ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2024-0011
1216
2024
2754
Dronsch Strecker VogelPaulus aus der Perspektive der Dis/ability Studies
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2024
Dierk Starnitzke
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Paulus aus der Perspektive der Dis/ ability Studies Dierk Starnitzke 1. Einführung Im Kontext der dis/ ability Studies ist zuerst das diesem Beitrag zugrundlie‐ gende Verständnis von dis/ ability zu klären. Hilfreich dafür ist zunächst die Unterscheidung zwischen Krankheit und Behinderung. Behinderung hat im Vergleich mit Krankheit, die mehr oder weniger individuell diagnostizierbar ist, einen stärkeren Bezug auf soziale Fragen. Seit dem „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ der Vereinten Nationen, das in Deutschland 2009 ratifiziert wurde, ist zunächst zu berücksichtigen, dass „das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt“, es handelt sich um ein „evolving concept“. Das bedeutet, dass herkömmliche Verständnisse von Behinderung zurzeit in einer starken Veränderung begriffen sind. Für die Definition von Behinderung im besagten „Übereinkommen“ ist dabei die Wechselwirkung von persönlichen Beeinträchtigungen und gesellschaftlichen Barrieren konstitutiv. In der Präambel heißt es dazu: in der Erkenntnis, (…) dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern (Präambel, e). Behinderung ist also prioritär eine Form der Ausgrenzung vom Leben in der menschlichen Gemeinschaft und der Verhinderung von Teilhabe an der Gesellschaft. Zu einer Behinderung kommt es dabei erst, wenn die individuelle Beeinträchtigung eines Menschen so unzureichend unterstützt wird, dass ge‐ sellschaftliche Barrieren wie z. B. Treppen, aber auch mentale Einstellungen, von ihm nicht überwunden werden können. Anders herum betrachtet entsteht Behinderung erst dadurch, dass die Gesellschaft Barrieren verschiedenster Art, z. B. Sprachbarrieren, aufbaut, die bestimmte Menschen aufgrund ihrer Eigenschaften nicht überwinden können und dadurch an der Teilhabe an menschlicher Gemeinschaft gehindert werden. Beeinträchtigung lässt sich dabei Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 1 Hans-Walter Schmuhl, Welt in der Welt. Heime für Menschen mit geistiger Behinderung in der Perspektive der Disability History (Beiträge zu diakonisch-caritativen Disability Studies-6), Stuttgart-2013,-14. 2 Schmuhl, Welt in der Welt (s.-Anm.-1),-14. 3 Als authentische Paulusbriefe betrachtet dieser Beitrag 1Thess, 1Kor und 2Kor, Gal, Phil, Phlm und Röm. mit dem Bundesteilhabegesetz, Sozialgesetzbuch IX, § 2, Abs. 1 definieren als eine Abweichung von dem für das Lebensalter typischen Körper- und Gesundheitszustand. Mit dieser Definition wird gründlich mit einem defizito‐ rientierten Behinderungsbegriff gebrochen, der einzelne Personen unter dem Aspekt fehlender Fähigkeiten betrachtet. Stattdessen wird zentral die Frage in den Blick genommen, wie sich soziale Beziehungen unter der Voraussetzung diversifizierter Eigenschaften und Fähigkeiten beteiligter Menschen so gestalten lassen, dass niemand dabei ausgeschlossen wird. Dieser Ansatz lässt sich auf der Basis der dis/ ability Studies noch stärker akzentuieren. Man kann Behinderung dann darüber hinaus auch als eine soziokulturelle Konstruktion verstehen, durch die in Form von kommunikativen sozialen Zuschreibungsakten eine Behinderung eines Menschen mit gewissen Beeinträchtigungen oder Abweichungen von einer Norm erst konstituiert wird. Der Konstruktionsprozess ist dabei rekursiv: „So wie ‚Behinderung‘ in Abgrenzung von der Norm kulturell konstruiert wird, so wird gleichzeitig auch die soziokulturelle Norm durch den Blick auf ‚verkörperte Andersheiten‘ definiert.“ 1 In Forschungen der Dis/ ability History wurde deutlich, dass Behinderungen bei Personen, die gar nicht besonders beeinträchtigt sind, gerade erst durch solche Zuschreibungsprozesse entstehen können. Demnach werden aus ‚verkörperten Andersheiten‘ (embodied difference) in kom‐ plexen Zuschreibungs-, Deutungs- und Benennungsprozessen Begriffe von ‚Behinde‐ rung‘ abgeleitet. Dieser Ansatz hat gegenüber streng materialistischen Interpretati‐ onsmodellen den großen Vorteil, dass er die diskursive Eben der Begrifflichkeiten und Sprachregelungen, der Topoi und Narrative, der Argumentationsmuster, der emotionalen Ressourcen und des moralischen Kapitals (…) in den Blick nimmt. 2 Dieses differenzierte Verständnis der Unterscheidung von ability und disability wird im Folgenden als hermeneutischer Zugang zu den biblischen Texten und besonders den authentischen Paulusbriefen vorausgesetzt. 3 Zuvor wird jedoch in einer kurzen Betrachtung etwas allgemeiner auf den Zugang zu den Themen Beeinträchtigung und Behinderung in anderen biblischen Texten eingegangen. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 44 Dierk Starnitzke 2. Menschen mit Beeinträchtigungen in der Bibel 2.1. Im Alten Testament Im Alten Testament werden vor allem vier Menschengruppen mit konkreten körperlichen Beeinträchtigungen benannt: Stumme (z. B. Ps 38,14; Spr 31,8); Taube (z. B. Jes 29,18; Ps 38,14); Blinde (z. B. 2Sam 5,6-8; Jes 29,18; 42,16-18; 59,10, Ps 146,8) und Gelähmte (z. B. 2Sam 5,6-8; 9,13; Jes 33,23; Spr 26,7, sowie die summarische Benennung dieser vier Gruppen in Jes-35,5f.). Es kann betont werden, dass die Menschen von Gott so geschaffen wurden (Ex 4,11). Dabei wird für die Thematisierung solcher Beeinträchtigungen nicht in erster Linie auf die körperlichen Phänomene abgehoben. Es kommen vor allem die sozialen Beziehungen zur Sprache. Damit geht es im Kern um Fragen der Ausgrenzung aus der Gemeinschaft und damit der Behinderung von Menschen mit Beeinträchtigungen. Die Einbeziehung von Menschen mit Beeinträchtigungen kann durch reli‐ giöse Institutionen und Prozesse entweder befördert oder überwunden werden. Offenbar gab es z. B. laut 2Sam 5,8 eine Regel, Blinde und Gelähmte nicht ins Haus zu lassen. Ausgrenzend wirkt auch eine Textstelle im Dtn, nach der Kas‐ traten keinen Zutritt zur Gemeinde haben sollen (Dtn 23,2, genau gegen diese Position spricht sich allerdings Jes-56,3-5 aus). Gerade in Bezug auf bestimmte heilige Orte können dann noch bestimmte Erwartungen an die Unversehrtheit der handelnden Personen hinzukommen. So werden z. B. in Lev 21,17-23 zwölf verschiedene Formen von Beeinträchtigungen oder Krankheiten genannt, die einen Priester vom Opferdienst ausschließen können. Demgegenüber wird in der Tora der Schutz von Blinden und Tauben ge‐ boten (z. B. Lev 19,14) und die schlechte Behandlung eines Blinden verflucht (Dtn 27,18). Die Unterstützung von Menschen mit Beeinträchtigungen wird besonders positiv dargestellt und angeraten, z. B. von Blinden und Gelähmten (Hi 29,15) oder von Stummen (Spr 31,8). Ein Gelähmter kann deshalb auch in einer Königsfamilie Akzeptanz finden (z. B. 2Sam 4,4; 9,1-13; 16,1-4; 21,7). Ein Mensch mit Sprachbeeinträchtigung kann sogar als Prophet tätig sein (Ez 3,26f.; 24,27; 33,22; siehe auch Ex-4,10-16). 2.2. Im Neuen Testament Die Darstellungen im Neuen Testament knüpfen an die alttestamentlichen an. Es ist bemerkenswert, dass Jesus nach den Traditionen der Evangelien sich oft längerfristig beeinträchtigten Menschen besonders zuwendet, die durch diese Beeinträchtigung bleibend geprägt und von Behinderung bedroht sind, z. B. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Paulus aus der Perspektive der Dis/ ability Studies 45 Taubstumme (Mk-7,31-37), Blinde (Mk-8,22-26), Gelähmte (Mk-2,1-12 mit den Parallelen bei Mt und Lk; Joh 5,5-13). Hinzu kommen seelische oder geistige Beeinträchtigungen, sie werden vielfach mit unreinen Geistern oder Dämonen in Verbindung gebracht (vgl. z.-B. Mk-1,23-28; 5,1-20; 9,14-28 mit Parallelen). Auch im Neuen Testament werden bei der Darstellung von Personen mit Behinderung regelmäßig aber nicht nur die physischen oder psychischen Ein‐ schränkungen, sondern auch die sozial-gesellschaftlichen Fragestellungen mit in den Blick genommen. So werden Menschen mit seelisch-geistiger Beeinträch‐ tigung als Einsame dargestellt (Mk 5,2-5), Gelähmte als in ihrer Bewegungslo‐ sigkeit Hilflose (Mk 2,14; Joh 5, 2-7), von Haut-Aussatz Betroffene als von der Gemeinschaft Ausgeschlossene (Lk-17,11f. in Verbindung mit Lev-13,45f.) usw. Einerseits kann die Vorstellung zitiert werden, dass das Vorhandensein einer Beeinträchtigung wie z. B. Blindsein mit den Sünden des betreffenden Menschen oder nahestehender Personen in Verbindung steht. Andererseits wird genau diese Verbindung von Sünde und Beeinträchtigung bzw. Behinderung entschieden zurückgewiesen ( Joh 9,1-7). Die in den Evangelien dargestellten Wunder Jesu haben oft den Sinn, nicht nur der Beeinträchtigung, sondern auch der Behinderung entgegen zu wirken, das heißt den betreffenden Menschen wieder in seine Gemeinschaft zurückzuführen (z.-B. Mk-5,18-20). Die grundlegende Aussage in den neutestamentlichen Texten ist, dass be‐ einträchtigte Menschen von Jesus grundsätzlich aufgenommen sind und dass keine Beeinträchtigung denkbar ist, die aus der menschlichen Gemeinschaft ausschließen sollte. Dem hochgradig seelisch-geistig Beeinträchtigten wird durch die Begegnung mit Jesus wieder die Möglichkeit gegeben, in seiner Familie zu leben (vgl. Mk 5,19). Die Aussätzigen werden rein gesprochen und wieder in die Gemeinschaft integriert (Lk 17,14). Programmatisch für die christliche Gemeinschaft ist darüber hinausgehend die Aussage des Äthiopiers in Apg 8,36. Nachdem er als Eunuch, also insofern als Mensch mit Beeinträch‐ tigung, gemäß Dtn 23,2 nicht der jüdischen Gemeinde angehören kann, versteht er durch die Predigt des Philippus die Bedingungslosigkeit der Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft und fragt: „Was hindert es (ti kōlyei), dass ich mich taufen lasse? “ Die Taufe als formelle Aufnahme in die Gemeinschaft folgt zur großen Freude des Eunuchen auf dem Fuße. Sie kann also grundsätzlich bedingungslos, ohne irgendwelche Einschränkungen aufgrund persönlicher Beeinträchtigungen erfolgen. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 46 Dierk Starnitzke 4 Siehe dazu ausführlich Michael Tilly, Behinderung als Thema des paulinischen Den‐ kens, in: Wolfgang Grünstädl, Markus Schiefer Ferrari (Hrsg.), Gestörte Lektüre. Disa‐ bility als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese (Behinderung - Theologie - Kirche. Beiträge zu diakonisch-caritativen Disability Studies-4), Stuttgart 2012, 67-80. 5 Wenn nicht anders angegeben, wird im Folgenden für die zitierten Bibelstellen die aktuelle Lutherübersetzung herangezogen. 6 Tilly, Behinderung als Thema (s.-Anm.-4), 72. 7 Martin Albl, „For Whenever I Am WEAK, Then I Am Strong“. Disability in Paul’s Epistles, in: Hector Avalos, Sarah J. Melcher, Jeremy Schipper (Hrsg.): This Abled Body. Rethinking Disabilities in Biblical Studies (SBL Semeia Studies 55), Leiden/ Boston-2007,-145-158, dort-154. 3. Behinderung und Beeinträchtigung bei Paulus 3.1. Terminologische Beobachtungen Für die allgemeine Beschreibung von Beeinträchtigungen werden bei Paulus verschiedene Begriffe verwendet. Der prominenteste Begriff ist astheneia als Gegenteil von Stärke, dynamis; daneben kommt auch aphrōn im Gegensatz zu phronēsis, Klugheit vor, alternativ dazu mōros. Die Begriffe werden jedoch in vielfältigster Weise gebraucht und erlauben deshalb an und für sich keinen spezifischen Zugang zu den Fragestellungen der dis/ ability Studies. 