eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 27/54

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2024-0009
1216
2024
2754 Dronsch Strecker Vogel

„Alles außer gewöhnlich"

1216
2024
Markus Schiefer Ferrari
znt27540007
1 Der Titel verdankt sich dem gleichnamigen Film aus dem Jahr 2019. In ihrer Sozialkomödie Hors normes zeigen die beiden französischen Regisseure Éric Toledano und Olivier Nakache - 2001-mit dem Film „Ziemlich beste Freunde“ (Intouchables) bekannt geworden - das besondere Engagement zweier Pariser - eines Juden und eines Muslimen - für verhaltensauffällige, meist autistische Jugendliche in einer improvisierten, nicht von den Behörden zugelassenen Einrichtung. Mit „Alles außer gewöhnlich“ soll im Folgenden nicht nur auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von Behinderung und die nach wie vor nicht zur guten Gewohnheit gewordene „volle und wirksame Teilhabe“ von Menschen mit Behinderungen „an allen Aspekten des Lebens“ (vgl. Art. 3c und Art. 26 Abs. 1 der UN-Behindertenrechtskonvention von-2008) aufmerksam gemacht werden, sondern auch das, wie zu sehen sein wird, keineswegs selbstverständliche Zueinander von Dis/ ability Studies und neutestamentlicher Exegese angedeutet werden. 2 Anne Waldschmidt, Disability Studies zur Einführung, Hamburg 2020, 39. 3 Vgl. Waldschmidt, Disability Studies (s.-Anm.-2), 36f. NT aktuell „Alles außer gewöhnlich“ 1 Dis/ ability (Studies) und Neues Testament Markus Schiefer Ferrari Disability Studies [sind] eine Einübung in ein ‚anderes‘ Denken, ein Denken, das sich bewusst als ‚schräg‘, ‚schief ‘ oder ‚ver-rückt‘ versteht. 2 1. Disability als erkenntnisleitendes Moment Disability bzw. Behinderung dient - ähnlich wie andere Merkmale der Hu‐ mandifferenzierung, etwa gender, class oder race - dem besseren Verständnis gesellschaftlicher Wirklichkeit und kultureller Praktiken. 3 So kann Disability als „erkenntnisleitendes Moment“, wie es die führende Vertreterin der Dis/ ability Studies in Deutschland, Anne Waldschmidt, in ihrer Einführung in diese wissenschaftliche Disziplin prägnant formuliert, „schlaglichtartig Aspekte zum Vorschein“ bringen, „welche verborgen geblieben wären, hätte man sich Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 4 Anne Waldschmidt, Selbstbestimmung als Konstruktion. Alltagstheorien behinderter Frauen und Männer, Wiesbaden 2 2012, 14. 5 Vgl. z.-B. Tom Shakespeare, Disability. The Basics, London/ New York 2018; Nick Watson/ Simo Vehmas (Hg.), Routledge Handbook of Disability Studies, London/ New York 2 2020; Marcia H.-Rioux/ Alexis Buettgen/ Ezra Zubrow/ José Viera (Hg.), Handbook of Disability. Critical Thought and Social Change in a Globalizing World, Singapore 2024. mit der ‚normalen‘ Perspektive begnügt und wäre von einer unversehrten Leiblichkeit in einer fraglos geltenden Welt ausgegangen.“ 4 Es liegt nahe, dass sich auch in der Auseinandersetzung der Dis/ ability Studies mit dem Neuen Testament vergleichbare Anliegen und Fragestellungen wie zum Beispiel in der feministischen Exegese, den Gender Studies oder den Postcolonial Studies finden. Offenbar geht es bei der Differenzkategorie Dis/ ability gleichermaßen um grundsätzliche Fragen, wie etwa die nach der Übertragbarkeit moderner Begrifflichkeiten und Machtdiskurse auf antike Texte oder nach der Rekonstruierbarkeit damaliger Lebensverhältnisse. Ebenso spielen die Unterschei‐ dung zwischen Beobachter: innen- und Betroffenenperspektive sowie die Dis‐ kussion um die Deutungshoheit unterschiedlicher exegetischer Traditionen eine Rolle. Dabei gibt es weder die feministische Exegese noch die dis/ abilitykritische Hermeneutik, vielmehr verschieben sich je nach Gewichtung und Verhältnis‐ bestimmung von Text und Interpret: innen in ihren jeweiligen kulturellen, sozio-ökonomischen und situativen Bezugssystemen die damit verbundenen Intentionen. Überraschend erscheint allerdings, dass trotz einer solchen Ver‐ gleichbarkeit der genannten Differenzmerkmale erst in den letzten zwanzig Jahren Literatur zu einer dis/ abilitykritischen Bibelhermeneutik erschienen ist und diese recht überschaubar bleibt. Im Gegensatz dazu sind die verschiedenen Facetten in den Dis/ ability Studies und ihren drei disziplinären Hauptfeldern, den Sozial-, Geschichts- und Kultur‐ wissenschaften, angesichts der enormen Zahl internationaler Publikationen in den letzten vierzig Jahren nur noch schwer zu fassen. Erstaunlicherweise werden die Theologie - und erst recht die Bibelwissenschaften - dabei allerdings vielfach nicht als relevante Bezugswissenschaften wahrgenommen, obwohl sich gerade die Bibel über Jahrhunderte als kulturprägend erwiesen hat. 5 Einzelne Vertreter: innen der Dis/ ability Studies verstehen die Theologie eher als eine Disziplin, die von einem Defizitmodell von Behinderung ausgehe und sich vor allem um religiöse Deutungen und Problemlösungen angesichts gesundheitli‐ cher Beeinträchtigungen bemühe. Zudem sei Theologie eines der Fächer, auf das sich Heil- und Sonderpädagogik beziehe, zu der die Dis/ ability Studies bewusst auf Distanz gingen, weil diese „bei der Institutionalisierung von Aussonderung Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 8 Markus Schiefer Ferrari 6 Waldschmidt, Disability Studies (s.-Anm.-2), 20f. 7 Ramona Jelinek-Menke, Religion und Disability. Behinderung und Befähigung in religiösen Kontexten. Eine religionswissenschaftliche Untersuchung (Religionswissen‐ schaft-24), Bielefeld 2021, 329. 8 Ramona Jelinek-Menke, Disability Studies und Religionswissenschaft. Anmerkungen zu Relevanz und Potential einer Symbiose, in: David Brehme/ Petra Fuchs/ Swantje Köb‐ sell/ Carla Wesselmann (Hg.), Disability Studies im deutschsprachigen Raum. Zwischen Emanzipation und Vereinnahmung, Weinheim 2020, 201-208, hier-206. 9 Lennard J. Davis, Bending over Backwards. Disability, Dismodernism, and Other Difficult Positions, New York/ London 2002. und Stigmatisierung eine treibende Kraft“ gewesen sei und auch aktuell bei der schulischen Inklusion eher Zurückhaltung zeige. 6 Insbesondere aus religionswissenschaftlicher Sicht wird die Perspektive letzt‐ lich aller Religionen auf Disability als einseitig verdächtigt. Gerade in religiösen Kontexten würden binäre Kategorisierungen wie behindert vs. nicht-behindert nicht nur aufgegriffen, sondern verobjektiviert werden, indem religiöse Aus‐ sagen als unhinterfragbar dargestellt würden und „die Kontingenz sozialer Ka‐ tegorisierungen durch ihre transzendenzbezogenen Erklärungen“ aufgelöst und damit zugleich reifiziert würde. 