ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2024-0010
1216
2024
2754
Dronsch Strecker VogelStereotype Fremde?
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2024
Uta Poplutz
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1 Immer noch lesenswert ist Erving Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt am M. 25 2020, wenngleich man heute an vielen Stellen des Buches sicherlich sprachsensibler übersetzen würde. 2 Zur hier verwendeten Sprachregelung: „Menschen mit Behinderung(en)“ ist der heute am breitesten akzeptierte Begriff der Alltagssprache, den auch Amnesty International (Sektion Schweiz) im Glossar der inklusiven Sprache favorisiert (https: / / www.amn esty.ch/ de/ ueber-amnesty/ inklusive-sprache/ glossar [letzter Zugriff am 20.09.2024]); in der Theoriediskussion tendiere ich zum sozialen Behinderungsmodell (vgl. Anne Waldschmidt, Macht - Wissen - Körper. Anschlüsse an Michel Foucaut in den Disability Studies, in: dies./ Werner Schneider [Hg.], Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld [Disability Studies. Körper - Macht - Differenz 1], Bielefeld 2015, 55-77); da es jedoch bislang keinen Konsens zur Verwendung von impairment und disability gibt, variiere ich je nach Nuancierung und Sekundärliteratur. Zum Thema Stereotype Fremde? Reflexionen zu den Kranken/ Geheilten in den neutestamentlichen Wundererzählungen im Spiegel der Dis/ ability Studies Uta Poplutz 1. Problemanzeige Wie leicht fließt Exegetinnen und Exegeten bei der Auslegung entsprechender Perikopen die Rede von den „Randständigen“ oder „Marginalisierten“ aus der Feder, wenngleich dies eine soziale Stigmatisierung 1 impliziert, die bei der Erwähnung von Menschen mit Behinderungen 2 wie etwa „Blinden“ oder „Ge‐ lähmten“ keineswegs zwingend sein muss. Wieso gehen wir offenbar reflexartig und stillschweigend davon aus, dass Behinderungen in der Antike automatisch zu Ausgrenzung und sozialem Abstieg geführt haben müssen? Oder - anders‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 3 Markus Schiefer Ferrari, (Un)gestörte Lektüre von Lk 14,12-14. Deutung, Differenz und Disability, in: Wolfgang Grünstäudl/ Markus Schiefer Ferrari (Hg.), Gestörte Lektüre. Disability als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese, Stuttgart 2012, 13-47, hier-19, dort auch die erwähnten Belege. herum gewendet - warum liegt uns der Gedanke so fern, dass damals wie heute auch wohlhabende Personen erblinden oder erlahmen konnten? Sicherlich ist diese Wahrnehmung nicht zuletzt auf den biblischen Befund zurückzuführen, wenn etwa in Lk 14,12-14 Menschen mit Behinderungen in einem Atemzug mit „Bettelarmen“ (ptōchoi) erwähnt werden. Und sicherlich konnten Menschen, die mit Behinderungen leben mussten, realiter einen so‐ zialen Abstieg erleiden - sei es, weil sie nicht erwerbsfähig waren, sei es, weil ihre Beeinträchtigung sie aufgrund religiös konnotierter Unreinheit sozial stigmatisierte (Aussatz [Mk 1,40-45 par; Lk 17,11-19]; anhaltender Blutausfluss [Mk-5,25-34-par]). Doch muss das, wie Markus Schiefer Ferrari anhand zeitge‐ nössischer exegetischer Kommentierungen zu Lk 14,12-14 eindrücklich gezeigt hat, unbedingt zu derart unbedachten Pauschalurteilen führen? In der Exegese werden die genannten Menschen mit Behinderungen […] oftmals einleitend pauschal als „ärgerliche Zumutung“ [Gerhard Hotze], „Abschaum der Gesellschaft“ [Martin Ebner] oder „unsympathisch“ [François Bovon] beschrieben, wohl um die Kontrastierung zu unterstreichen und das mit der Perikope verbundene Anliegen einer Durchbrechung der Einladungs- und Reziprozitätskonventionen […] deutlicher werden zu lassen. 3 Bei der Analyse von Heilungserzählungen fällt auf, dass sich die exegetische Forschung denjenigen Figuren, die irgendeine Form von impairment aufweisen, in erster Linie im Hinblick auf ihre Funktion, das Wirken Jesu als Wundertäter zu illustrieren, zugewandt hat; damit werden diese aber vorrangig als Objekte der Heilungstätigkeit Jesu verstanden und nicht als eigenständige Akteure. Sie sind in den Erzählungen auch aufgrund gezielter Leserlenkung „die anderen“, d. h. diejenigen, die nicht der Normalität entsprechen, aber durch das Wun‐ derwirken Jesu wieder „normal“ werden. Wenn dieses dann auch noch als prophetische Zeichenhandlung für die Herrschaft Gottes fungiert, sind die Folgen für Leserinnen und Leser fatal. Insbesondere die feministische Theologin und Rollstuhlfahrerin Dorothée Wilhelm hat mit ihrer harschen Kritik und der Rede von „spiritueller Ausbeutung“ von Menschen mit Behinderungen in einem wütenden Essay aufhorchen lassen. Sie kritisiert insbesondere die dargestellten „Sehgewohnheiten“, die die Sehgewohnheiten der vermeintlich „Normalen“ sind, für die jede Abweichung vom körperlichen Status der „Normalität“ mit Leiden gleichgesetzt wird: Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 28 Uta Poplutz 4 Dorothée Wilhelm, Wer heilt hier wen? Und vor allem: wovon? Über biblische Hei‐ lungsgeschichten und andere Ärgernisse, in: Schlangenbrut-16-(1998), 10-12, hier-10. 