ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2024-0014
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Dronsch Strecker Vogel„Sind etwa auch wir blind?“
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Marie Hecke
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1 Hierbei wird die Dramatik und auch die unmittelbare Überzeugungskraft für vermeid‐ lich Gesunde/ nicht Behinderte dadurch unterstrichen, dass Beeinträchtigungen jede und jeden von uns zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens betreffen kann: Ein falscher Schritt im Straßenverkehr, eine unerwartete Diagnose einer chronischen Erkrankung. Vgl. Rebecca Maskos, Identität und Identitätspolitik. Welche Bedeutung haben sie für behinderte Menschen? , in: Anne Waldschmidt. Unter Mitarbeit von Sarah Karim (Hg.), Handbuch für Disability Studies, Wiesbaden-2022, 485-499. 2 Vgl. dazu Reinhard von Bendemann, Christus der Arzt. Frühchristliche Soteriologie und Anthropologie im Licht antik-medizinischer Konzepte (BWANT-234), Stuttgart-2022. „Sind etwa auch wir blind? “ Joh 9 ableismuskritisch und disabilitysensibel gelesen Marie Hecke Wenn ich ehrlich sein soll, ich mag neutestamentliche Heilungsgeschichten nicht sonderlich gern - egal wie sehr man die Heilung historisch-kritisch einordnet, ob man sie symbolisch oder körperlich liest, eine Tatsache bleibt leider immer bestehen und stellt uns insbesondere im praktisch-theologischen Gebrauch vor eine große Herausforderung: Neutestamentliche Heilungsge‐ schichten enden (leider) immer mit der körperlichen Heilung, die in der Aufhe‐ bung der körperlichen Beeinträchtigung liegt. Heilungsgeschichten erzählen plastisch und aus der Perspektive der vermeintlich Gesunden einleuchtend 1 von einem körperlichen Mangel, der meist durch Jesus, als Arzt oder als Wunder‐ heiler gelesen, 2 behoben und beseitigt wird - so auch in Joh 9: Blinde Menschen sehen, gehörlose Menschen hören und gehbehinderte Menschen gehen. Damit vermitteln sie das Ideal eines heilen, idealen, nicht beeinträchtigten Körpers. Aus der Perspektive einer Theologin mit einer unsichtbaren Behinderung gehen Heilungsgeschichten an meiner Realität und Wirklichkeit mit dieser vorbei und tragen nicht durch ein Leben mit Behinderung. Sie liefern dem Ideal des indivi‐ duellen bzw. medizinischen Modells von Behinderung Argumente, welches die Reduzierung bzw. Heilung der körperlichen Beeinträchtigung von Menschen mit Behinderung anstrebt und fragen wenig die gesellschaftlichen, ableistischen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 3 Für die Modelle von Behinderung vgl.: Marianne Hirschberg, Modelle von Behinde‐ rung in den Disability Studies, in: Waldschmidt (Hg.), Handbuch Disability Studies (s.-Anm.-1), 93-108. 4 Den Anspruch an Theologie, dass sie neben disabilitysensibel ebenso ableismuskritisch sein sollte, übernehme ich von Anna Neumann. Sind disabilitysensible Ansätze inzwi‐ schen schon weiter verbreitet, steht eine Etablierung von Ableismuskritik innerhalb der Theologie an vielen Stellen noch aus. Vgl. Anna Neumann, Zwischen lebensunwertem und selbstbestimmtem Leben. Impulse des 20. Jahrhunderts für eine ableismuskriti‐ sche Religionspädagogik, in: Richard Janus/ Naciye Kamcili-Yildiz/ Marion Rose/ Harald Schroeter-Wittke (Hg.), Katastrophen. Religiöse Bildung angesichts von Kriegs- und Krisenerfahrungen im 19.-und 20.-Jahrhundert, Leipzig-2023, 323-335. 5 Vgl. Rebecca Maskos, Was heißt Ableismus? Überlegungen zu Behinderung und bürgerlicher Gesellschaft, in: Arranca! 43 (2010), 30-33; dies., Ableismus und Behinder‐ tenfeindlichkeit. Diskriminierung und Abwertung behinderter Menschen, in: Bundes‐ zentrale für politische Bildung (Hg.), Dossier „Behinderungen“ (https: / / www.bpb.de/ themen/ inklusion-teilhabe/ behinderungen/ 539319/ ableismus-und-behindertenfeindlic hkeit/ ; letzter Zugriff am 13.05.2024). 