eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 27/53

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2024-0007
61
2024
2753 Dronsch Strecker Vogel

Nicht Richten und nicht sich Rühmen: Röm 1-3 als Lektion an Juden und Nichtjuden über ihr Verhältnis zu einander

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2024
Manuel Vogel
znt27530095
1 Mit einer „Systematischen Theologie“, deren konstitutives Anderes die „Predigt“ ist, ist nicht gut Kirschen essen, ebenso wenig übrigens mit einer „Exegese“, die über die „Bibelstunde“ die Nase rümpft. Nicht Richten und nicht sich Rühmen: Röm-1-3 als Lektion an Juden und Nichtjuden über ihr Verhältnis zu einander Meine Antwort an Douglas Campbell Manuel Vogel 1. Meine Geschichte mit Karl Barth Die Gelegenheit, aus Anlass dieser Kontroverse einem Neutestamentler zu antworten, der zugleich Barthianer ist, freut mich außerordentlich, denn ich bin auch meinerseits beides, Neutestamentler und Barthianer. Im Ersten Theologi‐ schen Examen schrieb ich meine Klausur im Fach Neues Testament ganz im Barth’schen Geist, denn ich hatte die KD ganz gelesen und war zumal von Barths Römerbriefexegesen gebannt und begeistert (und bin es bis heute). Ich riskierte bewusst eine „fünf “, denn am Vortag hatte ich in der Dogmatik-Klausur meine „eins“ sicher (dachte ich), denn wo anders als beim Thema „Königsherrschaft Christi“ kann man mit Barth aus dem Vollen schöpfen. Im Ergebnis hatte ich eine „fünf “ in Dogmatik (Name des Prüfers vergessen. Die Klausur sei zu predigthaft gewesen 1 ) und im NT eine „eins“ samt Einladung zur Promotion. Prüfer war Klaus Berger („Noten gehören ins Reich der Dämonen“, Rudolf Bohren, mdl.). Ich bin also nicht trotz, sondern wegen Karl Barth Neutestamentler geworden. 2. Röm-1-3 als Paraphrase einer von Paulus abgelehnten gegnerischen Position? Für Douglas Campbell ist Röm 1,18-3,20 „schlechte Theologie“ („bad theology“), die er nur unter der Bedingung als Teil paulinischen Denkens gelten lassen will, 2 Ich kann mich auch keinesfalls der Auffassung Wolters anschließen, wonach Paulus in Röm 1-3 wie im Römerbrief insgesamt ein Selbstgespräch zwischen dem „Juden Paulus“ (bleibende Besonderheit Israels) und dem „Apostel Paulus“ (unterschiedslose Geltung des Evangeliums für Juden und Heiden) führt, mit dessen Aporie er bis zum Ende des Römerbriefes nicht fertig wird. Vgl. dazu Michael Wolter, Der Brief an die Römer. Teilband 1: Röm 1-8 (EKK VI/ 1), Neukirchen-Vluyn 2014, 227 zu Röm 3,9: „Nachdem er in 3,1-2 die Feststellung von 2,25 (die Beschneidung ist nur für den etwas wert, der das Gesetz hält) korrigiert hatte, nimmt er nun in einer umgekehrten Bewegung die Versicherung von 3,1-2, mit der er den Unterschied von Juden und Heiden in den Vordergrund gestellt hatte, wieder zurück. Dieses Hin und Her lässt einmal mehr den Widerspruch in diesem Bereich der paulinischen Theologie erkennen. Er wird bis zum Schluss ungelöst bleiben.