5 Vgl. Gerd Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschicht‐ lichen Erforschung der synoptischen Evangelien (StNT 8), Gütersloh 6 1999, 54 (Die Habilitationsschrift wurde-1972 in Bonn eingereicht). Biblische Heilungsgeschichten gehen mir auf die Nerven. Und zwar massiv. […] Lukas 13,10-17 ist eine Normalisierungsgeschichte, wie so ziemlich alle Heilungs‐ wunder. Der abweichende Körper wird qua Wunderheilung ein „normaler“ Körper, das Auge ist nicht länger irritiert vom Anblick der Abweichenden. Wessen Auge? Nicht das derer, die als abweichend abgebildet werden. 4 Zieht man dann zur Illustration der Problemanzeige noch die forschungsge‐ schichtlich wegweisende und breit rezipierte formgeschichtliche Studie von Gerd Theißen hinzu und folgt seinem Vorschlag, die Personen der Wunderge‐ schichten einzelnen Rollen und Feldern zuzuordnen, stehen die „Kranken“ dem „Wundertäter“ diametral gegenüber: während der Wundertäter ausschließlich (sic! ) der göttlichen Sphäre angehört (warum eigentlich? ), gehören die Kranken zur menschlichen Sphäre, kommen aber mit einem Fuß im dämonischen Areal zum Stehen. 5 D (Dämon); K (Kranker); B (Begleiter); J ( Jünger); W (Wundertäter); M (Menge); G-(Gegner) Auch wenn die Studie von Theißen nach wie vor hilfreiche Impulse für die formgeschichtliche Erfassung der neutestamentlichen Wundererzählungen lie‐ fert, würde man heute - gut 50 Jahre später - insbesondere im Hinblick auf rezeptionsästhetische Überlegungen im Spiegel der Dis/ ability Studies einen solchen Ableismus vermeiden. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Stereotype Fremde? 29 6 Das Konzept des Othering entstammt dem postkolonialen Diskurs der 1970er Jahre und beschreibt die gewaltvolle hegemoniale Praxis des Fremdmachens, vgl. Edward W. Said, Orientalismus, Frankfurt am Main 2009; der Begriff wird aber auch alltagssprachlich verwendet. Instruktiv zum Thema Janosch Freuding, Othering, in: WiReLex-9 (2023). 7 Elisabeth Bösl/ Anne Klein/ Annette Waldschmidt, Disability History. Einleitung, in: dies. (Hg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung (Disability Studies. Körper - Macht - Differenz 6), Bielefeld 2010, 7-10, hier-7. 8 Bösl/ Klein/ Waldschmidt, Disability History (s.-Anm.-7). Denn die Frage ist ja, wie zwingend dieses Othering 6 von den biblischen Texten angelegt ist? Und was es für die Rezeption der Heilungserzählungen bedeutet? Insbesondere die letztgenannte Ebene soll im Folgenden in den Blick genommen werden. 2. Annäherungen an das Phänomen impairment/ disability in der Antike und dessen Rezeption Jede Form von Ableismus oder Othering setzt voraus, dass eine Mehrheits‐ gemeinschaft oder „Wir“-Gruppe bestimmte Attribute als Norm setzt und diejenigen, die als abweichend wahrgenommen werden, als nicht dazugehörig definiert. Behinderung als Zuschreibung markiert eine gesellschaftlich marginalisierte Position und hat immer wieder, ähnlich wie das „Fremde“, das „Schwache“ oder das „Andere“, entweder soziale Ungleichheit begründet oder aber als Legitimation für die Aufrecht‐ erhaltung gesellschaftlicher Hierarchien gedient. 7 Aus Sicht der Dis/ ability Studies subsumiert der Begriff „Behinderung“ eine Vielzahl unterschiedlicher Erscheinungsformen von gesundheitsrelevanter Dif‐ ferenz. 8 Allerdings entscheidet der historische Kontext, wie die Zuordnung zu dieser Kategorie verläuft und welche Folgen sie hat. Auf diesen historischen Kontext soll somit zunächst der Blick gerichtet werden, denn es drängen sich Fragen auf. Laut dem Global Report on Health Equity for Persons with Disability der WHO aus dem Jahre 2022, sind aktuell un‐ gefähr 16% der Menschheit, d. h. ungefähr 1,3 Milliarden Personen in irgendeiner Form signifikant körperlich oder psychisch eingeschränkt. Selbstverständlich ist das eine Minderheit, aber man kann keineswegs sagen, dass diese verschwin‐ dend sei. Richtet man den Fokus dann aber in die Antike, ist davon auszugehen, dass die Prozentzahl von Menschen mit Behinderungen exponentiell höher ge‐ wesen sein wird als etwa in unseren zeitgenössischen westlichen Gesellschaften. Mit dem Aufstieg Roms zur Weltmacht lösten sich viele traditionelle Gebilde Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 30 Uta Poplutz 9 Vgl. Hans-Peter Hasenfratz, Die antike Welt und das Christentum, Darmstadt 2004, 14. 