ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2024-0008
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2024
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Dronsch Strecker VogelReligiöse Rede und religiöse Lehre
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Johannes Greifenstein
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1 Cilliers Breytenbach, Einführung, in: Ders. (Hg.), Der Römerbrief als Vermächtnis an die Kirche. Rezeptionsgeschichten aus zwei Jahrtausenden, Neukirchen-Vluyn 2012, 1-14, hier-14. 2 Zur Terminologie: 1. Der Begriff ,lehrhaft‘ ist für sich genommen und auch im Blick auf die neutestamentlichen Texte deutungsbedürftig. Ich greife ihn aus der Literatur und als Behelfsbegriff auf, der eine Annäherung erlaubt. 2. Der Epistelbegriff der Perikopenordnung ist ebenfalls nicht eindeutig, umfaßt aber üblicherweise die soge‐ nannten nichtevangelischen Schriften, insbesondere auch die Apostelgeschichte und die Offenbarung des Johannes, aber auch alttestamentliche Texte. Hermeneutik Religiöse Rede und religiöse Lehre Herausforderungen und Chancen der Epistelpredigt am Beispiel des Römerbriefs Johannes Greifenstein Dass der Römerbrief eine besonders wichtige neutestamentliche Schrift ist und sich „zu allen Zeiten als außerordentlich reiches Vermächtnis für das Christentum erwiesen“ 1 habe, macht ihn nicht schon als Predigtgegenstand besonders beliebt - ob bei denen, die predigen oder bei denen, die Predigten hören. Im Gegenteil gibt es hier Vorbehalte, die allerdings in der Regel weniger mit Besonderheiten dieser Schrift im Kontext der anderen Paulusbriefe oder der neutestamentlichen Briefliteratur zu tun haben, sondern vorwiegend mit dem einen Merkmal, dass es sich um einen Fall von Briefliteratur handelt, der man insgesamt einen lehrhaften Charakter zuschreibt. Die Briefe argumentieren und reflektieren, gehen mit Themen und Fragen, mit Begriffen und Gedanken um, statt zu erzählen, statt Personen und Situationen zu schildern, statt Begeben‐ heiten und Begegnungen in den Vordergrund zu rücken oder statt Gottesworte und Jesusrede zu überliefern. 2 Als Gegenstand der Predigt gelten die Episteln aber nicht nur als lehrhaft, sondern damit zugleich „als überwiegend schwierig“, weil „die lehrhaften Brieftexte gegenüber den lebendigen Erzählungen der 3 So exemplarisch Ulrich Wilckens, Freude an der Epistelpredigt, in: GPM 64 (2009), 2-5, hier-2. 4 In der als altkirchlich bezeichneten epistolischen Lesereihe gab es in den Traditionen sogenannter lectio continua und semicontinua kleinere Einheiten (unter anderem) zum Römerbrief: Vom 1. bis 5. Sonntag nach Epiphanias Röm 12,1-6; 12,6-16; 12,17-21; 13,8-10 (je nach Ostertermin nicht immer alle gefeiert) sowie vom 6. bis 8. Sonntag nach Trinitatis Röm 6,3-11; 6,19-23; 8,12-17. Vgl. Kirchenleitung der Vereinigten Evange‐ lisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (Hg.), Lektionar für evangelisch-lutherische Kirchen und Gemeinden, Berlin 1953, IX.XI. 5 Konzentriert man sich auf die regulären Texte der sechs Reihen der Perikopenordnung an den (regulären) Sonn- und Feiertagen des Kirchenjahres, also ohne Berücksichtigung der ,Marginaltexte‘ (alte Ordnung) bzw. (jetzt) ,weiteren Texte‘, dann besteht der ,ge‐ predigte‘ Römerbrief aus diesen 25 Perikopen: 1,1-7; 1,13-17; 2,1-11; 3,21-28; 5,1- 5(6-11); 6,3-8(9-11); 7,14-25a; 8,1-2(3-9)10-11; 8,14-17; 8,18-25; 8,26-30; 8,31b-39; 9,1-5; 10,9-17(18); 11,17-24; 11,25-32; 11,(32)33-36; 12,1-8; 12,9-16; 12,17-21; 13,1-7; 13,8-12; 14,(1-6)7-13; 15,4-13. In der Rubrik „weitere Feste und Gedenktage“ begegnet 10,9-18. Als ,weitere Texte‘ begegnen 17 Perikopen: 1,16-17; 4 i. Ausw.; 4,16b-25; 5,12-14(18-21); 6,3-11; 6,12-14; 6,19-23; 8,28-39; 9,14-18; 11,1-2a; 14,(1-6)10-13; 14,17-19; 15,7-13; 16,1-16; 16,25-27. Als Wochensprüche dienen 5,8; 8,14; 12,21. Die Bibelstellen sind im Folgenden sämtlich dem Römerbrief entnommen, wenn nicht anders gekennzeichnet, handelt es sich um aktuell geltende Perikopen. 6 Vgl. Tom Kleffmann, Der Römerbrief des Paulus. Eine Interpretation in systema‐ tisch-theologischer Absicht, Tübingen 2020, V: „Der Römerbrief stellt die erste Theo‐ logie des Christentums dar. Er geht von Verkündigung aus und zielt auf Verkündigung - aber so, dass er ihren Zusammenhang lehrmäßig systematisch reflektiert.“ A.a.O., 3, Evangelien abstrakt wirken und es darum mühsamer erscheint, sie in die Praxis christlichen Lebens heute zu übersetzen“ 3 . Man wird es auch vor diesem Hintergrund einzuordnen haben, dass es seit dem 1. Advent 2018 durch die jüngste Perikopenrevision keine ,geschlossenen‘ Epistelreihen mehr gibt - die stärkste Veränderung gegenüber der Tradition. 4 Gleichwohl bleibt die Aufgabe der Predigt über Episteln als lehrhafte Texte und insbesondere auch über den Römerbrief bestehen. 5 Im Folgenden diskutiere ich Herausforderungen und Chancen der Epistelpredigt am Beispiel des Römer‐ briefs im Blick auf das Verhältnis von Theologie und Religion und in Bezug auf das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart. 1. Theologie und Religion 1.1 Theologie in den Predigttexten Der lehrhafte Charakter der Briefliteratur lässt sich mit Bezug auf den Theolo‐ giebegriff deuten: Die Briefe als Lehre meinen die Briefe als Quelle und Vollzug von Theologie. 6 Der Begriff der Theologie ist so freilich in einem nicht fachlichen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 108 Johannes Greifenstein gilt der Römerbrief als „erste und ursprüngliche […] Lehre des christlichen Glaubens“, a.-a.-O.,-5, als „Ursprung christlicher Theologie“. 7 Vgl. Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 6 1968, 1f.: „[D]ie Theologie des NT besteht in der Entfaltung der Gedanken, in denen sich der christliche Glaube sich seines Gegenstandes, seines Grundes und seiner Konsequenzen versichert.“ 8 Martin Luther, Vorrede auf die Epistel S. Pauli an die Römer 1522, in: Heinrich Bornkamm (Hg.), Luthers Vorreden zur Bibel, Göttingen 3 1989, 177-196, hier-196. 9 Luther, Epistel S.-Pauli (s.-Anm.-8), 177. 10 Vgl. Luther, Epistel S. Pauli (s. Anm. 8), 184: „Ohne solchen Verstand dieser Wörter wirst du diese Epistel S.-Pauli […] nimmermehr verstehen.