6 Eine breitere Diskussion des Begriffes in der Diskussion fand auf der ersten Netzwerkta‐ gung „Disability & Theologie“ statt. Vgl. dafür den Sammelband zur Dokumentation der Tagung: Marie Hecke/ Katharina Kammeyer/ Anna Neumann (Hg.), Andere Geschichten erzählen. Schöpfung, Heilung und die Rede von Gott in disabilitysensibler Theologie. Dieser erscheint in der Reihe Behinderung - Theologie - Kirche im Kohlhammer-Verlag Ende des Jahres. Strukturen, die Menschen behindern, an. 3 Deswegen stellen neutestamentliche Heilungsgeschichten eine disabilitysensible und ableismuskritische Theologie 4 vor eine enorme Herausforderung und es braucht für den (praktisch-)theologi‐ schen Umgang mit neutestamentlichen Heilungsgeschichten eine ableismukri‐ tische und disabilitysensible Hermeneutik. Ich werde zunächst Grundsätze dieser Hermeneutik erläutern (1.), dann eine ableismuskritische Lesart von Joh 9 vorstellen (2.) und abschließend Elemente eines disabilitysensiblen Umgangs mit Heilungsgeschichten skizzieren-(3.). 1. Ableismuskritische und disabilitysensible Hermeneutik Unter Ableismus versteht man die Diskriminierung von Menschen mit Behin‐ derung und/ oder chronischer Erkrankung. Der Begriff wurde erst 2010 von Rebecca Makros in die deutsche Debatte eingebracht. 5 In der Theologie wird er bisher wenig bis fast gar nicht rezipiert. 6 Der Ausdruck Ableismus stammt aus dem Englischen (ableism) und wird von dem Wort able abgeleitet, das mit „fähig/ imstande sein“ übersetzt werden kann. Unter Ableismus werden gesellschaftliche Denk- und Handlungsmuster verstanden, die eine bestimmte Form von Körper und Geist hervorbringen, die als perfekt, arttypisch und deshalb für den Menschen in seinem Sein wesentlich und vervollkommnend Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 82 Marie Hecke 7 Tobias Bucher/ Lisa Pfahl/ Boris Traue, Zur Kritik der Fähigkeiten: Ableism als neue Forschungsperspektive der Disability Studies und ihrer Partner_innen, in: Zeitschrift für Inklusion 2 (2015) (abrufbar unter: https: / / www.inklusion-online.net/ index.php/ in klusion-online/ article/ view/ 273; letzter Zugriff am-7.5.2024). 8 Dies verdeutlichen schon die Zahlen zu Behinderung: Nur rund 3% der Behindeurngen sind angeboren, 89% durch chronische Erkrankungen im Laufe des Lebens erworben und 1% durch Unfälle. Behinderung ist also nicht statisch, sondern verändert sich im Leben von Menschen. Menschen mit Behinderung ist außerdem mit Rund 15% die größte marginalisierte Gruppe in Deutschland. Siehe dazu https: / / www.bpb.de/ kurz -knapp/ zahlen-und-fakten/ soziale-situation-in-deutschland/ 61823/ schwerbehinderte/ ; letzter Zugriff am 8.5.2024. 9 Werner Schneider/ Anne Waldschmidt, Disability Studies. (Nicht-)Behinderung anders denken, in: Stephan Moebius (Hg.), Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies. Eine Einführung, Bielefeld-2012, 128-150, hier 149. vorgestellt werden. Behinderung wird aus dieser Perspektive nicht mehr in Differenz zur Norm oder Normalität verstanden, „sondern als zwischenmensch‐ liches und gesellschaftliches Verhältnis, das in der Bestimmung von Fähigkeiten seinen Ausdruck findet.