10 Lennard J. Davis, Foreword, in: Ellen Adams (Hg.), Disability Studies and the Classical Body. The Forgotten Other (Routledge Studies in Ancient Disabilities), London/ New York 2021, xv-xix, hier-xvii. 11 Dazu ausführlich Edith Hall, The immortal forgotten other Gang. Dwarf Cedalion, Lame Hephaestus, and Blind Orion, in: Adams (Hg.), Disability (s. Anm. 10), 215-236, bes.-223-230. 12 Vgl. Davis, Foreword (s.-Anm.-10), xvi. wie Familienverbände oder dörfliche Gemeinschaften auf; zugleich führte eine große, zum Teil erzwungene Mobilität ehemals sesshafter Bevölkerungsteile zur Destabilisierung der antiken Gesellschaften. 9 In instabilen und sich durch starke Migration in Bewegung befindenden Gesellschaften kommt es wiederum häufiger zu Raubüberfällen (vgl. Lk 10,25-37) und organisiertem Banditentum mit den damit verbundenen Schädigungen von Personen; vor allen Dingen aber zählten kriegerische Auseinandersetzungen inklusive Plünderungen und Brandschatzungen zur wahrscheinlichen Realität, mit der man im Laufe seines Lebens zu rechnen hatte. In einer Welt, die geprägt war von Schadensfällen und Unglücken, von kleineren oder größeren Naturkatastrophen, von Krankheiten, chronischen Gebrechen oder Infektionen, mit denen wir es in der heutigen westlichen Welt angesichts des medizinischen Fortschritts, hoher Hygienestan‐ dards in Kliniken und insbesondere auch bei Geburten nicht mehr zu tun haben, gehörten Menschen mit sichtbaren Beeinträchtigungen zur Alltagswirklichkeit. Das wiederum wirft die Frage auf: „Was the other in the ancient world actually an other? “ 10 Das Problem, das in den Dis/ ability Studies in den letzten Jahren deutlich markiert wurde, ist nämlich, dass unser Blick auf die griechisch-römische Antike durch die in Museen ausgestellten perfekt modellierten Figuren und Büsten sowie ideale dekadente oder intellektuelle Szenen reicher Oberschichtangehö‐ riger auf Fresken oder Mosaiken geprägt ist. Selbstverständlich gibt es mytho‐ logische Ausnahmen wie etwa Hephaistos, den Sohn des Zeus und der Hera, der klein, hässlich und gelähmt (χωλός - chōlos, Homer, Ilias 18,397) auf die Welt kam und den seine Mutter deshalb vom Olymp ins Meer schleuderte 11 ; auch der Kyklop Polyphemos, der nur ein Auge besaß (vgl. Hesiod, Theogonie-139-145), von dem Homer aber betont, er sei der „göttlichste und stärkste von allen Ky‐ klopen“ (Homer, Odyssee 1,70), oder der blinde Seher Teiresias, der in zahlreichen antiken Werken begegnet, wären hier einzustellen. Doch eine normale blinde Frau, ein gewöhnlicher tauber Mann oder ein mobilitäseingeschränktes Kind begegnen uns nicht. 12 Und interessanterweise irritieren die zahlreichen beschädigten Figuren, die wir in Museen oder Bildbänden bestaunen können, und bei denen im Laufe der Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Stereotype Fremde? 31 Zeit Gliedmaße oder ganze Köpfe verlorengegangen sind, diese Wahrnehmung nicht. Stattdessen substituieren wir automatisch die Beschädigungen - etwa die fehlenden Arme der Venus von Milo 13 oder den nicht mehr vorhandenen Kopf der Nike von Samothrake - und können sie ohne Probleme als perfekte, ikonische Kunstwerke feiern. Gerade die klassischen Marmorstatuen haben die Rezeption von vollkommenen Körpern und ihrer Wertschätzung in der Antike geprägt und führen automatisch zu der Annahme, behinderte Körper wurden marginalisiert. Das durch solche Prozesse evozierte Bild der antiken Gesellschaft ist aber unvollständig, wenn nicht falsch. Behinderungen und Krankheiten waren nicht die Ausnahme, sondern ein Alltagsphänomen, das einem überall begegnete und das einen auch selbst treffen konnte. Insbesondere die griechischen Papyri geben hier Aufschluss. 14 Denn auch für die Antike galt der Grundsatz, der heute immer noch virulent ist: Wer jung und gesund stirbt, kann Heldenstatus gewinnen. Wer aber alt wurde, machte zwangsläufig irgendwann in seinem Leben Erfahrungen mit Verwundungen, Krankheiten oder Behinderungen - sei es im physischen oder im mentalen Bereich. 15 Wenn diese Annahme stimmt, dann könnte es durchaus sein, dass wir in unseren heutigen westlichen Gesell‐ schaften Menschen mit Behinderungen, die im Straßenbild so gut wie nicht mehr vorkommen, deutlich mehr ausgrenzen, als es möglicherweise in der Antike der Fall gewesen ist: „So might the ‚other‘ actually be less othered than now? Would it be the case that there is not so much a forgotten other as there was a self that was only later othered as disability became less common? “ 16 Wenn das eine richtige Vermutung ist, müsste dies nicht zuletzt auch aus moralisch-ethischen Gründen zwingend einen Perspektivwechsel nach sich ziehen. 17 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 32 Uta Poplutz 13 Dazu Amanda Kubic, Cripping Venus. Intersections of Classics and Disability Studies in Contemporary Receptions of the Venus de Milo, in: Anastasie Bakogianni/ Luis Unceta Gómez (Hg.), Classical Reception. New Challenges in a Changing World (Trends in Classics - Pathways of Reception-9), Berlin/ Boston-2024, 239-263. 