eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 27/54

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
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1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2024-0016
1216
2024
2754 Dronsch Strecker Vogel

Dis/ability Studies und die Texte des Neuen Testaments

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2024
Ruben A. Bühner
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1 Dieser Aufsatz verdankt wesentliche Anstöße den fruchtbaren Diskussionen und daraus entstehenden Anregungen, die ich von meinen Studierenden am Evangelischen Institut der Universität Würzburg erhalten habe, die vielfach in sonderpädagogischen Lehramtsstudiengängen studieren und dadurch sowie durch diverse schulische Prak‐ tika wertvolle Perspektiven beigetragen haben. 2 Vgl. z. B. Sarah J. Melcher, Prophetic Disability. Divine Sovereignty and Human Bodies in the Hebrew Bible (Studies in Religion, Theology, and Disability Series), Waco 2022; Sarah J. Melcher/ Mikeal C. Parsons/ Amos Yong (Hg.), The Bible and Disability. A Commentary (Studies in Religion, Theology, and Disability Series), Waco 2017; Saul M. Olyan, Disability in the Hebrew Bible. Interpreting Mental and Physical Differences, Cambridge 2008; Rebecca Raphael, Biblical Corpora. Representations of Disability in Hebrew Biblical Literature (LHB 445), London/ New York 2008; Jeremy Schipper, Disability Studies and the Hebrew Bible. Figuring Mephibosheth in the David story (LHB 441), New York 2006; Ders., Disability and Isaiah’s Suffering Servant (Biblical Refigurations), Oxford-2011. Hermeneutik Dis/ ability Studies und die Texte des Neuen Testaments Hermeneutische Anliegen und konzeptionelle Herausforderungen Ruben A. Bühner 1. Einführung Die interdisziplinär angelegten Dis/ ability Studies präsentieren nicht nur grund‐ sätzlich eine recht junge Forschungsperspektive, sondern sind v. a. in den bibel‐ wissenschaftlichen Fächern bisher nur von ausgewählten Vertreterinnen und Vertretern intensiv rezipiert worden. 1 Auffallend ist dabei, dass die Bezugnahme auf die Dis/ ability Studies in alttestamentlichen Studien bereits umfassender geschehen ist, 2 während im Neuen Testament die dahingehenden Publikationen noch überschaubar sind und sich mehrheitlich v. a. auf die Heilungserzählungen Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 3 Anne Waldschmidt (Hg.), Handbuch Disability Studies, Wiesbaden/ Heidelberg-2022. 4 Die Verwendung englischer Begrifflichkeit nimmt dabei nicht nur eine sprachliche Konvention auf, sondern hat den Vorteil, einen Verfremdungseffekt zu generieren, der vor vorschnellen und umgangssprachlich verankerten Assoziationen wie „Schaden“, „Unfähigkeit“ oder „Unglück“ warnt. 5 Vgl. zu dieser Begrifflichkeit etwa auch Anne Waldschmidt, Macht - Wissen - Körper. Anschlüsse an Michel Foucault in den Disability Studies, in: Anne Waldschmidt/ Werner Schneider (Hg.), Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld (Disability studies Körper, Macht, Differenz 1), Bielefeld 2007, 55-77, hier 57: Zu unterscheiden ist zwischen „der medizinisch oder psychologisch diagnostizierbaren Beeinträchtigung oder Schädigung (impairment)“ und „der aus ihr resultierenden sozialen Beeinträchtigung (disability)“. 6 Vgl. so etwa bei Louise A. Gosbell, „The Poor, the Crippled, the Blind, and the Lame“. Physical and Sensory Disability in the Gospels of the New Testament (WUNT/ II 469), Tübingen-2018. der Evangelien und die Person des Paulus konzentrieren. Bemerkenswerter‐ weise werden etwa im Handbuch Disability Studies von 2022 bibelwissen‐ schaftliche Arbeiten überhaupt nicht und theologische Studien nur am Rande erwähnt. 