“ 7 Aus dieser Perspektive wird gefragt: Wer gilt unter welchen Bedingungen als fähig? Demnach ist die Untersuchung von Ableismus, wie diejenige von Sexismus und Rassismus, die Aufdeckung und Kritik an gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen. Disability ist demgegenüber eine Vielfaltsdimension des menschlichen Kör‐ pers. Behinderung wird demnach nicht als eine körperliche Differenz, die ne‐ gativ bewertet wird, verstanden. Gegenstand der Disability Studies ist nicht die „Behinderung an sich“, sondern die historische, soziale, kulturelle Konstruktion von Normalität von Körpern und Anderssein als Behinderung, also das Dif‐ ferenzverhältnis und die Konstruktion von Behinderung/ Nicht-Behinderung. Eine große Unterscheidung ist dabei die zwischen sichtbarer und unsichtbarer Behinderung. Meist wird sich unter Behinderung der: die schon ikonographische Rollstuhlfahrer: in vorgestellt. Behinderungen sind aber viel vielfältiger: Sie reichen von körperlichen bis zu geistigen Behinderungen, können aber auch chronische Erkrankung und/ oder Schmerz bis zu psychischen Einschränkungen umfassen. Disability ist also ein ‚Umbrella-Begriff ‘, der sehr viele völlig unter‐ schiedliche Facetten und Aspekte zusammenfasst. Behinderung ist zudem ein körperliches Merkmal, das nicht statisch ist, sondern ein Kontinuum darstellt, 8 deswegen verwendet z. B. Anne Waldschmidt die Schreibweise dis/ ability mit einem Schrägstrich, um „die Verschränkungen und Verknüpfungen, das Wechselspiel von ‚normal‘ und ‚behindert‘“ 9 zu verdeutlichen. Öffnet man die Bibel sind Behinderungen omnipräsent: Mose stottert und hält sich für nicht geeignet als Prophet; Isaaks Blindheit ermöglicht es Rebecca, ihrem jüngeren Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 „Sind etwa auch wir blind? “ 83 Lieblingssohn den Segen zukommen zu lassen; die Propheten versprechen eine bessere Welt, in der die Blinden sehen und die Lahmen gehen werden; Jesus ‚heilt‘ Kranke und Menschen mit Behinderung als Anfang dieser besseren Welt und Paulus, selbst chronisch erkrankt, stellt die Körper der Menschen und ihre Geschichten in den Mittelpunkt, wenn er über Auferstehung spricht. 10 Doch wurden diese biblischen Geschichten über Jahrhunderte von The‐ olog: innen interpretiert und gepredigt, die Behinderung als Missgeschick, als Mangel, der überwunden werden muss, und als minderwertig ansehen. Die Wirkungs- und Auslegungsgeschichte dieser Texte ist also vielfältig von Ableismus geprägt. Es braucht daher für einen differenzierten Umgang mit bi‐ blischen Texten sowohl eine ableismuskritische als auch eine disabilitysensible Hermeneutik: Ableismuskritische Hermeneutik problematisiert die vielmals von Ableismus geprägte Wirkungs- und Auslegungsgeschichte von biblischen Texten und auch den Ableismus in biblischen Texten selbst. Disabilitysensible Hermeneutik fragt demgegenüber nach „anderen Geschichten“ 11 über Behin‐ derung oder kraftvolle Aspekte, die diese nicht als defizitäre, sondern als produktive Kategorie und selbstverständlichen Aspekt der Identität erschließen und damit einen Perspektivwechsel initiieren. Beide Aspekte müssen jedoch zusammengedacht werden. Gleichzeitig ist bei dem einen Text der eine Aspekt stärker und bei dem anderen der andere. Für die Exegese und Auslegung von Heilungsgeschichten braucht es sowohl eine disabilitysensible als auch eine ableismuskritische Hermeneutik. Dabei entscheidet je die Verwendung von Behinderung im Text, welcher Aspekt insbesondere benötigt wird. Für die Auslegung von Joh 9 tritt zunächst eine ableismuskritische Lesart in den Mittelpunkt. In einem zweiten Schritt frage ich nach einem disabilitysensiblen Umgang mit Heilungsgeschichten. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 84 Marie Hecke 10 Marie Hecke/ Julia Watts Belser, Mose stottert. Gott fährt Rollstuhl. Crip Culture im Gespräch mit der Bibel, in: ZDS 1 (2024), 1-12, 2. https: / / zds-online.org/ wp-content/ upl oads/ 2024/ 04/ ZDS_2024_1_2_Hecke_Belser.pdf; letzter Zugriff am 8.5.2024. Siehe dazu auch ausführlicher: Julia Watts Belser, Loving Our Own Bones. Disability Wisdom and the Spiritual Subversiveness of Knowing Ourselves Whole, Boston-2023. 