7 Im christlichen Kontext gingen Theolog: innen zwar vielfach von dem in den Dis/ ability Studies favorisierten kulturellen Behinderungsmodell aus und untersuchten, wie Behinderung beispielsweise in der Bibel erörtert werde und zu welchen Verhaltensweisen gegenüber Menschen mit Behinderung Auslegungen geführt hätten. Dabei gehe es letztlich aber nur darum, „die objektiv-göttliche Wahrheit, die nach Auffassung der Autor: innen in den Texten enthalten“ sei, „von kulturellen Einflüssen zu befreien und dadurch zu einem Verständnis von Behinderung zu kommen, das aus ihrer subjektiven Sicht heraus richtig“ sei. 8 Insgesamt bleiben diese Vorwürfe von Seiten der Religionswissenschaft allerdings allzu allgemein und wären genauer - auch an exegetischen Arbeiten der letzten zehn Jahre (vgl. Kapitel-5) - zu belegen. Solche Abgrenzungen gegenüber der Theologie bedeuten aber umgekehrt kei‐ neswegs, dass sich in den Dis/ ability Studies nicht Aussagen fänden, die durchaus kompatibel mit christlichen Überzeugungen wären, wenn beispielsweise Markus Dederich in seiner sehr inspirierenden „Einführung in die Disability Studies“ mit Lennard J. Davis 9 feststellen kann, diese würden von einem Menschenbild ausgehen, „bei dem nicht mehr in der Tradition der europäischen Aufklärung einseitig Autonomie und Selbstbestimmung im Vordergrund“ ständen, sondern „Aspekte wie Abhängigkeit und Angewiesenheit, Fragilität und Zerbrechlichkeit Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 „Alles außer gewöhnlich“ 9 verstärkt“ hervorträten. 10 Die Verletzbarkeit des Menschen sei das entscheidende anthropologische Merkmal und nicht mehr seine Perfektibilität. 2. (Nicht-)Behinderung anders denken Disability und Behinderung werden heute in der Regel - auch in diesem Beitrag - synonym verwendet, obwohl damit etymologisch betrachtet unterschiedliche Aspekte zum Ausdruck gebracht werden. Bezeichnet disability im Englischen die Unfähigkeit einer Person und damit die Negation einer Eigenschaft, bezieht sich Behinderung im Deutschen hingegen auf ein Geschehen, das die Beziehung einer Person zu seiner Umwelt behindert. 11 Dabei handelt es sich bei Behinderung bzw. Disability um einen weitgehend unbestimmten Begriff, um einen „leeren, immer wieder neu verstandenen Signifikanten“. 12 Der unscharfe Oberbegriff Behinderung bezieht sich letztlich auf eine bunte Mischung von unterschiedlichen körperlichen, psychischen und kogni‐ tiven Merkmalen […], die nichts anderes gemeinsam haben, als dass sie mit negativen Zuschreibungen wie Einschränkung, Schwäche oder Unfähigkeit verknüpft werden. 13 Die vielfach verwendete optische Trennung von dis und ability mittels eines Schrägstrichs soll zudem „die Verschränkungen und Verknüpfungen, das Wech‐ selspiel von ‚normal‘ und ‚behindert‘“ anzeigen. 14 Behinderung bzw. Disability wird in den Dis/ ability Studies unter der Vor‐ aussetzung als analytische Kategorie verwendet, dass sie als kontingent zu verstehen und kritisch in ihren jeweiligen soziokulturellen Kontexten zu hinter‐ fragen ist. Sie ist „konsequent als Effekt gesellschaftlicher Zuschreibungsprak‐ tiken“ und als „eine zeitgebundene Kategorie“ zu betrachten. 15 So geht es den Dis/ ability Studies neben der Aufdeckung der „vernachlässigten gesellschaftli‐ chen Praktiken“ (sozialwissenschaftliche Disability Studies) vor allem auch um Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 10 Markus Schiefer Ferrari 10 Markus Dederich, Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies (Disability Studies: Körper - Macht - Differenz-2), Bielefeld 2007, 188. 11 Vgl. Waldschmidt, Disability Studies (s.-Anm.-2), 35. 12 Waldschmidt, Disability Studies (s.-Anm.-2), 37. 13 Anne Waldschmidt, Warum und wozu brauchen Disability Studies die Disability History? Programmatische Überlegungen, in: Elsbeth Bösl/ Anne Klein/ Anne Waldschmidt (Hg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte, eine Einführung (Disability Studies-6), Bielefeld 2010, 13-27, 14. 14 Waldschmidt, Warum und wozu (s.-Anm.-13), hier-20. 15 Waldschmidt, Disability Studies (s.-Anm.-2), 36. die Erforschung der „verschütteten Geschichte“ (Disability History) sowie der „unausgeleuchteten kulturellen Räume“ (kulturelle Disability Studies). 16 Die Disability History versteht sich dabei nicht einfach als Teilgebiet der Ge‐ schichtswissenschaften, in dem die Geschichte von Menschen mit Behinderung erforscht wird. Indem sie untersucht, wie „in früheren Epochen Anderssein und Differenz konstruiert und die entsprechenden Gruppenzugehörigkeiten und Identitäten“ 17 hergestellt wurden, will sie vielmehr die allgemeine Geschichte neu schreiben und deren Schattenseiten aufdecken. Da sich allerdings in der Vormoderne noch nicht die Kategorie Behinderung findet - sie ist ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft Europas seit der Aufklärung -, arbeiten Ver‐ treter: innen der Disability History beispielsweise mit dem Konzept verkörperter Differenz (embodied difference), um danach fragen zu können, welche Phänomene in welchen sozialen Kontexten überhaupt als Beeinträchtigung (bzw. als Krankheit, Schwäche oder Bedürftigkeit) sicht- und abgrenzbar gemacht werden und welche soziokulturellen Bedeutungen sich damit verbinden. 18 Die dezidierte Infragestellung zeit- und kulturübergreifender Konstanten beim Phänomen Behinderung und die vorrangige Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung als Handelnde soll vor der unreflektierten Übertragung gegen‐ wärtiger, meist reduktionistischer Annahmen schützen. Zum Beispiel werden tradierte „Vorstellungen über den Umgang mit verkörperten Andersheiten in antiken und mittelalterlichen Gesellschaften“, wie etwa die von permanenter Vernachlässigung oder Verstoßung, hinterfragt. 19 Mit Blick auf Altes und Neues Testament sind im Bereich der frühen Ge‐ schichte und Antike insbesondere die internationalen Studien sowie Sammel- und Quellenbände von Christian Laes und Kristi Upson-Saia/ Heidi Marx zu erwähnen. 20 Lukas Thommen zeichnet zusammenfassend das Bild einer „Grat‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 „Alles außer gewöhnlich“ 11 16 Waldschmidt, Disability Studies (s.-Anm.-2), 36. 17 Waldschmidt, Disability Studies (s.-Anm.-2), 160. 18 Elsbeth Bösl/ Bianca Frohne, Disability History, in: Anne Waldschmidt (Hg.), unter Mitar‐ beit von Sarah Karim, Handbuch Disability Studies, Wiesbaden 2022, 127-142, hier-131. 19 Elsebth Bösl, Dis/ ability History: Grundlagen und Forschungstand, in: H-Soz-Kult, 07.07.2009 (https: / / www.hsozkult.de/ literaturereview/ id/ fdl-136813; letzter Zugriff am-17.05.2024). 20 Christian Laes (Hg.), Disability in Antiquity, London/ New York 2017; Christian Laes, Disabilities and the Disabled in the Roman World. A Social and Cultural History, Cam‐ bridge 2018; Christian Laes (Hg.), A Cultural History of Disability in Antiquity (A cultural history of disability/ The cultural histories series-1), London u.