“ oder disziplinären Sinne gebraucht, sondern im Sinne jener so einfachen wie folgenreichen (und umstrittenen) Unterscheidung, derzufolge ,Religion‘ das Phänomen und ,Theologie‘ dessen Reflexion ist: Die gedankliche 7 Auseinander‐ setzung mit dem Glauben. In dieser Perspektive lassen sich der Römerbrief und die Briefe insgesamt des‐ halb als schwierige Predigtgegenstände einordnen, weil hier so viel oder auch so deutlich Theologie geboten wird. Schon die formale Gestalt mancher Predigt‐ texte scheint diese theologische Qualität abzubilden: Lange Sätze, viele Begriffe, verwickelte Argumentationen (Röm 7,14-25a oder 8,1-2[3-9]10-11), aber auch die eigentümliche Bezugnahme auf alttestamentliche Zitate (Röm 12,27-21 oder 8,31b-39). Dazu kommt noch der Eindruck einer Theologizität im Sinne zumutungsvoller Vorstellungen, etwa: „unser alter Mensch mit ihm gekreuzigt“ (6,3-8[9-11]) oder: „gerettet vor dem Zorn, […] durch sein Blut gerecht“ (5,1- 5[6-11]). Dass man den lehrhaften Charakter gerade des Römerbriefs allerdings auch positiv werten kann, zeigt besonders eindringlich und prominent Martin Luther. Auch Luther denkt beim Römerbrief an Lehre. Für ihn scheint es, „als habe S. Paulus in dieser Epistel wollen einmal in die Kürze verfassen die ganze christliche und evangelische Lehre“ 8 . Explizit verweist er auf das Erfordernis hermeneutischer Bemühungen: Aufs erste müssen wir der Sprache kundig werden und wissen, was S. Paulus meinet durch diese Worte: Gesetz, Sünde, Gnade, Glaube, Gerechtigkeit, Fleisch, Geist, dergleichen; sonst ist kein Lesen nütz daran. 9 Das mag in heutiger Zeit zwar zunächst abschreckend klingen, eher nach der Vorbereitung des theologischen Examens als nach einer auf die Lebenswelt ihrer Hörerinnen und Hörer bezogenen religiösen Rede. Vor allem kann dieser Hinweis restriktiv oder exklusiv wirken statt ,niederschwellig‘ oder ,anschluss‐ fähig‘. 10 Doch man kann die Perspektive ja auch umkehren: Was wird im Römerbrief nicht alles geboten! Luther selbst stellt eine förmliche Liste vor: „Ge‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Religiöse Rede und religiöse Lehre 109 11 Luther, Epistel S.-Pauli (s.-Anm.-8), 195. 12 Luther, Epistel S.-Pauli (s.-Anm.-8), 196. 13 Luther, Epistel S.-Pauli (s.-Anm.-8), 177. 14 Vgl. Paul Wurster, Text und Predigt, Stuttgart 1921, 68f. setz, Evangelium, Sünde, Strafe, Gnade, Glaube, Gerechtigkeit, Christus, Gott, gute Werke, Liebe, Hoffnung, Kreuz“, dazu das Verhalten „gegen jedermann […] und gegen uns selbst“ 11 - zumindest in seiner Sicht ist „nichts mehr hier zu wünschen“ 12 . Im Ergebnis gilt der Römerbrief als „das rechte Hauptstück des Neuen Testaments und das lauterste Evangelium“ 13 . Die empirischen Bedingungen gegenwärtiger Predigtpraxis scheinen Luthers Würdigung grundsätzlich zu entsprechen. Bereits die Fülle der in den Perikopen versammelten lutherbiblischen (fettgedruckten) ,Kernverse‘ bietet auch jene von Luther erwähnte Fülle christlicher Spitzenbegriffe, daneben noch weitere traditionell bedeutsame Gehalte wie Erlösung (3,21-28) oder Friede, Heiliger Geist und Versöhnung (5,1-5[6-11]) sowie ,allgemeinmenschlich‘ wichtige Themen wie Gut und Böse (7,14-25a) oder Leben, Sterben und Tod (14,[1-6]7- 13; 8,31b-39). Doch muss man keineswegs bei der Wertschätzung inhaltlicher Vielzahl stehenbleiben, sondern sollte auch die als lehrhaft geltende Form beachten. Aus einer sinnvollen Differenzierung von ,Lehre und Leben‘ oder von ,Theologie und Religion‘ muss mitnichten auch schon deren Trennung oder gar eine funk‐ tional folgenlose oder schädliche Entgegensetzung folgen. Im Gegenteil ist es naheliegend, eine im weitesten Sinne pädagogische Dimension der Briefliteratur zu reflektieren: Die neutestamentlichen Schriftsteller sind keine Systematiker, auch Paulus nicht. Es liegt ihnen nichts an ausgeführten Begriffsgebäuden, auch haben sie kein Interesse daran, den letzten theologischen Fragen nachzugehen. Sie sind Glaubenszeugen und gehen in Lehrbildung und Lehrdarbietung nur so weit ein als es die Instruktion ihrer Gemeinden zu religionspraktischen Zwecken und die Missionsaufgabe erfordert. 14 Während Paul Wurster ein gelungenes Maßhalten zwischen den Herausforde‐ rungen der Lehre und ihrer Zielsetzung erkennen kann, bestimmen andere das besondere Profil der Episteln und ihrer Predigt durch eine Abgrenzung gerade dieser Textgattung von den Evangelien. So findet sich bei Claus Harms ange‐ sichts von Vorbehalten gegenüber der Epistelpredigt die „Erwägung, wie ver‐ schieden in sich, wie gewissermaßen gleich der Pistis und Gnosis verschieden, die Evangelien und die Episteln sind“. Dazu stimme die Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 110 Johannes Greifenstein 15 Claus Harms, Pastoraltheologie in Reden an Theologie-Studierende. Nach der Origi‐ nalausgabe (1830-1834) aus neue hg. in zwei Teilen. Erster Teil, Gotha 1888, 62. 16 Friedrich Ahleld, Predigten über die epistolischen Perikopen, Halle 4 1887, V. 17 Christian Palmer, Evangelische Homiletik, Stuttgart 5 1867, 148. 18 Paul D. Kleinert, Homiletik, Leipzig 1907, 58f.: „Darin liegt die ungemeine Fruchtbar‐ keit der epistolischen Stoffe für die homiletische Behandlung, namentlich für deren lehrhafte und mahnende Aufgaben. Der Prediger findet den Stoff bereits gerüstet, der Anwendung eine bestimmte Richtung vorgezeichnet; er hat in den Briefen selbst ein ,Homilein‘ vor sich“. 19 Kleinert, Homiletik (s.-Anm.-18), 59. 20 M. Theobald, Art. Römerbrief, in: RGG 4 -7 (2004), 611-618, hier-613. Wahrnehmung, daß die geförderten Christen eher als andere sich mit den Episteln vertragen, ja, daß unter ihnen sich sogar finden, die sie den Evangelien vorziehen. Nach dem bekannten biblischen Ausspruch wären die Evangelien die Milch und die Episteln die starke Speise. Wollen wir denn immer nur Milch geben, und die starke Speise, Hebr. 5, vorenthalten den Vollkommenen? Alsdann bleiben die anderen junge Kinder, und wir selbst werden dann junge Kinder. 15 In eine ähnliche Richtung weist beispielhaft auch noch Friedrich Ahlfeld: Dienen die Evangelien und Evangeliumspredigten besonders zur Weckung des Glau‐ bens, so sollen die Episteln und epistolischen Predigten besonders die christliche Erkenntnis fördern, das Leben und die Gemeinde bauen, ordnen und auf gesunde Bahnen zurückführen helfen. 16 1.2 Die Theologie der Briefe und die Predigt Eine wichtige Frage der Diskussion des Predigens über lehrhafte Briefe besteht darin, das Verhältnis der jeweils gegenwärtigen Predigt zu der Predigt zu reflektieren, als die man die Briefe selbst wahrnehmen kann: Die Episteln sind „eben schon Predigt“ 17 . Dabei spielt erneut die Frage nach der Unterscheidung von Theologie und Religion eine wichtige Rolle, und es ergeben sich nicht nur unterschiedliche, sondern sogar gegensätzliche Wahrnehmungen und Beurtei‐ lungen. Auf der einen Seite gelten die Episteln gerade wegen einer gewissen Ana‐ logie zur heutigen Predigt zugleich auch als „Vorbild“ 18 . Da hier „der zeitliche Faktor gegebener Gemeindeverhältnisse stoffbedingend hinzutritt“ 19 , nehmen die Briefe selbst bereits Rücksicht auf die für die Predigt so wichtigen Faktoren Situationsbezug und Zeitgemäßheit. Sie sind selbst bereits das, was die Predigt der Gegenwart zu sein hat, nämlich dialogisch. 