4 Astheneia kann als Grundbestimmung menschlichen Daseins benannt werden, die in der Auferstehung aufgehoben wird: „Es wird gesät in astheneia und wird auferstehen in dynamis.“ (1Kor 15,43) 5 In diesem Falle wird gerade keine Unterschiedlichkeit verschiedenster Menschen aufgrund bestimmter persönli‐ cher Beeinträchtigungen thematisiert, die dann zu der Frage führt, wie damit umgegangen werden kann. Und auch in Röm 5,6; 6,19 und 8,26 bezeichnen die Begriffe asthenēs und astheneia in verallgemeinernder Weise die generelle natürliche körperliche Gebrechlichkeit und Schwachheit des sarkischen Menschen in dieser Welt sowie seine Anfälligkeit für Unreinheit und widergesetzliche Taten. 6 An einer Stelle kann Paulus dann dem geläufigen Verständnis seiner Zeit folgend sogar ein grundsätzlich erst einmal negatives und theologisch sogar problematisches Verständnis von astheneia anführen. So kann er nach einer Kritik der Abendmahlspraxis bei den Korinthern behaupten: „Deshalb sind auch viele Schwache (astheneis) und Kranke unter euch, und nicht wenige sind entschlafen.“ (1Kor 15,29) Das führt Martin Albl zu der Aussage: „Sin causes disability.“ 7 Und Michael Tilly betont, dass Paulus insofern zunächst „die griechisch-römischen Vorstellungen hinsichtlich der negativen Qualifikation Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Paulus aus der Perspektive der Dis/ ability Studies 47 8 Tilly, Behinderung als Thema (s.-Anm.-4),-77. 9 Tilly, Behinderung als Thema (s.-Anm.-4), 74. 10 Gegen Peter von der Osten-Sacken, Der Brief an die Gemeinden in Galatien (ThKNT 9), Stuttgart 2019, 209, der hier kausal übersetzt: „Die Wendung ‚einer Krankheit wegen‘ gibt den Grund des anscheinend nicht geplanten Aufenthalts des Apostels in Ga‐ latien wieder.“ Zurecht meint dazu Francois Vouga, An die Galater (HNT 10), Tü‐ und der daraus resultierenden sozialen und religiösen Diskriminierung von Behinderten kennt und sie in seinen Briefen rezipiert.“ 8 3.2. Die persönliche Beeinträchtigung des Paulus Im Hinblick auf die von Paulus selbst verfassten Briefe ist zunächst bemer‐ kenswert, dass er offenbar selbst eine Beeinträchtigung hatte und dadurch zum einen von Behinderung im Sinne der Ausgrenzung aus der menschlichen Gemeinschaft bedroht war und sich zum anderen mit Zuschreibungsakten aus‐ einandersetzen musste, die dazu geeignet waren, seine Behinderung geradezu erst soziokulturell zu konstruieren. Der Quellenbefund stellt sich dazu folgendermaßen dar: Paulus litt wohl unter einer chronischen Erkrankung, die ihn erheblich beeinträchtigte. Die Diagnose ist unklar. In neuerer Zeit wurde dabei zumeist an eine Epilepsie, an eine chronische Migräne oder an eine Trigeminusneuralgie gedacht, vielleicht verbunden mit einer Sehstörung (…) und möglicherweise verursacht durch eine Hirnschädigung, etwa aufgrund einer erlittenen Steinigung oder sonstigen Misshandlung (vgl.-2Kor-11,25). 9 Eine hohe Plausibilität scheint die Annahme einer Sehschwäche zu haben, auf die der Galaterbrief hinweist: „Denn ich bin euer Zeuge: Ihr hättet, wenn es möglich gewesen wäre, eure Augen ausgerissen und mir gegeben.“ (Gal 4,15) Auch die eigenhändige Unterschrift unter den Galaterbrief könnte ein Hinweis darauf sein: „Seht, mit wie großen Buchstaben ich euch schreibe mit eigener Hand.“ (Gal 6,11) Offenbar hat Paulus seine Briefe ansonsten diktiert, wie z. B. Röm 16,22 mit dem Briefschreiber Tertius zeigt. Auch die Darstellung der Erblindung des Paulus nach der an ihn ergangenen Christusoffenbarung in der Apostelgeschichtete könnte ein Hinweis auf eine Sehbeeinträchtigung sein (vgl. Apg 9,8f.; 22,11-13). Nicht zuletzt diese Beeinträchtigung ließ ihn bei persönlichen Besuchen hilfsbedürftig erscheinen: „Ihr wisst doch, dass ich euch zuvor in Schwachheit des Leibes das Evangelium gepredigt habe. Und obwohl meine leibliche Schwäche euch eine Anfechtung war, habt ihr mich nicht verachtet oder vor mir ausgespuckt“. (Gal 4,13f) 10 Von einigen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 48 Dierk Starnitzke bingen 1998, 108: „Zum einen gibt aber dia + Akkusativ nicht nur den Grund und den Zweck an, sondern auch die Mittel (…) oder die begleitenden Umstände (…). Zum anderen hat astheneia Sg. bei Paulus immer die Bedeutung der menschlichen Schwachheit“. Gemeindegliedern in Korinth wird ihm deshalb eine schwächliche Erscheinung vorgeworfen: „Denn seine Briefe, sagen sie, wiegen schwer und sind stark; aber wenn er selbst anwesend ist, ist er schwach (asthenēs) und seine Rede kläglich.