“ dass er sie als ironische Paraphrase einer von Paulus selbst scharf kritisierten Theologie liest. Paulus liefert hier sozusagen ein Beispiel für eine no-go-Theo‐ logie, um dieser seine eigene entgegenzustellen. Dass Campbell Röm-1,18-3,20 auf weite Strecken nicht mag und hier die Spreu vom Weizen scharf trennen will, ist verständlich und naheliegend, denn Paulus ist hier streckenweise alles andere als sympathisch (aber wo ist Paulus das überhaupt? ) und die Argumentation liest sich holprig und an nicht wenigen Stellen krass widersprüchlich. Hier die Paraphrase einer gegnerischen Auffassung zu vermuten, der Paulus sein Eigenes entgegensetzt, ist zumindest eine diskutable Möglichkeit. Zwei Beispiele hierzu: Die Frage nach einer möglichen Sonderstellung der Juden gegenüber den Heiden wird 3,1 vehement bejaht, in 3,9 dagegen entschieden verneint. Und die Möglichkeit gesetzeskonformen Handelns von Juden und Heiden wird in 3,10 anscheinend kategorisch ausgeschlossen, in 2,14f.25-29 dagegen vorausgesetzt. Die Beispiele ließen sich noch erheblich vermehren. Mir scheint aber die Verteilung solcher (wie ich sie nenne) „Widersprüche des ersten Augenscheins“ auf zwei Positionen, eine gegnerische, die Paulus paraphrasiert, und diejenige des Paulus selbst, die er dagegensetzt, keine gute Lösung zu sein. Am Ende wird, so ist meine Erfahrung auch auf dem Terrain anderer Paulusbriefe, alles nur noch komplizierter und der Ertrag für die Interpretation ist gering. 2 Ich gehe deshalb bis zum Beweis des Gegenteils von einem kohärenten Argumentationsgefüge aus, dessen Widersprüche sich auf der Grundlage theologischer Basissätze der paulinischen Theologie (die einfach sein müssen, wenn sie sich bewähren sollen) dialektisch plausibilisieren lassen. Ich will nicht behaupten, dass ich im Suchen und Finden dieser Sätze bereits ans Ziel gelangt wäre - Teilerfolge gibt es freilich -, doch ist m. E. der vorgenannte Beweis seinerseits bisher noch nicht erbracht. Ich lese deshalb den Römerbrief in allen seinen Teilen als ipsissima vox des Paulus, wozu der im Römerbrief vielfach verwendete Diatribenstil nicht in Widerspruch steht. Ich kann freilich nicht ausschließen, dass es zwischen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 96 Manuel Vogel Campbells und meiner Auslegung und der Gewichtung einzelner Argumente und ihrer Positionierung im argumentativen Ganzen ziemlich weitreichende Übereinstimmungen gibt, denn zwischen der Paraphrase einer gegnerischen Theologie zum Zweck ihrer scharfen Kritik (Campbell) und der Formulierung einer eigenen Position des Paulus im Durchschreiten dialektischer Gegensätze (mein Verständnis) können die Übergänge im Einzelfall fließend sein. Eine Auseinandersetzung mit Campbell kann auch nicht erfolgen, ohne dass ich auf eine m. E. bestehende weitreichende Gemeinsamkeit zwischen beiden Positionen hinweise: Auch ich könnte mit Röm 1-3 nicht viel anfangen, wenn es in diesen Kapiteln um einen propädeutischen allgemeinen Schuldaufweis ginge, der die Menschen ohne jedwedes Zuckerbrot, dafür aber umso heftiger mit der Peitsche einer rabenschwarzen Bußpredigt dem Evangelium und der Kirche in die Arme treibt. Allein: Man kann diese Kapitel auch anders lesen und anders verstehen, und dieses andere Verständnis möchte ich nachfolgend in Kürze skizzieren. Es geht dann gar nicht um Bekehrung und auch nicht um die Errettung vor dem Gotteszorn und der ewigen Verdammnis. Auch spielt der Gegensatz zwischen Bekehrten und Unbekehrten in meiner Lektüre überhaupt keine Rolle, schon gar nicht derjenige zwischen unbekehrten Juden und bekehrten Christen. Ein solches Verständnis des Textes einschließlich seiner unseligen Wirkungsgeschichte, von der Campbell einige Proben gibt, kann ich nur ablehnen, darin bin ich mit Campbell einig. 