eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 27/53

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2024-0004
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2024
2753 Dronsch Strecker Vogel

Paulus, Apostel der Völker

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2024
Nadine Ueberschaer
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Paulus, Apostel der Völker Der Römerbrief als Zeugnis apostolischen Selbstverständnisses im Vergleich mit den johanneischen Schriften Nadine Ueberschaer Der Römerbrief als später Paulusbrief gibt einen tiefgehenden Einblick in die Theologie und das Selbstverständnis des Paulus als Apostel der Völker. Das zeigt ein Vergleich mit dem Galaterbrief, mit dem der Römerbrief wesent‐ liche Themen teilt. Doch während dort der Ton von einem Konflikt geprägt ist, den Paulus um das Verständnis seines Evangeliums austrägt, wirbt er bei den Christusglaubenden in der Hauptstadt des Imperium Romanum um die Zustimmung zu seiner Lehre. Daher stellt er sie im Römerbrief sachlich argumentativ und ohne polemische Untertöne dar. Der entscheidende Grund hierfür ist, dass Paulus die Gemeinden in Rom nicht selbst gegründet hat und seinen Adressaten daher bislang persönlich unbekannt ist. Beides, der Vergleich mit dem inhaltlich ähnlichen Galaterbrief sowie die Tatsache, dass Paulus im Römerbrief gezwungen ist, den Inhalt seiner Verkündigung zu erklären, macht den Römerbrief zu einem wertvollen Zeugen für die Theologie und das Selbstverständnis des Apostels. Im Römerbrief wird deutlich, dass Paulus seine Theologie als eine Theologie des Lebens konzipiert. So verwendet Paulus das Zitat von Hab 2,4 in Röm 1,18 und die Argumentation mit den Erzeltern Abraham und Sarah (Röm 4) (vgl. für beides Gal 3) ebenso wie die Gegenüberstellung von Adam und Christus (Röm 5) dazu, um Jesu Tod und Auferstehung in ihrer soterischen Bedeutung für die Glaubenden deutlich zu machen. Denn so wie Gott Jesus aus Toten auferweckt hat, so beschenkt er die Glaubenden mit der Gabe des Lebens (vgl. Röm 4,24; Röm-6). Diese Theologie des Lebens findet sich zwar auch in anderen Paulusbriefen, wie dem 1 Thess, dem 2 Kor und dem Gal, ist aber im Röm besonders umfang‐ 1 Vgl. zum Lebensbegriff im Röm Christof Landmesser, Der Vorrang des Lebens. Zur Unterscheidung der anthropologischen und soteriologischen Kategorien Tod und Leben in der Theologie des Paulus im Anschluss an Röm 5f, in: Petra Bahr/ Stephan Schaede (Hg.), Das Leben, Bd. 1: Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs (Protestantismus und Kultur 2), Tübingen 2009; Christiane Zimmermann, Leben aus dem Tod. Ein Spezifikum in der Gottesrede des Römerbriefs, in: Udo Schnelle (Hg.), The Letter to the Romans (BEThL-226), Leuven 2009, 503-520. 2 Vgl. zur Theologie des Lebens bei Paulus und Johannes sowie deren traditionsgeschicht‐ lichen Voraussetzungen Nadine Ueberschaer, Theologie des Lebens bei Paulus und Johannes. Ein theologisch-konzeptioneller Vergleich des Zusammenhangs von Glaube und Leben auf dem Hintergrund ihrer Glaubenssummarien (WUNT I/ 389), Tübingen 2017. Paulus und Johannes bilden ihre Theologie des Lebens auf der Grundlage vorpaulinischer Glaubenssummarien aus. Diese bzw. Elemente und Traditionssplitter von ihnen finden sich in 1 Thess 4,14; 1 Kor 15,3-5; 2 Kor 5,15; Röm 6,3-8; 14,9. Dass auch Joh vorpaulinische Glaubenssummarien kennt, belegt die geprägte Sprache in Joh 2,22; 12,1.9, während es sich bei Joh 11,25f. um eine narrative Ausgestaltung eines vorpaulinischen Glaubenssummariums handelt. reich entfaltet. 1 Darüber hinaus stellt sie eine zentrale Analogie zum Johannes‐ evangelium dar, das ebenfalls das ewige Leben als gegenwärtige soteriologische Gabe, die als inauguriertes Auferstehungsleben über den Tod hinaus besteht, mit dem Tod und der Auferstehung Jesu begründet. Doch wie lassen sich diese Übereinstimmungen zwischen Paulus und Johannes erklären, vor allem, wenn eine literarische Abhängigkeit des Johannes von Paulus nicht nachweisbar ist? Ein genauerer Blick auf die Texte zeigt, dass Paulus und Johannes für ihre Theologie des Lebens unabhängig voneinander schon ältere, vorpaulinische Traditionen rezipiert und diese deutend fortgeschrieben haben. 