“ (2Kor 10,10). Seine Gegner in Korinth versuchten offenbar, ihn mit solchen Argumenten als Führungspersönlichkeit der Gemeinde zu diskreditieren und zu verdrängen. Gegenüber mindestens den Gemeinden in Galatien sowie der Gemeinde in Korinth hatte diese Verbindung von persönlicher Erkrankung und Beeinträch‐ tigung, von Ausgrenzungsproblematik und defizitorientierten soziokulturellen Zuschreibungsakten die Folge, dass seine Autorität als Apostel von bestimmten Personen und Gruppierungen in den Gemeinden in Frage gestellt wurde und damit auch seine Möglichkeit der dortigen Verkündigung des Evangeliums gefährdet wurde. Er sollte offenbar von seinen Gegnern mit solchen Zuschrei‐ bungsprozessen aus den Gemeinden ausgegrenzt oder gar ausgeschlossen werden. Es ging hier offenbar um einen Wettbewerb des Rühmens, um möglichst großen Einfluss in der Gemeinde zu haben. In 2Kor 11 scheint Paulus sich sogar für einen Moment auf die Logik des persönlichen Rühmens einzulassen, mit denen die sogenannten „Falschapostel“ (2Kor 11,13) ihn auszubooten ver‐ suchten. Paulus spielt hier in Selbstzuschreibung mit den Begriffen aphrōn, aphrōsynē und paraphronōn, um diese Zugangsweise dann jedoch grundlegend zu modifizieren. Er sei weitaus mehr ein Diener Christi als seine Konkurrenten, weil er mehr durch seinen Dienst gelitten habe (2Kor 11,22-28). Er sei dabei aber gleichzeitig zu schwach gewesen (ēsthenēkamen), um durch seine Stärke als Apostel andere auszunutzen (2Kor 11,20-21). Stattdessen führe ihn seine Schwäche dazu, sich mit anderen schwachen Menschen solidarisch zeigen zu können: „Wer ist schwach (asthenei) und ich werde nicht schwach (asthenō)? Wer wird zu Fall gebracht und ich brenne nicht? “ (2Kor-11,29). Auf dieser Grundlage setzt sich Paulus dann mit dieser Problematik seiner persönlichen Beeinträchtigung und der daraus resultierenden Ausgrenzungsge‐ fahr in 2Kor 12 in zweifacher Weise theologisch auseinander. Erstens sorgt nach seiner Überzeugung seine chronische Erkrankung und die daraus resultierende Beeinträchtigung dafür, dass er angesichts der an ihn ergangenen göttlichen Offenbarungen (Gal 1,16 und eventuell auch 2Kor 12,1-6) und der dadurch erlangten Bedeutung als Apostel nicht überheblich werden kann: „Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarung nicht überhebe, ist mir gegeben ein Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Paulus aus der Perspektive der Dis/ ability Studies 49 Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlage, damit ich mich nicht überhebe“ (2Kor 12,7). 11 Unter dieser Krankheit und Beeinträch‐ tigung hat er deshalb offenbar sehr gelitten. „Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche“ (2Kor 12,8). Theologisch ist hier zunächst interessant, dass einerseits mit dem „Satansengel“ eine Gott widerstreitende Macht ins Spiel gebracht wird. Die Beeinträchtigung bzw. Behinderung des Paulus könnte in dieser Perspektive als eine böse Macht verstanden werden, die dem guten Schöpferwillen widerspricht. Andererseits wird diese zunächst anscheinend negative Konnotation in eine theologisch positive Sicht gewendet. Das Leiden unter der Beeinträchtigung führt zur Erkenntnis in die Begrenztheit und Endlichkeit der eigenen Kräfte und stellt dadurch ein Selbstverständnis grundlegend in Frage, das durch die eigenen Eigenschaften und Fähigkeiten bestimmt ist. An die Stelle des „Rühmens“ kann dadurch ein Selbstverständnis treten, das gerade auf der Erfahrung beruht, dass die eigenen Kräfte und Fähigkeiten nicht zur Begründung der eigenen Existenz ausreichen. Paulus konstruiert auf dieser Basis zweitens durch eine christologische Argumentation eine Form der Selbstzuschreibung, die ihn in seiner Beeinträch‐ tigung gerade stark erscheinen lässt und ihn damit gegenüber den Angriffen seiner Gegner, die ihn ausgrenzen möchten, und den durch sie beeinflussten Gemeindegliedern stärkt. „Wenn ich mich denn rühmen soll, will ich mich meiner Schwachheit rühmen“ (2Kor 11,30). Er zitiert dazu ein von Christus an ihn gerichtetes Wort: „Dir reicht meine Gnade, denn die Kraft kommt in Beeinträchtigung (astheneia) zur Vollendung“ (2Kor 12,9a, eigene Übersetzung). Der griechische Begriff astheneia für Krankheit, Beeinträchtigung und damit verbunden Behinderung wird für Paulus zu einem konstitutiven Bestandteil seiner Existenz. Die Begründung ist christologisch. Gerade die eigene Beein‐ trächtigung und Krankheit gibt die Möglichkeit, für die Stärke Christi offen zu werden: „Sehr gerne will ich mich nun vielmehr meiner Beeinträchtigungen (astheneiais) rühmen, damit die Kraft Christi bei mir einziehe“ (2Kor 12,9b, eigene Übersetzung). Die Möglichkeit, in der Begrenztheit der eigenen Kräfte und Fähigkeiten eine neu begründete Existenzweise zu eröffnen, ergibt sich also für Paulus durch seine Beziehung zu Christus. Sie wurde für Paulus durch die Offenbarung initiiert, die er in Gal 1,15f. beschreibt: „Als es aber Gott wohlgefiel, (…) dass er seinen Sohn offenbarte in mir“. Das en emoi bezeichnet dabei die intensive ge‐ genseitige Verbindung von Paulus und Christus: Christus erscheint „in“ Paulus Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 50 Dierk Starnitzke 11 Manche Interpreten vermuten hier eine Anspielung auf eine mögliche Epilepsieerkran‐ kung. und dadurch wird für Paulus eine Neukonstitution der Existenz ermöglicht. Umgekehrt geschieht die Neubegründung der Existenz für Paulus dadurch, dass sie außerhalb seiner selbst „in Christus“ konstituiert wird. Noch tiefgehender reflektiert Paulus diese neu begründete Existenzweise im Römerbrief. 12 Das führt ihn in Röm 8,2 zu der Aussage: „Jetzt also gibt es keine Verurteilung mehr für die, welche in Christus Jesus sind“ (nach Einheitsübersetzung). Durch die unauflösliche Verbindung mit Christus wird nun für Paulus gerade die Möglichkeit eröffnet, die eigene vermeintliche Schwäche, die sich durch seine Beeinträchtigung und Behinderung ergibt, als Stärke zu interpretieren. Denn Christus selbst hat nicht den Weg der Stärke gewählt, sondern sich bewusst in die Schwäche menschlicher Existenz hineingegeben. Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz“ (Phil-2,6-8 nach Einheitsübersetzung). An Christus selbst lässt sich deshalb genau diese neue Existenzweise erkennen, die nicht auf der eigenen Stärke beruht, sondern auf der Kraft Gottes: „Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen“ (Phil 2,9 nach Einheitsübersetzung). Die Fähigkeit des Paulus, die Schwächung durch die eigene Beeinträchtigung als Stärke zu interpretieren, beruht also letztlich auf seiner direkten Verbindung zu dem gestorbenen und auferstandenen Jesus Christus. „Ich bin mit Christus gekreuzigt worden. Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,19f. nach Einheitsüberset‐ zung). Eine weitere Selbstreflexion angesichts seiner persönlichen Beeinträchti‐ gungen findet sich in Bezug auf die an Paulus ergangene Christusoffenbarung neben Gal 1 und 2 in 1Kor 15,3-10. Hier wird eine (chronologische) Reihenfolge derjenigen aufgestellt, denen Christus als der Auferstandene erschienen ist: Kephas (= Petrus), die Zwölf, danach fünfhundert Glaubensgeschwister auf einmal, dann Jakobus, dann alle Apostel. Paulus schreibt dann: „Zuletzt erschien er auch mir, gleichsam der Missgeburt“ (nach Einheitsübersetzung). Der Begriff ektrōma ist hier schillernd, vielleicht zu übersetzen mit „missratener Geburt“. Er könnte zunächst auf eine Missbildung des Paulus hinweisen, die ihm auch als Schimpfwort entgegengehalten wurde. 13 Zugleich wendet Paulus diese Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Paulus aus der Perspektive der Dis/ ability Studies 51 12 Siehe dazu im Detail Dierk Starnitzke, Die Struktur paulinischen Denkens im Römer‐ brief. Eine linguistisch-logische Untersuchung (BWANT-163), Stuttgart-2004, 265-285. 13 So Anton Fridrichsen, Paulus abortivus. Zu 1Kor 15,8, in: Ders. Exegetical Writings (WUNT/ I-76), Tübingen 1994, 211-216. Sicht aber ähnlich wie in Gal 2 christologisch um. Denn ektrōma bedeutet eigentlich „Totgeburt“. Andreas Lindemann verschärft deshalb das Verständnis dieses Begriffes noch im Sinne der oben dargestellten Argumentation: „Die Erscheinung des Auferstandenen gegenüber dem ektrōma signalisiert also das völlig Neue, die Vermittlung des Lebens an ein totes Wesen“. 14 Analog zu 2Kor 11 hebt Paulus deshalb auch in 1Kor 15,10 auf die Gnade (charis) ab, die seine eigentliche Stärke ausmacht, obwohl er selbst der geringste (elachistos) unter den Aposteln ist. Auf dieser Grundlage habe er auch mehr als Apostel gearbeitet als alle anderen. Indem Paulus diese theologische Argumentation in seinen Briefen anführt, bewirkt er also durch Selbstzuschreibungsakte, die bei seiner Schwäche und Beeinträchtigung ansetzen, eine Gegenstrategie, die es ihm gerade erlaubt, seine Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft und seinen besonderen Status in den Gemeinden als Apostel zu stärken. Diese Selbstzuschreibungen werden dann in den gemeindlichen Kommunikationsprozessen sozial wirksam, indem er sie in seinen Briefen artikuliert und sie dann durch die Diskussion seiner Briefe in den angeschriebenen Gemeinden rezipiert werden. Dass er mit dieser Strategie der Stärkung trotz Beeinträchtigung Erfolg gehabt hat, zeigt allein schon die Tatsache, dass mit sieben authentischen Briefdokumenten seine wesentlichen theologischen Gedanken in das Neue Testament aufgenommen wurden und außerdem noch seine Tätigkeiten in der Apostelgeschichte sehr ausführlich dargestellt werden (Apg 13,4-28,30). Selbst die zum Teil gegenüber seiner Person aufgrund seiner Beeinträchtigung und den polemischen Zuschrei‐ bungsakten seiner Gegner sehr skeptisch eingestellten Gemeindeglieder in Korinth hat er offenbar damit überzeugen können. Wie die Notiz am Ende des Römerbriefes zeigt, sind die Korinther seiner in 2Kor 8f. formulierten Spendenbitte für die christliche Gemeinde in Jerusalem gefolgt und haben eine Geldsammlung unternommen, die Paulus auf seinem Besuch den römischen christlichen Gemeinschaften zu übergeben gedenkt. „Doch jetzt gehe ich nach Jerusalem, um den Heiligen einen Dienst zu erweisen. Denn Mazedonien und Achaia haben beschlossen, eine Sammlung als Zeichen ihrer Gemeinschaft für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem durchzuführen“ (Röm-15,25f.). Die Argumentation des Paulus, in der er sich auf seine eigenen Beeinträch‐ tigungen bezieht, hat also erstens eine selbststärkende und zweitens eine konfliktstärkende Funktion. Ausgehend von dem zentralen Gedanken der Neu‐ begründung der Existenz durch die Verbindung mit Christus zieht Paulus seine eigene Stärke als Apostel aus der theologisch begründeten Selbsterkenntnis, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 52 Dierk Starnitzke 14 Andreas Lindemann, Der Erste Korintherbrief (HNT-9/ I), Tübingen 2000, 334. dass diese Stärke nicht aus dem Aufbringen eigener Kräfte, sondern aus der Gnade Gottes bzw. Christi entsteht. Persönliche Beeinträchtigung ist insofern eine Chance, sich diese theologische Logik immer wieder vor Augen zu führen. Diese aus Gnade geschenkte Stärke befähigt Paulus dann aber, mit großem Eifer und auch mit Erfolg hart als Apostel zu arbeiten. Ausgehend von dieser persönlichen Existenzbegründung ergibt sich für ihn auch die Möglichkeit, in harten Konfliktlagen mit Konkurrenten Stärke zu beweisen und sich ihnen gegenüber auch durchzusetzen. 4. Inklusion als zentrales theologisches Paradigma des Paulus Über die eigene Person hinausgehend entwickelt Paulus einen grundlegenden theologischen Gedanken, der im Kern darauf zielt, eine menschliche Gemein‐ schaft zu konstituieren, in der potentiell alle Menschen inkludiert sind. Wenn man Inklusion zunächst einmal als Überwindung der Unterscheidung behin‐ dert/ nichtbehindert bzw. beeinträchtigt/ nicht beeinträchtigt versteht, dann im‐ pliziert die zentrale theologische Botschaft des Paulus, dass alle Menschen un‐ abhängig von ihren Eigenschaften zusammen sein können und sollen, also auch unabhängig von bestimmten Beeinträchtigungen oder Behinderungen. Alle eta‐ blierten, sozial konstruierten Unterscheidungen können durch ein theologisch begründetes neues Verständnis einer inklusiven Gemeinschaft aller Menschen aufgehoben werden. Das entfaltet Paulus gedanklich in zwei Schritten, die im Folgenden skizziert werden sollen: Zunächst an seinem Verständnis von christlicher Gemeinde als inklusiver Gemeinschaft und dann anhand seiner Vorstellung einer inklusiven Gemeinschaft aller Menschen. 