-a. 2020; Kristi Upson-Saia/ Heidi Marx/ Jared Secord, Medicine, Health, and Healing in the Ancient Mediterranean (500-BCE-600-CE). A Sourcebook, Oakland, California 2023; vgl. für die Spätantike Heidi Marx‐Wolf/ Kristi Upson‐Saia, The State of the Question: Religion, Medicine, Disability, wanderung für die Betroffenen“ 21 in der griechisch-römische Antike: Menschen mit Behinderung wurden „a priori weder von der Gemeinschaft ausgegrenzt noch aus der Öffentlichkeit entfernt“, sondern bildeten „im Prinzip einen inte‐ gralen Teil der Gesellschaft“. Dennoch konnten sie „mit verschiedenen Makeln behaftet sein, die Verunglimpfung und Verspottung mit sich brachten oder sogar zur Ächtung führten“. 22 Die Fürsorge für Menschen mit Behinderungen war den Familien überlassen. Ansonsten drohte die Gefahr der Verarmung und eines Bettlerdaseins. Missgebildete Kinder wurden teilweise ausgesetzt oder getötet. Umgekehrt führten körperliche Einschränkungen nicht nur zu Benachteiligungen, sondern auch zu Anerkennung und Wertschätzung, wie sich etwa in Namensgebungen - z.-B. Caecus (Blinder) - zeigt. 3. Behinderungsmodelle Wie bereits mehrfach angeklungen, unterscheiden die Dis/ ability Studies ver‐ schiedene Modelle von Behinderung. 23 Im Folgenden sollen exemplarisch zu‐ mindest das individuelle, das soziale und das kulturelle Modell vorgestellt werden, da damit zum einen Abgrenzungen gegenüber anderen Disziplinen, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 12 Markus Schiefer Ferrari and Health in Late Antiquity, in: Journal of Late Antiquity 8.2 (2015), 257-272; Jared Secord/ Heidi Marx-Wolf/ Christoph Markschies (Hg.), Health, Medicine, and Christianity in Late Antiquity (Studia patristica 81.7/ Papers presented at the Seventeenth International Conference on Patristic Studies held in Oxford 2015), Leuven u.-a. 2017. Der Medizinhisto‐ riker Josef N. Neumann, Behinderte Menschen in Antike und Christentum. Zur Geschichte und Ethik der Inklusion (Standorte in Antike und Christentum 8), Stuttgart 2017, bietet zwar einen Überblick von Mesopotamien bis zur Vormoderne, verbleibt aber damit, um eine Unterscheidung von Waldschmidt, Disability Studies (s. Anm. 2), 159, aufzugreifen, eher im Bereich der „weichen“ Disability History, die „nur lockere Verbindungen zur Forschungsprogrammatik der Disability Studies“ unterhält und der es nicht um eine „grundlegende Revision der Geschichtsschreibung“ geht. 21 Lukas Thommen, Griechisch-römische Antike, in: Susanne Hartwig (Hg.), Behinde‐ rung. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Berlin 2020, 138-140, hier-139. 22 Thommen, Griechisch-römische Antike (s.-Anm.-21), 138. 23 Vgl. z. B. Anne Waldschmidt, Disability Studies. Individuelles, soziales und/ oder kultu‐ relles Modell von Behinderung, in: Psychologie und Gesellschaftskritik-29.1 (2005), 9-31; Markus Schiefer Ferrari, Art. Dis/ ability Studies, in: WiReLex 2019. (https: / / www.bibel wissenschaft.de/ stichwort/ 200578/ ; letzter Zugriff am 17.05.2024); Waldschmidt, Disa‐ bility Studies (s. Anm. 2), 72-91; Anne Waldschmidt, Jenseits der Modelle. Theoretische Ansätze in den Disability Studies, in: Brehme/ Fuchs/ Köbsell/ Wesselmann, Disability Studies im deutschsprachigen Raum (s. Anm. 8), 56-73, mit Rückbezügen u. a. zu Dan Goodley, Disability Studies. An Interdisciplinary Introduction, Los Angeles u. a. 2 2017; Tom Shakespeare/ Nicholas Watson, Frameworks, Models, Theories, and Experiences for Understanding Disability, in: Robyn Lewis Brown/ Michelle Maroto/ David Pettinic‐ chio (Hg.), The Oxford Handbook of the Sociology of Disability, New York 2023, 17-37. 24 Waldschmidt, Disability Studies. Individuelles, soziales und/ oder kulturelles Modell (s.-Anm.-23), 17. 25 Werner Schneider/ Anne Waldschmidt, Disability Studies. (Nicht-)Behinderung anders denken, in: Stephan Moebius (Hg.), Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies. Eine Einführung, Bielefeld 2012, 128-159, 141. zum anderen aber auch wesentliche Ausrichtungen und Akzentuierungen innerhalb der Dis/ ability Studies selbst deutlich werden. Das individuelle oder medizinische Modell, das auch als Rehabilitationsansatz bezeichnet wird, wird in den Dis/ ability Studies als defizitorientiert und reduk‐ tionistisch abgelehnt, da es primär von „medizinischen Definitionen“ ausgeht und „einen einseitigen biophysischen Begriff von Normalität“ verwendet. Es betrachtet „individuelle Schädigung (impairment) als alleinige Ursache von Beeinträchtigung (disability) und Benachteiligung (handicap)“, gesellschaftliche Ursachen werden dagegen weitgehend ausgeblendet. Behinderung wird mit einer körperlichen Schädigung oder funktionalen Beeinträchtigung gleichge‐ setzt und auf ein „schicksalhaftes, persönliches Unglück, das individuell zu bewältigen ist“, reduziert. 24 Das soziale Modell versteht Behinderung nicht als persönliches Schicksal, sondern als Resultat sozialer Übereinkunft. Menschen sind nicht auf Grund gesundheitlicher Beeinträchtigung behindert, vielmehr werden sie durch das soziale System behindert, indem sie marginalisiert und von gleichberechtigter Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Allerdings wird mit der damit verbundenen Unterscheidung zwischen Beeinträchtigung (impairment) und Behinderung (disability) übersehen, dass auch medizinische Kategorien „ihre Geschichte, ihre kulturelle Bedeutung und ihre sozialen Konstruktionsmodi haben“ und daher die körperliche Schädigungsebene als gesellschaftlich bedingt und ebenso die Unterscheidung selbst als historisch kontingent betrachtet werden muss. 25 Das in den Dis/ ability Studies heute meist favorisierte kulturelle Modell versucht, Behinderung weder lediglich als individuelles Schicksal noch aus‐ schließlich als gesellschaftliche Ausgrenzung zu verstehen, vielmehr geht es bei diesem Ansatz um einen Perspektivwechsel, nämlich um „ein vertieftes Verständnis der Kategorisierungsprozesse selbst“ und um „die Dekonstruktion der ausgrenzenden Systematik und der mit ihr verbundenen Realität“. Es genügt nicht, allein das Phänomen der Behinderung zu betrachten, ebenso ist „ihr Gegenteil, die gemeinhin nicht hinterfragte ‚Normalität‘“, zu analy‐ sieren; eigentlicher Untersuchungsgegenstand muss die Mehrheitsgesellschaft werden. Menschen mit und Menschen ohne Behinderungen sind „keine binären, strikt getrennten Gruppierungen, sondern einander bedingende, interaktiv Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 „Alles außer gewöhnlich“ 13 26 Waldschmidt, Disability Studies. Individuelles, soziales und/ oder kulturelles Modell (s.