20 Und sie erlauben damit der Predigtarbeit zugleich einen hermeneutischen Zugang, der sich für Theologie Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Religiöse Rede und religiöse Lehre 111 21 Vgl. prominent Philipp J. Spener, Theologische Bedencken […]. Dritter Theil […], Halle 1708, 128: „Wie hertzlich wünschete ich aber, daß wir in unsren kirchen niemalen den gebrauch der pericoparum Evangelicarum angenommen hätten, sondern entweder eine freye wahl gelassen, oder aber die epistolas vor die Evangelien zu den haupt-texten genommen häten. Indem einmal nicht zu leugnen stehet, wo man die hauptsachen, so wir in dem Christenthum zu treiben haben, vortragen will, so geben uns die Evangeli‐ sche text sehr wenig anlaß, sondern muß fast alles bey gelegenheit eingeschoben, ja offt mit den haaren beygezogen werden, welches bey den epistolen nicht also wäre.“ 22 Gerd Theißen/ Petra von Gemünden, Der Römerbrief. Rechenschaft eines Reformators, Göttingen/ Bristol 2016, 22. 23 Alexander Schweizer, Homiletik der evangelisch-protestantischen Kirche systematisch dargestellt, Leipzig 1848, 279. 24 August Nebe, Die epistolischen Perikopen des Kirchenjahres wissenschaftlich und erbaulich ausgelegt. Erster Band. Einleitung und Auslegung der Episteln des Weih‐ nachts-Kreises, Wiesbaden 1874, 14. als Auseinandersetzung mit dem Glauben interessiert. Man ist bei den Episteln gewissermaßen schon auf der für die Predigt richtigen Ebene und muss nicht erst (zuweilen mühsam oder gar gewaltsam) dorthin gelangen. Gegebenenfalls sind das alles nicht nur Argumente für einen Vorzug der Episteln, sondern zugleich Gründe für eine Kritik der Evangelien. 21 Zuspitzend formuliert: Theologie ist besser als Geschichte. Denn die Geschichte führt uns in fremde Zeiten und zu anderen Menschen, der Predigt aber geht es um unseren Glauben heute. Darüber hinaus hebt man auch noch hervor, dass die Episteln als lehrhafte Predigt genau jene Anforderung an ein persönliches Beteiligtsein erfüllen, die auch an die religiöse Rede heute zu stellen ist. Der Römerbrief ist genau genommen nicht Teil der Bibel, sondern zuerst Teil einer Biographie. Hier begegnet man keinem ,historischen Jesus‘, aber hier sieht man jemandem bei seiner Auseinandersetzung mit dem Glauben zu, die zu einem „ganz persönli‐ chen Bekenntnis“ 22 führt. So gesehen legt sich sogar ein erweiterter Begriff der Epistelpredigt nahe, da man eine „ursprüngliche apostolische Auffassung, in welcher Christus durch die Individualität der Apostel hindurchgegangen“ 23 ist, keineswegs nur bei Paulus oder Petrus, sondern auch bei Johannes erkennen kann - wie Alexander Schweizer meint. In systematischer Absicht kann man dann so zwischen Epistel und Evangelium unterscheiden, dass die Evangelien die „objektive Erlösung“ berichten und die Briefe von der „subjektiven Erlö‐ sung“ 24 handeln. In dieser Perspektive stellt die Zuordnung eines religiösen Begriffs des Evangeliums zur literarischen Gattung Evangelium nicht nur eine Engführung, sondern einen Fehler dar. Hat nicht Luther erklärt, es stimmten „alle recht‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 112 Johannes Greifenstein 25 Martin Luther, Vorrede auf die Episteln S. Jacobi und Judae (1522), in: Bornkamm (Hg.), Luthers Vorreden (s.-Anm.-8), 215-218, hier-216. 26 Martin. Luther, Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten soll 1522, in: Karin Bornkamm/ Gerhard Ebeling (Hg.), Erneuerung von Frömmigkeit und Theologie (Martin Luther. Ausgewählte Schriften 2), Frankfurt a. M. 1982, 197-205, hier-198. 27 Vgl. Martin Luther, Epistel zur Messe in der Christnacht, Tit. 2,11-15, WA 10.I,1, 18-58, 46,17-47,3: „Denn du sollt den yrrthum wett von dyr thun, das du meinist, du horist nit das Euangelium, wenn du die Epistell S. Pauli horist odder S. Peters; laß dich den namen Epistell nit yrren. Es ist das bloß Euangelium alli, was S. Paulus ynn seynen Epistelln schreybt, wie erß selb nennet Ro. 1. und 1. Cor. 4. Ja, ich thar sagen, das ynn S. Paulß Epistell das Euangelium klerer und liechter ist, denn ynn den vier Euangelistenn.“ 28 Vgl. Paul Althaus, Der Geist der Lutherbibel, in: LuJ-16 (1934), 1-26, hier-8. 29 Karl F. Gaupp, Die Homiletik. Erster Band (Praktische Theologie. Zweiten Theiles erste Abtheilung), Berlin 1852, 93. 30 Gaupp, Homiletik (s.-Anm.-29), 94. schaffenen heiligen Bücher überein, daß sie Christum predigen und treiben“ 25 , weshalb „aufs kürzeste gesagt […] das Evangelium eine Rede von Christus“ 26 sei - speziell auch die Briefe des Paulus? 27 Es folgt das Plädoyer, das die Perikopenordnungen traditionell prägende „Nebeneinander“ 28 von Evangelium und Epistel - aber auch des Alten Testaments - zu beenden. Auf der anderen Seite gilt die Parallelität der Episteltexte zur eigenen Predigt als Problem. Man kann nämlich auch sagen, der lehrhafte Charakter bedeute nichts anderes als die Einführung einer gegenüber der Ebene der Religion zusätzlichen, dabei so unnötigen wie störenden Ebene - einer Metaebene im engeren Sinne des Worts. Die Predigt heute aber soll mit Religion umgehen, nicht mit einer Auseinandersetzung mit Religion. Deutlicher: Die Predigt heute soll nicht Predigt über eine Predigt über religiöse Inhalte sein, sondern hat es - in einer erst so tatsächlich erreichten Analogie zur apostolischen Predigt - mit diesem Inhalt als dem eigentlichen Predigtstoff direkt zu tun. Exemplarisch veranschaulicht wird diese Sichtweise in der homiletischen Diskussion durch Karl Friedrich Gaupp. Wenn der Prediger „eben dasselbe“ zu tun hat, „was die Apostel ihrerseits auch gethan haben und er sich nicht minder hierbei auch an den gleichen Ausgangspunkt gewiesen sieht“, der in den Evangelien gegeben sei, dann kann „das apostolische Wort wenigstens nicht die eigentliche Haupt-Quelle der christlichen Predigt sein“. 29 Vielmehr muss „das große Geschäft der Ableitung des lebendigen Geistesworts aus der gesammten evangelischen Geschichte immer neu und frisch in der Kirche vollbracht werden“, und die Kirche darf „sich dessen nicht überhoben erachten […], was ihr selbständig zu thun obliegt“. 