14 Instrukiv dazu Peter Arzt-Grabner, Behinderungen und Behinderte in den griechischen Papyri, in: Rupert Breitwieser (Hg.), Behinderungen und Beeinträchtigungen/ Disability and Impairment in Antiquity (BAR International Series-2359), Oxford-2012, 47-55. 15 Vgl. Ellen Adams, Disability Studies and the Classical Body. The forgotten Other. Introduction, in: dies. (Hg.), Disability Studies (s.-Anm.-10), 1-36, hier-2. 16 Davis, Foreword (s.-Anm.-10), xvii. 17 Vgl. Adams, Introduction (s.-Anm.-15), 2. 18 Louise A. Gosbell, „The Poor, the Crippled, the Blind, and the Lame“. Physical and Sensory Disability in the Gospels of the New Testament (WUNT II/ 469), Tübingen 2015, 10. 19 Vgl. Lena Nogossek-Raithel, Dis/ ability in Mark. Representations of Body and Healing in the Gospel Narrative (BZNW-263), Berlin/ Boston-2023, 9. 20 Candida R. Moss, Mark and Matthew, in: Sarah J. Melcher/ Mikeal Carl Parsons/ Amos Yong (Hg.), The Bible and Disability. A Commentary (Studies in Religion, Theology, and Disability), Waco-2017, 275-301, hier-284. 21 Vgl. Moss, Mark and Matthew (s.-Anm.-20), 284. 3. Die Charaktere/ Figuren in den neutestamentlichen Heilungserzählungen Die neutestamentlichen Heilungserzählungen sind, wie das eingangs ange‐ führte Zitat von Dorothée Wilhelm veranschaulicht, in Bezug auf ein solches Othering insofern besonders problematisch, als sie nicht nur Menschen/ Figuren mit diversen körperlichen Beeinträchtigungen skizzieren, sondern dezidiert auf die Überwindung der Behinderungen abzielen: die Heilung, das heißt die Transformation in einen „gesunden“ physischen Zustand wird von der Textlogik her durchweg positiv bewertet und mit der Durchsetzung der Herrschaft Gottes verknüpft. „The removal of disability is thus seen as a foreshadowing of the full restoration of all humanity at the eschaton.“ 18 Das bedeutet, dass die Wechselbeziehung zwischen einem behinderten und einem kontrastierenden „normalen“ Körper nicht nur implizit begegnet, sondern dezidiertes Thema der Heilungserzählungen ist. Dass darüber hinaus diese Dis/ ability-Transformation auf der Ebene der story durch einen physisch aktiven Jesus durchgeführt wird, unterstreicht die körperliche Differenz zwischen Heiler und Geheilten. 19 In der Erzähllogik der neutestamentlichen Heilungsgeschichten sind die Kranken/ Behinderten somit tatsächlich die stereotypen Fremden, denen die Funktion zukommt, die Wundertätigkeit Jesu zu untermalen, indem ihr devianter Zustand nicht nur „korrigiert“, sondern gänzlich aufgehoben wird. Wenn dann noch körperliche Unversehrtheit und der Glaube an Jesus sachlogisch miteinander verknüpft werden (vgl. Mk 1,40; 9,23f.; 10,47-52; wörtlich in 5,34 und 10,52: „Dein Glaube hat dich gerettet“), führt das in der Rezeption zwangsläufig dazu, dass christusgläubige Personen/ Figuren immer auch gesunde Körper haben: „The prominence of these healing stories and the constant association of faith and wholeness has a marginalizing effect for persons of disability.“ 20 Denn indem die Erfahrungen von disability und Krankheit durch deren Überwindung quasi zum Verstummen gebracht werden, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in der basileia Gottes kein Raum für Behinderungen ist. 21 Zieht man dann noch die Verbindung von Krankheit und Sünde hinzu, die bei Markus Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Stereotype Fremde? 33 22 Moss, Mark and Matthew (s.-Anm.-20), 286. 23 Reinhard von Bendemann, „Many-coloured Illnesses…“ (Mk 1: 34). On the Significance of Illnesses in New Testament Therapy Narratives, in: Michael Labahn/ Bert Jan Lietaert ebenfalls prominent begegnet (Mk 2,1-12), ist der Effekt für heutige Leserinnen und Leser gravierend: „The role of Jesus as physician of souls and the portrayal of sinners as the sick is as striking as it is unsettling.“ 22 Vor dem Hintergrund des skizzierten griechisch-römischen Befundes lässt sich immerhin positiv hervorheben, dass in den neutestamentlichen Heilungs‐ geschichten ganz normale Charaktere mit Krankheiten/ Behinderungen be‐ gegnen, die durch Jesu Aktionen vom Rand ins Zentrum rücken. Dazu muss man sich nur das Figurenrepertoire des Markusevangeliums vor Augen führen, das Vorlage für die anderen synoptischen Evangelien ist: In der Synagoge von Kafarnaum sitzt ein Mann, der von einem unreinen Geist besessen ist (Mk 1,23-28); die Schwiegermutter des Petrus liegt mit Fieber im Bett (1,29- 31); ein Aussätziger fleht Jesus irgendwo in Galiläa um Hilfe an (1,40-42); zurück in Kafarnaum wird einer, der nicht gehen kann (paralytikós), durch das Dach des Hauses, in dem sich Jesus befindet, hinabgelassen (2,1-12); in einer Synagoge hält sich erneut an einem Sabbat ein Mann