4.1. Die Gleichwertigkeit aller Mitglieder der christlichen Gemeinschaft Eine inklusive Gemeinschaft beschreibt Paulus zunächst in Gal 3,28 in Bezug auf das Zusammensein der an Christus Glaubenden. „In Christus“ wird für ihn eine Gemeinschaft konstituiert, in der alle herkunftsmäßigen, sozialen und biologischen Unterscheidungen aufgehoben sind: „Hier ist weder Grieche noch Nichtgrieche, weder Sklave noch Freier, nicht Mann und Frau; denn ihr seid alle einer in Christus“ (eigene Übersetzung). Auf dieser Basis befasst sich Paulus in 1Kor 12 mit dem Verhältnis der Mitglieder der christlichen Gemeinschaft untereinander, indem er dafür die Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Paulus aus der Perspektive der Dis/ ability Studies 53 15 Jörn Winter verdanke ich den Hinweis, dass man in diesem Sinne die Ausführungen des Paulus in 1Kor 12,12-27 auch einmal nicht metaphorisch, sondern wörtlich lesen könnte. Paulus reflektiert dann die eigene leibliche Erfahrung eines Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Die Aussage wäre dann, dass man auch mit den eigenen „schwächeren“ Körperteilen sorgsam und liebevoll umgehen soll. Metapher des Leibes und seiner Glieder heranzieht. Wiederum fungiert hier der Begriff asthenēs zur Bezeichnung „schwächerer“ Mitglieder: Vielmehr sind die Glieder des Leibes, die uns schwächer (asthenestera) erscheinen, die nötigsten und die uns weniger ehrbar erscheinen, die umkleiden wir mit besonderer Ehre; und die wenig ansehnlich sind, haben bei uns besonderes Ansehen (1Kor 12,22f.). Es liegt nahe, dass gerade aufgrund der oben dargestellten persönlichen Beein‐ trächtigungen Paulus mit dieser Beschreibung unter anderem auch andere Gemeindeglieder mit Beeinträchtigungen gemeint sind. Man wird, wie gerade der Konflikt des Paulus mit seinen Gegnern in Korinth zeigt, davon ausgehen können, dass Menschen mit Beeinträchtigungen auch in den christlichen Ge‐ meinden in der Gefahr standen, als „schwach“, „weniger ehrbar“ und „wenig ansehnlich“ zu erscheinen und damit nicht als vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft anerkannt zu werden. Möglicherweise schwingt in diesen For‐ mulierungen auch die oben skizzierte persönliche Erfahrung des Paulus mit. 15 Die Fürsorge für die Schwachen entspricht auch der Paraklese, die Paulus bereits in 1Thess 5,14 anspricht: „nehmt euch der Schwachen (asthenōn) an! “ (Einheitsübersetzung). Die Begründung dafür, auch Gemeindeglieder, die mit dem Begriff astheneia beschreibbar sind, voll in der christlichen Gemeinschaft zu akzeptieren, ist wiederum theologisch und christologisch. Zum einen ist der gleichberechtigte Zusammenhang aller Mitglieder der Gemeinschaft durch Gott selbst geschaffen. „Gott aber hat den Leib so zusammengefügt, dass er dem benachteiligten Glied umso mehr Ehre zukommen ließ, damit im Leib kein Zwiespalt (schisma) entstehe, sondern alle Glieder einträchtig füreinander sorgen“ (1Kor 12,24f nach der Einheitsübersetzung). Schismata im Sinne der Ausgrenzung Einzelner oder ganzer Gruppen sind damit ausgeschlossen. Zum anderen wird mit der Taufe die enge Verbindung aller Gemeindeglieder mit Christus konstituiert, indem sie jeweils „in Christus“ hineingelangen. Durch das „in Christus sein“ sind sie damit zugleich aufs engste miteinander verbunden. „Durch den Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen, Juden und Griechen, Sklaven und Freie; und alle wurden wir mit dem einen Geist getränkt“ (1Kor 12,13, Einheitsübersetzung). „Ihr aber seid der Leib Christi und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm“ (1Kor 12,27 nach Einheitsübersetzung). Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 54 Dierk Starnitzke 16 Lindemann, Der Erste Korintherbrief (s.-Anm.-14), 276. 17 Röm-3,9f., mit Bezug auf Ps-14,1. 18 Siehe dazu im Detail Starnitzke, Die Struktur paulinischen Denkens (s. Anm. 12), 242-263. Damit ist ausgeschlossen, dass einzelne Gemeindeglieder andere für überflüssig halten und aus der christlichen Gemeinschaft ausgrenzen können. „Das Auge kann nicht zu der Hand sagen: Ich brauche dich nicht. Der Kopf wiederum kann nicht zu den Füßen sagen: Ich brauche euch nicht“ (1Kor 12,21 nach Einheitsübersetzung). Mit dieser Argumentation wird also von Paulus eine Gleichwertigkeit aller Gemeindeglieder und insofern eine inklusive christliche Gemeinschaft begründet. „Paulus versteht die Gemeinde als ein sōma; sie ist aber ein sōma, in dem alle Glieder als aufeinander bezogene prinzipiell gleich sind.“ 16 4.2. Das universale Erbarmen Gottes als Letztbegründung von Inklusion Diese Argumentation wird dann von Paulus in weiteren Schritten im 1.-Korin‐ therbrief und im Römerbrief über die christliche Gemeinschaft hinausgehend auf die gesamte Menschheit ausgeweitet. Der Grundgedanke der Inklusion, dass niemand aufgrund seiner Eigenschaften und (fehlenden) Fähigkeiten nicht nur aus der christlichen, sondern auch aus der menschlichen Gemeinschaft insgesamt ausgeschlossen werden soll, findet damit einen wesentlichen Prot‐ agonisten im Apostel Paulus mit seiner Lehre vom bedingungslosen und umfassenden Erbarmen Gottes. Vor allem im Röm zeigt Paulus in seiner detaillierten Analyse menschlicher Existenz zunächst, dass kein Mensch aus eigenem Vermögen vor Gott gerecht werden kann. Das führt ihn dann zu der universalen Aussage: „Wir haben soeben bewiesen, dass alle (…) unter der Sünde sind, wie geschrieben steht: ‚Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer.‘“ 17 Hier liegt ein tiefer Gedanke der Inklusion zugrunde. Er besteht theologisch gesehen erst einmal darin, einzusehen, dass alle Menschen insofern gleich sind, als sie sündig sind. Was das heißt, analysiert Paulus eingehend in Röm 7: Die Menschen sind seit Adam und Eva zerrissen in sich selbst und tun nicht, was ihnen von Gott geboten ist und was sie eigentlich auch selbst wollen (Röm 7,7-25a). Das führt am Ende der Argumentation der Kapitel 1-7 des Röm das typisierte menschliche „Ich“ zum Schrei der Verzweiflung: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes? “ (Röm 7,24) Inklusion bedeutet also zunächst einmal, dass alle Menschen in der Sünde eingeschlossen sind. 18 Wie Paulus es am Ende Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Paulus aus der Perspektive der Dis/ ability Studies 55 19 Thomas H. Tobin, Paul’s Rhetoric in its Context. The Argument of Romans, Peabody Massachusetts-2004,-98-103 und-376f. 20 Dass diese Formulierung im Sinne einer universalen Heilsaussage für alle Menschen zu verstehen ist, betont auch Lindemann, Der Erste Korintherbrief (s.-Anm.-14),-344. der gesamten Argumentation in Röm 11,32 summarisch feststellt: „Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen“. Der griechische Begriff ist hier synekleisen, der lateinische concludit. Inklusion bedeutet deshalb erstens die Inklusion aller Menschen in den Ungehorsam gegenüber Gott. Aber Paulus geht im gleichen Satz noch weiter. Er sagt: „Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, damit er sich aller erbarme.“ In seiner umfangreichen Untersuchung des Römerbriefes zeigt Thomas H. Tobin sehr überzeugend, 19 dass dieser Satz in Röm 11,32 zugleich der Ziel- und Endpunkt der gesamten theologischen Argumentation des Römerbriefes ist. Man kann die Argumentation des Briefes als einen der grundlegenden Texte des Chris‐ tentums insgesamt und besonders des Protestantismus folgendermaßen zusam‐ menfassen: Die wahre Inklusion bedeutet also im vollen theologischen Sinne, dass Gott alle Menschen, die zunächst nicht anders können als gegen sich und Gott zu sündigen, in sein universales Erbarmen einschließt und dass dies im tiefsten Sinne den Zusammenhang der ganzen Menschheit begründet. Der zitierte Text aus Röm 11 stellt insofern eine Spitzenaussage dar, als Paulus damit zugesteht, dass auch alle Juden, die nicht an Christus glauben, in dieser Weise gerettet werden (vgl. Röm-11,26-und-31). In diesem Sinne kulminiert die gesamte Argumentation von Kap. 1-11 damit in der universalen Heilsaussage von-11,32 mit der anschließenden Doxologie: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! (…) Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen“ (Röm-11,33 und-36). Dieser universale Gedanke findet sich anders formuliert bereits in 1Kor 15,21f: „Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten. Denn wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden.“ 20 Das führt Paulus an dieser herausgehobenen Stelle in Röm 11,32 sogar so weit, dass er sich eine Rettung Israels auch ohne den Glauben an Christus vorstellen kann. Das Vertrauen auf die inklusive Universalität des Erbarmens Gottes übersteigt insofern sogar den Christusglauben! Diese Argumentation dürfte Paulus, verglichen mit der Position in seinen früheren Briefen, nicht leichtgefallen sein. Die Einsicht in das universale Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 56 Dierk Starnitzke 21 Dieser alttestamentliche Satz aus Lev 19,18 wird im Neuen Testament außer in Röm 13,9 noch sieben Mal aufgenommen: Bei Paulus in Gal 5,14, in der synoptischen Tradition in Mk 12,31 mit den Parallelen in Mt 22,39 und Lk 10,27 sowie außerdem in Mt 5,43 und-19,19 und schließlich in Jak-2,8. Erbarmen Gottes führt ihn aber dazu, das Heil auch jenseits des eigenen Chris‐ tusglaubens denken zu können. Paulus entwickelt damit eine auf der Gotteslehre fußende Heilslehre von der Versöhnung aller Menschen mit Gott, die über die Begrenzungen der Christologie hinaus geht, den Christusglauben transzendiert und sich damit sogar für Menschen mit anderen Glaubensüberzeugungen öffnet - und zwar aus zutiefst theologischen Gründen. In dieser radikal gedachten Perspektive sind alle sozio-kulturellen Unter‐ scheidungen aufgehoben, also auch die zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen. Um es einmal (vielleicht zu sehr? ) pointiert im Zusammen‐ hang der hier behandelten Fragestellung der dis/ ability Studies zu formulieren: Die disability aller Menschen, im Einklang mit sich selbst und den göttlichen Geboten leben zu können, führt zu der universalen Aussage, dass Gott sich aller Menschen trotz dieser disability erbarmt und sie insofern in einer inklusiven Gemeinschaft miteinander verbunden sind. So gesehen bietet diese Argumen‐ tation einen entscheidenden theologischen Orientierungsrahmen auch für eine Behandlung von spezielleren Fragen zu dis/ ability im engeren Sinne, also zum Umgang mit Beeinträchtigung und Behinderung. Alle ethischen und persönlichen Aussagen in Röm-12-16 hängen von dieser grundlegenden Feststellung in Röm 11,32 ab. In diesem Sinne ist auch das in Röm 13,8-10 formulierte Liebesgebot konsequent inklusiv zu verstehen. „Seid niemanden etwas schuldig, außer dass ihr einander liebt.