30 Zu beachten ist die konsequente Rückbindung dieser Überlegungen an das Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Religiöse Rede und religiöse Lehre 113 31 Gaupp, Homiletik (s.-Anm.-29), 95. 32 Gaupp, Homiletik (s.-Anm.-29), 94. 33 Gaupp, Homiletik (s.-Anm.-29), 93f. 34 Wurster, Text (s.-Anm.-14), 70. 35 Vgl. Udo Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 8-14. Dazu Palmer, Evangelische Homiletik (s. Anm. 17), 236-246, z. B. 240: „Das Dogmatisiren, zu dem die Evangelien lange nicht die Versuchung bieten wie die Episteln, namentlich die paulinischen, ist eine Klippe, an welcher gerade Derjenige gar zu leicht scheitern kann, dem es mit Entwicklung der objektiven, christlichen Glaubenswahrheit Ernst ist.“ Verständnis der Predigt. Denn deren Aufgabe als „Uebersetzungsgeschäft“ 31 ist heute noch das gleiche wie bei den Jüngern Jesu, eben darum aber hat die Epistel als Predigtquelle „nur eine secundäre Stellung“ 32 gegenüber dem Evangelium. Weil in der „Idee des Apostolats“ liegt, „ein schlechthin katholisches Amt“ 33 zu sein, sind die Prediger der Gegenwart zumindest grundsätzlich und nicht in erster Linie auf - so könnte man zuspitzen - andere Apostel und auf deren Predigt verwiesen. Will man über die homiletische Verwendung der Episteltexte weniger prin‐ zipiell urteilen, dann tritt eine im Wortsinn kritische Aufgabe in den Blick. Wenn zumindest der fachkundige Blick auf die biblischen Texte erkennt, wie reflektiert, wie kenntnisreich und durchdacht sie sind, dann steht wohl nicht nur Paulus, sondern stehen beispielsweise auch ,Deuterojesaja‘, ,die Priesterschrift‘ oder Johannes hinsichtlich der Predigt auf einer gewissen Grenze. Es wird zuweilen schon innerhalb der Bibel etwas zu viel, was mit Bezug auf den Glauben und damit in einer gewissen Entfernung und Abständigkeit zum Ausdruck ge‐ langt. Bemerkenswert aber ist es nun, wenn der kritischen Auseinandersetzung mit dieser Herausforderung auch eine selbstkritische Richtung gegeben wird. So spricht nochmals Paul Wurster von der Arbeit, das neutestamentliche Zeugnis wirklich so aufzufassen wie es gemeint ist, also insbesondere nicht mit dogmatischen Fragestellungen einer späteren Zeit an dasselbe heranzutreten und nicht Formeln späterer Zeit hineinzulesen. Nicht das Dogma, sondern die flüssigere, ursprüngliche, lebendige Form des unmittelbaren Glaubens‐ zeugnisses ist im großen Ganzen Inhalt des neutestamentlichen Lehrvortrags und soll als solcher in der Predigt nachgeschaffen werden; wo im Neuen Testament Ansätze dogmatisierender Lehrbildung vorhanden sind, kommt die Rückbildung in jene ursprünglichere Form und die Umgießung in neuzeitliche Lehrausdrucksformen in Betracht. 34 Ist es also vielleicht vorrangig ein (bedenkliches) Interesse der jeweils späteren Zeit, aus so etwas wie lehrhaften Momenten eine Lehre zu machen - oder mit Lehren nochmals lehrhaft umzugehen? 35 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 114 Johannes Greifenstein 36 Theodor Zahn, Der Brief des Paulus an die Römer ausgelegt, Leipzig 1-2 1910, 5. 37 Zahn, Brief (s.-Anm.-36), 6. 38 Zahn, Brief (s.-Anm.-36), 6, mit Bezug auf Ferdinand Christian Baur. 39 Zahn, Brief (s.-Anm.-36), 7. 40 Vgl. Bernd Schröder, Religionspädagogik, Tübingen 2 2021, 149. Was speziell den Römerbrief betrifft, so begegnen Bedenken gegenüber hermeneutischen Zugängen, die auch in einem Brief vor allem das erkennen wollen, woran sie doch allenfalls selbst ein Interesse haben, exemplarisch in dem Kommentar Theodor Zahns. Zahn stellt auf der einen Seite einen dominanten Fokus auf die „Lehre des Pl [sc. Paulus, JG]“ 36 und auf der anderen Seite einen „Mangel an geschichtlicher Betrachtung“ 37 fest, und er spitzt seine Vorbehalte gegenüber einer „vorwiegend dogmatischen Behandlung“ 38 ironisch so zu: Daß er an die Römer einen Brief schrieb, war also nur eine literarische Form, statt deren der religionsphilosophische Schriftsteller […] ebenso gut die Form des Dialogs oder einer an alle Christen gerichteten Ansprache hätte wählen können. 39 1.3 Die Episteltheologie in der Predigt und die Religion Theologie in den Episteln fordert Theologie für die Epistelpredigt, und dies zunächst: vor ihr, nämlich bei ihrer Erarbeitung. Diese allgemeine Forderung muss erhoben werden mit Bezug auf den jeweils konkreten Ernst- und auch Testfall der einschlägigen biblischen Vorstellungen. Ich gebe Beispiele, die schon an der Form den entschieden homiletischen Fokus anzeigen: Ich habe Frieden mit Gott? (5,1-5[6-11])/ Mein Glaube macht mich gerecht vor Gott? (3,21-28)/ Meine Taufe bedeutet, dass ich einem neuen Leben wandle? (6,3-8[9-11])/ In mir, das heißt in meinem Fleisch, wohnt nichts Gutes? (7,14- 25a)/ Wenn mich der Geist Gottes treibt, bin ich Gottes Kind? (8,14-17)/ Mein sterblicher Leib wird lebendig gemacht? (8,1-2[3-9]10-11)/ Ich lebe nicht mir selber? (14,1-6[7-13]) Offensichtlich beansprucht das alles eine geradezu größtmögliche Relevanz, und zwar in dieser Form des Anspruchs durchaus für mich in meiner Lebenswelt heute. Ebenso offensichtlich allerdings ist auch, dass sich bereits auf der Ebene eines Verständnisses der Aussagen Rückfragen nahelegen - wenn man so will also noch diesseits von Formen einer Aneignung solcher Aussagen, sondern schon auf der Ebene einer notitia, wenn diese denn ein „Verstehen“ 40 bedeuten können soll. Die dreifache homiletische Aufgabe besteht erstens bereits in dem grundsätzlichen Bewusstsein davon, dass es überhaupt einer Form der Erschließung von Vorstellungen wie den soeben beispielhaft herangezogenen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Religiöse Rede und religiöse Lehre 115 41 Vgl. zu Gal 2,16-21 und Röm 3,21-28[29-31] Christine W. Hoffmann, Homiletik und Ex‐ egese. Konzepte von Rechtfertigung in der evangelischen Predigtpraxis der Gegenwart, Leipzig 2019. Daneben Wilhelm Gräb, Der Römerbrief in der christlichen Verkündigung oder die paulinische Rechtfertigungslehre im modernen Lebenszusammenhang, in: Breytenbach (Hg.), Der Römerbrief (s.-Anm.