-Anm.-23), 25. 27 Waldschmidt, Disability Studies. Individuelles, soziales und/ oder kulturelles Modell (s.-Anm.-23), 27. 28 Waldschmidt, Disability Studies (s.-Anm.-2), 91. 29 Waldschmidt, Jenseits der Modelle (s.-Anm.-23), 68. 30 Vgl. z.-B. Shelley Tremain (Hg.), Foucault and the Government of Disability, Ann Arbor 2.,-erweiterte und überarbeitete Auflage 2015. hergestellte und strukturell verankerte Komplementaritäten.“ Die kulturwissen‐ schaftliche Sichtweise will „die Relativität und Historizität von Ausgrenzungs- und Stigmatisierungsprozessen zum Vorschein“ bringen und zeigen, „dass die Identität (nicht)behinderter Menschen kulturell geprägt ist und von Deutungs‐ mustern des Eigenen und des Fremden bestimmt wird.“ 26 Neben den Sozialleis‐ tungen und Bürgerrechten bedarf es für eine Anerkennung und Teilhabe auch der kulturellen Repräsentation. Individuelle und gesellschaftliche Akzeptanz wird erst dann möglich sein, wenn behinderte Menschen nicht als zu integrierende Minderheit, sondern als integraler Bestandteil der Gesellschaft verstanden werden. 27 Schwächen des kulturellen Modells sind in einer teilweise zu einseitigen Betrachtung und Behandlung von Kultur im engeren Sinne, etwa in der Li‐ teratur und darstellenden Kunst, oder von Werteinstellungen und Diskursen zu sehen, ohne hinreichend „Alltagsleben oder Populärkulturen“ sowie „Macht‐ verhältnisse und Probleme von Herrschaft, Gewalt und sozialer Ungleichheit“ zu beachten. 28 Stärken des kulturellen Modells zeigen sich insbesondere im „kritisch-reflexive[n] Denken des spannungsreichen Wechselverhältnisses von (Un-)Fähigkeit, Beeinträchtigung und (Nicht-)Behinderung“ und in intersekti‐ onalen „Beiträgen zu den Gender Studies, Queer Studies, Postcolonial Studies etc., welche die impliziten Normen und Werte des gesellschaftlichen und kulturellen ‚mainstreams‘ ebenfalls in Frage stellen.“ Vor allem ist mit dem kulturwissenschaftlichen Ansatz immer auch „die Aufforderung verbunden, Zweifel an den eigenen impliziten und expliziten Annahmen, methodischen Ansätzen und Ergebnissen“ zu haben. 29 4. Theorieansätze In ihren theoretischen Überlegungen beziehen sich die kulturwissenschaftlichen Dis/ ability Studies insbesondere auf den französischen Philosophen Michel Fou‐ cault. 30 Ähnlich wie dieser bereits zu Beginn der 60er Jahre des letzten Jahrhun‐ derts herausgearbeitet hat, dass Wahnsinn nicht objektiv, sondern nur in seiner Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 14 Markus Schiefer Ferrari 31 Waldschmidt, Jenseits der Modelle (s. Anm. 23), 69, mit Bezug zu Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Frankfurt a.-M. 1969 (1961). 32 Waldschmidt, Disability Studies (s. Anm. 2), 95, mit Bezug zu Erving Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Aus dem Amerikanischen von Frigga Haug, Frankfurt a.-M. 1975 (1963). 33 Waldschmidt, Disability Studies (s. Anm. 2), 95, mit Bezug zu Rosemarie Gar‐ land-Thomson, Extraordinary Bodies: Figuring Physical Disability in American Culture and Literature, New York 1997, 8: „The term normate usefully designates the social figure through which people can represent themselves as definitive human beings.“ 34 David T. Mitchell/ Sharon L. Snyder, Narrative Prosthesis. Disability and the Dependen‐ cies of Discourse (Corporealities), Ann Arbor 2000, bes.-6-10. 35 Urte Helduser, Literatur- und Sprachwissenschaften in den Disability Studies, in: Waldschmidt, Handbuch Disability Studies (s. Anm. 18), 219-234, 223; vgl. u. a. Clare Barker/ Stuart Murray (Hg.), The Cambridge Companion to Literature and Disability, Cambridge 2019; Matthias Luserke-Jaqui (Hg.), Literary Disability Studies. Theorie und Praxis in der Literaturwissenschaft, Würzburg 2019. 36 Dederich, Körper, Kultur und Behinderung (s.-Anm.-10), 118. Wechselwirkung zur Vernunft verstanden werden kann und dass „gesellschaft‐ liche Normierungs-, Regierungs- und Subjektivierungspraktiken“ immer auch Normalität produzieren, indem sie Anderssein herstellen, gehen auch die Cultural Dis/ ability Studies so vor, dass sie „die Historizität und Kulturalität, Relativität und Kontingenz von (Nicht-)Behinderung zu erfassen“ suchen. 31 Bei allem theoretischen Pluralismus innerhalb der Dis/ ability Studies ist als zweiter Klassiker, mit dem sich viele Vertreter: innen - auch kritisch - auseinandersetzen, Erving Goffman zu nennen, der in den 70er Jahren den „Umgang mit Stigmatisierungsprozessen, die mit einem Stigma verbundenen ‚Beschädigungen‘ von Identität und die Praktiken interaktiver Normalisierung“ untersucht hat. 32 Bewusst stellt Rosemarie Garland-Thomson in den 90er Jahren „Goffmans Figur des Stigmatisierten […] diejenige des Normalen, den ‚normate‘ gegenüber“ und bezeichnet damit „eine Subjektposition, die sich in Abgrenzung zur Figur des abweichenden Anderen konstituiert“. 33 Neben diesen beiden Theorieansätzen ist für die literaturwissenschaftlichen Dis/ ability Studies vor allem auch das zu Beginn der 2000er Jahre von David T. Mitchell und Sharon L. Snyder entwickelte Konzept der „narrativen Prothese“ wichtig, 34 mit dessen Hilfe „nach der literarischen Konstruktion von Behinde‐ rung und nach dem Anteil der Literatur an gesellschaftlich-kulturellen Normalitätsvorstellungen“, aber auch nach dem „subversive[n] Potenzial literarischer Ästhetiken gegenüber normalisierenden Diskursen“ gefragt wird. 35 So wie eine physische Prothese versucht auch eine von einer Behinderung handelnde Erzählung, sowohl von der Entstehung als auch von „der Auflösung, Korrektur oder dem Ausschluss einer Abweichung“ zu berichten. 36 Literarische Repräsen‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 „Alles außer gewöhnlich“ 15 tationsformen von Behinderung sind gekennzeichnet von einer Ambivalenz zwischen „Faszination und Abscheu, Neugier und Ablehnung, Zuwendung und Ausschluss“. 37 Auch wenn die Gefahr besteht, dass die „gesellschaftliche Realität von Menschen mit Behinderung“ hinter der „symbolischen Indienstnahme“ in literarischen Texten - oder auch in Filmen - verschwindet, kann umgekehrt gerade durch die „narrative Prothese“ auch auf eine „außerhalb der sprachlichen Zeichen liegenden Materialität“ von Behinderung verwiesen werden. 38 5. Dis/ abilitykritische Exegese Will man die Entwicklung der dis/ abilitykritischen Bibelauslegung beschreiben, lassen sich drei Phasen erfassen, die inhaltlich und zeitlich allerdings nur bedingt voneinander zu trennen sind. Selbstverständlich kommt es zu Überschneidungen; manche Ansätze reichen über das angegebene Zeitfenster - teilweise bis heute - hinaus: In einer ersten Phase (1980-2006) setzen sich vor allem Betroffene kritisch mit biblischen Erzählungen über Menschen mit Behinderungen auseinander und erörtern in zahlreichen, meist kleineren Publikationen die von ihnen als diskrimi‐ nierend erlebte Rezeption dieser Texte. 