eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 27/53

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2024-0006
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2024
2753 Dronsch Strecker Vogel

Warum Röm 1-3 schlechte Theologie ist

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2024
Douglas A. Campbell
znt27530085
1 Deutsche Übersetzung aus: Horst Beintker/ Helmar Junghans/ Hubert Kirchner (Hg.), Martin Luther Taschenbuchausgabe. Auswahl in fünf Bänden, Bd. 1: Die Botschaft des Kreuzes. Bearbeitet von Horst Beintker, Berlin 1981, 20-38. 2 Insbesondere mit denjenigen Schriften, die er nach seiner wichtigen Wende ab 1932 verfasste; vgl. hierzu Christoph Schwöbel, Art. Theology, in: John Webster (Hg.), The Cambridge Companion to Karl Barth, Cambridge 2000, 17-36, v.-a.-28f. 3 Tatsächlich hat Paulus in praktischer Absicht höchst situationsbezogene Briefe ge‐ schrieben. Er hat seine Theologie niemals für den kirchlichen Gebrauch systematisch dargelegt. Dies namentlich für Röm-1-3 anzunehmen, wäre anachronistisch. Warum Röm 1-3 schlechte Theologie ist Douglas A. Campbell In der Heidelberger Disputation, Thesen 19-21, hat Luther zwei Arten von Theologie unterschieden, eine theologia gloriae und eine theologia crucis: 19. Der ist es nicht wert, ein Theologe genannt zu werden, der Gottes ,unsichtbaresʻ Wesen ,durch seine Werke erkennt und verstehtʻ (Röm-1,20; vgl. 1Kor-1, 21-25). 1 20. Aber der (verdient ein rechter Theologe genannt zu werden), der das, was von Gottes Wesen sichtbar und der Welt zugewandt ist, als in Leiden und Kreuz sichtbar gemacht begreift. 21. Der Theologe der Herrlichkeit nennt das Schlechte gut und das Gute schlecht. Der Theologe des Kreuzes nennt die Dinge, wie sie wirklich sind. Röm 1-3 wird - jedenfalls nach einer weit verbreiteten Interpretation - als eine theologia gloriae gelesen. Es ist lohnend, dass wir uns klar machen, wie dies genau geschieht, denn der Charakter dieser Interpretation als theologia gloriae wird weithin überhaupt nicht gesehen. Hierbei kommt uns Karl Barth zur Hilfe 2 und ebenso Martin Luther. Mit einer Lektüre von Röm 1-3 als einem Stück systematischer Theologie von des Paulus eigener Hand handeln wir und drei Bündel an Problemen ein: 3 4 Barth wird in diesem Punkt häufig missverstanden. Er hat nichts gegen den Rückgriff auf natürliche Theologie, solange ihr keine fundamentaltheologische Qualität zuge‐ schrieben wird, wenngleich er ihren Nutzen für begrenzt ansieht. Was er allerdings ablehnt, ist ihre Begründungsfunktion. 5 Barth hat dies in KD II/ 1,1ff. pointiert ausgeführt. 1. Probleme aufgrund einer Lektüre von Röm 1 als selbstevidenter theologischer Ausgangspunkt Theologie ist im Wesentlichen schlicht Rede über Gott oder „Gottesgespräch“. Als solche hat sie akkurat zu sein. Wahre Sätze über Gott zu bilden, ist außerordentlich wichtig. Und Röm 1-3 gründet sein Gottesgespräch in einer selbstevidenten Wahrnehmung von Gottes Existenz und seiner Natur aufgrund des Nachdenkens über den Kosmos (1,19-21). „Natürliche Theologie“ hat hier eine begründende Funktion. 