-1), 177-193. bedarf - und zwar als Erschließung für das religiöse Leben heute -, zweitens in der Einsicht darin, dass es das Predigen selbst ist, das als solches Erschließen vorzubereiten und auszuführen ist, und drittens in der Fähigkeit, ein solches Erschließen auch an Ort und Stelle zu leisten. Was die Rede von Theologie in der Predigt meinen soll, sei am Beispiel veranschaulicht. Der für den Römerbrief wie für seine Rezeption in der refor‐ matorischen Theologie oft als zentral bestimmte Gedanke an eine Gerechtigkeit vor Gott gilt heute zu Recht als homiletische Herausforderung. Bekanntlich interpretiert man diesen Gedanken zumeist vermittels von Aussagen über Aner‐ kennung oder Bejahung, konkret begegnen oft Variationen der Vorstellung ,Du bist geliebt, so wie du bist‘, die von Aspekten der Leistung abgegrenzt wird. Herausfordernd ist nun nicht allein die Frage nach dem Verhältnis solcher Deutungen zu einem wie auch immer rekonstruierbaren Verständnis jenes Gedankens ‚bei Paulus selbst‘, sondern dass so etwas gerade deshalb gesagt wird, weil das soeben als wichtig betonte Bewusstsein von der Relevanz einer Erschließung durchaus vorhanden ist. ‚Gerechtigkeit vor Gott‘ - so sei das schwer verständlich. Aber wenn das meint, ‚ich darf vor Gott (und wenigstens vor Gott) so sein, wie ich bin‘ - dann sei das nicht nur verständlich, sondern treffe auch auf ein echtes Bedürfnis der Menschen heute, die nämlich zu sehr meinten, sie würden als sie selbst nicht genügen, müssten immer noch besser sein und so fort. 41 Wollte man angesichts dieser Herausforderung versuchen, die Qualität einer Theologie in der Predigt mit Bezug auf dieses Thema des Römerbriefs dadurch zu steigern, dass man sich bemüht, genauer vor allem auf seine religiöse Dimension zu achten - um also die Episteltheologie in ein produktives Verhältnis zur Religion der Hörerinnen und Hörer zu setzen -, dann könnte man beispielsweise folgende Fragen verfolgen: 1) Warum sollte ich denn ungerecht vor Gott sein? Was habe ich ihm denn getan? Wie kann ich Gott gegenüber überhaupt ungerecht sein? 2) Wieso wird mir dauernd gesagt, ich müsse vor Gott nichts leisten, wenn mir zugleich immer wieder zugemutet wird, dass ich mir die Vorstellung zu eigen machen soll (rhetorisch-vermeintlich: ,darf ‘), dass er mich liebt, so wie ich bin? Wo und wann ist es mir wichtig, etwas richtig zu machen? Habe ich dieses Bedürfnis auch beim Glauben? Hat Gott es ,verdient‘, dass ich ihm vertraue? Wieso sollte Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 116 Johannes Greifenstein ich in Ordnung sein, so wie ich bin, wenn ich selbst darunter leiden kann, dass ich nicht mehr, stärker oder öfter auf Gott vertraue? 3) Was wäre denn gerecht im Verhältnis Gottes zu mir? Gibt es etwas, das ich verdient habe oder hätte von Gott - und was wäre das? Inwiefern wären Begriffe wie gerechte Strafe oder gerechter Lohn sinnvolle Kategorien eines Nachdenkens über mein Gottesverhältnis? Solches exemplarische Erwägen hat nichts mit fachlicher Expertise (der Praktischen Theologie) zu tun, vielmehr bedarf es dazu (in gewisser Weise: lediglich) religiöser Nachdenklichkeit. Man kann sich aber vorstellen, dass und wie verschiedene Faktoren zu ihrer Weiterentwicklung beitragen: Hier ist der Ort sowohl für eine traditionell angemahnte ,systematisch-theologische‘ Refle‐ xion als auch für eine vertiefte Auseinandersetzung mit eventuell vorhandener bibelwissenschaftlicher Hermeneutik sowie für die immer wieder erwähnten Möglichkeiten eine Bezugnahme auf Literatur, Musik oder Film (,Kunst‘) sowie auf nichttheologische Theoriebildung. Deutlich soll jetzt lediglich werden, dass es für einen an Religion orientierten Umgang mit der Episteltheologie eine eigenständige Reflexionsleistung braucht, die überhaupt nichts mit Zerrbildern von Kognitivität oder Intellektualität zu tun hat. Etwas überfrachtet, aber genau formuliert, ist der Ausgangspunkt solcher Reflexion ein religiöses Interesse am religiösen Potential der Predigt, das vermittels solcher religiösen Nachdenklichkeit umwillen einer religiösen Wirkung zur Geltung kommen soll. Das klingt mit voller Absicht nach viel ,Re‐ ligion‘ (und viel ,Subjektivität‘) - und genau das macht die Aufgabe auch anspruchsvoll. Sie zu bewältigen stellt nicht nur eine Anforderung dar, sondern immer wieder auch eine Überforderung. Aber auch das ist kein Grund dafür, die Erbaulichkeit und die Nachdenklichkeit einer Predigt gegeneinander auszu‐ spielen. 2. Geschichte und Gegenwart 2.1 Die Fremdheit der Geschichte vor der Gegenwart Da der Brief an die Römer kein Brief an uns heute, sondern an ,die Römer‘ ist, versteht es sich mitnichten von selbst, dass eine auf das religiöse Leben heute bezogene Rede vom Bezug auf diesen Brief irgendwie profitiert. Diese Perspektive, die religiöse Kategorien wie Heilige Schrift oder Wort Gottes ebenso absichtlich ausklammert wie damit verbundene Gedanken an eine Art immerwährende Geltung oder stets neu erfahrbare Wahrheit, ist unbedingt Teil einer gegenwartsbezogenen homiletischen Bibelhermeneutik. Sie steht Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Religiöse Rede und religiöse Lehre 117 42 Vgl. Kleffmann, Römerbrief (s.-Anm.-6), 7. 43 Richard Rothe, Heilige Schrift, in: Ders., Zur Dogmatik, Gotha 1863, 121-356, hier 338. 44 Vgl. Heinrich A. W. Meyer, Kritisch exegetischer Kommentar über das Neue Testament. Vierte Abtheilung den Brief an die Römer umfassend, Göttingen 1836, 16f.: „Paulus wollte den Römern schriftlich seine evangelische Lehre verkündigen, so wie es die Verhältnisse ihrer Gemeinde heischten, und wie er, persönlich gegenwärtig, mündlich unter ihnen gepredigt haben würde.“ (i.-O. durchgängig hervorgehoben) dafür ein, dass eine ,Fremdheit‘ 42 biblischer Texte im Sinne eines bewussten Vorbehalts so etwas bedeutet wie: Damit muss ich keineswegs etwas anfangen können! Das muss uns keineswegs etwas zu sagen haben! Dass diese Perspektive nicht nur in der homiletischen Praxis zur Geltung kommt - indem beispielsweise bestimmte Teile eines Predigttextes keine Funk‐ tion für die Predigt gewinnen -, sondern dass sie ihr sogar programmatisch, also bewusst und absichtsvoll zugrunde liegt, dafür steht bereits die Perikopen‐ ordnung samt Revisionspraxis ein. Ob man es wahrhaben will oder nicht - weshalb dieses Thema oft ausgeblendet bleibt, vor allem wo man abstrakt vom sogenannten Schriftbezug der Predigt spricht -, hier gilt (auch) das Prinzip: Was heute nicht geht oder uns nicht passt, wird weggelassen oder zurechtgestutzt! Man vergleiche etwa die sukzessive Kürzung von Röm 8,12-17 (,altkirchliche Perikope‘) zu Röm 8,(12 f.)14-17 (1985) zu Röm 8,14-17 (2018), wodurch schließ‐ lich wegfällt: So sind wir nun, liebe Brüder und Schwestern, nicht dem Fleisch schuldig, dass wir nach dem Fleisch leben. Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben müssen; wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Leibes tötet, so werdet ihr leben. Oder man denke an den Wegfall von Röm 10,1-15 (,Eisenacher Perikope‘ 1896) beziehungsweise die Verschiebung dieser Passage hin zu Röm 10,9-17(18) - dabei beachte man auch die Veränderung der Überschriften in der Lutherbibel von „Gesetzesgerechtigkeit und Glaubensgerechtigkeit“ sowie „Israel hat keine Entschuldigung“ (1984) hin zu „Die Suche nach Gerechtigkeit“ und „Warum ist Israel nicht zum Glauben gekommen? “ (2017). Nun kann man freilich für ,die Bibel‘ insgesamt sagen, „dazu, Predigttext zu sein, ist sie ja doch wirklich nicht geschrieben“ 43 . Doch kann eine besondere Herausforderung im Blick auf die paulinischen Briefe darin bestehen, dass man hier tatsächlich einmal eine konkrete geschichtliche Person als Autor im Hintergrund weiß. Genauer: Nimmt man Paulus nicht abstrakt als ,Autor‘, sondern in erster Linie als Prediger wahr, der zuweilen statt direkt predigen zu können, die Schriftform wählen und per Brief kommunizieren musste, dann stammt der Text gleichsam von einem Vorgänger derer, die heute predigen. 44 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 118 Johannes Greifenstein 45 ,Altkirchlich‘: Röm-13,1-10; 1966: Röm-13,1-8; 1978/ 2018: Röm-13,1-7. 46 Vgl. den erwähnten Wegfall von Röm 8,12f. Dazu der entschiedene Kommentar in Lutherische Liturgische Konferenz Deutschlands: Ordnung der Lesungen und Predigt‐ Gerade diese historische Verortung kann relativierend wirken, wenn sie dazu führt, dass gewissermaßen Gedanke gegen Gedanke oder Sichtweise gegen Sichtweise gestellt wird. Was sollte gerade hier ,Gottes Wort‘ heißen? So schrieb dieser Paulus, der seine bestimmte Perspektive zum Beispiel auf die menschliche Leiblichkeit hatte - ich aber sehe es hier und heute anders. Oder: Zwar mag dieser Paulus seine bestimmten Vorstellungen von einer Parusie gehabt haben - nur zu verständlich als Kind seiner Zeit -, ich teile sie jedoch nicht. Fremdheit ist in dieser Perspektive nicht einfach nur eine Kategorie zur Be‐ schreibung biblischer Texte als eines historischen Überlieferungsgutes. Fremd‐ heit ist vielmehr die Fremdheit einer anderen Person, ist also in erster Linie eine durchaus partikulare und kontingente Fremdheit. Zutiefst menschlich ist es, dass diese Person als Autor jener Texte eben so und nicht anders vorging, damit aber auch nur menschlich, vielleicht sogar: bestenfalls menschlich. Muss man diese Person nicht zuweilen sozusagen in Schutz vor sich selbst nehmen angesichts einschlägiger Auslassungen etwa zu den Themenbereichen ,Mann, Frau und Ehe‘ (Röm-7) oder ,Sexualität‘ (Röm-2)? 2.2 Fremdheit als Grenze und die Frage der Grenzziehung Die zentrale Frage homiletischer Hermeneutik lautet jetzt: Wer bestimmt wes‐ halb wie die hier zu ziehenden Grenzen? Man könnte voreilig meinen, eine förmliche Grenze bestehe doch wohl zu Recht dort, wo der Römerbrief Inhalte aufweist, die im Blick auf die Absicht und eine entsprechende Gestaltung meiner religiösen Rede heute stören oder sich zumindest nicht fruchtbar machen lassen. Allerdings provoziert das sofort die Rückfrage: Wen stören diese Inhalte und weshalb? Und solches Rückfragen geht zur Argumentation über, wenn weiter gefragt wird: Ist es mangelnde Kompetenz, diese Inhalte nicht fruchtbar machen zu können? Man denke mit Röm 13,1-7 an einen besonders prominenten Aussagenzu‐ sammenhang, der heute sicher überwiegend anders wahrgenommen und inter‐ pretiert wird als in früheren Generationen. Er blieb aber regulärer Predigttext 45 und fordert so gegebenenfalls eine (selbstkritische) Auseinandersetzung mit der Annahme, dieser Aussagenzusammenhang liege zumindest heute jenseits einer Grenze des zulässigen oder sinnvollen. Anders jedoch steht es mit Belegen einer sogenannten Leibfeindlichkeit des Apostels 46 und insbesondere mit Passagen, die man unter die Rubrik ,Christen und Juden‘ einordnet und bei denen das Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Religiöse Rede und religiöse Lehre 119 texte. Revisionsvorschlag 1995, Band I, o. O. [Hannover] o. J. [1995], 54: „Die Verse 12-13 der Epistel Römer 8 sind unnötig und erschweren das Hören. Daher Kürzung.“ 47 Vgl. zu Röm 9,14-24 (1966) - heute nur 9,14-18 als ,weiterer Text‘ - die Einschätzung in: Lutherische Liturgische Konferenz Deutschlands: Ordnung (s. Anm. 46), 47: „Röm 9,14ff ist ungeeignet, kann Antijudaismus produzieren.“ Im Kontrast beispielhaft Ferdinand C Baur, Ueber Zweck und Gedankengang des Römerbriefs, nebst der Erörterung einiger paulinischer Begriffe, mit besonderer Rücksicht auf die Commentare von Tholuck und Philippi, in: Theologische Jahrbücher 16 (1857), 60-108.184-209, hier 208: „So tief uns der im Römerbrief in seiner grössten Schärfe sich aussprechende Antinomismus und Antijudaismus des Apostels in seine innere Geistesrichtung hineinsehen lässt, so sehr bildet einen nicht minder charakteristischen Zug seiner Individualität das Bestreben, die Antithese gegen das Judenthum aus dem Judenthum selbst zu rechtfertigen und zu begreifen, und mit demselben Interesse, mit welchem er dem Judenthum alles abspricht, was es als seinen absoluten Vorzug geltend macht, es auf der andern Seite aufrecht zu erhalten, und in seiner bleibenden Wahrheit festzustellen.“ 2018 gekürzt wurde auch Röm-9,1-5.31-10,4 zu Röm-9,1-5. 48 Vgl. Mieke Korenhof (Hg.), Mit Eva predigen. Ein anderes Perikopenbuch, Düsseldorf 1996, 16-31. Urteil heute meist eindeutig und leicht fällt - auch wenn man im Gefolge älterer Einschätzungen dafür plädieren könnte, dass doch gerade hier eine Beschäftigung nicht unterbleiben darf. 47 Immerhin ist es auffällig, dass einschlägige Initiativen zur Reform der Peri‐ kopenordnung, die im Namen lebensweltlicher Anliegen und damit letztlich im Namen der Gegenwart unternommen werden, der Briefliteratur im allgemeinen und auch dem Römerbrief im besonderen deutlich weniger Gewicht beimessen als die ,offizielle‘ kirchliche Version - etwa wenn in einer feministischen Sicht bei siebzig jährlich zu vergebenden Gottesdienstterminen lediglich einmal der Römerbrief und die neutestamentliche Briefliteratur insgesamt viermal berücksichtigt werden sollen (im Verhältnis etwa zu fünf Belegen aus dem Richterbuch). 