gesetzes ein anderes (sein Gebot ist „zum Zwecke des Lebens“/ eis zōēn, Röm 7,10; „es ist heilig, und das Gebot ist gut und gerecht“, Röm 7,12), so wird man zu fragen haben, ob denn sein wesenswidriger Gebrauch durch die Sünde einfach so, ohne den Willen Gottes oder gar gegen den Willen Gottes, erfolgt oder ob es nicht vielmehr auch zum Wesenswidrigen durch Gott bestimmt wurde. Letzteres ist bei Paulus der Fall. In Röm 7,13 heißt es: Das Gesetz, obwohl gut, wird dem Menschen Tod, damit - und das ist hier entscheidend - die Sünde als Sünde manifest werde, damit sie Sünde im Übermaß werde. In Röm 5,20 heißt es passend dazu, das Gesetz sei „zwischen‐ hineingekommen“, damit die Sünde übermäßig werde (das Wort „zwischenhi‐ neingekommen“/ pareisēlthen reflektiert die Tatsache, dass weltgeschichtlich die Thora etwas Sekundäres ist als Folge des Sinaiereignisses, wiewohl schon Adam mit ihr konfrontiert war). Es sind mit dem Gesetz Zielbestimmungen verbunden: Es soll der Sündenmehrung, dem übermächtigen Sichtbarwerden der Sünde dienen. Man wird Gott als das ungenannte Subjekt hinter diesen Zielbestimmungen annehmen dürfen. Dementsprechend soll das Gesetz auch nicht die Rechtfertigung wirken, die der Glaube wirkt (Gal 3,21); Rechtfertigung soll mit Gottes Wille nicht vom Gesetz her kommen, sondern vom Glauben. 2. Das Gesetz ist dem Wesen nach gut, es soll erfüllt werden, denjenigen zum Leben, die es tun: Eigentlich ist das Gesetz gut, und das ist schon zur Sprache gekommen. Es wird daher in Röm 7,22; 8,7 als Gesetz Gottes bezeichnet (wenn Paulus es in Gal 3,20 als durch Engel vermittelt darstellt, steht das dem nicht entgegen, wiewohl damit eine Akzentsetzung vorliegt, die im Römerbrief unterbleibt). All dieses freilich, das so über das Gesetz gesagt wird, erscheint in Röm 7,7-25 als faktisch irrelevant, als Theorie (was nicht wenig sein müsste; Theorie sollte nicht unterschätzt werden, zumal, wenn sie zutreffende Wesens‐ bestimmung ist). Aber es ist eben auch faktisch mehr der Fall: Das Gesetz kann erfüllt werden, wird auch erfüllt: Von Christen wird die „Rechtsforderung des Gesetzes“ erfüllt (Röm 8,4). So durch Christen verwirklicht, heißt das Gesetz „das Gesetz des Geistes des Lebens“ (Röm 8,2); im Geistes-Kontext ist es Geistes-Gesetz, wie es übrigens zuvor im Sünden-Kontext Sünden-Gesetz war (Röm 7,23); das Gesetz, wesensmäßig gut, ist faktisch, was ihm von seinem Kontext her zukommt, und ändert entsprechend seinen Namen. Es sind sind hinsichtlich der Gesetzeserfüllung der Christen drei Spezifika‐ tionen vonnöten: Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Neue Erkundungen zum Werden und Wesen der Theologie des Paulus 63 a. Christen erfüllen das Gesetz nicht komplett, sondern in seinem Wesensgehalt: Paulus wendet sich mit beträchtlicher Polemik gegen Christen, denen die Beschneidung als eine Vorbedingung für das Christsein auch der Heidenchristen gilt. Die Beschneidung ist von der Thora geboten, und schon hier zeigt sich: Die Erfüllung aller Einzelbestimmungen der Thora ist offenbar nicht gemeint, wenn Paulus von einer Gesetzeserfüllung der Christen redet. Konzeptuell, wenn auch nur implizit konzeptuell, manifestiert sich dies in Gal 5,3, wo Paulus den Beschneidungswilligen entgegenhält, dass ein Beschnittener schuldig sei, das ganze Gesetz zu erfüllen. Vorausgesetzt scheint hier, dass eine komplette Gesetzeserfüllung für Christen unüblich ist. Es passt hierzu ein ins Holistische gehender Sprachgebrauch hinsichtlich des Gesetzes, der bei Paulus mit dessen Erfüllung durch Christen verbunden ist: Paulus spricht von „Tätern des Ge‐ setzes“, die gerechtfertigt werden (hoi poiētai nomou; Röm 2,13); er spricht von Heiden, die von Natur aus „die Sache des Gesetzes“ tun (ta