3. Eine Bemerkung zu Luther Dass Luther in These 19 der Heidelberger Disputation den Erkenntnisanspruch des abwertend so genannten „Herrlichkeitstheologen“ mit Worten von Röm 1,20 paraphrasiert, ist interessant und der Betrachtungsweise Campbells nicht un‐ ähnlich. Auch Luther scheint diesen Vers nicht sonderlich gemocht zu haben. Wer, so muss man Luther wohl verstehen, sich heute hinstellt und behauptet - wortwörtlich aus dem Römerbrief zitierend, d. h. mit Paulus behauptet! -, dass Gottes unsichtbares Wesen durch seine Werke erkannt und verstanden wird, ist ein Herrlichkeitstheologe, der Gut und Böse auf das Gefährlichste verwechselt, Paulus hin oder her. Zugleich wird aber der mit Worten aus Röm 1,20 artikulierte Anspruch, Gottes unsichtbares Wesen aus seinen Werken zu erkennen, in der conclusio zu These 19 mit Worten aus Röm 1,22 kritisiert, und diese Worte werden ausdrücklich dem „Apostel“ zugeschrieben: Die diesen Anspruch erheben, werden „doch vom Apostel in Röm 1,22 unverständig Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 Nicht Richten und nicht sich Rühmen 97 3 Lateinischer Text der Heidelberger Disputation hier und nachfolgend aus WA 1,353- 374. Deutsche Übersetzung aus: Horst Beintker/ Helmar Junghans/ Hubert Kirchner (Hg.), Martin Luther Taschenbuchausgabe. Auswahl in fünf Bänden, Bd. 1: Die Botschaft des Kreuzes. Bearbeitet von Horst Beintker, Berlin 1981, 20-38. genannt“ (tamen ab Apostolo Roma. 1. stulti vocantur). 3 Und in der conclusio zu These 20 heißt es, dass Gott wollte, dass „die, die Gott nicht verehrten, wie er in seinen Werken offenbar wird, ihn verehren als den, der in den Leiden verborgen ist“ (qui Deum non coluerunt manifestum ex operibus, colerent absconditum in passionibus). Das heißt doch: Eigentlich kann Gott tatsächlich aus seinen Werken erkannt werden, nur die Menschen haben diese Erkenntnis missbraucht oder sie ignoriert, und deshalb wollte Gott nun ausschließlich im Leiden erkannt werden, und der eigentlich gangbare Weg der natürlichen Gotteserkenntnis ist seither faktisch von Gott selbst versperrt. Hier schlägt die Folgerung aus Röm 1,20 zu Buche: „… weshalb sie unentschuldbar sind“ (eis to einai autous anapologētous). Die Torheit der Toren wiegt deshalb so schwer, weil eigentlich Gottes unsichtbares Wesen aus seinen Werken erkennbar ist, die Menschen diese Erkenntnisquelle aber durch Ruhmsucht und Götzendienst missachtet haben, weshalb dieser Erkenntnisweg nun faktisch verschlossen ist. Ergänzt man dieses „eigentlich“, das ich der Sache nach auch bei Luther finde, kann der ganze Gedankengang ab 1,20 für paulinisch gelten und muss nicht ganz oder in Teilen einer gegnerischen Position zugeschrieben werden. Wichtig ist außerdem: Luther versteht in den von Campbell zitierten Thesen der Heidelberger Disputation Röm 1 von der Kreuzestheologie in 1Kor 1 her (und konstatiert nicht wie Campbell einen schroffen Gegensatz). Das scheint mir dem Text gerecht zu werden: Röm 1,22 („die behaupteten weise zu sein, sind zu Toren geworden“) ist von 1Kor 1 her auf die Kreuzigung Jesu durch die Weisen und Mächtigen dieser Welt zu beziehen, in welcher sie ihre Torheit offenbar gemacht haben. Dann gibt es aber erst recht keinen Grund, Röm 1,18ff. Paulus abzusprechen. 