2 Das Verhältnis beider Entwürfe ist also eher traditionsgeschichtlich zu erklären, auch wenn sie beide voneinander unabhängig sind. Eine weitere Analogie, die sich ebenfalls durch die Verarbeitung frühchrist‐ licher Traditionen erklären lässt, stellt das „apostolische“ Selbstverständnis des Paulus und der johanneischen Gemeinde, die sich als gesandt versteht, dar. Erneut kommt dabei dem Römerbrief eine besondere Bedeutung zu, da Paulus sich im Präskript des Röm ausführlich mit seinem Selbstverständnis als Apostel vorstellt. Darüber hinaus bietet er in Röm 8,3-4 vorpaulinische Traditionen zur Sendung Jesu. Betrachtet man Röm 1 und Röm 8 zusammen, dann legen textliche Berührungen nahe, dass Paulus sein Selbstverständnis als Apostel auf der Grundlage einer vorpaulinischen Sendungssoteriologie in Röm-8 entfaltet. Ebendiese vorpaulinische Tradition bezeugt auch das Johannesevangelium sowie der 1. Johannesbrief. Hier ist es jedoch nicht eine Person, sondern die Gemeinde als Ganze, die sich als Gesandte versteht. Interessanterweise führt dabei die Rezeption derselben vorpaulinischen Tradition zu zahlreichen Analo‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 70 Nadine Ueberschaer 3 Eine Rekonstruktion, wie, wo und warum der Apostel-Begriff vor allem bei Paulus und in der Apg des Lk, die gemeinsam die meisten Vorkommen aufweisen, die prominente Stellung bekommen hat, lässt sich aufgrund mangelnder Quellen nicht mit Sicherheit vornehmen. Vgl. hierzu ausführlich Jörg Frey, Paulus und die Apostel, in: ders., Von Jesus zur neutestamentlichen Theologie, hg. v. Benjamin Schliesser (WUNT I/ 368), Tübingen 2016, 361-398. Der Begriff Apostel umfasst im allgemeinen Sprachgebrauch ein weites Bedeutungsspektrum und dient zumeist zur Bezeichnung von Gegenständen. Erst im frühen Christentum avanciert er zur Bezeichnung von Gesandten. Vgl. Jörg Frey, Apostelbegriff, Apostelamt und Apostolizität. Neutestamentliche Perspektiven zur Frage nach der ‚Apostolizität’ der Kirche und der ‚apostolischen Sukzession’, in: ders., Von Jesus zur neutestamentlichen Theologie, 677-778, hier 697; Christine Gerber, Paulus, Apostolat und Autorität, oder Vom Lesen fremder Briefe (ThSt.NF 6), Zürich 2012, 37. gien zwischen dem paulinischen und dem johanneischen Sendungsverständnis. Sie werden im Folgenden nachgezeichnet werden. Ausgangspunkt hierfür sind die vorpaulinischen Traditionen in Röm-8,3-4; Gal-4,4-6; 1-Joh-4,9; Joh-3,17. 1. Vorpaulinische Sendungssoteriologie Paulus ist als „der“ Apostel in die Wirkungsgeschichte eingegangen. Das verdankt sich seiner Selbstbezeichnung als apostolos in den Präskripten seiner Briefe. 3 Doch diese Präskripte sind nicht denkbar ohne ihre gedankliche Vorausset‐ zung in der Sendungssoteriologie, die Paulus in Gal 4,4-6 und Röm 8,3-4 aufgreift und ihr dort jeweils ihr eigenes Gepräge gibt. In Gal-4,4-6 heißt es: Gal-4,4-6 - 4-… ἐξαπέστειλεν ὁ θεὸς τὸν υἱὸν αὐτοῦ γενόμενον ἐκ γυναικός γενόμενον ὑπὸ νόμον 5 ἵνα τοὺς ὑπὸ νόμον ἐξαγοράσῃ, ἵνα τὴν υἱοθεσίαν ἀπολάβωμεν. 6 Ὅτι δέ ἐστε υἱοί, ἐξαπέστειλεν ὁ θεὸς τὸ πνεῦμα τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ εἰς τὰς καρδίας ἡμῶν κρᾶζον· αββα ὁ πατήρ. 4 Gott sandte seinen Sohn, geworden aus einer Frau, geworden unter das Gesetz, 5 damit er die unter dem Gesetz loskaufe, damit sie die Kindschaft empfingen. 6 Weil ihr aber Kinder seid, sandte Gott den Geist seines Sohnes in eure Herzen, der ruft: Abba, Vater. Ein Vergleich mit 1 Joh 4,9 und Joh 3,17 zeigt, dass es sich hierbei um eine von Paulus rezipierte Tradition handelt. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 Paulus, Apostel der Völker 71 4 Werner Kramer, Christos, Kyrios, Gottessohn. Untersuchungen zu Gebrauch und Bedeutung der christologischen Bezeichnungen bei Paulus und den vorpaulinischen Gemeinden (AThANT-44), Zürich/ Stuttgart 1963, 109. 1-Joh-4,9 ἐν τούτῳ ἐφανερώθη ἡ ἀγάπη τοῦ θεοῦ ἐν ἡμῖν, ὅτι τὸν υἱὸν αὐτοῦ τὸν μονογενῆ ἀπέσταλκεν ὁ θεὸς εἰς τὸν κόσμον ἵνα ζήσωμεν δι’ αὐτοῦ. Darin ist die Liebe Gottes unter uns er‐ schienen, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben. Joh-3,17 - οὐ γὰρ ἀπέστειλεν ὁ θεὸς τὸν υἱὸν εἰς τὸν κόσμον ἵνα κρίνῃ τὸν κόσμον, ἀλλ’ ἵνα σωθῇ ὁ κόσμος δι’ αὐτοῦ. Denn nicht sandte Gott den Sohn in die Welt, damit er sie richte, sondern damit die Welt gerettet werde durch ihn. Alle diese Stellen weisen eine gemeinsame sprachliche Struktur auf, indem sie Gott als Subjekt der Sendung Jesu nennen und diesen als Sohn bezeichnen. Die Sendung selbst wird mit einer Form des Verbes ἀποστέλλω (apostéllo/ senden) ausgedrückt. Und der daran anschließende Finalsatz deutet das Ziel der Sendung Jesu in seiner Bedeutung für die Glaubenden. Eine Variante dieser Tradition bietet Röm 8,3, denn statt [ex]apostellō/ [aus]senden) bietet Röm 8,3 pempō/ senden und damit ein Verb, das in den neutestamentlichen Schriften außer bei Paulus nur bei Joh verwendet wird, um die Sendung Jesu auszudrücken. Röm-8,3-4 - 3-… ὁ θεὸς τὸν ἑαυτοῦ υἱὸν πέμψας ἐν ὁμοιώματι σαρκὸς ἁμαρτίας καὶ περὶ ἁμαρτίας κατέκρινεν τὴν ἁμαρτίαν ἐν τῇ σαρκί 4 ἵνα τὸ δικαίωμα τοῦ νόμου πληρωθῇ ἐν ἡμῖν τοῖς μὴ κατὰ σάρκα περιπατοῦσιν ἀλλὰ κατὰ πνεῦμα. 