tou nomou, wörtlich: „dasjenige des Gesetzes“; Röm 2,14); er attestiert diesen Heiden, das „Werk des Gesetzes“ sei eingeschrieben in ihren Herzen (to ergon tou nomou; Röm 2,15); er sagt über die von Christus von der Sündenherrschaft befreiten Christen, dass in ihnen die „Rechtsforderung des Gesetzes“ erfüllt werde (to dikaiōma tou nomou; Röm 8,4); er bezeichnet die von den Christen eingeforderte Nächstenliebe als „Erfüllung des Gesetzes“ (plērōma tou nomou; Röm 13,10) und identifiziert diese Liebe als Summe dessen, was die zweite Tafel des Dekalogs fordert (Röm 13,9). Dieser Sprachgebrauch läuft darauf hinaus, dass mit der Erfüllung des Gesetzes ein Kerngehalt des Gesetzes praktisch realisiert wird. Er besteht in der Nächstenliebe. Terminologisch überschneidet er sich an einer Stelle mit dem, was auch Heiden an normativem Wissen haben: Die „Rechtsforderung des Gesetzes“, die Christen laut Röm 8,4 erfüllen, ähnelt sprachlich der „Rechtsforderung Gottes“ (to dikaiōma tou theou) in Röm 1,32, die den Heiden bekannt ist, von ihnen aber mit ihrem schändlichen Tun ignoriert wird. Es ergibt sich damit eine Nähe zwischen dem Kerngehalt des Gesetzes und dem, was wir im Abendland als Naturrecht/ lex naturalis kennen. Wichtig ist dabei ein ontologischer Sachverhalt: Der Kerngehalt des Gesetzes hat mit seinen Einzelbestimmungen zu tun, ist mit diesen aber nicht erfasst, so wie der Wald aus Bäumen besteht, man aber den Wald nicht erfasst mit jedem einzelnen Baum. Orientierung am Kerngehalt macht frei von den Einzelbestimmungen, ähnlich wie der Rekurs auf Naturrecht das Gewissen frei machen kann von positiven Gesetzesbestimmungen. Suche nach Wesen, ontologisches Fragen bewirkt Freiheit. So hat auch christliche Freiheit etwas zu tun mit der Suche nach Wesen, die frei macht; in ihr wird real eine Freiheit der Christenmenschen vom Gesetz (und mit dem Gesetz). Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 64 Jan Dochhorn b. Christen erfüllen das Gesetz unabhängig davon, ob sie es haben oder nicht haben: Paulus weiß von einer Erfüllung des Gesetzes durch Heiden (-Christen), die das Gesetz gar nicht „haben“ (Röm 2,14-15), und er weiß in Röm 8,4 von der Erfüllung des Gesetzes „in uns“ (den Christen), die sich an die Erlösung des sünd‐ unterworfenen adamitisch-jüdischen Ichs anschließt und damit (mindestens auch) eine Angelegenheit der Gesetzes-Besitzer, eine Judenangelegenheit, eine Judenchristenangelegenheit ist (es ist ja auch vom Gesetz des Geistes des Lebens die Rede, durch welches das Ich befreit wurde, vgl. Röm 8,2). Offensichtlich ist es gleichgültig, ob Christen das Gesetz haben oder nicht; es wird von ihnen sowieso erfüllt (in seinem Kerngehalt, durch Liebe). „Das Gesetz Haben“ dürfte dabei ausweislich Röm 2,25-29 bedeuten, dass man auf das Gesetz stolz sein kann als etwas, mit dem Identität begründet wird, dass man also Jude ist. Das fehlt Heiden (-Christen), aber auch die Heidenchristen tun ja das Gesetz, und allein das zählt vor Gott. c. Christen werden gerechtfertigt durch das Tun des Gesetzes: Es ist schon mehrfach angeklungen und muss hier nun in aller Härte vor Augen geführt werden: Paulus sagt: „Die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden“ (Röm 2,13), und er datiert dieses Rechtfertigungsgeschehen auf den Tag des endzeitlichen Gottesgerichts (Röm 2,16). Nichts deutet an, dass dieser Satz nicht gälte, sondern bloß hypothetisch gelten würde, wenn nicht etwas anderes gälte, etwa die Aussage, dass nur der Glaube Rechtfertigung brächte, das sittliche Tun aber nicht. Passend dazu spricht Paulus ja auch von einem Gottesgericht für die Christen (Röm 14,12) und einem Christusgericht für die Christen (2Kor 5,10), bei dem jeder seinem Tun entsprechend empfangen