11 Rosemarie Garland-Thomson, Andere Geschichten, in: Petra Lutz/ Thomas Macho/ Gisela Staupe/ Heike Zirden (Hg.), Der [Im-]Perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung, Köln 2003, 418-425, hier-419. 12 Dorothee Wilhelm, Wer heilt hier wen? Und vor allem: wovon? Über biblische Hei‐ lungsgeschichten und andere Ärgernisse, in: Schlangenbrut-62 (1998), 10-12, hier-10. 13 Vgl. für diese Interpretation auch Marie Hecke, „There is more than one way to be whole and holy“ - Elemente einer intersektionalen Homiletik am Beispiel von Joh 9, in: Marie Hecke/ Katharina Kammeyer/ Anna Neumann (Hg.), Andere Geschichten erzählen. Schöpfung, Heilung und die Rede von Gott in disabilitysensibler Theologie. Im Erscheinen. 2. Ableismuskritische Lesart von Joh 9 Für eine ableismuskritsche Lesart von Joh 9 skizziere ich zunächst die Norma‐ lisierung des behinderten Körpers in der Heilungsgeschichte und dann die sog. Blindheit als pejorative Metapher. 2.1. Normalisierung des behinderten Körpers Die Heilungsgeschichte in Joh 9,1-7 endet mit der Aufhebung bzw. „Heilung“ der körperlichen Beeinträchtigung, in diesem Falle der Blindheit. Diese stellt demnach einen konkreten Negativ- und Defizitstand des Körpers dar, der behoben werden muss. Aus der Perspektive der vermeintlich Gesunden und sinngemäß „Vollständigen“ wird über die vermeintliche körperliche Wahrheit von Blindheit gesprochen. Die Leibes- und Lebenserfahrung blinder Menschen selbst kommt dabei nicht zu Wort. Der namenlose, blinde Mensch wird nicht gefragt, ob er sehen möchte, sondern es wird normativ angenommen, dass er sehen möchte. Dorothee Wilhelm, eine Theologin, die sich selbst als Krüppelfrau bezeichnet, nennt Heilungsgeschichten deswegen auch „Normalisierungsge‐ schichten“. 12 Joh 9 charakterisiert den Nichtsehenden in Vers 1 als „blind von Geburt an“. Angesichts dessen stellen die Jünger: innen Jesus die Frage, ob der Blinde selbst oder seine Eltern gesündigt haben, sodass er blind geboren wurde (V. 2). Der Text stellt also eine Verbindung von Schuld und Behinderung her, die Jesus allerdings mit der Begründung zurückweist, dass an dem Blindgeborenen die Werke Gottes offenbart werden sollen (V. 3). Zwar verneint er damit die höchst problematische Verbindung von Sünde und Behinderung - die in anderen Heilungsgeschichten begegnet - aber aus einer disabilitysensiblen und ableismuskritischen Perspektive ist die Antwort Jesu trotzdem kritikwürdig: Sie instrumentalisiert sowohl die Erblindung als auch den Blinden. Beide fungieren als Demonstrationsobjekte für die Werke und die Größe Gottes und besitzen dadurch keinen Selbstzweck, keinen Eigenwert und verfügen kaum über eigene Handlungsmacht. 13 „Never“, so drücken es Koosed/ Schumm in Bezug auf die Funktion von Krankheit oder Behinderung in den Heilungsgeschichten aus, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 „Sind etwa auch wir blind? “ 85 14 Jennifer Koosed/ Darla Schumm, Out of the Darkness. Examining the Rhetoric of Blindness in the Gospel of John, in: Disability Studies Quarterly 25 (2005), 77-91, hier 80. 15 Aus historisch-kritischer Perspektive ist zu beachten, dass die Heilung selbst nach damals anerkannten medizinischen Behandlungen beschrieben wird: Sowohl die Ver‐ wendung von Spucke und Lehm als Gemisch als auch das Abwaschen entspricht antiken Behandlungsmethoden von Augenkrankheiten. Vgl. Anna Rebecca Solevåg, Negotia‐ ting the Disabled Body. Representations of Disability in Early Christian Texts (ECL 23), Atlanta 2018, 73; Bernd Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum (FRLANT 170), Göttingen-1996, 234-238. 