39 Diese Auseinandersetzung wird in einer zweiten Phase (2007-2017) zunehmend auch von einzelnen Vertreter: innen der biblischen Wissenschaften entdeckt und auf der Basis der Diskurse der Dis/ ability Studies weitergeführt, allerdings meist in einem größeren Rahmen, in dem auch andere theologische Perspektiven, insbesondere die der Religionspädagogik und Pastoraltheologie, behandelt werden, um Fragen der Exklusion und Inklusion im Kontext von Kirche und Schule zu diskutieren. 40 Die Ergebnisse erscheinen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 16 Markus Schiefer Ferrari 37 Dederich, Körper, Kultur und Behinderung (s.-Anm.-10), 111. 38 Helduser, Literatur- und Sprachwissenschaften (s.-Anm.-35), 224f. 39 Z. B. Ulrich Bach (1931-2009); John M. Hull (1935-2015); Sharon V. Betcher (1956); Susanne Krahe (1959-2022); Dorothee Wilhelm (1963). 40 Hector Avalos/ Sarah J. Melcher/ Jeremy Schipper (Hg.), This Abled Body. Rethinking Disabilities in Biblical Studies (SBL.SS-55), Leiden/ Boston 2007; Rebecca Raphael, Biblical Corpora. Representations of Disability in Hebrew Biblical Literature (LHB.OTS 445), New York/ London 2008; Candida R. Moss/ Jeremy Schipper (Hg.), Disability Studies and Biblical Literature, New York 2011; Amos Yong, The Bible, Disability, and the Church. A New Vision of the People of God, Grand Rapids/ Cambridge 2011; Wolfgang Grünstäudl/ Markus Schiefer Ferrari (Hg.), Gestörte Lektüre. Disability als Leitkategorie biblischer Exegese (Behinderung - Theologie - Kirche 4), Stuttgart 2012; Louise Joy Lawrence, Sense and Stigma in the Gospels. Depictions of Sensory-Disabled Characters, Oxford 2013; Wolfgang Grünstäudl/ Markus Schiefer Ferrari/ Judith Distelrath (Hg.), Verzwecktes Heil? Studien zur Rezeption neutestamentlicher Heilungserzählungen (BToSt 30), Leuven u. a. 2017; Markus Schiefer Ferrari, Exklusive Angebote. Biblische Heilungsgeschichten inklusiv gelesen, Ostfildern 2017. - bis heute - in Tagungsbänden 41 und Themenheften 42 , wobei - bei genauerer Betrachtung - keineswegs alle Beiträge konsequent von Dis/ ability als einer kontingenten Differenzkategorie ausgehen, sondern sich manche eher allgemein von einer Inklusions-/ Exklusionsdebatte leiten lassen. In den letzten sieben Jahren finden sich nun in einer dritten Phase (2018-2024) - auch mit der Differenzierung zwischen Erstem und Zweitem Testament -, soweit ich es richtig sehe, ein Kommentar 43 zur gesamten Bibel und einige wenige Monographien 44 zum Neuen Testament, die zum einen dezidiert bei einem kulturellen Behinderungsmodell ansetzen und zum anderen dieses mit einer klassisch historisch-kritischen Exegese konfrontieren. Sind die ersten Jahre stark von einer Betroffenenperspektive geprägt gewesen, dominiert jetzt die Textorientierung. Die unterschiedlichen Akzentuierungen dieser drei Phasen werden im Folgenden am Beispiel einiger Arbeiten zumindest skizziert, ohne die Ergebnisse allerdings nur annähernd würdigen zu können. 5.1. Erste Phase: Betroffenenperspektive Bei der Lektüre vieler Publikationen zum Thema Bibel und Behinderung aus der Betroffenenperspektive wird immer wieder spürbar, dass biblische Erzäh‐ lungen und ihre Deutungen keineswegs als Hoffnungstexte, sondern meist als überaus kränkende Provokationen verstanden werden. Insbesondere in Bezug auf neutestamentliche Heilungserzählungen werden - oftmals in Kombination mit Anliegen der feministischen Theologie - heftige Vorwürfe formuliert, diese Texte funktionalisierten letztlich Menschen mit Behinderungen und trans‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 „Alles außer gewöhnlich“ 17 41 Michaela Geiger/ Matthias Stracke-Bartholmai (Hg.), Inklusion denken. Theologisch, biblisch, ökumenisch, praktisch (Behinderung - Theologie - Kirche 10), Stuttgart 2018; Lars Bruhn/ Jürgen Homann (Hg.), Religionen inklusiv. Zur Dekonstruktion (nicht-)be‐ hinderter Körper, Stuttgart 2023; Marie Hecke/ Katharina Kammeyer/ Anna Neumann (Hg.), Andere Geschichten erzählen. Ebenbildlichkeit, Heilung und die Rede von Gott in disabilitysensibler Theologie (Behinderung - Theologie - Kirche 17), Stuttgart 2024. 42 Conc(D) 56.5 (2020); Journal of Disability-&-Religion-25.4 (2021); BiHe-235 (2023); Biblical Theology Bulletin-53.4 (2023); PZB-32.1 (2023). 43 Sarah J. Melcher/ Mikeal C. Parsons/ Amos Yong (Hg.), The Bible and Disability. A Commentary, Waco 2017. 44 Anna Rebecca Solevåg, Negotiating the Disabled Body. Representations of Disability in Early Christian Texts (ECIL-23), Atlanta 2018; Louise A. Gosbell, „The Poor, the Crippled, the Blind, and the Lame“. Physical and Sensory Disability in the Gospels of the New Testament (WUNT/ I 469), Tübingen 2018; Lena Nogossek-Raithel, Dis/ ability in Mark. Representations of Body and Healing in the Gospel Narrative (ZNW-263), Berlin/ Boston 2023; Isaac T.-Soon, A Disabled Apostle. Impairment and Disability in the Letters of Paul, Oxford 2023. portierten auf dieser Folie exkludierende Vollkommenheitsvorstellungen und Normalisierungsansprüche, indem sie die Geheilten als Abbzw. Vorbilder eines paradiesischen Urzustandes bzw. einer neuen Schöpfung darstellten. 45 Vor allem Ulrich Bach hat immer wieder wortgewaltig darauf hingewiesen, dass es regelrecht „einen sozial-rassistischen Graben“ zwischen Menschen ohne und Menschen mit Behinderungen gebe: Dagegen müsse „Behindert-Sein […] wie Nicht-Behindert-Sein als eine Möglichkeit innerhalb der guten Schöpfung Gottes“ begriffen werden und nur dann würden Heilungsgeschichten richtig verstanden, wenn ihre Auslegung Menschen mit Behinderungen nicht kränken würde. 46 Geht Bach von den neutestamentlichen Heilungserzählungen aus, setzt John M. Hull dagegen bei den Körpererfahrungen des Paulus an, der sich darin in besonderer Weise mit dem gebrochenen Leib Christi verbunden wisse. Biblische Aussagen über Vollkommenheit meinten in diesem Kontext eine verletzte, eine unvollkommene Vollkommenheit. Daher biete eine Theologie des Gebrochen-Seins der Kirche „a way of replacing the oppressive monolith of an unambiguous perfection with the rich and varied ambiguity of many forms of human broken-ness.