mit einer verdorrten Hand auf (3,1-6); im Gebiet von Gerasa lebt ein Mann in den Grabstätten und ist von einem unreinen Geist besessen, dessen Name Legion ist (5,1-20); ein Synagogenvorsteher mit Namen Jaïrus fleht für seine im Sterben liegende Tochter und zeitgleich wendet sich eine seit zwölf Jahren an Blutausfluss leidende Frau an Jesus (5,21-43); eine namenlose Syrophönizierin im Gebiet von Tyros bittet Jesus um die Heilung ihrer Tochter, die einen unreinen Geist hat (7,24-30); am See von Galiläa führt man einen Taubstummen zu Jesus (7,31-37); in Betsaida bringt man ihm einen Blinden, für dessen Heilung Jesus jedoch zwei Anläufe benötigt (8,22-26); ein von einem stummen Geist besessener Junge wird von seinem Vater zu den Jüngern gebracht, die ihn nicht heilen können, woraufhin Jesus selbst einen Exorzismus durchführt (9,17-29); und als Jesus und seine Jünger schließlich Jericho verlassen, begegnet ihnen der blinde Bettler Bartimäus, der Sohn des Timäus (10,46-52). Alle hier aufgezählten Charaktere werden von Jesus gesehen und geheilt. Sie halten sich an alltäglichen Plätzen und Orten auf und werden häufig von Angehörigen oder Bekannten begleitet, die sich um sie kümmern, sie zu Jesus bringen oder ihn stellvertretend um Hilfe bitten. Das signalisiert aber deutlich, dass die Kranken keineswegs automatisch zur Gruppe von sozial Marginalisierten oder Ausgeschlossenen zählen müssen. Dabei ist es interessant, wie Reinhard von Bendemann aufgezeigt hat, wie wenig Aufmerksamkeit die Exegese auf die genaue Art der Krankheiten oder Behinderungen in Heilungserzählungen gelegt hat. 23 Das spiegelt zum einen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 34 Uta Poplutz Peerbolte (Hg.), Wonders never cease. The Purpose of Narrating Miracle Stories in the New Testament and its Religious Environment (LNTS 288), London/ New York 2006, 100-124, hier-100f. 24 Zu dieser Übersetzung vgl. Markus Schiefer Ferrari, Gestörte Lektüre. Dis/ abilitykri‐ tische Hermeneutik biblischer Heilungserzählungen am Beispiel von Mk 2,1-12, in: Bernd Kollmann/ Ruben Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wun‐ dererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven (WUNT-I/ 339), Tübingen-2014, 627-646, hier bes.-639-643. 25 Vgl. Schiefer Ferrari, Gestörte Lektüre (s.-Anm.-24), 641. 26 Schiefer Ferrari, Gestörte Lektüre (s.-Anm.-24), 641. die erwähnte Textpragmatik wider, in der es in erster Linie um die Darstellung Jesu als vollmächtigen Wundertäter geht; es hängt aber auch mit der häufig unspezifischen Beschreibung der Notlage zusammen, die viele Interpretations‐ spielräume eröffnet. Nimmt man beispielsweise den Mann, der nicht gehen kann, aus Mk 2,1- 12, 24 wird deutlich, dass die Beeinträchtigung, die lediglich mit παραλυτικός (paralytikos) beschrieben wird, in keiner Weise eine genaue Diagnose der Krankheit zulässt. Der Mann kann nicht gehen, das ist alles, was wir erfahren. Die Ursachen dafür können vielfältig sein: er könnte einen Schlaganfall oder eine Kopfverletzung erlitten haben, die Lähmung ließe sich aber auch auf gebrochene Beine, Verwachsungen oder psychosomatische Störungen zurück‐ führen. 25 Ausschließen kann man mit großer Wahrscheinlichkeit moderne me‐ dizinische Diagnosen, die in der heutigen Rezeption des Textes aber vermutlich am häufigsten mit Mk 2,1-12 assoziiert werden: eine Querschnittlähmung (Paraplegie oder Tetraplegie) ist wohl eher unwahrscheinlich, da diese in der Antike meist letal verlief: Selbst wenn jemand das Anfangstrauma, etwa einen schweren Sturz, eine Schwert‐ verletzung oder eine pathogene bzw. autoimmune Störung, überlebt haben sollte, wäre er in einer Welt ohne Antibiotika bald an einer Infektion gestorben. 26 Doch wie gesagt, mehr als Annäherungen an eine Diagnose lässt der Text nicht zu, da diese für dessen Pragmatik irrelevant ist. Zurück zur Beobachtung, dass die Kranken im Markusevangelium häufig von Angehörigen oder Begleitern zu Jesus gebracht werden. Daraus lässt sich m. E. folgern, dass sie sozial zumindest nicht völlig isoliert waren. Nehmen wir erneut Mk 2,1-12 als Beispiel, so sehe ich es mit Markus Schiefer Ferrari überhaupt nicht als wahrscheinlich an, dass die Hilfe, die der gelähmte Mann von vier Männern (Mk 2,3) erhält, auf soziale Abhängigkeit und Armut schließen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Stereotype Fremde? 35 lassen. 