4 Hieraus ergeben sich einige zumeist unbemerkte, jedoch äußerst problematische Folgerungen: Erstens wird die Wahrheit der Aussage „Jesus ist Herr“ zurückgewiesen, marginalisiert und untergraben. Wie Barth sehr deutlich gezeigt hat, muss die Wahrheit des Satzes, dass Jesus Herr ist, in der Hand des Herrn liegen. Zu seinem Anspruch Herr zu sein, gehört auch der Anspruch, dass er die Wahrheit ist und Herr über jedwede andere, davon abgeleitete Wahrheit. Also kann der Anspruch, dass Jesus der Herr ist - womit die Kirche steht und fällt - nur wahr sein, wenn der Herr offenbart hat, dass sich dies so verhält. Und er hat es offenbart! Die heilige Geistkraft hat ihr Volk angerührt und die Wahrheit des auferweckten Sohnes offenbart, der zur Rechten Gottes ist, und hat uns in ihre Gegenwart eingeladen. Dieser Anspruch ist also keine Abstraktion. Er ist Tatsache. Und jedes wahre, daran anschließende Gottesgespräch ergibt sich daraus, dass wir unser Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn gedanklich durchdringen und die Struktur seiner inneren Wahrheit als trinitarisches Offenbarungsgeschehen verstehen. 5 Paulus war sich dessen seinerseits sehr bewusst. Die in 1Kor 1,17-2,16 formulierte Wahrheit des paulinischen Evangeliums macht dies hinreichend deutlich. Im Lichte dieser fundamentalen Bekenntnisaussagen wird ersichtlich, dass der Ausgangspunkt des Gottesgesprächs in Röm-1 sich hiervon auf fatale Weise unterscheidet. Wird behauptet, dass die elementaren Wahrheiten über Gott von einem anderen Standpunkt aus zugänglich sind, nämlich vom Standpunkt der ratio‐ nalen Betrachtung des Kosmos, dann wird das Ensemble der entscheidenden Wahrheitskriterien, ja, die Wahrheit selbst, in das Urteilsvermögen dieses rationalen Betrachters verlegt. Dieser ist es nun, der über die Wahrheit Gottes entscheidet. Diese Wahrheit liegt nun in den Händen dieses Betrachters, der uns in einem philosophischen Habitus entgegentritt. Christus ist dann nicht Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 86 Douglas A. Campbell 6 Vgl. Thomas F.-Torrance, Space, Time, and Resurrection, Edinburgh 1976, v.-a.-64. 7 Vgl. hierzu nochmals Schwöbel, Theology (s.-Anm.-2). 8 Das Wirken des Bösen besteht nicht zuletzt in der Manipulation unserer armseligen Ur‐ teile, mit den entsprechenden schrecklichen Konsequenzen, etwas, das Paulus „Satan“ und „die Mächte“ nennt; vgl. etwa 2Kor-11,3. 9 Röm-10,3f. länger die Wahrheit bzw. Herr der Wahrheit. Das Herrsein Christi wird damit bestritten. In der Konsequenz wird ein Bereich von Wahrheitsbehauptungen über Gott vor und unabhängig von der durch Christus offenbarten Wahrheit über Gott etabliert. Die Rolle Christi wird marginalisiert. Er ist dann nicht länger Herr (Der rationale Betrachter gerät damit in die Position eines „funktionalen Markionismus“ 6 ). Innerhalb dieses begrenzten Bereichs wird Christus außerdem vorgängigen Wahrheitsurteilen untergeordnet. Er wird einer Kontrolle unter‐ worfen und seine Offenbarung der göttlichen Natur wird auf diese Weise unterlaufen (und wir werden gleich verdeutlichen, wie dies unser Verständnis von Röm-1 beeinträchtigt). Der theologische Modus zu Beginn von Röm 1 beraubt die Offenbarung ihrer ursprünglichen Stellung zugunsten einer anthropozentrischen, rationalen Betrachtung. Die ganze Bewegungsrichtung der Wahrheit Gottes, wie sie uns aus der Bibel geläufig ist, wird in der Weise umgekehrt, dass nun menschliche Wesen zu Gott hin fortschreiten und nicht mehr Gott sich zur Menschheit hinneigt (diese Umkehrung ist freilich der aufgeklärten Moderne sehr vertraut 7 ). Machen wir uns klar, wohin wir gelangt sind: Alle Aussagen über Gott im Gefolge des in Röm 1 markierten Ausgangspunktes unterliegen