4. Das Gegenteil von „Kreuz“ ist „intellektuelles Gehabe“ Wichtig ist zumal, dass für Luther „Kreuz“ und „Ruhmsucht“ einen Gegensatz bilden, so in der conclusio zu These 22: „Denn weil sie das Kreuz nicht kennen und es hassen, müssen sie notwendig das Gegenteil lieben, d. h. Weisheit, Ruhm, Macht u. ä. (ex quo crucem ignorant atque odiunt, necessario contraria diligunt, scilicet sapientiam, gloriam et potentiam &c.). Das heißt in der Konsequenz: Es geht bei der Unterscheidung von Herrlichkeits- und Kreuzestheologie gar nicht um eine Unterscheidung auf der referentiellen Ebene theologischer Inhalte, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 98 Manuel Vogel sondern um die kritisierte Verzweckung von religiösem Wissen für die eigene soziale Statusdistinktion. Das „Kreuz“ destruiert den „Ruhm“ (vgl. Röm 3,27; 1Kor 1,29), falsifiziert also nicht bestimmte Lehrinhalte, sondern desavouiert den gebildeten Habitus der Selbstaufwertung bei gleichzeitiger Abwertung der vorgeblich Ungebildeten. Mit den Worten von These 22: „Jene Weisheit, die Gottes unsichtbares Wesen in den Werken erkennt und schaut, bläht auf “ (sapientia illa, quae invisibilia Dei operibus intellecta conspicit, omnino inflat). Dies kommt meinem eigenen Verständnis der paulinischen Kreuzestheologie sehr nahe: Es geht in Röm 1-3 nicht (und auch nicht in 1Kor 1) um den auch für mich ungenießbaren Cocktail aus Höllenangst und Heilszuspruch, sondern um Statusdestruktion im sozialen Feld, paulinisch gesprochen um den Ausschluss des „Rühmens“. Mit „Rühmen“ ist gemeint: sich auf Kosten anderer mit anderen zu vergleichen. Dieses so übliche wie betrübliche Verhaltensmuster wirkt sich in dem Moment besonders gravierend auf menschliche Sozialbeziehungen aus, da Gott ins Spiel kommt, mithin Menschen religiöses Wissen als Wettbewerbs‐ vorteil im Streben nach Ehre auffassen. Das ist Götzendienst (der Götze ist man dann selbst) und Blasphemie (unnützer kann man den Namen Gottes nicht im Munde führen denn als Rechthaber und Besserwisser). Ich halte dies für ein, wenn nicht gar für das paulinische Grundanliegen im Röm und darüber hinaus, und ich finde bei Luther an vielen Stellen etwas davon wieder. 5. Ein Bild: Magnet und Eisenspäne Mein Gesamtverständnis von Röm 1-3 will ich in einem Bild veranschaulichen: Man nehme eine Handvoll Eisenspäne, schütte sie auf einen Karton und bewege denselben vorsichtig hin und her, bis die Späne sich flächig auf dem Karton verteilt haben. Man erhält eine amorphe Menge an Spänen, in der man (wie beim Bleigießen an Silvester) mit Phantasie diese und jene Gestalt oder Figur erkennen kann, und man mag sich, wenn man die Späne zu mehreren betrachtet, darüber austauschen, wer welche Gestalt oder Figur sieht. Keine ist richtig und keine falsch. Eindeutig wird die Sache erst, wenn man einen Magneten unter den Karton hält, dann entsteht ein Bild, die amorphe Menge an Spänen formiert sich zu einer Struktur um ein Zentrum (um die Stelle, an der sich der Magnet unter dem Karton befindet). Nimmt man zwei Magnete, entsteht ein Bild mit zwei Zentren (für meinen Vergleich brauche ich zwei Magnete). Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 Nicht Richten und nicht sich Rühmen 99 5.1 Röm-2,1 Die erste Stelle, zu der hinführend und von der herkommend ich meine Lektüre von Röm 1-3 organisiere, ist Röm 2,1: „Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der du richtest. Denn worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest“. Hier geht es nicht spezifisch um (oder gegen) Juden oder Heiden, auch nicht um christusgläubig oder nicht christusgläubig, nicht um bekehrt oder unbekehrt. Es geht auch nicht darum, auf die bisherigen Drohungen noch eine Schippe draufzulegen. Es geht vielmehr prägnant und ausschließlich um jeden Menschen, auf den zutrifft, dass er über andere urteilt (D. h. - seien wir ehrlich! - es geht tatsächlich um jeden Menschen). Mit „darum“ (dio) schließt der Vers folgernd an das Vorangehende an, und ich behaupte: an den ganzen finsteren Rundumschlag seit 1,16 (! ). Alles bis dahin Gesagte soll eines ganz sicher und niet- und nagelfest ausschließen: Dass irgendjemand jetzt noch auf die abwegige Idee verfällt, es sei rechtens über andere zu richten. Der anschließende V. 2 meint dann: Über die, die dies tun (epi tous ta toiauta prassontes) - nämlich über andere zu richten - wird Gottes wahrhaftiges Gericht ergehen. V. 3 bekräftigt das noch: Wer über andere richtet, wird dem Gericht Gottes nicht entkommen (und zwar deshalb nicht, weil er dem Endgericht mit seinem eigenen harten Urteilen über andere die Blaupause liefert, wie dereinst auch mit ihm verfahren wird. Mk 4,24 bringt das auf den Punkt). V. 4 macht im Gefälle desselben Gedankens den Zusammenhang von Umkehr und Gottes Milde, Geduld und Langmut namhaft: Eigenes Umdenken verdankt sich doch, wenn man es sich nur recht überlegt, je und je (Präsens! Auch hier geht es nicht um Bekehrung, sondern um etwas Permanentes) der gütigen Geduld Gottes, und ebenso soll man sich auch anderen gegenüber verhalten! Über andere richten heißt, die Langmut Gottes zu verachten, von der man doch selber zehrt. Dann ist man wie der Knecht mit dem großen Schuldenerlass, der es nicht fertigbringt, dem Mitknecht eine kleine Schuld zu erlassen. Das Nichtvergeben in Mt 18 und das Verurteilen in Röm 2 sind von einander nicht sehr weit entfernt. Der Seitenblick auf Mt 18 hilft auch zu verstehen, warum in Röm 2,5 nach Röm 2,4 nun wieder der strenge Richtergott gegen das unbußfertige (d. h. den Nächsten notorisch verurteilende) Herz aufgerufen wird. Hier besteht ebenso wenig ein Widerspruch wie zwischen der Milde und der Härte des Herrn im Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht. Auch auf Jak 2,13 (das „unbarmherzige Gericht über den, der nicht Barmherzigkeit übt“) kann zur Beförderung des Verständnisses von Röm 2,1ff. verwiesen werden. So viel zu meiner Auslegung von Röm 1-3, die sich in der genannten Weise an Röm-2,1 orientiert. Mehr als eine Kostprobe ist das nicht, aber möglicherweise ist deutlich geworden, wie sich andere Aussagen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 100 Manuel Vogel 4 Dies gilt auch für-2,17-29, wie ich betonen möchte, und ebenso für-1,26-32. 5 So macht es freilich auch das NT Graece: Es fügt vor 1,18 und nach 3,20 eine Leerzeile ein. Ganz zu Unrecht, wie ich meine. und Passagen dieser drei Kapitel um diesen Vers gruppieren und von dorther verstehen lassen. 