wird (also belohnt oder bestraft wird), und damit wiederum harmoniert sein Wissen um einen unterschiedlichen Ausgang des Gerichts für unterschiedliche Christen, wie es in 1Kor 4 zum Ausdruck kommt (wobei freilich keiner umkommen wird). Entscheidend ist für Paulus dabei: Es zählt das Tun, nicht der Status: Ob man das Gesetz hat oder nicht, spielt überhaupt keine Rolle (Röm 2,12). Ein Vulgärprotestantismus, der sich auf den Status des Getauftseins beriefe, entspräche damit in seiner Struktur dem Gegenteil dessen, was Paulus vermitteln will. Für das Tun, aufgrund dessen Rechtfertigung erfolgt, verwendet Paulus unter anderem den Begriff to ergon tou nomou („das Werk des Gesetzes“, vgl. Röm 2,15). Dieser Begriff erinnert auf geradezu schon ärgerliche Weise an die „Werke des Gesetzes“ (ta erga tou nomou), aufgrund derer sich Rechtfertigung gerade nicht ergibt (Röm 3,20 etc.). Wahrscheinlich liegt ein Vexierspiel zugrunde, das Paulus in mündlicher Lehre stärker entfaltet hat und mit dem er einen soteriologischen Sachverhalt plastisch vor Augen führen will, den man folgen‐ dermaßen wiedergeben kann: Das Gesetz kann mit „seinen Werken“ = „seinen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Neue Erkundungen zum Werden und Wesen der Theologie des Paulus 65 26 Zur Interpretation von erga nomou vgl. Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), 39 f. Ent‐ scheidend ist eine Parallele in 4Q MMT, die James D. G. Dunn ins Forschungsgespräch eingebracht hat. 27 Vgl. Dochhorn, Adammythos (s. Anm. 1), 375-378. Apc Mos 19,4 enthält eine Allusion an das zehnte Gebot und fasst dieses als Summe aller Gebote auf - wie dann auch Paulus. 28 Einschlägig ist hier Stefan Krauter: „Wenn das Gesetz nicht gesagt hätte, …“. Röm-7,7b und antike Äußerungen zu paradoxen Wirkungen von Gesetzen, in: ZThK 108 (2011), 1-15. Einzelbestimmungen“ 26 keine Rechtfertigung erwirken, solange es „Gesetz der Sünde“ ist, solange es also Gesetz ist außerhalb des (Christus-) Glaubens. Erst mit Christus ist es Gesetz des Geistes des Lebens, erst mit Christus können wir Christusgläubige werden und als solche im Geist wandelnde Gerechte, die das Gesetz in seinem Kerngehalt realisieren: Dieses in der Tat Realisierte nun ist das Werk des Gesetzes (das in die Tat umgesetzte Wesentliche des Gesetzes), aufgrund dessen Rechtfertigung vor dem Gottesgericht erfolgen wird. Es zählt das Werk. Theoretisch gilt dies für alle (Röm 2,12), praktisch für die Christen, die es wirklich tun (Röm-2,14-15; 8,4). 6. Zu den Hintergründen der Gesetzeslehre des Paulus Es fällt schon schwer genug, die Gesetzeslehre des Paulus zu rekonstruieren, und dann muss man sich auch noch darüber wundern, dass es so etwas überhaupt gibt. Wie fällt es dem Juden Paulus ein, das schöne Mosegesetz als etwas darzustellen, das faktisch Böses bewirkt, nämlich böses Tun der Menschen? Äußert sich hier jemand, der als vorchristlicher Jude Frust hatte mit dem Gesetz, der diesen Frust verdrängte und deswegen erst einmal zum Christenverfolger wurde? Ich lasse es jetzt einmal dahingestellt, ob man Frust braucht, um zum Verfolger zu werden, und stelle lieber vorläufig dar, wie Paulus auf diese Lehre gekommen ist: 1. Paulus wusste aufgrund seiner Kenntnis um die exegetischen Grundlagen von Apc Mos 19,4 (die Vergiftung der verbotenen Frucht mit dem Gift der Begierde), dass Adam im Paradies mit dem Begierdeverbot des Gesetzes (dem 10. Gebot) konfrontiert war. 27 Er kannte auch griechisch-römische Theorien von einer paradoxalen Wirkung von Normativität (Gesetze regen - mitunter - zu bösem Tun an); 28 er sah diese Wirkung durchgängig gegeben. 