nicht der Erkenntnis, die uns durch Jesus, in dem Gott in Person unter uns weilte, eröffnet wurde. Vielmehr wurde diese Erkenntnis geleugnet, marginalisiert und unterlaufen. Das christologische Kriterium unseres Gottesgesprächs ist uns abhandengekommen. Wenn wir aber Gottes ultimative Selbstkundgabe über sein eigentliches Wesen zurückweisen und die Formulierung von Aussagen über das Wesen und Wirken Gottes selbst in die Hand nehmen, dann machen wir uns selbst zu den Urhebern und Autoren dieser Aussagen (gewiss nicht ohne ein Mitwirken böser Mächte, wie Paulus ergänzen würde 8 ). 9 Wir sind, kurz gesagt, dem Götzendienst anheimgefallen. Und dieser Götze wird jedwedes weitere Gottesgespräch kontrollieren, einschließlich der Ekklesiologie, Ethik und Politik, wo sich der entstandene Schaden üblicherweise zuerst bemerkbar macht. Wir haben dann den Gott der Selbstoffenbarung Gottes gegen einen Gott aus eigener Fertigung eingetauscht. Die Frage lautet nun: Was für einen Gott finden die Betrachter von Röm-1 im Kosmos vor? Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 Warum Röm 1-3 schlechte Theologie ist 87 10 Diese Attribute sind nicht notwendigerweise falsch. Problematisch ist aber ihre Funk‐ tion in dieser fundamentalen Position. Und sie bedürfen der christologischen Neufas‐ sung. Besonders der Gerechtigkeitsbegriff ist konsequent von der Christusoffenbarung her zu erschließen. 11 Politische Bildspender sind in biblischen Aussagen über Gott geläufig, die Frage ist aber, ob es sich hierbei um eine Leitmetapher handelt, die alle anderen Bildelemente determinieren darf. Vom Standpunkt der Christusoffenbarung aus ist diese Frage vehement zu verneinen. 12 Liebe ist nicht an Bedingungen geknüpft, ebenso wenig der (richtig verstandene) bibli‐ sche „Bund“; vgl. James B. Torrance, Covenant or Contract. A Study of the Theological Background of Worship in Seventeenth-Century Scotland, in: SJT 23 (1970), 51-76. Stellt man dies in Rechnung, ergeben sich für die Auslegung erhebliche Spannungen zwischen Röm-1-3 und Röm-5ff. 13 Die hier maßgebliche Ethik ist primär deontologisch und regelbasiert. 2. Probleme, die sich aus diesem Ausgangspunkt in Röm-1 ergeben Röm 1 stellt klar, dass jeder, der den Kosmos zum Gegenstand einer rationalen Betrachtung macht, auf eine Gottheit stößt, die fünf Eigenschaften und mo‐ ralische Belange aufweist: (1) Allmacht, (2) Unsichtbarkeit, verbunden mit der Verpflichtung zur bildlosen Anbetung, (3) retributive Gerechtigkeit, (4) He‐ teronormativität und (5) generell positive Beziehungen bzw. Prosozialität. 10 Offenkundig wird Gott hier als Gesetzgeber und Gesetzeshüter gesehen, als Herrscher und als Richter der Vergeltung, ganz so wie in prämodernen Staaten Monarchen exekutive und legislative Vollmachten in ihrer Person vereinten. Der rationale Betrachter von Röm 1 findet einen essentiell politischen Gott, der in Analogie zu staatlichem Handeln verstanden wird. 11 Daraus folgt, dass die Beziehung zwischen Gott und der Menschheit wesent‐ lich rechtlich bestimmt ist. Die Menschheit wird regiert nach der vertraglichen Maßgabe von Gesetzen und Werken, was bedeutet, dass diese Beziehung nicht mehr als liebevolles Bundesverhältnis aufgefasst werden kann. 12 Wenn bestimmte Vertragsbedingungen sorgfältig erfüllt sind, obliegt es Gott, diesen Gehorsam mit Leben zu belohnen. Werden sie dagegen missachtet, wird Gott dies bestrafen, gegebenenfalls mit dem Tod (1,32; 2,6-10). Dem liegt die unumstößliche Überzeugung zugrunde, dass dem Übertreter in der Weise staatlichen Handelns Schaden zugefügt werden muss. Weisen des Umgangs mit Schädigungen, die das Vergeltungsprinzip außer Kraft setzen und stattdessen auf Wiederherstellung und Rehabilitation zielen, sind dann zugunsten einer Pflichten- und Tugendethik ausgeschlossen. 