48 Nun besteht eine Herausforderung homiletischer Praxis angesichts von Diagnosen zu einer Fremdheit biblischer Texte jedoch keineswegs nur darin, dass Grenzen zu schnell gezogen werden, sondern auch darin, dass sie übersehen werden. Das meint im Blick auf die konkrete Predigtpraxis: Man begreift nicht, dass es sinnvoll oder auch nötig wäre - ich formuliere annäherungs‐ weise -, ,etwas dazu zu sagen‘. Das Fremde kann zugänglich werden, das Ferne kann nahegebracht werden, das Andere kann erschlossen werden. Genau dafür stehen Gedanken an die Predigt als Vermittlung oder Übersetzung. Übersieht man jedoch die hier erst jeweils zu erbringende Funktion, mangelt es am Be‐ wusstsein für Grenzen im Sinne einer Blockade oder einer Trennung, dann bleibt man der Gegenwart etwas schuldig, ohne damit der Vergangenheit einen Dienst erwiesen zu haben. Der alte Gedanke an eine ,Anwaltschaft‘ gegenüber den Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 120 Johannes Greifenstein 49 Klaus-Michael Bull, Bibelkunde des Neuen Testaments. Die kanonischen Schriften und die Apostolischen Väter. Überblicke - Themakapitel - Glossar, Göttingen 8 2019, 66 (Hervorhebung i.-O. getilgt). Hörerinnen und Hörern lässt sich in diesem Zusammenhang so reformulieren: Wer in Bezug auf die biblischen Texte keine homiletischen Grenzen gewahren, antizipieren oder auch imaginieren kann, der steht in Gefahr, selbst welche zu setzen. 2.3 Fremdheit als Chance und die Option der Aneignung Von Gedanken, die anders sind, als meine eigenen, von Begriffen, die mir neu sind, von Themen, mit denen ich üblicherweise nicht umgehe, kann ein besonderer Reiz ausgehen und kann ich etwas lernen. Wird eine solche Perspektive auf den Umgang mit dem Römerbrief eingenommen, dann passt sie aufs beste zu ihrem Gegenstand. Denn auf der eigenen Seite steht dann die Haltung: ,Ich will mir etwas sagen lassen! ‘, auf der Seite des Predigttextes steht der Anspruch, in einem durchaus betonten Sinne etwas zu sagen zu haben. Genau darin besteht ja der lehrhafte Charakter der Episteln, der sich einer Lektüre konkreter Perikopen im Unterschied etwa zu Texten aus dem Psalter auch fraglos mitteilt. In der Bibelkunde heißt es erläuternd: „Formgeschichtlich lässt sich der Röm[erbrief] am ehesten als ein belehrender Brief bezeichnen, der zugleich um Zustimmung zur vorgetragenen Lehre wirbt (logos protreptikos).“ 49 Fragt man vor diesem Hintergrund nach der Fremdheit des Römerbriefs als Chance des Predigens, dann lässt sich zunächst grundsätzlich feststellen: Hier wird nicht nur irgendetwas über Gott und die Welt oder über den christlichen Glauben mitgeteilt, sondern es werden genaue Vorstellungen und bestimmte Begriffe formuliert, es begegnen konkrete Argumentationen und es werden spezifische Anliegen verfolgt. Es bedeutet beispielsweise bereits das eine Art von Setzung mir als Prediger gegenüber, dass in diesem Predigttext Röm 6,3-8[9-11] Aussagen über die Taufe fallen - und nicht über die Schöpfung, den Glauben oder das Reich Gottes. Und diese Setzung besteht noch genauer darin, dass über die Taufe (unter anderem) genau so gesprochen wird: „wisst ihr nicht, dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in seinen Tod getauft? “. Das neue Perikopenbuch schreibt dazu zwar in der entsprechenden hermeneutischen Skizze: „An den Tod möchten wir beim Gedanken der Taufe nicht gerne erinnert Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Religiöse Rede und religiöse Lehre 121 50 Liturgische Konferenz für die Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Perikopen‐ buch. Nach der Ordnung gottesdienstlicher Texte und Lieder. Mit Einführungstexten zu den Sonn- und Feiertagen, Bielefeld/ Leipzig 2 2019, nach 372. 51 Doris Joachim, Die revidierte Perikopenordnung 2018, 4. https: / / www.zentrum-verkue ndigung.de/ fileadmin/ zentrum-verkuendigung/ Downloaddatenbank/ Kirchenjahr/ Peri kopenrevision/ Die_revidierte_Perikopenordnung.pdf‚ (letzter Zugriff am 26.10.2023). 52 Vgl. Walter Mostert, Über die Wahrheit der Schriftauslegung, in: Hans F. Geisser u. a. (Hg.), Wahrheit der Schrift - Wahrheit der Auslegung. Eine Zürcher Vorlesungsreihe zu Gerhard Ebelings 80. Geburtstag am 6. Juli 1992, Zürich 1993, 247-259, 257: „Wer Paulus liest, seine Rechtfertigungslehre, liest sie nur dann meditativ, wenn es ihm um die Sache der Rechtfertigung geht, nicht bloß um deren paulinische Gestalt. Nicht im historischen, sondern im systematischen, meditativen Lesen kommt die Auslegung zum Ziel.“ werden“ 50 - aber auch wenn dem so sein mag, werden wir eben daran erinnert, weil Paulus im Römerbrief so und nicht anders geschrieben hat. Nun gilt weiterhin: Die Setzung der Inhalte ist nur das eine, das andere ist die Freiheit, sich dazu ins Verhältnis zu setzen. Auf der einen Seite stehen paulini‐ sche Impulse, auf der anderen Seite steht der Umgang damit in der Predigt. Doch wenn es jetzt um einen konstruktiven und sozusagen optimistischen Zugang zum Begriff der Fremdheit geht, dann muss die oben eingenommene Perspektive ergänzt werden. Es gibt zwar keinen homiletischen Aneignungszwang, es gibt aber so etwas wie ein homiletisches Aussetzungspostulat. Was man wie einen selbstverständlichen (und nicht weiter zu problematisierenden) Fall so beschreiben kann, dass „einem zu keinem der sechs Bibeltexte eines Sonntags etwas einfällt“, 51 stellt ein echtes Problem im Blick auf die professionelle Kompetenz der Personen dar, die berufsmäßig zu predigen haben. Aufgrund des prinzipiellen und dominanten Interesses an einer erbaulichen Predigt für die Gegenwart muss man an diesem Punkt weiterhin darauf achten, dass die Verpflichtung, sich ernsthaft auf den biblischen Text einzulassen, keine Verpflichtung ist, sich auf ,den Römerbrief ‘, auf ,Paulus‘ oder etwa auch auf ,die paulinische Tauftheologie‘ oder ,Sündenlehre‘ einzulassen - sich darauf so einzulassen, dass damit die religiöse Aufgabe der Predigt als entscheidender Fokus und als Kriterium allen ,Sich-Einlassens‘ aus dem Blick gerät. Denn im Kontext einer erbaulichen Predigt für die Gegenwart interessieren der Römer‐ brief als Römerbrief, Paulus als Paulus oder auch die paulinische Tauftheologie oder ,Sündenlehre als solche schlichtweg überhaupt nicht. 52 Gleichwohl ist zu beachten, dass eine bestimmte Aussage aus dem Römerbrief für die Predigt möglicherweise gewinnbringend ist, wenn man sie als diese bestimmte Aussage verstehen und würdigen kann. Es ist nur offensichtlich nicht leicht, diese äußerst vage Überlegung bestimmter zu fassen: Wann hat man biblische Aussagen als sie selbst verstanden und gewürdigt? Dass die Suggestion einer Art von Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 122 Johannes Greifenstein 53 Vgl. Johannes Greifenstein, Vom Text zur Predigt. Ein Beitrag zur Praxistheorie homiletischer Bibelauslegung (PThGG-34), Tübingen 2021. 