3 … Gott sandte seinen Sohn in der Gleich‐ heit des Fleisches der Sünde - und wegen der Sünde verurteilte er die Sünde im Fleisch -, 4 damit die Rechtsforderung des Gesetzes unter uns erfüllt würde, die wir nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist. Die sprachlich-strukturelle sowie inhaltliche Übereinstimmung der genannten Stellen legt die Vermutung nahe, dass es sich hierbei um eine Tradition han‐ delt, die Paulus und Johannes rezipieren. Kramer spricht daher in Bezug auf die genannten Stellen von einer „Sendungsformel“ 4 , während Mußner sie als Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 72 Nadine Ueberschaer 5 Franz Mußner, Der Galaterbrief (HThKNT-9), Freiburg/ Basel/ Wien 2002, 272. 6 Das Adjektiv soterisch wird verwendet, wenn die heilvolle Wirkung der Sendung Jesu für die Glaubenden zum Ausdruck gebracht werden soll. Von Soteriologie wird hingegen gesprochen, wenn die paulinische und johanneische Konzeption sowie die von ihnen rezipierte Tradition bezeichnet wird. 7 Der vorliegende Artikel plädiert aufgrund von Textbeobachtungen dafür, das paulini‐ sche und johanneische apostolische Selbstverständnis auf der Grundlage der von beiden rezipierten vorpaulinischen Sendungssoteriologie zu verstehen. Damit werden keine Aussagen über den Apostel-Begriff in der Apg gemacht, dessen Bedeutung sich der spezifischen Intention des Lukas bzw. der von ihm rezipierten Quellen verdankt. Vgl. zum unterschiedlichen Apostolatsverständnis in den Schriften des Neuen Testaments auch Andrea Taschl-Erber, “Ich habe den Herrn gesehen“ ( Joh 20,18): ein geschlechts‐ spezifisches Apostolatskriterium? , in: PzB-14 (2005), 103-131. „vorpaulinisches Verkündigungsschema“ 5 bezeichnet. Da m. E. der Akzent auf der Sendung des Sohnes durch Gott in ihrer soterischen Wirkung für die Glau‐ benden liegt - darauf verweist der angeschlossene Finalsatz -, bezeichne ich die vorpaulinische Tradition als Sendungssoteriologie. 6 Diese vorpaulinische Sen‐ dungssoteriologie rezipieren Paulus und Johannes unabhängig voneinander und machen sie zum Ausgangspunkt ihres „apostolischen“ Selbstverständnisses. 7 2. Apostolischer Anspruch und Selbstverständnis bei Paulus In Röm 8 rezipiert Paulus die Sendungssoteriologie und verleiht ihr durch die Verwendung von „Fleisch“ und „Geist“ eine spezifische Interpretation, die sich vom unmittelbaren Kontext her erschließt. Denn in Röm 8,2 kontrastiert Paulus das Gesetz des Geistes, der in Christus Jesus Leben bedeutet, dem Gesetz der Sünde und des Todes. Was das meint, hatte Paulus in Röm 5-7 entfaltet. Der Mensch ist aufgrund seines Sünderseins unfähig, Gottes gutes, heiliges und gerechtes Gesetz zu erfüllen (Röm 7,12). Das Gesetz macht die Übertretungen des Menschen anrechenbar (vgl. Röm 5,13; 7,7-13). Indem der Mensch an Jesu Tod partizipiert, der die Sünde überwindet, stirbt er gegenüber der Sünde (vgl. Röm 6,2-11). Wie Jesus auferstanden ist, so lebt der Mensch in der Neuheit des Lebens (Röm 6,4), die ihm in der Gabe des Geistes zuteil wird (vgl. Röm 7,4). Paulus nutzt die vorpaulinische Sendungssoteriologie in Röm 8 dazu, zu sagen, dass Gott seinen Sohn in der Gleichgestalt des Sündenfleisches gesandt hat (Röm 8,3), damit der Rechtsanspruch des Gesetzes unter denen erfüllt sei, die nach dem Geist leben. Der Geist ist fortan das bestimmende Prinzip für das Leben und Handeln der Glaubenden. Er „treibt“ sie (Röm 8,14), so dass sich die Erfüllung des Gesetzes im Halten des Liebesgebotes realisiert (vgl. Röm 13,8-10). Wie im Gal zeichnet das Pneuma die Glaubenden als Kinder Gottes aus (Röm 8,14-17), was sich ihrer Teilhabe am Schicksal Jesu Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 Paulus, Apostel der Völker 73 8 Des Öfteren wird aufgrund des inneren Zusammenhangs zwischen dem Präskript