16 Hecke, Elemente (s.-Anm.-13), im Erscheinen. 17 Urte Helduser, Literatur- und Sprachwissenschaften in den Disability Studies, in: Waldschmidt (Hg.), Handbuch Disability Studies (s.-Anm.-1), 219-233, hier 220. is the condition simply an expression of the various possibilities inherent in the human body. Never is the condition an accident. And never is the condition seen as a positive gift of God. Rather, the disability is always present for some other reason or purpose. 14 Die Behinderung und ihre Heilung werden, auch mit Blick auf die folgende Aus‐ einandersetzung, ob Jesus der wahre Messias ist, funktionalisiert. Dies überdeckt eine mögliche alternative Bedeutung für den Betroffenen selbst. Behinderungen werden damit zum Objekt göttlichen Handelns und für Menschen mit Behinde‐ rung wird der Status als autonomes Subjekt damit zumindest angefragt. Der Blinde wird auch nicht gefragt, ob oder was er möchte. Stattdessen streicht Jesus ihm den Spuckbrei fast schon übergriffig auf die Augen. 15 2.2. Blindheit als pejorative Metapher Blindheit wird am Ende des Textes als pejorative Metapher für die Unfähigkeit oder auch Unwilligkeit zu erkennen und zu verstehen verwendet. „Diese metaphorische Bedeutung der ‚Blindheit‘ baut auf dem ableistischen Vorurteil auf, welches körperliche Normabweichungen mit kognitiven Einschränkungen verknüpft.“ 16 In Joh 9,39-41 sagt Jesus zu den Pharisäer: innen, dass er in die Welt gekommen sei, damit die nicht-Sehenden anfangen zu sehen und die Sehenden blind werden, worauf diese fragen: „Sind wir etwa blind? “ Die Verwendung von Blindheit wird metaphorisch verstanden. Sehen/ Blindheit wird mit der Fähigkeit bzw. Bereitschaft verknüpft etwas zu erkennen, zu begreifen und zu verstehen oder nicht. Konkret geht es um die Frage, wer Jesus als Messias anerkennt oder nicht. Der vorher Blinde kann dies auch erst wahrnehmen, nachdem er körperlich geheilt wurde. Behinderung wird dabei „als Element eines kulturellen Symbolsystems verstanden, das für die Konstitution von sozialen Verhältnissen und Identitäten maßgeblich ist.“ 17 Für die Analyse vermag Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 86 Marie Hecke 18 Helduser, Literatur- und Sprachwissenschaften (s.-Anm.-17), 224. 19 Helduser, Literatur- und Sprachwissenschaften (s.-Anm.-17), 224. 20 Vgl. David T. Mitchell/ Sharon L. Snyder, Narrative Prosthesis. Disability and the Dependencies of Discourse, Michigan-2000. 21 Vgl. Helduser, Literatur- und Sprachwissenschaften (s.-Anm.-17), 225. 22 Helduser, Literatur- und Sprachwissenschaften (s.-Anm.-17), 225. der Blick in die Literatur- und Sprachwissenschaften in den Disability Studies hilfreich sein. So stellt Urte Helduser fest, dass Behinderung in literarischen Werken zwar einerseits marginalisiert wird, sie aber demgegenüber über eine herausragende symbolische Dimension verfügt. „Zudem wird“, so Helduser, der behinderte Körper symbolisch eingesetzt oder gedeutet: So steht etwa Blindheit entweder für Erkenntnismangel oder umgekehrt für besondere ‚Sehergabe‘ (wie im Fall des blinden Teiresias in Sophokles’ Dramen König Ödipus und Antigone); der ‚Hinkefuß‘ gilt als diabolisches Zeichen - etwa bei Mephisto in Goethes Faust - und die literarische Figur des ‚Kriegskrüppels‘ dient als Bild für die Gewalt des Krieges oder die ‚Versehrtheit der Nation‘ der Nachkriegsgesellschaft. 18 Problematisch ist dabei die negative, pejorative Verwendung der Metapher. Die Behinderung wird meist mit Mangel, Defekt, Dummheit oder Nichtver‐ stehen assoziiert und darin instrumentalisiert. Die gesellschaftliche Realität, die Person, der Mensch mit Behinderung verschwindet hinter der „symbolischen Indienstnahme“ 19 . Dieser besondere Gebrauch von behinderten Körpern und ihrer Funktion, um Normalität zu konstituieren, steht auch im Zentrum des Konzeptes der „Narrativen Prothese“ von Mitchell und Snyder. 