4 5.2 Röm-3,27 Die zweite für mein Gesamtverständnis von Röm 1-3 wichtige Stelle ist Röm 3,27 („Wo ist nun der Ruhm? Er ist ausgeschlossen“). Auch dieser Vers bezieht sich resümierend (oun) auf das Vorangegangene, und wiederum meine ich, dass aus dem Ganzen des seit 1,16 Gesagten hier abermals eine Summe gezogen wird. Für die Gliederung von Röm 1-3 bedeutet das Ausgreifen auf 3,27, dass 1,18-3,20 keinesfalls isoliert werden und auch nicht Paulus abgesprochen werden kann. 5 Dann erübrigt sich aber sofort der von Campbell erhobene Vor‐ wurf, der Gedanke beginne mit natürlicher Theologie, denn 1,16f. eingerechnet beginnt er ja mit dem Evangelium! Vor allem aber: Die „schlechten Nachrichten“ enden nicht mit 3,20. Ab 3,21 ist keineswegs auf einmal alles nur noch reine Heilsbotschaft und schierer Gnadenzuspruch, u. zw. wegen 3,27: „Richten“ und „sich Rühmen“ sind zwei Seiten derselben Medaille, denn man kann einen anderen ja nur in einer bestimmten Hinsicht verurteilen, wenn man der Auffassung ist, man sei in eben dieser Hinsicht untadelig und ihm überlegen. Der Zusammenhang zwischen 2,1 und 3,27 ist mithin folgender: 2,1 zieht die Kon‐ sequenz aus dem alle Menschen ( Juden wie Heiden) betreffenden Gleichstand der Sünde für eine veränderte Auffassung von menschlichen Sozialbeziehungen und 3,27 die Konsequenz aus dem Gleichstand der Gnade. Das Beweisziel von beidem ist aber dasselbe, und beides ergänzt sich. Es geht um den umfassenden Beweis der völligen Unstatthaftigkeit des Richtens und des Rühmens als einer lebensfeindlichen Struktur menschlichen Miteinanders (das dann eigentlich ein Gegeneinander ist). Im Sachzusammenhang des Römerbriefes geht es konkret um das Miteinander jüdischer und nichtjüdischer Christusgläubiger. Keine Gruppe soll die andere verachten oder verurteilen, und keine soll sich der anderen gegenüber im Vorteil wähnen. Vielmehr gilt der Gleichstand von Sünde und Gnade für beide gleichermaßen. Haben sie das verstanden, bleibt ihnen nichts anderes übrig als sich zu vertragen. Lesen wir den Text so, wird auch nochmals klar, dass es überhaupt nicht um Bekehrung geht (Der von Campbell aufgerufene viktorianische Missionar würde sich ganz zu Unrecht auf Röm 1-3 berufen). Das unstatthafte „Rühmen“ gibt es vielmehr innerhalb wie außerhalb der Jesusbewegung, nur dass es Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 Nicht Richten und nicht sich Rühmen 101 6 Zu den stärksten exegetischen Passagen der KD gehört m. E. die Auslegung von Röm 9-11 in KD II/ 2, § 34, S. 215-336. Die u. a. von F.-W. Marquardt formulierte Kritik an der Israellehre Barths ist unbenommen. Barth hat die Berechtigung dieser Kritik in einem Brief an Marquardt vom 5. September 1967 eingeräumt; vgl. Karl Barth, Gesamtausgabe Abt. 5, Bd. 6: Briefe 1961-1968, Jürgen Fangmeier/ Heinrich Stoevesandt (Hg.), Zürich 1979, 419-423. innerhalb derselben noch viel schlimmer ist als außerhalb. Pointiert gesagt: Der Rekurs auf Gnade und Glaube in-3,21ff. ist kein Trost für bekehrte Sünder, sondern Mahnung an die Gläubigen, so miteinander umzugehen, wie auch Gott mit ihnen umgeht. Es scheint mir auch völlig unbezweifelbar zu sein, dass das von Paulus inkriminierte „Rühmen“ keine Haltung gegenüber Gott meint, sondern eben ein bestimmtes Sozialverhalten. Nach 1Kor 1,29 ist ein solches Sozialverhalten „vor Gott“ (enōpion tou theou) der Sache nach ausgeschlossen und strikt zu vermeiden. Man kann sich das am Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner (Lk 18,9-13) klar machen: Der Pharisäer rühmt sich nicht Gott gegenüber, verlangt nicht, dass Gott ihn „toll findet“, sondern er vergleicht sich „vor Gott“ (im Gebet) auf Kosten eines anderen mit diesem anderen: „… dass ich nicht bin wie dieser Zöllner“. Gott gegenüber ist er hübsch demütig („Ich danke dir, Gott …“) - eine Demut, die schlimmer ist als jeder Hochmut, weil sie, vor dem Zöllner zur Schau getragen, diesen nur in immer noch tiefere Verzweiflung treiben muss. Hier geht es tatsächlich um den Gegensatz von Gut und Böse, den Luther in die Unterscheidung von Herrlichkeits- und Kreuzestheologie einträgt. 