3 Naturgemäß entspricht es solch einer jungen und sich im Aufwind befindenden Disziplin, dass sie sich versuchsweise in verschiedene Richtungen entfaltet und sich unterschiedlicher Frageperspektiven und dazugehöriger Me‐ thoden bedient. In diesem Kontext verstehen sich die folgenden Ausführungen als hermeneutische Zwischenüberlegungen, welche unterschiedlichen Anliegen innerhalb der bibelwissenschaftlichen Bezugnahmen auf die Dis/ ability Studies vorherrschen, wie deren Relation zu beschreiben ist und welche Perspektiven sich daraus m. E. für die weitere Forschung und Applikation in der Lehre ergeben. Da in der Literatur ein mitunter verwirrendes Nebeneinander von unter‐ schiedlichen Begrifflichkeiten vorherrscht und gerade in den neutestamentli‐ chen Aufnahmen der Dis/ ability Studies diese sprachliche Varianz nicht selten auch mit einer konzeptionellen Unschärfe einhergeht, ist es zunächst ratsam, kurz die in diesem Beitrag gewählte Begrifflichkeit zu erläutern. Demnach verwende ich „Impairment“, um auf ein körperliches Merkmal zu verweisen, das in sozial-kultureller Hinsicht von der Mehrheitsgesellschaft oder einem litera‐ rischen Zeugnis als vom körperlichen Ideal abweichend betrachtet wird. 4 „Di‐ sability“ hingegen meint im Folgenden den negativen Effekt („Be-hinderung“), der sich aus dem Verhältnis zwischen einem Impairment und den gegebenen sozialen Umständen und Kontexten ergibt. 5 Impairment und Disability lassen sich dabei nicht scharf voneinander trennen, weshalb manche jüngere Studien dazu tendieren, die Unterscheidung aufzugeben. 6 Beide können sich auf ein und dieselbe menschliche Erfahrung beziehen, insofern die Identifizierung eines Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 104 Ruben A. Bühner 7 Vgl. so auch Heike Raab, Intersektionalität in den Disability Studies. Zur Interdependenz von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht, in: Waldschmidt/ Schneider (Hg.), Disability Studies (s. Anm. 6), 127-148, 142; Markus Dederich, Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies (Disability Studies 2), Bielefeld 2007, 20; sowie mit Blick auf das Neue Testament Isaac T. Soon, A Disabled Apostle. Impairment and Disability in the Letters of Paul, Oxford-2023, 10. 8 Vgl. Anne Waldschmidt/ Sarah Karim, Was sind Disability Studies? Profil, Stand und Vokabular eines neuen Forschungsfeldes, in: Anne Waldschmidt (Hg.): Handbuch Disability Studies (s. Anm. 3), 1-15, 3; einen luziden Überblick über die gängigen Modelle und ihre Abgrenzung zueinander vermitteln Gosbell, „The Poor, the Crippled, the Blind, and the Lame“ (s.-Anm.-6),-32-39; Dederich, Körper (s.-Anm.-7), 32-47. körperlichen Merkmals als vom sozial und kulturell konstruierten Ideal abwei‐ chend für sich genommen bereits einen negativen Effekt auf die betreffende Person haben kann. Auf diesen kulturellen Aspekt, wonach bereits die Charak‐ terisierung von etwas als Impairment oder Disability von kulturell bedingten Normvorstellungen abhängt, verweist die Schreibweise „Dis/ ability“. Trotz der Überschneidung ist die forschungssprachliche Differenzierung zwischen Impairment und Disability m. E. eine produktive heuristische Unterscheidung, die es erlaubt, verschiedene Faktoren einzeln zu fokussieren, die beim Phänomen der Behinderung eine Rolle spielen: Zum einen das Verhältnis zwischen körper‐ lich-kognitiver Realität und körperlich-kognitivem Idealbild der Gesellschaft, zum anderen die negativen Auswirkungen, die sich aus deren Verhältnis zur jeweiligen Umwelt ergeben sowie schließlich ganz grundsätzlich die kulturell bedingten Kategorisierungsprozesse, die zwischen „normal“ und „anormal“ unterschieden. 