des Röm und Röm 15 das apostolische Selbstverständnis des Paulus hieraus zu rekonstru‐ ieren versucht. Einen Überblick über verschiedene Forschungspositionen sowie im Anschluss daran einen eigenen Ansatz bietet Friedrich W. Horn, Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Röm 15, in: ders., Paulusstudien (NET 22), Tübingen 2017, 249-270. verdankt. Denn schließlich ist auch Christus seit der Auferstehung der Toten nach dem Geist der Heiligkeit zum Sohn Gottes eingesetzt (Röm 1,4). Daher spricht Paulus in Röm 8,15 auch vom „Geist der Kindschaft“ und bezeichnet den Geist, der in den Glaubenden wohnt (Röm 8,9), als Pneuma dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat (Röm 8,11). Dem Geist kommt damit die Funktion zu, Gottes schöpferisches Handeln in der Auferweckung Jesu ebenso an den Glaubenden zu verwirklichen. Besonders deutlich wird dies in den Vv. 10 und 11. Sie sagen die gegenwärtige und zukünftige Funktion des Geistes aus: Gegenwärtig ist er Leben, d. h. das inaugurierte Auferstehungsleben der Glaubenden, von dem Paulus bereits in Röm 6 gesprochen hatte, während der Geist für das Eschaton die erwartete Auferstehung von den Toten verbürgt. Die Sendungssoteriologie nutzt Paulus also in Röm 8 dazu, die Partizipation der Glaubenden am soterischen Effekt des Todes und der Auferstehung Jesu zu verdeutlichen, indem er das Leben nach dem Fleisch dem Leben nach dem Geist gegenüberstellt. Aus dieser Sendungssoteriologie bzw. aus seinem Verständnis derselben leitet Paulus im Römerbrief sein Apostel-Sein ab. Das zeigt ein Blick auf Röm-1,1-5. 8 Auch hier verwendet er die Gegenüberstellung von „Fleisch“ und „Geist“ und bezeichnet sich als berufenen Apostel, der zum Evangelium ausgesondert ist, und zwar zu dem Evangelium über den Sohn, der nach dem Fleisch, also als Mensch, aus dem Samen Davids stammt, nach dem lebendig machenden Geist aufgrund seiner Auferstehung zum Sohn Gottes bestimmt ist. Paulus nimmt also eine Verhältnisbestimmung zwischen dem irdischen Jesus und dem Auferstandenen vor. Dazu trägt er in die in den Vv. 3-4 rezipierte Tradition die für ihn typische Formulierung „nach dem Fleisch“ und „nach dem Geist“ ein und damit dieselben Kategorien, mit der er die Sendungssoteriologie in Röm 8 interpretiert hatte. Wenn er in V. 5 dann im apostolischen Plural formuliert: „durch diesen Jesus empfingen wir Gnade und Apostolat“, dann ist das ein deutliches Indiz dafür, dass Paulus sein Selbstverständnis als Gesandter auf die Sendung Jesu durch Gott zurückführt, wie er sie in Röm 8 mit Hilfe der Sendungssoteriologie darlegt. Paulus versteht sich also als Gesandter des in die Welt gesandten Sohnes, an dessen soterischer Wirkung er als Kind Gottes durch die Gabe des Geistes teilhat. Als Kind Gottes ist er zugleich Sklave Christi Jesu, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 74 Nadine Ueberschaer 9 Vgl. hierzu exemplarisch Michael Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011. wie es in Röm 1,1 heißt. Was das bedeutet, entfaltet Paulus in einem großen argumentativen Spannungsbogen von Röm 5,11-8,17: Er ist befreit aus der Sklaverei der Sünde und „in Christus“ dazu befähigt, sein Leben in den Dienst der Gerechtigkeit zu stellen. Auch in Gal 4,4-6 rezipiert Paulus die Sendungssoteriologie, um die Kind‐ schaft der Glaubenden zu begründen. Der soteriologische Zielpunkt der Sen‐ dung des Sohnes besteht also in der Aufnahme der Glaubenden in die Beziehung von Vater und Sohn. Weil sie Kinder Gottes sind, hat Gott den Geist seines Sohnes in die Herzen der Glaubenden gesandt. Deshalb rufen sie Gott als Vater an. Wenn nun Paulus in Gal 1,1 sagt, dass er Apostel durch Jesus Christus und Gott den Vater sei, dann wendet er die in der Sendungssoterio‐ logie vorausgesetzte Vater-Sohn-Relation als Sender und Gesandter auf sein Selbstverständnis an und bezeichnet sich als Gesandter von beiden. Damit bildet die Sendungssoteriologie wie im Röm so auch im Gal die Grundlage für das apostolische Selbstverständnis des Paulus. Deshalb kann Paulus auch sagen, er sei Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes (1 Kor 1,1; 2 Kor 1,1). Denn bei dem Syntagma apostolos Christou Jesu/ Apostel Christi Jesu handelt es sich wie bei dem Syntagma pistis (Jesu) Christou/ Christusglaube um einen Genitivus qualitatis, also um eine Kurzzu‐ sammenfassung für Jesu Sterben und Auferstehen und damit zugleich für die Sendung Jesu, wie sie die vorpaulinische Sendungssoteriologie thematisiert. 