6. Eine notwendige Bemerkung zum Endgericht Die Gerichtsaussagen in Röm 1-3 schrecken mich nicht, weil ich sie anders lese, als Campbell meint, dass sie als Niederschlag einer bad theology zu lesen sind. Hier komme ich nochmals auf Karl Barth zu sprechen, denn ihm verdanke ich die (von ihm in detaillierter Auseinandersetzung mit den biblischen Texten gewonnene! 6 ) Einsicht, dass in Christus über des Menschen Heil dem Menschen zugute letztgültig entschieden ist. Ich bin in der Tat der Auffassung, dass ohne diese Einsicht christliche Theologie nicht sinnvoll möglich und sagbar ist, und dass, wer sie nicht teilt, unter Bezug auf dieselbe Bibel im Grunde einer anderen Religion angehört als ich. Abermals geht es hier um die von Luther formulierte Verwechselbarkeit, in der das Ganze auf dem Spiel steht. Barth ist es auch, der Rechtfertigung und Gnade auf weite Strecken als juridische Figuren liest und damit die „autoritären“ Seiten des biblischen Gottesbildes nicht aussortiert, sondern dialektisch integriert: Wenn Gott den Menschen rechtfertigt, kommt er zu seinem Recht am Menschen. Rechtfertigung Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 102 Manuel Vogel als beinhartes Rechtsgeschäft, das dem Eigentümer Gott den Menschen, der ihm gehört, als Eigentum sichert. Man muss das nicht mögen (genauso wenig, wie man Paulus in allen Teilen seiner Briefe mögen muss). Der Vorteil dieses Ansatzes für die Paulusinterpretation besteht aber darin, dass man die schwie‐ rigen Passagen nicht sachkritisch erledigen und Paulus mit Paulus kritisieren muss, sondern ihren Beitrag zu einem Denkweg anzuerkennen in der Lage ist, der zu einem guten Ende führt. Wenn es aber im Gericht nicht um die Entscheidung zwischen ewigem Heil und ewiger Verdammnis geht, worum geht es dann, für Gläubige (2Kor 5,10) wie für Ungläubige? Es geht kurz gesagt darum, wer bei Lebzeiten wem was angetan hat. Das muss am Ende auf den Tisch, schon allein um der Opfer willen, deren Gewalterfahrungen keinesfalls unter den Tisch der messianischen Heilsmahlzeit gekehrt werden dürfen. Ich kann hier nicht vorführen, wie überraschend weit man mit diesem Verständnis von Gericht bei den einzelnen Texten kommt, kann aber versichern, dass ich bisher noch mit keinem einzigen gescheitert bin. Selbst die schlimmsten Szenarien von Feuersee und Höllenwurm sind Bilder für etwas, und über dieses „etwas“ ist zu reden. Für den Moment soll der Hinweis genügen, dass ich auch die Gerichtsaussagen in Röm 1-3 nicht für schlechte Theologie halte, sondern sie als Aspekte einer - und wieder bin ich bei Barth - „dialektischen Theologie“ verstehe. 7. „Du wirst dich schämen, wenn ich Dir vergebe“ (Ez 16,63): Das Evangelium ist ein hartes Ding Wenn zutrifft, dass es ab Röm 3,21 nicht um den Erweis der rettenden Gnade für die andernfalls unrettbar verlorenen Sünder geht, sondern um die Verbannung des Richtens und Rühmens aus jedweder menschlichen Kommunikation und Interaktion, nun von der positiven Seite des Gleichstands der Gnade her, dann setzt sich der Ton der Strenge in 3,21 noch fort (und widerrät einem Einschnitt nach 3,20). Gnade und Glaube sind dann diejenigen