ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2024-0013
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2024
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Dronsch Strecker VogelBehinderung als „narrative Prothese“?
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Susanne Luther
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1 Vgl. zu diesen Deutungsschemata Markus Schiefer Ferrari, (Un)gestörte Lektüre von Lk 14,12-14. Deutung, Differenz und Disability, in: Wolfgang Grünstäudl/ Markus Schiefer Ferrari (Hg.), Gestörte Lektüre. Disability als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese (Behinderung - Theologie - Kirche. Beiträge zu diakonisch-caritativen Disa‐ bility Studies 4), Stuttgart 2012, 13-47, hier 18-35. Kontroverse Behinderung als „narrative Prothese“? Einführung in die Kontroverse Susanne Luther Insbesondere die neutestamentlichen Wundererzählungen stehen unter der Perspektive einer dis/ ability-sensiblen Hermeneutik im Fokus. Die exegetische Fachliteratur orientiert sich noch immer häufig an klassischen Deutungssche‐ mata wie Kontrastierung (Menschen mit Behinderung werden Menschen ohne Behinderung gegenübergestellt), Subsumierung (Menschen mit Behinderung werden undifferenziert unter eine größere Gruppe gefasst), Infantilisierung (Menschen mit Behinderung werden ihre Fähigkeiten und Kompetenzen abge‐ sprochen), Anonymisierung (sie werden nicht als Individuen wahrgenommen) oder Stigmatisierung (sie werden mit negativen Konnotationen belegt). 1 Die Perspektive der Betroffenen findet bislang in der Auslegung häufig wenig Berücksichtigung. Um die biblischen Texte für heutige Rezipient: innen verant‐ wortet auszulegen, bedürfen Exeget: innen einer der jeweiligen Auslegungssitu‐ ation angemessenen Hermeneutik, die unreflektierte Auslegungen verhindert, die leibliche Unversehrtheit nicht als das Ideal vorstellt oder gar als Ausdruck der Beziehungsfähigkeit (auch zu Gott) bestimmt. Der Ansatz der dis/ ability studies tritt der herkömmlichen Auslegung mit einer Hermeneutik entgegen, die darauf abzielt, diese über die Jahrhunderte hin etablierten Konzeptionen und Machtstrukturen zu dekonstruieren, um der Stigmatisierung, der Diskriminierung und dem Unsichtbarmachen von Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0005 2 Vgl. unten S. 87. 3 Vgl. David T. Mitchell/ Sharon L. Snyder, Narrative Prosthesis. Disability and the Dependencies of Discourse, Michigan-2000. 4 Vgl. unten S. 87. 5 Vgl. unten S. 101. Individuen, die nicht dem soziokulturell konstruierten Ideal von Normalität und Selbstbestimmung entsprechen, die Grundlage zu entziehen und einer dis/ ability-sensiblen, inklusiven Lesart der Texte den Weg zu bereiten. In der folgenden Kontroverse, die die Erzählung der Heilung eines Blinden in Joh 9 und ihre Auslegungsgeschichte in den Blick nimmt, fordert Marie Hecke eine dis/ ability-sensible und ableismuskritische Hermeneutik und Theologie für den (praktisch-)theologischen Umgang mit neutestamentlichen Heilungserzäh‐ lungen. Sie problematisiert die negative, pejorative Verwendung der Metapher der Blindheit, die Behinderung „mit Mangel, Defekt, Dummheit oder Nichtver‐ stehen assoziiert und darin instrumentalisiert“. 2 Anhand des Konzeptes der „narrativen Prothese“ von Mitchell und Snyder 3 kritisiert sie die „symbolische Indienstnahme“ von Menschen mit Behinderung in den neutestamentlichen Erzählungen, d. h. ihre Funktionalisierung mit dem Ziel der Erzeugung von Be‐ deutung. 4 In Aufnahme des Mottos der Behindertenrechtsbewegung „Nothing about us without us - Nichts über uns ohne uns“ fordert sie die Einbeziehung von Betroffenen in religionspädagogischen und homiletischen Auslegungen von Heilungserzählungen und die Etablierung einer dis/ ability-sensiblen und ableismuskritischen Hermeneutik in der Exegese. Angela Standhartinger nimmt diese Forderungen wie auch die Kritik an der bisherigen Auslegungsgeschichte zustimmend auf und führt anhand einer konkreten Auslegung von Joh 9 eine mögliche dis/ ability-sensible Interpreta‐ tion vor. Sie argumentiert, dass nicht das Heilungswunder im Zentrum der Erzählung steht, sondern vielmehr die besondere Seh- und Erkenntnisfähigkeit des ‚Blindgeborenen‘, der gegenüber den vermeintlich Sehenden als der ideale Jünger präsentiert wird. Im Gegenüber zu Auslegungen, die Blindheit nur als narrative Prothese betrachten, steht der ‚Blinde‘ in dieser Auslegung im Fokus der Aufmerksamkeit, denn die Heilung des Blindgeborenen kann „als Allegorie auf das menschliche Erkennen überhaupt gelesen werden“ und Blindheit als „eine komplexe Metapher für den Weg des Glaubens zur Erkenntnis“. 5 Wenn wir heute neutestamentliche Heilungserzählungen auslegen wollen, ist eine dis/ ability-sensible Hermeneutik vorauszusetzen. Wir wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine Ihre eigene Hermeneutik inspirierende Lektüre der beiden Positionen! Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0005 80 Susanne Luther