9 Deutlich sichtbar wird dies daran, dass Paulus das Syntagma „Apostel Christi“ Jesu in Röm 1,1 zugunsten der Formulierung „Apostel, ausgesondert für das Evangelium Gottes“, das Jesu Tod und Auferweckung zum Inhalt hat, auflöst. Damit gibt Paulus im Galater- und Römerbrief Einblick in sein Selbstver‐ ständnis als Apostel. Er selbst fühlt sich als Gesandter des von Gott gesandten Sohnes, der durch sein Tun Anteil hat an dem, was in den vorpaulinischen sendungssoteriologischen Formeln in dem Finalsatz ausgedrückt ist. Nun weiß Paulus auch, dass es noch weitere Apostelinnen und Apostel gibt, wie es auch die pluralische Formulierung in Röm 1,5 zeigt. Daher erwähnt er in seinen Briefen selbstverständlich Frauen und Männer, die er als Apostel be‐ zeichnet (vgl. 1 Kor 12,28), wie beispielsweise Junia und Andronikus (Röm 16,7) oder den Herrenbruder Jakobus (Gal 1,19). Aus seiner Verwendung geht damit auch hervor, dass es sich um keinen fest definierten Amtsbegriff handelt und Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 Paulus, Apostel der Völker 75 10 Vgl. dazu auch Jörg Frey, Das Selbstverständnis des Paulus als Apostel, in: Jens Schröter/ Simon Butticaz/ Andreas Dettwiler (Hg.), Receptions of Paul in Early Christianity. The Person of Paul and His Writings through the Eyes of His Early Interpreters (BZNW 237), Berlin/ Boston 2018, 115-142, hier 122f. kein fest definierter Personenkreis bezeichnet wird. Paulus versteht sich also als einer unter mehreren Aposteln. 10 Zum Problem wird dies erst, wenn er die Wahrheit des Evangeliums in Gefahr sieht. Das zeigt deutlich 2 Kor 11,4. Dort kritisiert er seine Adressaten, wenn er ironisierend sagt: Denn wenn einer kommt und einen anderen Jesus verkündigt, den wir nicht verkün‐ digten, oder ihr einen anderen Geist empfangt, den ihr nicht empfangen habt, oder ein anderes Evangelium, das ihr nicht aufgenommen habt, ertragt ihr das gut. Diejenigen, die einen anderen Jesus, einen anderen Geist und damit ein anderes Evangelium verkündigen, bezeichnet Paulus als Lügenapostel. Interessant ist dabei die Reihenfolge Jesus-Geist-Evangelium. Sie verweist zurück auf die Sendungssoteriologie. Denn wenn Paulus hier von Jesus ohne weitere christo‐ logische Hoheitstitel spricht, drückt er die Identität des Irdischen mit dem Auferstandenen aus, die auch für die Sendungssoteriologie zentral ist, und mit der Rede vom Geist deutete er die Tradition in Gal-4 und Röm-8 aus. Dabei dient insbesondere Röm 1 als Verstehenshintergrund und -hilfe. Denn so, wie dort die Auferstehung Jesu auf den Geist zurückgeführt wird, dient der Geist in der Ausdeutung der Sendungssoteriologie in Röm 8 dazu, das gegenwärtige und über den Tod hinaus bestehende Leben der Glaubenden zu begründen. Die Glaubenden haben folglich Anteil an der Sendung Jesu sowie dem aus seiner Auferstehung resultierenden Leben. Wird dieser Inhalt des Evangeliums seines Erachtens verfälscht, dann distanziert sich Paulus von anderen Apostelinnen und Aposteln. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch, weshalb Paulus die Galater daran erinnert, dass sie den Geist aus seiner Verkündigung empfangen haben (Gal 3,3.5). Der Hinweis auf den Geist-Empfang dient der Beglaubigung seiner Verkündigung als Gesandter, aber natürlich ebenso auch zur Beglaubigung seines apostolischen Selbstverständnisses. Denn schließlich ist es der Geist, den die Glaubenden als soteriologische Gabe aus der Sendung Jesu erhalten (Gal 4; Röm-8). Und noch etwas lässt sich aus der Verwendung der Sendungssoteriologie für das Apostel-Verständnis des Paulus ablesen. Paulus leitet sein Selbstverständnis als Apostel aus der Sendung Jesu ab, wie sie in der vorpaulinischen Sendungs‐ soteriologie vorliegt. Sein apostolischer Anspruch besteht darin, den soterischen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 76 Nadine Ueberschaer 11 Vgl. Bernd Kollmann, B. Person, III. Die Berufung und Bekehrung zum Heidenmissionar, in: Friedrich W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 80-91, hier 83. Vgl. auch das Zitat von Jes-52,15 in Röm-15,20f. 12 Treffend formuliert Christine Gerber, C. Werk, III. Theologische Themen, 5.2.3 Das Apostolatsverständnis und die Beziehung von Apostel und Gemeinden zueinander, in: Horn (Hg.), Paulus Handbuch (s. Anm. 11), 416-420, hier 416: „Der Apostolat des Paulus ist begründet in seiner besonderen Berufung, und auch die Rolle, die er in den Gemeinden beansprucht, hängt an seiner Person. Ein allgemeines ‚Amtsverständnis‘ ist daraus nicht abzuleiten.