“ 47 5.2. Zweite Phase: Dis/ abilityperspektive Mit „This Abled Body. Rethinking Disabilities in Biblical Studies” legen Hector Avalos, Sarah J. Melcher und Jeremy Schipper 2007 eine Sammelschrift vor, die insofern bahnbrechend ist, als sie erstmals Disability Studies und Bibelwis‐ senschaften aufeinander bezieht und zugleich aber die Betroffenenperspektive nicht aus dem Blick verliert. Dabei unterscheiden sie einleitend drei mögliche Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 18 Markus Schiefer Ferrari 45 Vgl. z. B. Dorothee Wilhelm, Wer heilt hier wen? Und vor allem: wovon? Über biblische Heilungsgeschichten und andere Ärgernisse, in: Schlangenbrut 62 (1998), 10- 12; Susanne Krahe/ Ulrike Metternich, Kraft oder Kränkung - Heilungsgeschichten im Neuen Testament kontrovers diskutiert, in: Ilse Falk/ Kerstin Möller/ Brunhilde Raiser/ Eske Wollrad (Hg.), So ist mein Leib. Alter, Krankheit und Behinderung - feminis‐ tisch-theologische Anstöße, hg. im Auftrag der Evangelischen Frauen in Deutschland (EFiD), Gütersloh 2012, 25-43; Sharon V. Betcher, Disability and the Terror of the Miracle Tradition, in: Stefan Alkier/ Annette Weissenrieder (Hg.), Miracles Revisited. New Testament Miracle Stories and their Concepts of Reality (SBR 2), Berlin/ Boston 2013, 161-181. 46 Vgl. Ulrich Bach, Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar, Neukirchen-Vluyn 2006, 409, 478, 487. 47 John M. Hull, The Broken Body in a Broken World. A Contribution to a Christian Doctrine of the Person from a Disabled Point of View, in: Journal of Religion, Disabi‐ lity-&-Health-7 (2003), 5-23, hier-22. Ansätze, (1) einen „erlösungsorientierten“ („redemptionist“), der versuche, biblische Texte entweder für heute neu zu erschließen, falls die Texte eine negative Haltung gegenüber Behinderungen zeigten, oder sie vor Fehlinterpre‐ tationen in der Gegenwart zu schützen, falls diese von Normalisierungsideen ausgingen, (2) einen „ablehnungsorientierten“ („rejectionist“), der im Gegensatz zum ersten dafür plädiere, die negativen Darstellungen der Bibel von Behinde‐ rungen mit Blick auf die moderne Gesellschaft abzulehnen, und schließlich (3) einen „historistischen“ („historicist“), der geschichtliche Untersuchungen und Interpretationen zu Behinderungen in der Bibel - teilweise im Vergleich zu benachbarten Kulturen - vornehme, ohne aber ein eindeutiges Interesse an daraus erwachsenden Konsequenzen für die heutige Zeit zu haben. 48 In dem-2012 von Wolfgang Grünstäudl und Markus Schiefer Ferrari herausge‐ gebenen Sammelband „Gestörte Lektüre. Disability als hermeneutische Leitkate‐ gorie biblischer Exegese“ spricht sich Schiefer Ferrari in einem Einführungsartikel zu Lk 14,12-14 - und auch in späteren Veröffentlichungen - dafür aus, „das irritie‐ rende und störende Potential biblischer Texte für den durch die Disability Studies angestoßenen Diskurs zu entdecken“, zugleich aber auch aufzudecken, inwiefern biblische Texte in ihrer Rezeptionsgeschichte „aufgrund ihrer kulturprägenden Kraft an der Konstruktion von Behinderung und an negativen Differenzvorstel‐ lungen“ beteiligt (gewesen) seien. 49 Über eine kritische Auseinandersetzung mit biblischen (Heilungs-)Erzählungen und verschiedenen Interpretationsansätzen hinaus, müsse es Leser: innen zudem darum gehen, „eigene Differenzkategorien und Exklusionsbzw. Normalisierungsvorstellungen zu hinterfragen.“ 50 Nicht eigentlich auflösbar erscheine die Spannung, die sich aus dem Anspruch der Texte, auf die weltverändernde Kraft Gottes zu verweisen, auf der einen Seite und aufgrund des Anliegens aktueller Leser: innen, die deutungsverändernde Wirkung menschlicher Zerbrechlichkeit ernst nehmen zu wollen, auf der anderen Seiten Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 „Alles außer gewöhnlich“ 19 48 Hector Avalos/ Sarah J. Melcher/ Jeremy Schipper, Introduction, in: Avalos/ Mel‐ cher/ Schipper, This Abled Body (s. Anm. 40), 1-9, hier 4f., mit Verweis auf Hector Avalos, Redemptionism, Rejectionism and Historicism as Emerging Approaches in Disability Studies, in: PRSt-34 (2007), 91-100, hier-91f. 49 Markus Schiefer Ferrari, (Un)gestörte Lektüre von Lk 14,12-14. Deutung, Differenz und Disability, in: Grünstäudl/ Schiefer Ferrari, Gestörte Lektüre (s.-Anm.-40), 13-47, hier 45. 50 Markus Schiefer Ferrari, Gestörte Lektüre. Dis/ abilitykritische Hermeneutik biblischer Heilungserzählungen am Beispiel von Mk 2,1-12, in: Bernd Kollmann/ Ruben Zimmer‐ mann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven (WUNT/ I 339), Tübingen 2014, 627- 646. ergebe. 51 Vielmehr sei diese im Sinne der „Fragilität des Interpretationsversuchs“ 52 - und damit auch im Sinne einer Hermeneutik, die sich an der Kategorie Dis/ ability orientiere - auszuhalten. Claudia Jansen plädiert in einem Beitrag über „Heilung im Matthäusevange‐ lium“ zum einen dafür, diesen Ansatz auf eine sozialgeschichtliche Perspektive hin zu weiten, um Krankheiten und Behinderungen deutlicher als „Alltags‐ erfahrungen der Mehrheit im römischen Reich“ wahrzunehmen, und zum anderen dafür, Betroffene als Erzähler: innen eigener Heilungserfahrungen und -hoffnungen zu begreifen, indem z. B. in Mt 11,5 die mediale Verbform aktivisch mit „Arme verkünden das Evangelium“ statt passivisch mit „Armen wird das Evangelium gepredigt“ (LU 2017) übersetzt und Arme als Kollektivbegriff verstanden werde, der auch Menschen mit Behinderungen und Krankheiten einschließe. Heilungserzählungen könnten damit auch als Zeichen der Selbst‐ ermächtigung, des Empowerments, gedeutet werden. 53 Allerdings könne selbst eine solche Lesart die Sperrigkeit der Texte nicht einfach aufheben und den Vorwurf, sie seien Normalisierungsgeschichten, entkräften, da auch Betroffene als Autor: innen „möglicherweise nicht frei von Idealvorstellungen von Gesund‐ heit und verinnerlichter Selbstabwertung“ seien. 54 Mit der Arbeit von Louise Joy Lawrence erscheint 2013 erstmals eine Mo‐ nographie, die sich ausschließlich dem Neuen Testament und Menschen mit Sinnesbehinderungen zuwendet, um zu zeigen, „how the ‘sensory-disabled‘ characters surveyed can each challenge and refigure dominant conceptions of the ‚normal‘ in both biblical traditions und scholarly analyses at a more fundamental level.“ 55 Lawrence setzt sehr breit an, nicht nur bei den Disability Studies (z. B. dem Konzept der „narrativen Prothese“ von Mitchell/ Snyder), sondern ebenso bei den Performance Studies sowie vor allem bei der Sinnes‐ anthropologie und bei ethnographischen Untersuchungen. Jenseits der drei von Avalos, Melcher und Schipper benannten Zugangsmöglichkeiten zum Thema Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 20 Markus Schiefer Ferrari 51 Markus Schiefer Ferrari, Teilhabe für alle. Biblische Hoffnungsgeschichten dis/ abilitykri‐ tisch gelesen, in: Lothar Bluhm/ Markus Schiefer Ferrari/ Werner Sesselmeier (Hg.), „Bist du ein Mensch, so fühle meine Not.