20 Sie betonen die Funktionalisierung von behinderten Körpern für die Erzeugung von Bedeutung. Dabei stellen sie ein Spannungsfeld zwischen der Vereinnahmung auf der einen und der gesellschaftlichen Realität von Menschen mit Behinderung auf der anderen Seite fest. 21 Die Materialität von Körpern mit Behinderung und den Metaphern ermöglicht einen bildlichen Verweis auf die universale körperliche Materialität. In diesem Sinne betrachten Mitchell und Snyder Behinderung als ‚narrative Prothese‘, nämlich als ein Hilfsmittel, durch das der literarische Text mit einer außerhalb der sprachlichen Zeichen liegenden Materialität vermittelt wird. 22 Problematisch an der narrativen Prothese in Joh 9 ist, dass sie in der Regel pejorativ ist. Sie ist auch gesellschaftlich etabliert. So wird das Wort ‚blind‘ oft verwendet und dabei nur indirekt über Sehbehinderung gesprochen. Es gibt den ‚blinden Fleck‘, die ‚blinde Liebe‘ ebenso wie den ‚blinden Hass oder Gehorsam‘. Es existieren der ‚Blindfisch, Blindgänger, Blindtext‘ - um nur einige Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 „Sind etwa auch wir blind? “ 87 23 Für eine ganze Liste solcher körperlichen Metaphern vgl. Rebecca Maskos, Bewun‐ dernswert an den Rollstuhl gefesselt - Medien und Sprache in einer noch nicht inklusiven Gesellschaft, in: Theresia Degener/ Elke Diehl (Hg.), Handbuch Behinder‐ tenrechtskonvention. Teilhabe als Menschenrecht - Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe, Bonn-2015, 308-319, hier-308. 24 Hecke/ Watts Belser, Mose (s.-Anm.-10), 4. 25 Vgl. Hecke, Elemente (s.-Anm.-13), im Erscheinen. Beispiele zu nennen. 23 „Wenn Behinderung zur gängigen Metapher wird“, so Belser/ Hecke, wie etwa Blindheit als Symbol für Nichtverstehen, Verkennen, Dummheit oder Ignoranz, dann hat das reale Konsequenzen: Es etikettiert, bewertet und beurteilt Blindheit, baut Barrieren auf, prägt Normalität und ableistische Denkmuster. 24 In Joh 9 ist darüber hinaus kritisch, dass die Metapher der Blindheit in einem zweiten Schritt auf die Pharisäer: innen angewandt wird und in der weiteren Deutungsgeschichte dann zur pejorativen Metapher für Jüd: innen mit einer langen antisemitischen Wirkungsgeschichte wurde. Bildlich dargestellt wurde dies in dem mittelalterlichen Figurenpaar Ekklesia und Synagoga, so zum Beispiel am Straßburger Münster zu finden. Das Motiv der Blindheit ist somit intersektional zu analysieren und zu problematisieren. 25 3. Disabilitysensibler Umgang mit Heilungsgeschichten Abschließend möchte ich nach einem disabilitysensiblen Umgang mit Heilungs‐ geschichten in der Exegese, aber auch in der Praxis fragen, der sich ergibt, wenn wir Methoden und Inhalte der Disability Studies einbeziehen. Die Disability Studies vollziehen erstens einen Perspektivwechsel: Behin‐ derte Menschen sind keine Objekte, sondern autonome Subjekte. Da, wo neutestamentliche Heilungsgeschichten einen Objektstatus vermitteln, sollte dem widersprochen werden. In Joh 9 sollen an der Behinderung die Werke Gottes offenbart werden und der Blinde wird nicht nach seinem Willen gefragt. Die Behinderung wird also objektiviert und instrumentalisiert. Gleichzeitig ist der namenlose Blinde Subjekt, wenn er selbstständig zum Teich geht und sich wäscht. Dieses Spannungsfeld muss wahrgenommen werden. „Nothing about us without us - Nichts über uns ohne uns“ ist der Leit‐ spruch der weltweiten Behindertenrechtsbewegung. Dieser sollte zweitens auch Leitspruch für einen disabilitysensiblen Umgang mit neutestamentlichen