13 Die Auswirkungen dieser Denkweise auf die Christologie sind verheerend. Jesu Tat für uns wird nun innerhalb eines festgefügten Vorstellungsrasters Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 88 Douglas A. Campbell 14 Soteriologie wird hier auf stellvertretende Sühneleistung beschränkt. 15 Die Kirchenväter haben sich mit diesem Problem herumgeschlagen; vgl. Thomas D. McGlothlin, Resurrection as Salvation. Development and Conflict in Pre-Nicene Paulinism, Cambridge-2017. 16 Vgl. Kathleen M. Coleman, Fatal Charades: Roman Executions Staged as Mythological Enactments, in: JRS 80 (1990), 44-75, und Joel Marcus, Crucifixion as Parodic Exaltation, in: JBL-125 (2006), 73-87. 17 Vgl. die glänzende Darstellung bei George Lakoff, Moral Politics, Chicago 3 2016 (1996), der von einer „strikten Vater-Moral“ spricht. 18 In der Propaganda des Ukraine-Krieges wird im Dienst der Gewalt in großem Um‐ fang theologische Sprache verwendet; vgl. den Artikel „The intensity is increasing“, in: The Guardian vom 27. Mai 2023 (https: / / www.theguardian.com/ world/ 2023/ may/ 27/ first-operations-in-ukraine-counteroffensive-have-begun-says-top-official? fbclid=I wAR1iy3lyxsOug8Uxm62gRLLVqtkHMQV_zxT4C-B4gICMnvY_-30Dlmxrx7c; letzter Zugriff am 09.01.2024); ausführlicher und eindringlich hierzu Nicholas Denysenko, The Church’s Unholy War. Russia’s Invasion of Ukraine and Orthodoxy, Eugene 2023. begriffen, bevor er überhaupt erschienen ist (Röm 1-3 erwähnt Christus nur ein einziges Mal flüchtig, und das in einer durch den Kontext eingeschränkten Rolle; vgl. 2,16). Er muss Gottes gerechte Strafe auf sich nehmen, und das warʼs. 14 Das Kreuz ist nun der Mittelpunkt des göttlichen Rettungshandelns. Die Auferweckung wird dann soteriologisch überflüssig und kann ethisch nur mit Mühe als irgendwie bedeutsam erwiesen werden. 15 Und Gott wird die Kreuzigung dann sozusagen für gut und rechtens erklären! Damit aber wird Gott in gewisser Weise mit den gegen Gott in Person gerichteten Untaten des römischen Staates identifiziert. Machen wir uns klar, dass die Kreuzigung nicht einfach eine Methode der Exekution war. Es war ein demütigendes, öffentliches Spektakel, vollführt an einem Menschen ohne jeden sozialen Status, der für seinen Ungehorsam dem Staat gegenüber langsam zu Tode gequält wurde. 16 Wir haben, wenn wir uns diese Sicht zu Eigen machen, Böses gut genannt. Es empfiehlt sich, für einen Moment darüber nachzudenken, dass christliche Identität nun im Grunde in der Loyalität gegenüber autoritären Strukturen besteht, die ihrerseits einer Logik der Vergeltung folgen und (verhältnismäßig) gewaltsam sind. Diese Strukturen bestimmen dann auch das Handeln der Kirche und das Leben der Familie und der Nation. 