“ Vgl. auch J. Frey, Das Selbstverständnis des Paulus (s. Anm. 10). Effekt der Sendung Jesu zu verkündigen, dem er seinem Selbstverständnis nach auch sein eigenes Apostel-Sein verdankt. Damit übernimmt Paulus als Apostel eine bestimmte Funktion, deren soteriologische Voraussetzung jedoch für alle Glaubenden gilt. Denn prinzipiell partizipieren alle Glaubenden an der soterischen Wirkung der Sendung des Sohnes. Das zeigt sich in Röm 8 daran, dass Paulus zwar einerseits seine Adressaten in der 2. Person Singular sowie in der 2. Person Plural direkt anspricht, andererseits jedoch in Röm 8,4 die Wirkung der Sendung des Sohnes auf für eine ihn als Apostel und seine Adressaten umfassende 1. Person Plural bezieht. Dasselbe lässt sich an Röm 1 beobachten. Denn obwohl Paulus sich selbst als Apostel „berufen“ und „ausgesondert“ für die Verkündigung unter den Völkern weiß und damit sein Apostel-Sein in Anleh‐ nung an die Sendung des Gottesknechts zu den Völkern und der Berufung eines Propheten darstellt, 11 ist er überzeugt, dass auch seine Adressaten „Berufene Jesu Christi“ (Röm-1,6) sind. 12 Es ist sicherlich kein Zufall, dass es ausgerechnet der Galater- und der Römerbrief sind, in denen Paulus einen Einblick in sein Selbstverständnis als Apostel bietet. Denn im Galaterbrief muss er sein Apostolat verteidigen und sich im Römerbrief als Apostel vorstellen. Ganz offensichtlich war die Sendungssoteriologie dabei eine für ihn tragende Grundlage. 3. Apostolischer Anspruch und Selbstverständnis bei Joh Auch die johanneischen Schriften bezeugen die vorpaulinische Tradition der Sendungssoteriologie. Dies zeigen vor allem Joh-3,17 und 1-Joh-4,9. In der Sendung Jesu erweist Gott seinen Heilswillen, den die johanneischen Schriften universal verstehen und zugleich in seiner Bedeutung für jeden einzelnen Glaubenden entfalten. Dazu wird sowohl im 1. Johannesbrief als auch im Evangelium die Lebensterminologie verwendet. Interessant ist dabei, dass die johanneischen Schriften wie Paulus für die Gabe des Lebens die Teilhabe der Glaubenden an Jesu Tod und Auferstehung voraussetzen. Deutlich wird dies in Joh 3,14f., wonach aus Jesu Hingabe in den Tod und seiner Erhöhung - in Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 Paulus, Apostel der Völker 77 13 Vgl. Gabi Kern, Größenwahn! ? (Vom Schüler und Lehrer) Q 6,40 (Mt 10,24- 25a/ Lk 6,40/ Joh 13,16; 15,20), in: Ruben Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleich‐ nisse Jesu, Gütersloh 2007, 68-75. 14 Zur Bedeutung der Sendung in Joh 13 vgl. Anni Hentschel, Die Weinstockrede Jesu und die missionstheologische Relevanz der gegenseitigen Liebe ( Joh 15.1-17), in: NTS 68 (2022), 392-406. 15 Vgl. zum Gebrauch des Verbes pempō Joh 4,34; 5,24.30.37; 6,38f.; 7,18.28; 8,18.26; 9,4; 12,44f.49; 13,20; 14,24. Joh das Synonym für seinen Kreuzestod und seine Auferstehung - die Gabe des Lebens in Christus resultiert ( Joh-3,15). Eine weitere Parallele zu Paulus besteht in Joh 3 darin, dass auch Joh die Antithese von Fleisch und Geist verwendet, um damit das kreatürliche Sein des Menschen mit einem pneumatischen Sein zu kontrastieren. Letzteres ist der Mensch infolge der Gabe des ewigen Lebens, die ihm in einem Akt der Neuschöpfung zuteil wird. Damit partizipieren auch nach Joh die Glaubenden am soterischen Effekt der Sendung Jesu, so dass es plausibel erscheint, dass auch für das vierte Evangelium die Sendungssoteriologie die Grundlage dafür bildet, dass sich die Glaubenden als Gesandte verstanden. Narrativ inszeniert das vierte Evangelium dies in besonderer Weise dadurch, dass so herausragende Zeugen wie Johannes der Täufer oder die Samaritanerin als „Apostel“ dargestellt werden. So heißt es von Johannes dem Täufer, dass er gesandt ist ( Joh 1,6.33; 3,28), und die Samaritanerin ist mit den zur Ernte ausgesandten Arbeitern in Joh-4,35f. zu identifizieren. Einen Einblick in das johanneische Selbstverständnis als Apostel gibt auch die Verwendung des Begriffs in Joh 13,16. Im Kontext der Erzählung von der Fußwaschung heißt es dort: „Ein Knecht ist nicht größer als sein Herr, und ein Apostel nicht größer als der, der ihn gesandt hat.