7 2. Was tun wir, wenn wir Dis/ ability Studies betreiben? Hinter dem, was als Dis/ ability Studies bezeichnet wird - Studien über oder zu Behinderung - verbirgt sich ein sehr breites Feld, das unterschiedliche Gegenstände und methodische Vorgehensweisen umfasst. Was die sehr diver‐ genten Entwürfe und ihre unterschiedlichen hermeneutischen Anliegen mit‐ einander verbindet, ist die Bezugnahme auf die Kategorie „Behinderung“ als einem sozialen und/ oder kulturellen Konstrukt. Gemeinsam sind den in den vergangenen Jahren zunehmend verfeinerten Zugängen dabei in erster Linie die Ablehnung älterer und medizinischer oder essentialistischer Modelle von Disability, wonach Behinderung ein quasi natürliches Problem des oder der jeweils Betroffenen sei. 8 Diese grundsätzliche Vielfältigkeit ist sicherlich charakteristisch für ein Forschungsfeld, das zwar nicht mehr ganz neu, aber immer noch dabei ist, sich Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Dis/ ability Studies und die Texte des Neuen Testaments 105 9 Die Anfänge verbinden sich dabei u. a. mit dem (selbst behinderten) Medizinsoziologen Irving K. Zola sowie dem Sozialwissenschaftler Michael Oliver aus Großbritannien. Zu den Ursprüngen der Dis/ ability Studies vgl. Dederich, Körper (s. Anm. 7), 17-19; Waldschmidt/ Karim, Was sind Disability Studies? (s.-Anm.-8), 1-15. 10 Vgl. dazu Anne Waldschmidt, Selbstbestimmung als behindertenpolitisches Paradigma. Perspektiven der Disability Studies, in: APuZ 8 (2003), 13-20, hier 13; Dederich, Körper (s.-Anm.-7),-17. tastend in verschiedene Richtungen zu entfalten. Damit einher geht allerdings gerade in neutestamentlichen Adaptionen der Dis/ ability Studies mitunter eine Unklarheit darüber, was „Disability“ und verwandte Begriffe bezeichnen. Grundsätzlich unproblematisch ist die Tatsache, dass verschiedene begriffliche Definitionen und methodologische Herangehensweisen parallel existieren. Aus hermeneutischer Perspektive sind m. E. jedoch die nicht reflektierte Verqui‐ ckung unterschiedlicher Fragehorizonte zu thematisieren, die sich teilweise in den bibelwissenschaftlichen Bezugnahmen auf die Dis/ ability Studies ergeben, und die in der Gefahr stehen, anachronistisch gegenwärtige Konzepte in die neutestamentlichen Texte zu projizieren. Deshalb geht es zunächst darum, diese unterschiedlichen hermeneutischen Anliegen zu benennen, um dann ihr Verhältnis zueinander in den Blick zu nehmen. 2.1. Die hermeneutischen Anliegen des Ansatzes Hinter neutestamentlichen Studien, die sich den Dis/ ability Studies zuwenden, lassen sich bei genauerem Hinsehen mindestens drei voneinander zu unter‐ scheidende hermeneutische Anliegen identifizieren, verbunden mit ihren je eigenen methodischen Zugängen. Die Differenzierung jüngerer Publikationen anhand verschiedener erkenntnisleitender Interessen ist dabei freilich häufig nicht eindeutig und mehrfache Zuordnungen sind meist die Regel. (1) Das primär leitende hermeneutische Anliegen der Dis/ ability Studies ist untrennbar mit ihrem Ursprung verbunden. Ihre maßgeblichen Anstöße hat diese Frageperspektive von der politischen Behindertenrechtsbewegung in Nordamerika erhalten. 