17 Und es dürfte klar sein, dass die Kirche dann auch sehr anfällig für ethnische und politische Vereinnahmung ist. Die Kirche hat in vielen der traurigsten Augenblicke ihrer Geschichte den Willen Gottes mit dem Willen eines einzelnen Staates (oder Stammes oder Königtums) identifiziert. Sogenannte heilige Kriege führten in Europa erst jüngst wieder zu ethischen Säuberungen - durch Serbien in benachbarten Regionen im Namen der Orthodoxie, mit einer Sprache, die, während ich dies schreibe, im Krieg in der Ukraine von beiden Seiten verwendet wird. 18 Auf das Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 Warum Röm 1-3 schlechte Theologie ist 89 19 Vgl. die treffende Darstellung bei Alan J. Torrance/ Andrew B. Torrance, Beyond Immanence, Grand Rapids 2023. 20 Vgl. hierzu die erhellenden Arbeiten von Stanley Hauerwas. Charles Pinches verdanken wir eine nützliche Einführung in Hauerwasʼ umfangreiches Werk: Why Church Mat‐ ters. The Political Theology of Stanley Hauerwas, in: The Political Science Reviewer 46 (2022), 299-327. 21 Man denke nur an die unermüdliche Unterstützung von 85% der weißen Evangelikalen für Trump; vgl. https: / / www.pewresearch.org/ short-reads/ 2021/ 08/ 30/ most-white-am ericans-who-regularly-attend-worship-services-voted-for-trump-in-2020/ (Letzter Zu‐ griff am 09.01.2024). Ganze der Kirchengeschichte gesehen ist dies keineswegs ein Einzelfall. Und wir wissen nun, instruiert nicht zuletzt durch die prophetischen Äußerungen Karl Barths zu den beiden Weltkriegen, wo wir die tiefsten Ursachen für diese Vereinnahmung zu suchen haben. 19 Eine Kirche, die sich der christologischen Korrektur verschließt und statt‐ dessen einer angeblich selbstevidenten politischen Auffassung von Gott das Wort redet, ist unfähig, die machtvolle Abwärtsspirale hin zum Bösen zu kontrollieren oder überhaupt nur wahrzunehmen, in die man durch eine Identifikation von Nationalismus etc. und Gott gerät. Barth ist nach den Jahrzehnten des Kampfes und des Schreckens zu der Einsicht gelangt, dass nur ein tiefes Gegründetsein in und mutiges Vertrauen auf den Gott, der sich durch seinen gekreuzigten Sohn offenbart hat, in die Lage versetzt, die machtvolle und leidenschaftliche Anziehungskraft autoritärer, nationaler und völkischer Identitäten aufzudecken und ihr zu widerstehen. 20 (Ich lebe in den USA und muss täglich die Realität und Stärke dieser toxischen Dynamik erfahren 21 ). Es gibt aber noch eine weitere problematische Dimension dieser Theologie, der wir uns nun noch zuwenden müssen. 3. Die Definition des nichtchristlichen Anderen Röm 1-3 bringt wie jede Theologie, die auf einem erkenntnistheoretischen Fundamentalismus fußt, einen Begriff von Erlösung hervor, der vom Problem zur Lösung fortschreitet. Ansatzpunkt dieser Theologie ist der allen einsichtige Naturzustand, Zielpunkt jedoch die Kirche, in welcher sie von Christen propa‐ giert wird. Der Gang der Argumentation muss Individuen von ihrer natürlichen Ausgangsposition aus zur Akzeptanz des Evangeliums bewegen. Dazu muss etwas unbezweifelbar Evidentes über den eigenen unerlösten Status ihnen unabweisbar und dringlich nahelegen, dass sie sich bekehren, Christen werden und der Kirche beitreten, nun mit der Verpflichtung, bestimmte Bedingungen zu Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 90 Douglas A. Campbell 22 Eine Auffassung, der in Röm-5,1-11; Eph-1,4; 3,14-19 u.-ö. widersprochen wird. 23 An diesem Punkt stellen sich eine Menge Fragen, was Paulus denn genau meint, wenn er von Glauben spricht. Für einige Hinweise zu einer christozentrischen Antwort vgl. meine Pauline Dogmatics, Grand Rapids 2020, 297-326. 