“ Menschenrechte in kultur- und sozialwissenschaft‐ licher Perspektive (Landauer Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte-3), Baden-Baden 2019, 71-92, hier-91f. 52 Ruben Zimmermann, Von der Wut des Wunderverstehens. Grenzen und Chancen einer Hermeneutik der Wundererzählungen, in: Kollmann/ Zimmermann, Hermeneutik der frühchristlichen Wundererzählungen (s.-Anm.-50), 27-52, hier-46. 53 Claudia Janssen, „Er kümmert sich um alle Kranken und alles Leiden im Volk“ (Mt 4,23). Heilung im Matthäusevangelium, in: Geiger/ Stracke-Bartholmai, Inklusion denken (s.-Anm.-41), 125-139, hier-136f. 54 Janssen, Er kümmert sich (s.-Anm.-53), 138. 55 Lawrence, Sense and Stigma (s.-Anm.-40), 125. Bibel und Behinderung möchte sie die Deutungsgeschichte neu schreiben, indem sie diese interdisziplinären Perspektiven auf fantasievolle und kreative Weise miteinander verknüpfe und zudem „new and cathartic interpretations which reconfigure the profiles of these flat and often silent characters in fresh and innovative ways“ anbiete, um den Exeget: innen dabei zu helfen, ihre eigenen Vorurteile und Normen wahrzunehmen, „which have prejudiced their interpretations and closed off the means to engage with the multidimensional natures of other sensory worlds.“ 56 5.3. Dritte Phase: Textorientierung Besonders anregend ist die 2018 erschienene Monographie von Anna Rebecca Solevåg, „Negotiating the Disabled Body“, nicht nur weil sie sich in der Einlei‐ tung dezidiert auf das kulturelle Modell der Disability Studies bezieht und für jedes Kapitel einen methodischen Ansatz ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt, wie etwa das Konzept der „narrativen Prothese“ von Mitchell/ Snyder, Susan Sontags Erörterungen zu „Krankheit als Metapher“ 57 , Rosemarie Garland-Thom‐ sons Thema „Blicken/ Starren“ 58 sowie die Stigma-, Monster- und Crip-Theorie. Vielmehr bietet sie - konsequent intersektional und interdisziplinär - ein breites Themenspektrum an, das Heilungen von Männern in den Evangelien (Mk 2,1-10; 7,24-30; Joh 4,46-54; 5,1-15; 9,1-41) und von Frauen in den apokryphen Petrusakten ebenso behandelt wie Fragen von Behinderung und Männlichkeit, etwa in Bezug auf den Vorwurf des Wahnsinns (u. a. Mk 3,19-30; 2Kor 11,16-30), auf Beschimpfungen des Judas in Papiasfragmenten und auf die Eunuchenkategorie in Mt 19,12 und Apg 8,26-40. 59 Auch wenn Disability eine moderne Kategorie ist, geht Solevåg - ähnlich wie Rebecca Raphael mit der „trilogy of disability“ blind, taub und lahm für die Hebräische Bibel 60 - für das Neue Testament von einem vergleichbaren übergeordneten Konzept von Gebrechen (infirmity) oder Behinderung aus, wobei sie betont, dass sich die ihnen zugeschriebenen Bedeutungen erheblich von den heutigen unterscheiden. Vor allem versucht sie danach zu fragen, wie Darstellungen von Behinderungen im jeweiligen literarischen Rahmen funktionieren, dabei aber zugleich die Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 „Alles außer gewöhnlich“ 21 56 Lawrence, Sense and Stigma (s.-Anm.-40), 9. 57 Susan Sontag, Illness as Metaphor and AIDS and Its Metaphors, London 2002. 58 Rosemarie Garland-Thomson, Staring. How we look, Oxford 2009. 59 Vgl. Solevåg, Negotiating the Disabled Body (s. Anm. 44), bes. 26-28; aktuell auch Anna Rebecca Solevåg, The Ideal Meal. Masculinity and Disability among Host and Guests in Luke, in: Biblical Theology Bulletin-53.4 (2023), 272-282. 60 Rebecca Raphael, Biblical Corpora (s.-Anm.-40), 13f. medizinischen und ursächlichen Rahmenkonzepte zu beachten. 61 Insgesamt kommt Solevåg in ihrer Studie zu dem Fazit, dass sowohl die gelebte Erfahrung von Behinderung als auch ihre Darstellung in frühchristlichen Texten variieren und eng mit weiteren Differenzkategorien wie Geschlecht, Klasse oder ethni‐ scher Zugehörigkeit zusammenhängen. So hätten nach wie vor die von Avalos/ Melcher/ Schipper beschriebenen drei Richtungen alle ihre Berechtigung und weiterhin das Potenzial für eine spannende Forschung innerhalb der biblischen Disability Studies. 62 Im Vergleich zu Solevåg beschränken sich die Autor: innen dreier Qualifika‐ tionsschriften zu Recht auf ausgewählte neutestamentliche Textgattungen, zum einen Louise A. Gosbell 2018 - noch vor Solevågs Studie - auf Heilungserzäh‐ lungen in den Evangelien (Lk 14,15-24; Mk 5,25-34; Joh 5,1-18; 9,1-41) bzw. Lena Nogossek-Raithel 2023 auf die Heilungserzählungen im Markusevange‐ lium und zum anderen Isaac T. Soon 2023 auf die Paulusbriefe, ausgehend von der Frage, inwieweit Beschneidung, Dämonisierung und Kleinwuchs in der Antike als Behinderungsformen zu begreifen sind, und können sich auf diese Weise noch intensiver mit den Texten selbst und ihren zeitgeschichtlichen Bezugssystemen auseinandersetzen. Gosbell bietet im Gegensatz zu Nogossek-Raithel 63 und Soon 64 neben einer ausführlichen Einführung in die Disability Studies und Disability-Methodologie vor allem eine intensive Auseinandersetzung mit der „Behinderungslandschaft“ in der griechisch-römischen Welt einerseits und in der Hebräischen Bibel und zur Zeit des Zweiten Tempels andererseits 65 , um so zeigen zu können, inwieweit die Evangelisten kulturell bedingte Konstruktionen von Behinderung in der Antike verstärken, reflektieren oder unterwandern. 66 Obwohl es kaum möglich sein dürfte, die tatsächlichen Lebenserfahrungen von Menschen mit Behinde‐ rungen in Palästina des ersten Jahrhunderts mit Hilfe der neutestamentlichen Texte zu erfassen, lasse sich zumindest die Art und Weise untersuchen, wie Menschen mit körperlichen und sensorischen Behinderungen in den epigraphi‐ schen, medizinischen und literarischen Quellen der Antike sowie insbesondere in den Evangelien selbst textlich dargestellt würden. Auch wenn es in der Antike keinen übergreifenden Begriff für Behinderung gegeben habe, werde Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 22 Markus Schiefer Ferrari 61 Vgl. Solevåg, Negotiating the Disabled Body (s.-Anm.-44), 14, 25. 62 Vgl. Solevåg, Negotiating the Disabled Body (s.-Anm.-44), 153-160. 63 Vgl. Nogossek-Raithel, Dis/ ability in Mark (s.-Anm.-44), 1-19. 64 Vgl. Soon, A Disabled Apostle (s. Anm. 44), 1-16; vgl. auch Isaac T. Soon, Disability and New Testament Studies. Reflections, Trajectories, and Possibilities, in: Journal of Disability-&-Religion 25.4 (2021), 374-387. 65 Vgl. Gosbell, The Poor (s.-Anm.-44), 1-30, 31-43, 44-111, 112-164. 66 Vgl. Gosbell, The Poor (s.-Anm.-44), 4. jedem Körper, ob als „able-bodied“ oder „deviant“ erachtet, im Rahmen seines sozialen, kulturellen und religiösen Milieus eine Bedeutung zugewiesen. 