Größen, die den schier unausrottbaren Drang zu verurteilen und sich besser zu fühlen als andere nach 2,1ff. sozusagen von der anderen Seite her in die Zange nehmen. Gnade und Glaube als notwendige und hinreichende Bedingungen des eigenen Davonkommens werden ausweislich der Schlussfolgerung in 3,27 namhaft gemacht, um einem jeglichen religiös begründeten Überlegenheitsbewusstsein den Boden zu entziehen. Gott ist hier nicht uneingeschränkt „nett“, sondern zugleich auch spürbar „hart“. Ich meine, dass diese Gleichzeitigkeit hilfreich sein kann, Röm 1-3 als argumentativ nachvollziehbaren Zusammenhang zu verstehen. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 Nicht Richten und nicht sich Rühmen 103 Als atl. Vergleichstext fällt mir das Kapitel Ez 16 ein, in welchem „Jerusalem“ es ertragen muss, dass ihr „Sodom“ und „Samaria“ als „Schwestern“ beigesellt werden, und sie muss sich auch sagen lassen, sie habe schlimmer gesündigt als ihre Schwestern, und weil Gott Jerusalem trotz ihrer Sünden nicht verwerfen kann und will, bleibt ihm nichts anderes übrig, als Sodom und Samaria ange‐ sichts des für beide vorteilhaften Vergleichs mit Jerusalem gerecht zu sprechen, womit ihnen die Bundestreue Gottes zwar indirekt, aber höchst folgenreich und wirksam zugutekommt. In den letzten beiden Versen dieses langen Kapitels heißt es dann: Und ich will meinen Bund mit dir aufrichten, sodass du erfahren sollst, dass ich der H E R R bin, damit du daran denkst und dich schämst und vor Schande deinen Mund nicht mehr aufzutun wagst, wenn ich dir alles vergeben werde, was du getan hast, spricht Gott der H E R R (Ez-16,62f.). Auch hier schneidet die Gnade religiöser Statusdistinktion den Weg ab, in Ez 36 einseitig an die Adresse Jerusalems, in Röm 1-3 in wohlabgewogener Gleichrangigkeit und Gegenseitigkeit von Juden und Heiden, denn beide sollen miteinander Gott loben (vgl. Röm-15,6). 8. Fazit Ich teile die Abneigung Campbells gegen das von ihm vorgetragene Verständnis von Röm 1-3, gehe aber in der Auseinandersetzung damit nicht den Weg der sachkritischen Aussonderung, sondern der dialektischen Integration. Hierzu als letztes Textbeispiel ein Hinweis auf Röm 11,32: „Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme“. Das heißt: Gott tut etwas ganz Schreckliches, um etwas ganz Großartiges zu tun. Man kommt damit nicht zu Rande, wenn man sagt: 11,32a ist schlechte Theologie und 11,32b gute. Beides gehört zusammen, und so lese ich auch Röm 1-3. Insofern unterscheiden sich Campbells und meine Lektüre im Grundsatz. Unsere theologischen Präferenzen und Positionen dürften aber nahe bei einander liegen. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 104 Manuel Vogel Manuel Vogel, geb. 1964 in Frankfurt/ Main, Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen, Heidelberg und Frankfurt, 1994-1996 Vikariat in Bayern, 1995 Pro‐ motion in Heidelberg, 1996-2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster, 2003 Habilitation in Münster, 2003-2006 Pfarramt in Hessen-Nassau, 2006-2008 Pfarrer im Hochschuldienst an der Goethe-Universität Frankfurt, seit 2009 Professor für Neues Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Veröffentlichungen u. a. zu Paulus, Josephus, zum hellenistischen Judentum und zum christlich-jüdischen Dialog. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0007 Nicht Richten und nicht sich Rühmen 105