“ Im Unterschied zur synoptischen Tradition (vgl. Lk 6,40/ / Mt 10,24) spricht Joh von einem Apostel und dem, der ihn sendet. 13 Noch eine weitere Differenz zur synoptischen Tradi‐ tion offenbart das johanneische „Sendungsbewusstsein“. In Joh 13,20 formuliert Joh im Unterschied zu Mk 9,37/ / Lk 9,48, dass wer den aufnimmt, den Jesus sendet, Jesus selbst aufnimmt, und wer Jesus aufnimmt, Gott als denjenigen, der ihn gesandt habe, aufnimmt. Nach Joh sind also sowohl Jesus als auch die Glaubenden Gesandte. Die johanneischen Glaubenden verstanden sich also selbst als Gesandte des Gesandten, in deren Wirken sich die Sendung Jesu fortsetzte ( Joh 13,15.17). Damit liegt eine weitere Analogie zum paulinischen Selbstverständnis als Apostel vor. 14 Erstmals verwendet Joh hier das Verb pempō/ senden mit Jesus als Subjekt, während er es ansonsten ausschließlich für Gott als Sendenden benutzte. 15 Das Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 78 Nadine Ueberschaer 16 Vgl. zum Verb apostellō Joh-3,34; 5,36; 7,29; 11,42. 17 Vgl. Joh-15,26; 16,7. 18 Taschl-Erber, „Ich habe den Herrn gesehen“ (s.-Anm.-7). Verb apostellō/ senden 16 hingegen dient Joh dazu, christologische Aussagen zu formulieren, die die aus Jesu Verhältnis zum Vater resultierende soteriologische Bedeutung des Sohnes beschreiben. In Joh 13, dem Auftakt zu den Abschiedsreden, die die nachösterliche Zeit der Glaubenden in besonderer Weise reflektieren, fungiert Jesus als Subjekt des Verbes pempō ebenso wie in den Parakletsprüchen. 17 Das ist ein Hinweis darauf, dass das Apostel-Sein der Glaubenden in Jesu eigener Sendung begründet ist und der Geist nachösterlich zum Merkmal ihres Dienstes als Gesandte wird. In Joh 20 sagt der Auferstandene zu seinen Schülerinnen und Schülern: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende auch ich euch“ ( Joh 20,21). Damit werden die Schülerinnen und Schüler zu ihrem Dienst autorisiert. Erneut lassen sich hier Parallelen zu Paulus beobachten. Dazu gehört zum einen das Motiv des Sehens ( Joh 20,20), mit dem Joh einen erzählerischen Rückbezug zum Bekenntnis der Maria von Magdala in Joh-20,18 herstellt. Dass ein Sehen des Herrn konstitutiv für das Verständnis der Sendung war, belegt sowohl die Tradition in 1 Kor 15 als auch die Aussage des Paulus in 1 Kor 9,1, mit der er um die Anerkennung seines Apostel-Seins wirbt. In 1 Kor 9,1 schreibt er: „Bin ich nicht Apostel? Habe ich nicht Jesus, unseren Herrn, gesehen? “ In 1 Kor 15 betont er das Sehen des Herrn als Legitimation und Autorisierung seines Apostel-Seins vor dem Hintergrund einer Tradition, die Kephas und den Zwölfen eine Erscheinung des Herrn attestiert. Paulus ergänzt sie um weitere Auferstehungszeugen und beschließt sie mit der Aussage „dann wurde er von allen Aposteln gesehen. Zuletzt aber von allen, wie einer Fehlgeburt, wurde er auch von mir gesehen“ (1 Kor 15,7f.). Paulus beansprucht damit, dass sein Apostel-Sein ebenso legitim und autorisiert ist, wie das der ersten Auferstehungszeugen. Indem Paulus die Tradition um weitere Apostel ergänzt und sich selbst hineinschreibt, argumentiert er dafür, dass Apostel-Sein auch denen möglich ist, die nicht zu den ersten Auferstehungszeugen zählen. Pointiert kommt dies in der Gegenüberstellung von „zuletzt“ und der Selbstbe‐ zeichnung des Paulus als Fehlgeburt (ektrōma) zum Ausdruck (V. 8). Denn was zumeist als Fehlgeburt bezeichnet wird, ist eigentlich eine Frühgeburt: Obwohl der Verfolger Paulus als Frühgeburt aus sich selbst heraus nicht lebensfähig gewesen wäre, befähigte Gott ihn aus Gnade zum Dienst als Apostel (Vv.-9f.). Es liegt daher nahe, dass Joh Maria von Magdala mit dem Motiv des Sehens als Apostelin 18 darstellt und im Anschluss an sie auch die übrigen Schüler. Das zeigt erneut ein Vergleich mit der synoptischen Tradition, in deren Ostererzählungen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 Paulus, Apostel der Völker 79 das Sehen keine Rolle spielt. Allerdings ersetzt Joh das Kriterium des Sehens als apostolische Legitimierung durch das Glauben, wie die Seligpreisung derer zeigt, die glauben, ohne zu sehen ( Joh 20,29). Joh gibt damit Einblick in seine Entstehungszeit. Zum anderen zeigt die Rede vom Geistempfang ( Joh 20,22), dass das Wirken der Apostelinnen und Apostel im Geist ergeht, wie es sich bereits in Joh 13 beobachten ließ und eine Parallele zu Paulus darstellte. Weiter verdient die Verwendung der Verben