54 Vgl. Adolf von Harnack, Die Entstehung der christlichen Theologie und des kirchlichen Dogmas. Sechs Vorlesungen, Gotha (1927) 1967, 4. 55 Eugen Sachsse, Art. Katechese, Katechetik, in: RE 3 -10 (1901), 121-129, hier-128. 56 Wolfgang Trillhaas, Dogmatik, Berlin/ New York 4 1980, 7. 57 Vgl. die Zuordnung der Episteln zur Vorstellung von einem denkenden Glauben und einer entsprechenden „Notwendigkeit begrifflicher Reflexion und Argumentation“ bei Ulrich H. J. Körtner, Ein Brief Christi oder: Was hilft eine systematisch-theologische Schriftlehre für die Predigt der Episteltexte, in GPM-64 (2010), 372-378, hier-377. feststehendem Bedeutungsgehalt Probleme bereitet, ist ebenso bekannt wie die Tatsache, dass der Umgang mit diesem Problem in bibelwissenschaftlichen Kontexten anders ausfallen kann als in ,praktischen‘ Kontexten. 53 Wollte man den Gedanken an Fremdheit als Chance mit dem Plädoyer für eine Option der Aneignung verbinden - wie das die Überschrift dieses Abschnitts andeutet -, dann ist das (erneut) zweifellos anspruchsvoll und sollte mit empirischen Befunden nicht vorschnell in ein lediglich einseitig normatives Verhältnis gesetzt werden („Die Pfarrerinnen und Pfarrer scheitern eben am Text! “). In erster Linie geht es um eine Würdigung aller Versuche, die lehrhafte Dimension eines Predigttextes als Chance der Predigt fruchtbar zu machen. 3. Lehre fürs Leben Die Auseinandersetzung mit einer Predigt, deren Bezug auf die Episteln auch den Bezug auf deren lehrhaften Charakter bedeutet, steht im Kontext der Auseinandersetzung mit einer lehrhaften Qualität der Predigt selbst. Wo Be‐ griffe wie ,Lehre‘ oder ,lehrhaft‘ Abwehrreflexe auslösen, wo man das Interesse an Gedanken oder Argumenten nur als Beleg für die überholte Tradition einer ,verkopften‘ Predigtweise gelten lässt, da wird mit der Attraktivität einer lehrhaften Predigt heute auch die Attraktivität jener lehrhaften Predigt damals strittig, als die sich eine Schrift wie der Römerbrief beschreiben lässt. Mit konstruktivem Wohlwollen hingegen wäre zu betonen, dass die Epistelpredigt zu einer Religion passt, die man als denkende Religion, 54 „geistige Religion“ 55 oder sogar als „die durchreflektierteste Religion der Welt“ 56 ansehen kann. 57 Die Briefe vermitteln grundsätzlich, dass für das Christentum jedenfalls auch bestimmte Gedanken über bestimmte Themen, bestimmte Ansichten zu be‐ stimmten Fragen, bestimmte Überzeugungen von bestimmten Sachverhalten wichtig sind. Zwar wird man mit der Vorstellung, ein christliches Leben sei als solches auch durch eine bestimmte Präsenz christlicher Gehalte geprägt, nicht erst Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Religiöse Rede und religiöse Lehre 123 58 Paul Wernle, Die Anfänge unserer Religion, Tübingen/ Leipzig 2 1904, 68f. 59 Herwarth von Schade, Einführung, in: Lutherische Liturgische Konferenz Deutschlands (Hg.), Neue Lesungen für den Gottesdienst, Hamburg 1972, 5-12, hier-7. 60 Paul Wurster, Gibt es eine Methodenlehre der praktischen Exegese? , in: MPTh 5 (1909), 373-384, hier 381. Mit Bezug auf die Kritik an den Episteln Ulrich H. J. Körtner: Gegeben und bezeugt - Systematisch-theologische und rezeptionsästhetische Gesichtspunkte für eine Reform der Lese- und Predigtperikopen, in: Kirchenamt der EKD, Amt der UEK und Amt der VELKD (Hg.), Auf dem Weg zur Perikopenrevision. Dokumentation einer wissenschaftlichen Fachtagung, Hannover 2010, 15-43, hier-42. angesichts gegenwärtiger Herausforderungen umsichtig umzugehen haben. Es gibt eine reiche Tradition kritisch-selbstkritischer Auseinandersetzung mit ihr. Paul Wernle führt in seinem Werk über ,Die Anfänge unserer Religion‘ zu einer durch Jesus vollbrachten „Erlösung von der Theologie“ aus: Da aber der Sohn selbst kein Theologe, sondern - der Gelehrsamkeit nach - Laie ist, so wird Gott durch ihn den Unmündigen erschlossen. Jedes Kind kann Jesus verstehen. […] Seine ,Offenbarung‘ bedeutet ja die grosse Vereinfachung der Religion, die Betonung des Wichtigen, der Hauptsache. […] Hiegegen hat dann schon das Aufkommen der paulinischen Theologie die grosse Wendung gebracht, obschon Paulus noch wusste, was Jesus wollte. 58 Gleichwohl wäre bei allem Problembewusstsein auch geltend zu machen: Zum christlichen Leben gehört ein Lernen, gehören Symbole, die man verstehen muss, um etwas vom Umgang mit ihnen zu haben, gehören Gedanken, die einem nahegebracht werden müssen, damit sie das Leben bereichern können. Wem zum Beispiel so etwas wie (abstrakt gesagt) das Konzept Gnade als Inter‐ pretament eines Gottesverhältnisses nie begegnet, dem dürfte es schwerfallen, Erfahrungen unter Inanspruchnahme dieses Konzepts zu deuten und für eine entsprechende Frömmigkeit aufgeschlossen zu sein - etwa: Gott dankbar sein (,Gefühl‘) und dies betend äußern (,Praxis‘). Vor diesem Hintergrund muss zuletzt auch die Einschätzung überprüft werden, manche Predigttexte scheiterten am Kriterium einer Prädikabilität, weil sie „dem Ausleger unzumutbare Schwierigkeiten“ 59 bereiten. Denn Schwierig‐ keiten bereiten Predigttexte nicht nur als Predigttexte oder konkret Episteltexte als Episteltexte. Schwierigkeiten bereiten die einen oder anderen Gehalte auch als diese bestimmten Gehalte. Zum einen stellen sie Anforderungen an die gedankliche Arbeit in der Predigtvorbereitung - wobei die Devise gilt: „Will man undogmatisch predigen, so muß man viel Dogmatik studiert haben.“ 60 Zum anderen hat die Predigt eine Vermittlungsaufgabe auch deshalb, weil sich das Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 124 Johannes Greifenstein 61 Vgl. Dietrich Rössler, Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin/ New York 2 1994, 390 f. - Ausführlicher zum Thema dieses Beitrags Greifenstein, Vom Text zur Predigt (s. Anm. 53); ders., Bibelauslegung vor der Predigt, in der Predigt und durch die Predigt. Gestaltungsformen homiletischer Hermeneutik, in: ders. (Hg.), Predigt als Bibelauslegung. Praktische Hermeneutik in interdisziplinären Perspektiven, Tübingen 2022, 23-55. Verhältnis des ,Christlichen‘ zum ,Menschlichen‘ nicht stets und ohne weiteres von selbst versteht. 61 Johannes Greifenstein studierte Theologie in Halle und Berlin und ist seit 2024 Professor für Praktische Theologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ho‐ miletische Bibelauslegung zählt neben Liturgik, Kirchen‐ theorie und Kirchenrecht zu den Schwerpunkten seiner Forschung. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 53 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Religiöse Rede und religiöse Lehre 125