27 Im Gegenteil: Vielleicht kann man daraus ableiten, dass der Mann wohlhabend war und sich professionelle Helfer leisten konnte. Wäre er schwer marginalisiert, verarmt und vereinsamt, hätte sich möglicherweise niemand bereit erklärt, ihn zu Jesus zu tragen. Natürlich wissen wir es nicht, erneut aus dem Grund, weil der Text daran kein Interesse hat. Aber es ist zumindest aufschlussreich - und darum geht es mir hier -, dass in der Rezeption sehr schnell Krankheit mit Armut und prekären Verhältnissen verknüpft wird und die Annahme, wir hätten es mit einem gepflegten reichen Mann, der lediglich nicht gehen kann, zu tun, eher abwegig erscheint. Erneut zeigt sich, dass das Othering auch nachträglich bei der Lektüre in den Text eingetragen werden kann. 28 Das wird von Peter Arzt-Grabners Analysen untermauert. 29 Er hat griechi‐ sche dokumentarische Papyri, Ostraka und Wachstäfelchen untersucht und anhand einschlägiger Beispiele den alltäglichen Umgang mit Menschen mit Be‐ hinderungen herausgearbeitet. Zunächst einmal fällt auf, dass die Bezeichnung der Art der Behinderung - wie ja zumeist auch in den Evangelien - ganz einfach durch das äußerlich wahrnehmbare Erscheinungsbild geschieht, so dass keine genaue medizinische Diagnose möglich ist. Dabei ist es mehr als interessant, dass in den Papyri Blinde, Lahme oder Gehörlose nur ausgesprochen selten als Bittsteller auftreten, die aufgrund ihrer körperlichen Beeinträchtigung einen besonderen Anspruch auf irgendeine Unterstützung oder Rücksichtnahme erheben […]. Eher begegnen sie unter der arbeitenden und geschäftstreibenden Bevölkerung wie andere auch. 30 Als auch für Mk 2,1-12 besonders erhellendes Beispiel kann man einen ge‐ wissen Athenodoros anführen, der einen Mann namens Seleukos im Brief BGU XVI 2614 (21 v. Chr.-5 n. Chr.) darum bittet, ihm „Herakles, den Lahmen (‘Ηρακλῆν τὸν χωλόν - Hēraklēn ton chōlon), zu schicken“ (Z. 11-13), um kleinere Erledigungen für ihn auszuführen. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 36 Uta Poplutz 27 So etwa völlig spekulativ Hanna Roose, Hindernisse überwinden (Die Heilung eines Gelähmten), in: Ruben Zimmermann u. a. (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Bd. 1: Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 559-564, hier 562: „Der Kranke auf der Bahre ist scheinbar vollständig gelähmt. Er ist nicht (mehr) in der Lage, sich seinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, und ist abhängig von der Fürsorge anderer.“ 28 Vgl. Apg 9,33, wo es heißt, Aeneas habe acht Jahre lang das Bett nicht verlassen: er muss also professionell gepflegt worden sein, vgl. Schiefer Ferrari, (Un)gestörte Lektüre (s.-Anm.-3), 20. 29 Vgl. zum Folgenden Arzt-Grabner, Behinderungen (s.-Anm.-14), bes.-48-50. 30 Arzt-Grabner, Behinderungen (s.-Anm.-14), 48. In einer ähnlichen Fluchtlinie liegt der nur noch bruchstückhaft erhaltenen Brief P.Berl.Möller 11 vom 30. Januar 33 n. Chr.; hier wird in Zeile 2 ein namen‐ loser „Lahmer im Lagerbezirk“ erwähnt, der dort als Handwerker tätig war. Für seine Identifizierung war die Behinderung offensichtlich ausreichend, so dass auf die Namensnennung zugunsten des körperlichen Erkennungsmerkmals verzichtet werden konnte 31 : und der Lahme im Lagerbezirk (ὁ ἐν τῆι παρεμβολῆι χωλός - ho en tēi parembolēi chōlos), der dir die drei Ruhebetten (τρεῖς λεκτείκας - treis lekteikas) gegeben hat, schreit und sagt nichts anderes, als dass es ein Jahr her ist, seit du sie bekommen hast und ihm nicht das Geld geschickt hast“ (Z.-2-5). Diese beiden Beispiele bekräftigen exemplarisch, wie vorsichtig man bei der Einschätzung der Art der Behinderung des Mannes, der nicht gehen konnte, aus Mk 2,1-12 sein sollte. Denn der inschriftliche Befund, den Arzt-Grabner aufgearbeitet hat, lässt über die soziale und wirtschaftliche Relevanz von Behinderungen einige Schlussfolgerungen zu: Abgesehen von Befreiungen von der Kopfsteuer und von Liturgien, scheinen Behin‐ derungen im Allgemeinen weder mit einer expliziten Diskriminierung noch mit einer Privilegierung oder einem besonderen Schutz verbunden gewesen zu sein. 32 Offensichtlich waren Menschen mit Behinderungen über ihr äußeres Erschei‐ nungsbild identifizierbar, so dass die Nennung der Einschränkung den Eigen‐ namen überformen konnte. Darüber hinaus lässt sich schlussfolgern, […] dass die individuelle Identität von Behinderten im Alltag der griechisch-römi‐ schen Antike weitaus mehr über ihre Behinderung definiert wurde als über die familiäre Abstammung oder den Beruf. Dies hatte aber offensichtlich nicht zur Folge, Behinderte automatisch als minderwertige Arbeitskräfte anzusehen. Eindrückliche Beispiele belegen, dass Behinderte für Tätigkeiten eingesetzt wurden, für die wir sie heute häufig als ungeeignet einstufen würden. 33 Und ein letzter Punkt. Wie zweideutig bestimmte Annahmen sind, lässt sich auch am verwendeten Terminus κράββατος (krabbatos) ablesen, den man mit „Tragebett“, „Pritsche“ oder „Matratze“ übersetzen kann (Mk 2,4.11f.); die Seitereferenten ändern diesen Terminus in κλίνη (klinē, Mt 9,2.6; Lk 5,18) bzw. κλινίδιον (klinidion, Lk 5,24), was ebenfalls „Tragebett“ oder „kleineres Bett“ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Stereotype Fremde? 