Aufmerksamkeit. Denn während Jesu Sendung mit apostellō/ senden ausgedrückt wird, wird die Sendung der Glauben mit dem Verb pempō/ senden formuliert. Vor dem Hintergrund der Textbeobachtungen zur Verwendung der beiden Verben im Joh kann daher gesagt werden, dass hier in Joh 20 durch die differenzierte Verwendung der Verben das Zusammenwirken von Vater und Sohn bei der Sendung der Glaubenden ausgesagt wird, die wiederum die Sendung Jesu mit all ihren christologischen Implikationen zur Voraussetzung hat. Der Inhalt des apostolischen Wirkens erschließt sich aus Joh 17. Auch im Abschiedsgebet Jesu ist die Vorstellung der Sendung Jesu und der Glaubenden präsent. Der johanneische Jesus betet: „Wie du mich in die Welt sandtest, so sandte auch ich sie in die Welt“ ( Joh 17,18). Worin die Sendung Jesu besteht, erläutert Joh 17 mit der Rede vom ewigen Leben als Erkenntnis des einen und wahrhaftigen Gottes und seines Gesandten Jesus Christus (17,3). Dieses ewige Leben hat der Sohn vom Vater empfangen und an die Menschen weitergegeben. Interessant ist nun, dass in V. 8 an die Stelle der Rede vom ewigen Leben die Rede von den Worten Gottes tritt. Denn dort wird erneut das Verb „geben“ verwendet, nun aber nicht mehr in Bezug auf das Leben wie in V. 2, sondern auf die Worte Gottes. Das heißt, dass die Gabe des ewigen Lebens als Ziel der Sendung Jesu, mit den Worten Gottes identifiziert wird. Wenn nun die Glaubenden gesandt sind, so wie Jesus gesandt wurde, dann verwirklicht sich ihre Sendung, von der V. 18 spricht, in der Weitergabe des Wortes Gottes. Wie schon die Ablösung des Motivs vom Sehen als Kriterium apostolischer Legitimierung hin zum Glauben, so stellt auch die Konzentration auf die Worte Gottes als Inhalt des Gesandtseins eine Reaktion auf die nachösterliche Zeit dar. Die soterische Wirkung der Sendung Jesu verwirklicht sich nach Ostern in der Wortüberlieferung. Erneut besteht eine Analogie zu Paulus, der sich nach Röm 1 als ausgesondert zur Verkündigung des Evangeliums versteht. So wie Paulus damit das Hören des Glaubens bzw. den Glaubensgehorsam beabsichtigt (Röm 1,5), zeigt die Bitte in Joh-17 für diejenigen, die durch das Wort der johanneischen Apostelinnen und Apostel glauben, dass auch nach Joh die apostolische Verkündigung darauf zielt, Glauben hervorzurufen (vgl. Joh-17,20f.). Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 80 Nadine Ueberschaer 4. Fazit Der Römerbrief gibt das apostolische Selbstverständnis des Paulus zu erkennen, weil die innere Korrelation zwischen der vorpaulinischen Sendungssoteriologie in Röm 8,3-4 und der Selbstvorstellung des Apostels in Röm 1,1-7 erlaubt, eine traditionsgeschichtliche Herleitung und die daraus resultierende Verwendung und inhaltliche Füllung des Apostel-Begriffs bei Paulus aus der Sendungsso‐ teriologie heraus zu erklären. Dabei fungieren sowohl der Gal als auch die johanneischen Schriften als bekräftigende Argumente für diese Annahme. Denn der Gal weist die Sendungssoteriologie gleichermaßen auf, und auch hier zeigt sich eine inhaltliche Korrelation zum in Gal 1 formulierten Selbstverständnis des Paulus als Apostel. Der 1 Joh und das Joh wiederum bieten ebenfalls die Sendungssoteriologie und machen sie wiederum zum Ausgangspunkt des Selbstverständnisses der Glaubenden als Gesandte, indem sie die eigene Sen‐ dung in Analogie zur Sendung Jesu verstehen. Paulus und Joh geben damit einen Einblick in die frühchristliche Theologiegeschichte und geben zu erkennen, wie sich der Begriff Apostel im frühen Christentum etablieren konnte. Sie zeigen, dass die Ausdrücke apostolos (Apostel) bzw. apostolē (das Apostolat) keine „Amtsbezeichnungen“ sind, sondern offene Begriffe, die sich aus der Sendung des Gesandten herleiten. Daher findet sich die Bezeichnung Apostel auch bei den Synoptikern, auch wenn er dort andere Aspekte umfasst. Nadine Ueberschaer studierte Evangelische Theologie in München und Tübingen. Sie wurde an der UZH Zürich promoviert. Nach Vikariat und Probedienst in der Evangelischen Landeskirche in Baden war sie von 2020-2023 Juniorprofessorin an der Eberhard Karls-Uni‐ versität Tübingen. Seit Sommersemester 2023 ist sie Ju‐ niorprofessorin für Neues Testament an der Universität Greifswald. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Paulus, Johannes und die Synoptiker. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0004 Paulus, Apostel der Völker 81