Heilungsgeschichten werden. In der Auslegung - und noch mehr im religions‐ pädagogischen und homiletischen Umgang mit ihnen - sollten ambige Stimmen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 88 Marie Hecke 26 Nancy Mairs, Waist high in the world, Boston-1996, 9f. zu Heilung von Menschen mit chronischer Erkrankung bzw. Behinderung miteinbezogen werden. Menschen mit Behinderung bzw. chronischer Erkran‐ kung beschreiben diese oft als ein Fragment ihrer Identität, ohne die sie sich nicht denken können. So hatte die Autorin Nancy Mairs (1943-2016) ab ihrem 28. Lebensjahr die Diagnose Multiple Sklerose und war rund um die Uhr auf Assistenz angewiesen als sie in ihrer Autobiografie „Waist high in the world“ schrieb: Ich könnte mir eine Nancy ohne MS vorstellen. … Ich wäre sicher nicht die Schriftstel‐ lerin geworden, die ich jetzt bin. So wie sich die Läsionen in meinem zentralen Ner‐ vensystem ausgebreitet haben, so haben sie jeden Teil meiner Existenz durchdrungen. MS ist genauso die Essenz meines ‚Ichs‘ wie der Tod meines Vaters und die zweite Ehe meiner Mutter, meine Yankee-Jugend, meine Konvertierung zum Katholizismus, mein Doktor in Englischer Literatur. Ich könnte die MS nicht abstreifen, ohne das Lebewesen zu beschneiden, das die MS in sich trägt. 26 Mairs zeigt ihren Leser: innen einen Blick auf ihren Körper, auf sich selbst, der vielleicht aus der Perspektive eines vermeintlich gesunden Körpers überrascht: Ihr gelähmter, abhängiger Körper ist etwas positives, was selbstverständlich zu ihrem Leben dazu gehört. Der Weg dahin, das kann man zwischen den Zeilen lesen, war kein einfacher: Ebenso einschneidend wie der Tod des Vaters. An einer anderen Stelle schreibt sie davon, dass sie ihren Körper tragen muss. Aber ihre Behinderung ist ein Teil von ihr. Zudem werden drittens Behinderungen in biblischen Texten, aber noch mehr in ihrer Auslegung, metaphorisiert. Mit den Metaphern ist allerdings Vorsicht geboten: In Joh 9 wird blind sein und sehend werden als pejorative Metapher für erkennen, wahrnehmen und begreifen verwendet. Mit Macht und Missbrauchsanfälligkeit von der pejorativen Metapher der Blindheit sollte bewusst umgegangen werden. Dabei muss vielleicht auch zunächst ausgehalten und nicht aufgelöst werden, dass diese Metaphern in unserer Sprache fehlen und eine Leerstelle hinterlassen, die nicht so schnell gefüllt werden kann, dass Körpermetaphern in ihrer Materialität und Existentialität nicht einfach ersetzt werden können. Dieses ist aber produktiver als Metaphern auf Kosten von Menschen mit Behinderung und ihrer körperlichen Realität zu verwenden. Die Frage nach einer disabilitysensiblen und ableismuskritischen Auslegung von neutestamentlichen Heilungsgeschichten stellt die Frage nach Körpern in ihrer Vieldimensionalität und Disability als Querschnittsthema der Theologie. Dies zu etablieren, steht auf unterschiedlichen Ebenen noch aus. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 „Sind etwa auch wir blind? “ 89 Marie Hecke studierte Evangelische Theologie und Ju‐ daistik in Leipzig, Münster, Jerusalem und Berlin, promo‐ vierte in Göttingen in Vergleichender Religionspädagogik und arbeitete anschließend als Postdoc am Lehrstuhl von Neues Testament und Theologische Geschlechterfor‐ schung und am Institut für feministische Theologie, Theo‐ logische Geschlechterforschung und soziale Vielfalt der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. Zu ihren Forschungsschwerpunkte ge‐ hören antisemitismuskritische Religionspädagogik, Theologische Disability Studies und biblische Hermeneutik und Didaktik. Derzeit ist sie Vikarin der EKBO. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0006 90 Marie Hecke