37 31 Weitere Belege: Arzt-Grabner, Behinderungen (s.-Anm.-14), 49f. 32 Arzt-Grabner, Behinderungen (s.-Anm.-14), 53. 33 Arzt-Grabner, Behinderungen (s. Anm. 14), 54; vgl. auch Schiefer Ferrari, Gestörte Lektüre (s.-Anm.-24), 642f. bedeuten kann, aber auch für andere Möbel wie Speisesofas, Ruhebetten oder sogar Totenlager verwendet wird und damit ein breiteres Bedeutungsspektrum aufweist. 34 Aufgrund dessen aber für Markus zu folgern, dass krabbatos das „Bett des armen Mannes“ 35 sei, trägt die Bedeutung vom markinischen Text her in den Begriff ein und nicht aufgrund antiker Belege. Bei Epiktet wird mit krabattos nämlich das Bett in einem Gasthaus (πανδοκεῖον - pandokeion) bezeichnet, das dem Schlafen auf dem nackten Boden kontrastiert wird (Dissertationes-1,24,14). Dass krabbatos „derber“ und klinē bzw. klinidion „eleganter“ 36 seien, geben die wenigen antiken Quellen schlichtweg nicht her. Hält man hingegen den Gedanken offen, dass der Mann, der nicht gehen kann, wohlhabend sein könnte, würde es durchaus Sinn machen, dass mit krabbatos einfach ein leichteres Bett bezeichnet wird: dieses wäre weitaus besser für den Transport geeignet, als ein massives Holzbett. Über die Wertigkeit ist damit aber nichts gesagt. 4. Perspektivwechsel Wie dargelegt, interessieren sich die neutestamentlichen Heilungserzählungen nur marginal bis gar nicht für die genaueren Umstände der kranken/ behinderten Figuren, weder vor der Heilung noch danach. Vielmehr dienen diese Figuren vorrangig der Charakterisierung Jesu als wirkmächtiger Wundertäter. 37 Aus diesem Grunde hat Nancy Eiesland einen Perspektivwechsel vorge‐ schlagen. In ihrer Monografie „The Disabled God“ entwickelt sie eine „Befrei‐ ungstheologie der Behinderung“. 38 Biografische Initialzündung war dabei nach eigener Darstellung die Lektüre einer Passage der Emmauserzählung (Lk 24,36- 39) sowie ihre eigene spirituelle Entfremdung, die sie als behinderte Theologin zunehmend empfand. 39 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 38 Uta Poplutz 34 Vgl. Liddell-Scott, 961. 35 Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus (Mk 1-8,26) (EKK 2,1), Neukir‐ chen-Vluyn 5 1998, 98; auch Joel Marcus, Mark 1-8. A New Translation with Introduction and Commentary (AncB 27), New Haven 1999, 216. Die Belege, die Liddell-Scott anführen, geben das nicht her. 36 So Martin Ebner/ Bernhard Heininger, Exegese des Neuen Testaments. Ein Arbeitsbuch für Lehre und Praxis (UTB-Theologie-2677), Paderborn- 4 2018, 149. 37 Vgl. Warren Carter, „The blind, lame and paralyzed“ ( John 5: 3). John’s Gospel, Disability Studies, and Postcolonial Perspectives, in: Candida R. Moss/ Jeremy Schipper (Hg.), Disability Studies and Biblical Literature, New York-2011, 129-150, hier-131. 38 Nancy L. Eiesland, The Disabled God. Toward a Liberatory Theology of Disability, Nashville-1994. 39 Nancy L. Eiesland, Dem behinderten Gott begegnen. Theologische und soziale An‐ stöße einer Befreiungstheologie der Behinderung, in: Stephan Leimgruber/ Annebelle Während die trauernden Jünger über Jesus redeten, „trat er selbst in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! “ (24,36). Doch die Jünger erschraken und erkannten ihn nicht. Da sagte Jesus: Seht meine Hände und meine Füße, dass ich es (selbst) bin. Betastet mich und seht: Kein Geist hat Fleisch und Knochen, wie ihr seht, dass ich (sie) habe. Und dies sprechend, zeigte er ihnen die Hände und die Füße (24,39f.). Eiesland kommentiert dazu: „[…] hier löst der auferstandene Christus Gottes Verheißung ein, Gott würde mit uns sein, Leib geworden wie wir sind - behindert und göttlich.“ 40 Und in der Tat ist der den Emmausjüngern Erscheinende nur dadurch als Jesus zu identifizieren, dass er sich als Gekreuzigter zu erkennen gibt. Zwar wird es in Lk 24,39f. nicht explizit ausgesprochen (anders als in Joh 20,25), aber Voraussetzung des Erkennensprozesses der Jünger sind die sichtbaren Wundmale an Jesu Händen und Füßen. 41 Nochmal Eiesland: Der Urgrund christlicher Theologie ist die Auferstehung Jesu Christi. Dennoch wird der Auferstandene selten erkannt als Gottheit, deren Hände, Füße und Seite die Zeichen deutlicher körperlicher Versehrtheit tragen. Der auferstandene Christus der christlichen Tradition ist ein behinderter Gott. 42 Diese etwas provokante Rede vom „behinderten Gott“ erscheint mir nützlich. Denn sie hilft, den Abstand zwischen dem physisch gesunden Heiler Jesus, der in den Wundergeschichten zumindest auf der Oberfläche dominant ins Auge sticht, und den Menschen/ Figuren mit disabilities, denen er begegnet, abzuschwächen. Jesus wird - wenn wir nochmal das Markusevangelium als Referenztext heranziehen - von Anfang an als der wohlwollende und zugewandte Wunder‐ täter eingeführt (vgl. 1,40-45; 5,19), der mit der ihm innewohnenden Kraft und in Vollmacht heilt, und zwar überall: in Synagogen, in Privathäusern, am Wegesrand und in konkreten Begegnungen mit einem immer größer werdenden Radius. 