24 New Haven 2010. erfüllen (denn die Beziehung zu den Erlösten bleibt ja, wie wir sahen, wesentlich vertragsförmig und nicht von Liebe bestimmt 22 ). Röm 1-3 erzeugt diesen Druck durch die Betonung der harten Seiten eines Gottes der Vergeltung in Verbindung mit der Prämisse individueller Sünde, die angeblich so abscheulich wie selbstevident ist und für Nichtchristen unweiger‐ lich zu endgültiger Bestrafung führt. Der Gott der retributiven Gerechtigkeit wird am Ende der Zeit alle Übeltäter mit dem Tode bedrohen (2,9) - oder schlimmer! Und die Angst, die diese Perspektive auslöst, sollte kluge Individuen dazu motivieren, das Heilsangebot des Evangeliums zu ergreifen, das entspre‐ chend dem Gedankenfortschritt des Römerbriefes im richtigen Moment zu den nun auf einmal ganz simplen Bedingungen des Glaubens zu haben ist, so 3,21ff. 23 Aber diese Person wird nun von ihrer Natur her in Anbetracht dieser Abfolge konsequenterweise als Krimineller verstanden, als kosmischer Straftäter, als unbußfertige, unerlöste Person, als widerspenstiger, ungehorsamer Übeltäter, der ein furchtbares Schicksal verdient. Man kann sich wohl kaum ein evange‐ listisches Programm vorstellen, das anfälliger wäre für Kolonialismus. Man stelle sich vor: Eine derartige Predigt im Munde eines weißen viktorianischen Missionars in Natal. Ein solcher Missionar wird, wie Christen überhaupt, notwendigerweise rational und moralisch denken, denn er hat seine eigene unerlöste Situation erkannt und sich bekehrt. Aber wie wird er von den Zulus denken? Unter dem Vorbehalt ihrer eigenen Bekehrung müssen sie als irrationale, immoralische, heidnische Götzendiener gelten, und jedwede Strafaktion gegen sie in Entsprechung zu derjenigen Gottes erscheint dann als gerechtfertigt. Die Vertreibung der Zulus von ihrem Land oder ihre Versklavung ist dann rechtens, zumal dann, wenn sie sich nicht zum Christentum bekehren (Diese „kranke Einbildung“ hat Willie Jennings in seiner meisterhaften Studie The Christian Imagination beschrieben. Er zeigt darin auch, wie solche negativen Konstruktionen des Anderen oft in Lehren von der Schöpfung zu finden sind, die wie in Röm-1-3 keiner christologischen Kontrolle unterliegen 24 ). Aus Raumgründen kann ich hier nur andeuten, dass dieser kolonialen Haltung eine unheilvolle dämonisierende Tendenz zu eigen ist, eine Tendenz, verzerrte Bilder von Minderheiten zu erzeugen und diese Minderheiten dann zu unterdrücken. Nicht minder verstörend ist aber im Rahmen unseres Themas, wie der paulinische Text selbst zu einer solchen Konstruktion des nichtchristlichen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 Warum Röm 1-3 schlechte Theologie ist 91 25 E.-P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism, Philadelphia 1977. Anderen beiträgt. Röm 2 richtet sich auf weite Strecken an einen Juden. Wenn man diese Passagen als eine Erörterung darüber liest, wie ein Individuum im Fortschreiten von einer unbezweifelbaren Notlage hin zu einer christlichen Lösung gerettet werden kann, zahlt man einen hohen Preis. Denn die Juden werden dann geradezu zum Typus jener vorchristlichen Daseinsweise, an deren Ende Gott den Übeltätern ihre Taten verdientermaßen mit einer Bestrafung vergilt. Juden handeln, so verstanden, legalistisch und rein zweckorientiert - sie wollen sich den Eintritt in den Himmel erarbeiten - und ihre heiligen Schriften sind ein „Gesetz“. Sie sind aber auch sündig. Also wird jeder