67 Auf diesem Hintergrund zeigt Gosbell beispielsweise, Lukas untergrabe in Lk 14,15- 24 das traditionelle Bild von Menschen mit Behinderungen als ungebetene Gäste und betone stattdessen, dass den Armen und Behinderten sowohl in der sich entwickelnden Jesusbewegung als auch beim zukünftigen Festmahl ein wichtiger Platz zukomme. Mit Blick auf die Bedeutung ihrer Ergebnisse für eine gegenwärtige Diskussion bleibt Gosbell zurückhaltend und erwähnt lediglich, dass sich zukünftige Forschung in Bezug auf Behinderung noch mit weiteren Texten im Neuen Testament oder Vorstellungen körperlicher Auferstehung in den ersten Jahrhunderten beschäftigen müsse. 68 Auch Nogossek-Raithel betont, vor einem „erlösenden“ oder „ablehnenden“ Zugang sei zunächst ein offener historischer Interpretationsansatz zu wählen, unabhängig von einer ekklesiologischen oder theologischen Anwendung. Eine historische Analyse der Texte bilde die hermeneutische Grundlage einer mög‐ lichen (Wieder-)Aneignung, (Wieder-)Bewertung und (Wieder-)Interpretation sowie ihrer soziopolitischen Kraft im Geiste der Dis/ ability Studies. 69 So kommt sie u. a. zu dem wichtigen Ergebnis, dass das Markusevangelium physische Dualität in Frage stelle, wenn der markinische Jesus viele Menschen heile, die litten und wünschten, verwandelt zu werden, gleichzeitig ihr Leiden aber anerkenne. 70 Soon hofft, sich mit Hilfe der Behinderungskategorie - trotz aller Skepsis in der Forschung - den spezifischen Behinderungen des Paulus annähern zu können, indem er nicht den Zustand des Paulus medizinisch zu diagnostizieren sucht, sondern die gesellschaftliche Wahrnehmung der Funktionalität und Ästhetik seines Körpers im Kontext der Idealvorstellungen seiner Zeit zu analysieren versucht. 71 Abschließend regt er an, weitere Forschungen sollten sich mit der Wahrnehmung des Paulus als behinderter Apostel in der Rezepti‐ onsgeschichte, insbesondere in der apokryphen Literatur und ikonografischen Darstellungen, auseinandersetzen. Außerdem könne die Erkenntnis, dass die behandelten Behinderungsformen in der Antike heute keineswegs mehr als solche eingestuft würden, dazu beitragen, eigene Vorstellungen von Disability zu hinterfragen. 72 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 „Alles außer gewöhnlich“ 23 67 Vgl. Gosbell, The Poor (s.-Anm.-44), 27f. 68 Vgl. Gosbell, The Poor (s.-Anm.-44), 325-327. 69 Vgl. Nogossek-Raithel, Dis/ ability in Mark (s.-Anm.-44), 5f. 70 Vgl. Nogossek-Raithel, Dis/ ability in Mark (s.-Anm.-44), 266. 71 Vgl. Soon, A Disabled Apostle (s.-Anm.-44), 4. 72 Vgl. Soon, A Disabled Apostle (s.-Anm.-44), 220. 73 Anne Waldschmidt/ Elsbeth Bösl, Nacheinander/ Miteinander. Disability Studies und Dis/ ability History, in: Cordula Nolte/ Bianca Frohne/ Uta Halle/ Sonja Kerth (Hg.), Dis/ ability History der Vormoderne. Ein Handbuch/ Premodern Dis/ ability History. A Companion, Affalterbach 2017, 40-49, hier-47f. 74 Martin Leutzsch, Eine durch und durch politische Angelegenheit. Feministische Exegese, Gender Studies und queere Lektüren des Neuen Testaments. Gedanken zu Fragestellungen, Problemen und Kontexten der Forschung, in: ZNT 49 (2022), 7-25, hier-25. 6. Fazit So notwendig die historisch-kritische Forschung und ihre Ergebnisse sind, besteht, wie in den jüngsten Arbeiten zu sehen ist, die Gefahr, dass der Bezug zur Gegenwart zwar als wichtig erachtet, aber anderen überlassen wird. Wenn Vertreter: innen der Dis/ ability Studies für die Dis/ ability History einfor‐ dern, dass diese weder „spezialisierte Segmentgeschichte“ noch „historische Randgruppenforschung oder Behindertenwissenschaft“ sein dürfe, sondern die Möglichkeit biete, „nicht nur Geschichte(n) der (Nicht-)Behinderung, sondern auch die allgemeine Geschichte neu zu schreiben“, und zudem immer eine „selbstkritische Perspektive“ benötige, um nicht als Wissenschaft selbst durch die Generierung und Verbreitung bestimmter Bilder und Konzepte von Dis/ ability „an der Konstitution von Ausgrenzungsmechanismen“ beteiligt zu sein, 73 so gilt dies ebenso für eine dis/ abilitykritische Exegese. Es müsste deutlich werden, dass die Erforschung auch von Dis/ abilityaspekten in der Exegese von vornherein „eine durch und durch politische Angelegenheit“ ist, wie Martin Leutsch pointiert für die feministische Exegese und Gender Studies feststellt: Jede Form von Exegese ist kontextuell und politisch, auch wenn dies von den Akteur: innen geleugnet werden mag. Selbstkritische Exegese legt die ihr bewussten politischen Optionen offen. Damit macht sie sich kritisierbar und kann Diskussionen mit aktuellem politischem Bezug anregen. Die Offenlegung dieser Optionen hat zugleich den Vorteil, dass sie nicht unbewusst in die Untersuchungsobjekte projiziert werden müssen. 74 Will eine dis/ abilitykritische Exegese nicht ein Nischendasein als Segmentexe‐ gese führen, darf sie sich nicht nur des methodischen Instrumentariums der Dis/ ability Studies bedienen, sondern muss den Dialog mit Vertreter: innen der Dis/ ability Studies suchen, auch wenn dieser mit Blick auf Theologie und Kirche geschichtlich belastet ist. Wichtig für das Verständnis der Dis/ ability Studies ist es, außerdem zu wissen, dass eine ihrer Wurzeln in der politischen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 24 Markus Schiefer Ferrari Behindertenbewegung der 70er Jahre zu finden ist, es sich also immer auch um soziale Anliegen Betroffener handelt. Um sich noch deutlicher gegenüber den Ansätzen der Dis/ ability Studies zu öffnen, sollte eine dis/ abilitykritische Exegese, wie etliche der vorgestellten Studien bereits exemplarisch vorgeführt haben, intersektionale und interdiszi‐ plinäre Perspektiven aufgreifen und zudem die Rezeptionsgeschichte neutesta‐ mentlicher Texte, etwa in der frühchristlichen Kunst und Literatur, untersuchen, nicht zuletzt mit der Fragestellung, inwieweit diese zur Konstruktion von Disability beigetragen hat. Zugleich wäre auch eine größere Offenheit von Seiten der Vertreter: innen der klassischen Exegese gegenüber einer dis/ abilitykritischen Exegese wünschens‐ wert sowie eine stärkere Gesprächsbereitschaft der Dis/ ability Studies allgemein gegenüber theologischen Fächern, um das Verhältnis von Dis/ ability (Studies) und Neuem Testament in Zukunft nicht mehr als „alles außer gewöhnlich“ beschreiben zu müssen. Markus Schiefer Ferrari studierte Katholische Theo‐ logie und Mathematik an der Ludwig-Maximilians-Univer‐ sität München. Er ist seit 2007 Professor für Katholische Theologie mit den Schwerpunkten Biblische Theologie, Exegese des Neuen Testaments und Bibeldidaktik am Institut für Katholische Theologie der Rheinland-Pfäl‐ zischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau. Seine Forschungsschwerpunkte sind rezeptionsästhetische Hermeneutik und Didaktik sowie biblische Hermeneutik angesichts der Dis/ ability Studies. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0001 „Alles außer gewöhnlich“ 25