“ (Röm 13,8) Dieser Ansatz bezieht sich nicht nur auf die eigene christliche Gemeinschaft, sondern auf alle Menschen und gipfelt in der Aussage: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.“ (Röm 13,9) Er ist deshalb nicht zuletzt zu einem der entscheidenden Leitsätze für diakonisches Handeln vor allem auch in der Eingliederungshilfe für Menschen mit Beeinträchtigungen in Geschichte und Gegenwart geworden. 21 Diese paulinische Argumentation zeigt damit insgesamt, dass es ihm darum geht, Menschen mit unterschiedlichsten Eigenschaften, Fähigkeiten, Herkünften, ja sogar Religionen unter der Perspektive des einen sich aller erbarmenden Gottes als eine umfassende Gemeinschaft zu begreifen, die deshalb auch liebevoll mit sich selbst und anderen umgehen sollen. Das schließt auch den Umgang mit Beeinträchtigung und Behinderung voll mit ein. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Paulus aus der Perspektive der Dis/ ability Studies 57 22 Tilly, Behinderung als Thema (s.-Anm.-4), 79. 23 Siehe dazu Dierk Starnitzke, Diakonie in biblischer Orientierung. Biblische Grundlagen - Ethische Konkretionen - Diakonisches Leitungshandeln, Stuttgart 2011, 127-136 sowie-164-169. 5. Aktualisierungsmöglichkeiten Abschließend kann man fragen, welche Anregungen die hier vorgetragene In‐ terpretation biblischer Texte für den aktuellen Umgang mit Problemstellungen von dis/ ability geben könnten. Das Beispiel des Paulus zeigt: Die Beeinträchti‐ gungen von Menschen können einerseits bewirken, dass sie vom Ausschluss aus menschlichen Gemeinschaften und religiösen Kontexten und damit von Behinderung bedroht sind und dass man mit dieser Bedrohung permanent rechnen muss. Mit der Ambivalenz von aufrichtigen Versuchen der inklusiven Beteiligung von Menschen mit Beeinträchtigungen und ihren gesellschaftlich vorhandenen Grenzen wird man auch in der Gegenwart weiterhin umgehen müssen. Insofern könnte eine mögliche Konsequenz des paulinischen Standpunktes für die aktuelle Diskussion hinsichtlich der Notwendigkeiten und Möglichkeiten einer christlich fundierten Rehabilitation, Integration und Inklusion von Menschen mit Behinderung in der Wahrnehmung der prinzipiellen Relationalität und im Durchhalten der Ambi‐ valenz ihrer Disability bestehen. 22 Andererseits kann gerade die vertiefte theologische Reflexion dazu verhelfen, dass diese Ausgrenzungsproblematiken im Sinne einer offenen und potentiell alle Menschen umfassenden Gemeinschaft überwunden werden können. Hier wäre es z. B. spannend, Bezüge zum Gedanken der allgemeinen Menschenrechte zu untersuchen. 23 Die paulinische Argumentation zeigt starke Konvergenzen mit den neuen Bestimmungen des „Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“, dass alle Menschen gleiche Rechte in Bezug auf ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben besitzen und dies deshalb auch zwingend zur Geltung gebracht werden muss. Die paulinischen Gedanken könnten deshalb hilfreich sein, um aktuelle Ausgrenzungsprobleme in unserer Gesellschaft, aber auch in den christlichen Gemeinschaften von Kirche und Diakonie zu bearbeiten. Kirche und Diakonie wären dann als Wirkräume zu verstehen, in denen der Gedanke der inklusiven Gemeinschaft aller unter Gottes Erbarmen stehender Menschen am Beispiel von Menschen mit Beeinträchtigungen besonders deutlich werden und in die Gesellschaft hineinwirken könnte. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 58 Dierk Starnitzke © Anja Kruse Entscheidend dafür ist die gelebte Praxis. Einerseits gibt es in Diakonie und Caritas und gerade in der so genannten Eingliederungshilfe tief geprägte Traditionen und eine breit aufgestellte kirchliche Sozialarbeit zur Förderung der Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen am gesellschaftlichen Leben. Andererseits erscheinen viele Begegnungsorte in Kirche und Diakonie nicht gerade als Paradebeispiele für das selbstverständliche Miteinander von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen. Daran wird weiter konsequent zu arbeiten sein. Schließlich kann die paulinische Argumentation aber auch dazu beitragen, dass Menschen angesichts eigener Beeinträchtigungen ein Selbstbewusstsein und eine Stärke entwickeln können, die sie in die Lage versetzen, sich möglichen Ausgrenzungen aus der menschlichen Gemeinschaft - auch in Kirche und Diakonie - entgegenzustellen und ein möglichst eigenständiges Leben zu führen. Das setzt aber voraus, dass ihnen diese Argumentationsmuster zum einen vermittelt werden und dass sie bei ihren Bemühungen zum anderen von Menschen unterstützt werden, die diese Überzeugung teilen. Dierk Starnitzke, geb. 1961, studierte Theologie an den Universitäten Münster und Göttingen sowie der Kirchli‐ chen Hochschule Bethel in Bielefeld, wo er auch 1994 zum Dr. theol. promoviert wurde und 2002 habilitierte. Seit 2006 ist er als Pfarrer hauptberuflich Vorstandssprecher der Diakonischen Stiftung Wittekindshofes, eines großen Trägers der Eingliederungshilfe in Westfalen. Zugleich lehrt er als Außerplanmäßiger Professor an der Universität Bielefeld am Institut für Diakoniewissenschaft und Diako‐ niemanagement in den Bereichen Biblische Theologie und Unternehmens‐ führung. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Zusammenhänge von diakonischer Leitungspraxis und wissenschaftlicher Reflexion, die nor‐ mativen und vornormativen Grundlagen diakonischer Arbeit, die biblischen Schriften des Paulus sowie die Systemtheorie Niklas Luhmanns. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0003 Paulus aus der Perspektive der Dis/ ability Studies 59