rational und moralisch denkende Jude, wenn er die christliche Botschaft hört, das Gesetz aufgeben und sich zum Glauben an Christus bekehren. Die Definition dessen, was ein Jude ist, ist dann ebenso unbezweifelbar wie die rationale und moralische Notwendigkeit, das so definierte Judesein aufzugeben und ein Christ zu werden. Die Darstellung „des Juden“ in Röm 2 steckt voller problematischer Annahmen, für deren Kritik hier bei weitem der Platz nicht reicht. In Kürze nur so viel: Es ist historisch nachgerade lächerlich anzunehmen, dass allen Juden zu allen Zeiten und an allen Orten eine solche angeblich typisch jüdische Werkgerechtigkeit zu eigen war, wie bereits eine oberflächliche Lektüre des Alten Testaments hinreichend deutlich macht. Diese Annahme ist aber auch im Blick auf spätere jüdische Quellen unfair, die eine solche Mentalität schwerlich erkennen lassen (E. P. Sanders hat gezeigt, dass die Rabbinen und ihre Vorgänger eine völlig andere Soteriologie vertraten, die er „Bundesnomismus“ nennt. Auch wenn man seiner Sicht gewisse Einseitigkeiten vorwerfen mag, bleibt an den Ergebnissen seiner Untersuchung 25 doch gültig, dass die Theologie von Röm 1-3 für das zeitgenössische Judentum keineswegs repräsentativ ist). Außerdem verhielte es sich dann so, dass Gott ein Volk ins Dasein gerufen hätte - ein Volk, dem wir 80% der Bibel verdanken - nur um es von der Notwendigkeit seines Verschwindens zu überzeugen. Abermals eine abwegige Vorstellung! So verstanden wären die Juden merkwürdig irrelevant. Denn Juden würden sich dann ja in allen wesentlichen Merkmalen von Individuen, die Gottes Natur und Moral anhand des Kosmos erkennen, in nichts unterscheiden (vgl. 2,12-16.26- 29). Diese Auffassung bestreitet, was in der Bibel immer wieder behauptet wird: dass die Juden ein besonderes Volk sind, berufen, im Einklang mit dem ihnen offenbarten, heiligen Gotteswillen zu leben. Doch über all das hinaus werden wir schließlich mit der Tatsache kon‐ frontiert, dass diese Darstellung jeden widerspenstigen, ungläubigen Juden zu‐ tiefst negativ charakterisiert und Vergeltungsmaßnahmen gegen ihn befürwortet. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 92 Douglas A. Campbell 26 Gewiss kann der Holocaust nicht direkt der Kirche angelastet werden, aber ohne die jahrhundertelange christliche Judenfeindlichkeit wäre der vom Nationalsozialismus propagierte Antisemitismus nicht möglich gewesen. Vom allgemeinen Judenhass eines Großteils der europäischen Kultur gilt, dass sie wesentlich zum Funktionieren der „Endlösung“ beigetragen hat; vgl. etwa Irving Greenberg, Cloud of Smoke, Pillar of Fire. Judaism, Christianity and Modernity after the Holocaust, in: Eva Fleischner (Hg.), Auschwitz. Beginning of a New Era? Reflections on the Holocaust, New York 1977, 7-55. 27 In Bergmans Film „Das siebente Siegel“ aus dem Jahr 1957 geht es um ein Schachspiel mit dem Tod. Juden, die sich nicht bekehren, gelten wie andere Nichtchristen als irrational, unmoralisch und, wenn sie andere in dieser Weise belehren, heuchlerisch, und all dies zusätzlich zu ihrer merkantilen Auffassung von Erlösung auf dem Wege der Anhäufung Verdiensten durch Werke. Solchen Ungläubigen droht am Ende der Tage als gerechte Strafe die Vernichtung oder das Höllenfeuer. Damit aber wird unweigerlich ein Handlungsspielraum für eine von Christen befürwortete staatliche Verfolgung von unbekehrten Juden eröffnet. Wir werden hier einer „Lehre der Verachtung“ ansichtig, die einen wesentlichen Faktor für ein so beschämendes wie schreckliches Kapitel der europäischen Kirchengeschichte darstellt, nämlich die Rolle der Kirchen im Zusammenhang des Holocaust. 