9 Ähnlich wie verwandte Forschungsdisziplinen wie etwa die Gender Studies, Queer Studies oder der Childist Criticism, haben demnach auch die Dis/ ability Studies ihrem Ursprung nach ein emanzipatorisches An‐ liegen, indem sie auf die gesellschaftliche De-Marginalisierung von Menschen mit Behinderungen zielen. Neben der wissenschaftlichen haben sie somit von Anfang an auch eine politische Zielperspektive. 10 Ein zentraler Motivations‐ grund für die in den vergangenen Jahrzehnten stets zunehmenden Arbeiten zu Dis/ ability Studies ist das - mehr oder weniger offen genannte - Ziel, Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 106 Ruben A. Bühner 11 Vgl. etwa Wolfgang Grünstäudl/ Markus Schiefer Ferrari (Hg.): Gestörte Lektüre. Disa‐ bility als hermeneutische Leitkategorie biblischer Exegese (Behinderung - Theologie - Kirche 4), Stuttgart 2012; Markus Schiefer Ferrari, (Un)gestörte Lektüre von Lk 14,12-14. Deutung, Differenz und Disability, in: dies. (Hg.), Gestörte Lektüre 11-47; Louise J. Lawrence, Sense and Stigma in the Gospels. Depictions of Sensory-Disabled Characters (Biblical Refigurations), Oxford 2013 sowie (zumindest mit einem starken rezeptionsgeschichtlichen Blick) Adela Y. Collins, Paul’s Disability. The Thorn in His Flesh, in: Candida Moss/ Jeremy Schipper (Hg.), Disability Studies and Biblical Literature, New York-2011, 165-183. 12 Vgl. so etwa Martin C. Albl, Hebrews and the Catholic Letters, in: Melcher/ Par‐ sons/ Yong (Hg.): The Bible and Disability (s. Anm. 2), 427-457; Jaime Clark-Soles, John, Forst-Third John, and Revelation, in: Melcher/ Parsons/ Yong (Hg.): The Bible and Disability (s. Anm. 2), 333-378. Verwandt mit solch einem Ansatz ist auch Martin C. Albl, „For Whenever I am Weak, then I am Strong“. Disability in Paul’s Epistles, in: Hector Avalos/ Sarah J. Melcher/ Jeremy Schipper (Hg.), This Abled Body. Rethinking Disabilities in Biblical Studies, Atlanta-2007, 145-158. 13 Vgl. etwa ausgehend von Joh 1,3 Clark-Soles, John (s. Anm. 12), 336: „Verse 3 implies that ‚good bodies‘ come in a variety of forms. Rather than ‚fixing‘ bodies that deviate from the ‚norm,‘ the concern should be to fix society to make it inclusive of all bodies.“ gegenwärtigen Diskriminierungen, Marginalisierungen und Be-hinderungen von Menschen mit unterschiedlichen körperlichen oder geistigen Beeinträchti‐ gungen entgegenzutreten. Bezogen auf die Bibelwissenschaften und insbesondere auf das Neue Tes‐ tament zeigt sich solch ein hermeneutisches Anliegen am deutlichsten in Publikationen, die - trotz unterschiedlicher Ansätze - letztlich auf eben solch eine gegenwärtige gesellschaftliche Debatte zielen. Dies sind zum einen Studien, die im weitesten Sinne mit einem rezeptionsgeschichtlichen Ansatz die Wir‐ kungsgeschichte neutestamentlicher Perspektiven auf Disability und ihre inhä‐ renten Normalisierungstendenzen aufzeigen und problematisieren, entweder mit Fokus auf antike Rezeption biblischer Erzählungen oder deren Anwendung in gegenwärtigen homiletischen oder religionspädagogischen Kontexten. 11 Eine weitere Gruppe von Studien, die sich dem Phänomen der Behinderung in neutestamentlichen Texten mit einem vorrangig gegenwärtigen Interesse zu‐ wendet, lässt sich mit einem im weitesten Sinne befreiungstheologischen Ansatz beschreiben, der die neutestamentlichen Texte bzw. die darin identifizierten Konzepte und Vorstellungen unmittelbar dazu verwendet, um davon ausge‐ hend gegenwärtige Probleme zu adressieren 12 oder neutestamentliche Texte als Fürsprecher für die Anliegen der Inklusion zu verstehen. 