2. Paulus wusste ausweislich seiner Aussagen von neuem Bund, Herzens‐ beschneidung, Geistverleihung und natürlicher Gesetzeserfüllung in Röm 2 und 2Kor 3 um die biblische Verheißung des neuen Bundes. Er kannte sie wahrscheinlich zudem aus dem Jubiläenbuch (Jubiläenbuch 1) und noch mehr Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 66 Jan Dochhorn 29 Vgl. hierzu Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), 321-334. 30 Vgl. hierzu Dochhorn, Adammythos (s.-Anm.-1), 334. aus der Apokalypse des Mose (Apc Mos 13,2-6). 29 Letzterem Text konnte er zudem entnehmen, dass ein neues Herz, geeignet zum Tun des Guten, die Sache eines endzeitlichen Gottesvolkes sein werde, das identisch ist mit der gesamten Menschheit. Eine heilsuniversalistische Hoffnung dürfte Paulus schon als Jude gehabt haben 30 ; er musste nur noch warten auf etwas, mit dem sie erfüllt schien, und da bot sich ihm der Christusglaube an, den er nach heftigem Widerstreben übernahm. Danach dürfte sich ihm eine Implikation der biblischen Weissagung vom neuen Bund ergeben haben: Er sah nun mit ihr vorausgesetzt, dass die bisher Israel gegebenen steinernen Tafeln des Gesetzes gar nicht ausrichten können, was erst als endzeitlich verheißen ist, nämlich eine praktische Realisie‐ rung des Gesetzes aufgrund einer neugeschaffenen Herzens-Natur. 3. Wie konnte Paulus darauf kommen, dass mit Christus der neue Bund realisiert sei? Er kannte die von ihm in 1Kor 11,23-26 als Tradition zitierte Abendmahlsüberlieferung. Auf ihr beruht meines Erachtens in ihrem Kernge‐ halt die paulinische Ekklesiologie, die wiederum fundamental ist für sein ganzes System: Leib Christi ist die Kirche, weil sie die durch Christi Todesopfer kon‐ stituierte Gemeinschaft und so mit Christus identisch ist (vgl. 1Kor 10,16-17; in 1Kor 12,12 heißt der Kirchen-/ Christusleib einfach ho christos = „der Christus“); eine der todbringenden Adam-Sphäre gegenüberstehende Geist-Sphäre ist sie aufgrund des mit dem Blut Christi eingeweihten neuen Bundes. Wir haben hier eine Ekklesiologie vorliegen, die zugleich sakramentale Erlösungslehre und physische Erlösungslehre ist. Ihr ruht auf eine juridische Erlösungslehre, die mit ihr harmoniert: Als der Kirche angehörend tun aufgrund ihrer Geist-Natur die Christen das Gute und werden dadurch gerechtfertigt; sie sind lebendes, fleischernes Gesetz und bringen damit das vor diesem Heilsgeschehen wir‐ kungslose, ja tötende Gesetz zu seiner Bestimmung, die im real statthabenden Liebeshandeln besteht. Es ist für mich nicht absehbar, inwieweit meine Thesen Aufnahme finden werden. Im Erfolgsfalle wird die Judaistik für sich die Aufgabe wahrnehmen, meine Impulse für die Rekonstruktion von Literatur und Theologie der Helle‐ nisten Jerusalems fortzuführen (unter anderem durch editorische Arbeit, etwa am Testament Hiobs oder an den Paralipomena Jeremiou). Für die Paulusfor‐ schung und dann die systematische Theologie kann sich ergeben, dass man neue Potentiale entdeckt in einer remythologisierenden Rede von der Sünde, in einer durch Terminologie der vorkantianischen Metaphysik präzisierten Rede von der Sünde, in einer Rückkehr zu anthropologischem Dualismus und in Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Neue Erkundungen zum Werden und Wesen der Theologie des Paulus 67 einer Gesetzes- und Rechtfertigungslehre, die etwas von der Tragik moralischer Normativität einerseits und andererseits vom Lohn für gute Werke weiß und damit einer praxis pietatis zugute kommen kann. Jan Dochhorn studierte Theologie in Münster und Tübingen (1989-1996). Er lehrt als Associate Professor Neues Testament und Judaistik an der Universität Durham. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Johan‐ nesapokalypse, Paulus und jüdische wie christlich-ori‐ entalische Parabiblica. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 68 Jan Dochhorn