26 Hier materialisiert sich Geistiges aufs Schrecklichste, aber es hilft nichts, wir müssen uns selbst ehrlich und mutig damit konfrontieren. Fazit Theologie hat, wie Ingmar Bergmann wusste, 27 immerzu etwas von einem Schachspiel mit dem Teufel, und der Teufel ist ein außerordentlich geschickter Spieler. Er eröffnet ein Spiel gern mit einem Bauernopfer, das dem Gegner bekanntlich zunächst einen schnellen Erfolg verspricht, das sich aber, wenn man darauf hereinfällt, später als Falle herausstellt, durch die man in eine aussichtslose Lage gerät. Röm 1-3 ist eine solche Falle. Man merkt es nicht auf Anhieb, aber einige argumentative Weichenstellungen zu Beginn enden in einer theologischen Aporie. Die Theologie von Röm 1-3 besticht zunächst dadurch, dass sie wichtige Einsichten zu zentralen theologischen Themen zu eröffnen verspricht. Aber - und dieses „aber“ ist entscheidend - sie tut dies mit den Mitteln des erkenntnistheoretischen Fundamentalismus einer natürlichen Theologie, die alle nachfolgenden Gedankenschritte in Mitleidenschaft zieht, mit den vorgenannten schrecklichen Konsequenzen. Stattdessen müssen wir bei dem ansetzen, was Gott uns gegeben hat: seinen Sohn, der an einem Kreuz hingerichtet wurde. Von hier ausgehend gelangen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 Warum Röm 1-3 schlechte Theologie ist 93 28 Tatsächlich funktioniert der Text ganz wunderbar, wenn man ihn als sokratische Kritik der Position eines bestimmten legalistischen messianisch-jüdischen Gegners liest, ein Zugang zum Text, der alle seine Probleme löst; vgl. Röm 2,17-25; 3,8; 6,1; 16,17-20. In Grundzügen habe ich dieses mein Verständnis in Rereading Romans 1: 18-3: 20, Kap. 11 in: The Quest for Paul’s Gospel, London 2005, 233-261 ausgeführt, ausführlich dargelegt wurde es in meinem Buch The Deliverance of God, Grand Rapids 2009; vgl. hierzu zudem Douglas Campbell/ Jon DePue, Beyond Justification, Eugene 2024; zusammengefasst und diskutiert wird es in Chris Tilling (Hg.), Beyond Old and New Perspectives in Paul (Eugene 2014). wir unter Anleitung des heiligen Geistes und konsequenter christologischer Orientierung zu allem, was theologisch von Belang ist und nach einer Antwort verlangt. Wir werden dann in keine einzige der Fallen geraten, die uns der Teufel so clever stellt, und wir verstehen dann zunehmend, welch eine kluge und stimmige Theologie des Kreuzes wir Paulus verdanken, und wie tiefgreifend wir weithin die Argumentation zu Beginn des Römerbriefes missverstanden haben. 28 Douglas Campbell, gebürtiger Neuseeländer, lehrt seit 1989 Neues Testament. Seit 2003 ist er Professor für Neues Testament an der Divinity School der Duke Uni‐ versity (Durham, North Carolina, USA). Sein Schwer‐ punkt in Forschung und Lehre liegt auf dem Apostel Paulus, über den er sechs Bücher veröffentlicht hat. Zudem beschäftigt er sich zunehmend mit der Her‐ ausforderung von Masseninhaftierungen und ist Co-Di‐ rektor des Prison Studies Program an der Divinity School sowie der Prison Engagement Initiative am Kenan Institute for Ethics in Duke. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 94 Douglas A. Campbell