43 Wenn man aber genauer hinsieht, erkennt man, dass die Begegnung mit Menschen, die bestimmte Arten von Behinderungen haben, auch auf Jesus selbst handfeste physische und soziale Auswirkungen hat, er also keineswegs Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Stereotype Fremde? 39 Pithan/ Martin Spieckermann (Hg.), Der Mensch lebt nicht vom Brot allein (Forum für Heil- und Religionspädagogik-1), Münster-2001, 7-25. 40 Eiesland, Gott (s.-Anm.-39), 10. 41 Vgl. Michael Wolter, Das Lukasevangelium (HNT-5), Tübingen-2008, 790. 42 Eiesland, Gott (s.-Anm.-39), 10f. 43 Vgl. Nogossek-Raithel, Dis/ ability (s.-Anm.-19), 260f. der unberührte und über allem strahlende (antike) Held ist. Besonders stark ist diese Wechselwirkung in den Fällen, wo es sich um sozial Stigmatisierte handelt. So muss Jesus sich etwa nach der Heilung eines Aussätzigen physisch zurück‐ ziehen, weil der Geheilte gegen seinen Wunsch überall von dem Geschehenen erzählt, so dass sich Jesus in keiner Stadt mehr zeigen kann, sondern einsame Orte aufsuchen muss (Mk 1,44f.); der Zulauf ist sogar so groß, dass er zu seinem Schutz ein Boot einsetzen muss, damit er von der Menschenmenge nicht erdrückt wird (3,9); nach der Heilung des Besessenen von Gerasa bitten die Bewohner Jesus, ihr Gebiet zu verlassen (5,17); zugleich führen die Dämo‐ nenaustreibungen (3,11.15) dazu, dass Jesus selbst mit einem Stigma belegt wird: seine Familie will ihn ergreifen, das heißt mit Gewalt nach Hause zurückbringen, weil er „außer sich“ sei (3,21), während die Jerusalemer Schriftgelehrten, die sich extra nach Galiläa aufgemacht haben, annehmen, er habe einen Pakt mit Beelzebul geschlossen (3,22). Die Begegnung Jesu mit Menschen/ Figuren mit Behinderungen erzeugt eine Wechselwirkung: beide Seiten bleiben dabei nicht unberührt. Die nicht zuletzt dadurch generierten Anfeindungen führen bekanntermaßen dazu, dass Jesus sich und seine Jünger selbst auf Leiden und Tod vorbereiten muss (8,31; 9,31; 10,33). Die Rede vom „behinderten Gott“ hilft, diese Wechselwirkung deutlicher in den Vordergrund zu stellen, wodurch die zumeist namenlosen Menschen/ Fi‐ guren mit Behinderungen meines Erachtens eine Aufwertung erfahren. Denn auch Jesus hat nach seiner Auferweckung einen versehrten Körper, der in der christlichen Rezeption aber nicht durchgängig präsent war und ist. Wie beim oben skizzierten Umgang mit antiken beschädigten Statuen, ist es problemlos möglich, diese Versehrtheit zu substituieren und ein unversehrtes Christusbild des Auferstandenen zu zeichnen. Doch die Evangelien berichten unmissver‐ ständlich davon, dass auch am Auferstehungsleib Christi die Wundmale deutlich sichtbar waren und als Erkennungszeichen für seine Jüngerinnen und Jünger dienten (Lk-24,39f.; vgl. Joh-20,20: „… da zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, dass sie den Herrn sahen“). Noch dezidierter erzählt es die Thomas-Episode Joh 20,24-29: Da Thomas bei der Erscheinung vor dem Zwölferkreis ( Joh 20,19-23) nicht anwesend war, sagt er: „Wenn ich nicht an seinen Händen das Mal der Nägel sehe und meinen Finger in das Mal der Nägel und meine Hand in seine Seite lege, werde ich nicht glauben“ (20,25); da fordert Jesus ihn auf, seine Wunden zu berühren (20,27), woraufhin Thomas ihn erkennt und sein Glaubensbekenntnis formuliert: „Mein Herr und mein Gott“ (20,28). Wenn man so will, kann man hier einen Rollentausch erkennen: Die Men‐ schen mit Behinderungen wurden von Jesus geheilt, er selbst wurde verwundet Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 40 Uta Poplutz und trägt diese Wunden auch nach seiner Auferstehung sichtbar am Leib. Lässt man sich auf die Logik dieses Perspektivwechsels ein, trägt das dazu bei, die in den Heilungserzählungen auftretenden Personen mit Behinderungen nicht einfach als stereotype Fremde zu sehen, sondern als prophetische Figuren, die davon künden, dass das Heil eben nicht unter allen Umständen und zwangs‐ läufig mit körperlicher Unversehrtheit einhergehen muss. Uta Poplutz ist seit 2024 Lehrstuhlinhaberin für Neutes‐ tamentliche Wissenschaften an der Otto-Friedrich-Univer‐ sität Bamberg. Zuvor war sie seit 2010 Universitätspro‐ fessorin für Biblische Theologie mit dem Schwerpunkt Exegese und Theologie des Neuen Testaments an der Ber‐ gischen Universität Wuppertal. Ihre Forschungsschwer‐ punkte sind unter anderem die johanneische Literatur, frühchristliche Wun‐ dererzählungen und narratologische Zugänge zu den neutestamentlichen Texten. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0002 Stereotype Fremde? 41