13 So schlussfolgert etwa M. Albl in seiner Untersuchung zu Disability im Hebräerbrief und den katholischen Briefen: Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Dis/ ability Studies und die Texte des Neuen Testaments 107 14 Albl, Hebrews (s.-Anm.-12), 454f. 15 Ähnliches lässt sich auch in alttestamentlichen Studien finden, die sich den Dis/ ability Studies zuwenden; vgl. etwa die Beiträge in Avalos/ Melcher/ Schipper (Hg.), This Abled Body (s.-Anm.-12). 16 Vgl. Jennifer Koosed/ Darla Schumm. Out of the Darkness. Examining the Rhetoric of Blindness in the Gospel of John, in: Darla Schumm/ Michael Stoltzfus (Hg.), Disability in Judaism, Christianity, and Islam. Sacred Texts, Historical Traditions, and Social Analysis, New York 2011, 77-92; Markus Schiefer Ferrari, Dis/ abilitykriti‐ sche Hermeneutik biblischer Heilungserzählungen am Beispiel von Mk 2,1-12, in: Bernd Kollmann/ Ruben Zimmermann (Hg.), Hermeneutik der frühchristlichen Wun‐ dererzählungen. Geschichtliche, literarische und rezeptionsorientierte Perspektiven (WUNT/ I 339), Tübingen 2014, 627-646; Dorothee Wilhelm, „Normal“ werden - war’s das? Kritik biblischer Heilungsgeschichten, in: Bibel und Kirche 61 (2006), 2.103; Kerry H. Wynn, Johannine Healings and the Otherness of Disability, in: Perspectives in religious studies-34 (2007),-1.61-75. 17 Vgl. so etwa bei Anna R. Solevåg, Hysterical Women? Gender and Disability in Early Christian Narrative, in: Christian Laes (Hg.), Disability in Antiquity (Rewriting antiquity), London/ New York-2017, 315-327. There is often a striking correspondence between the ethical values frequently expressed in disability studies and the Christian values expressed in the General Epistles. […] Disability Studies and the Epistles call not only for a transformation of values at a theoretical level but for practical social changes as well. 14 Verbunden damit sind ferner Publikationen, die vor dem Hintergrund gegen‐ wärtiger gesellschaftlicher Debatten um Dis/ ability eine kritische Perspektive auf bestimmte neutestamentliche Texte und deren Erzählungen werfen. 15 In jenen wird dabei meist eine „nicht-behinderte“ (engl.: „ableist“) Perspektive identifiziert, insofern sie etwa behinderte Personen nicht selbst zu Wort kommen lassen (z. B. Lk 14,2-4), sie paternalistisch behandeln (z. B. Mt 11,5), ihnen jede eigene Fähigkeit absprechen (z. B. Joh 5,5-8), bestimmte Formen von Behinderung in einem metaphorischen und pejorativen Sinne verwenden (z. B. Lk 5,31) oder wenn behinderte Menschen lediglich als Objekte und Mittel von nicht behinderten Menschen vorkommen (z. B. Lk 14,13f.). 16 Dies verbindet sich gelegentlich auch mit einem betont intersektionalen Fokus in Kombination mit anderen Kategorien wie Gender oder Ethnizität. 17 Viele Studien konzentrieren sich dabei auf die Heilungserzählungen in den synoptischen Evangelien (v. a. Lukas und Johannes), die als Vorwegname einer eschatologischen Heilung von behinderten Menschen und damit durch die Verknüpfung von Heil und Heiligung eine angleichende „Normalisierung“ darstellen und damit nicht nur zugleich implizieren, dass behinderte Menschen „anormal“ sind, sondern sich auf die medizinisch-körperliche Dimension des/ der jeweils Betroffenen fokus‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 108 Ruben A. Bühner 18 Vgl. dazu einführend Elsbeth Bösl/ Anne Klein/ Anne Waldschmidt (Hg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte; eine Einführung (Disa‐ bility Studies 6), Bielefeld 2010; Elsbeth Bösl/ Bianca Frohne, Disability History, in: Waldschmidt (Hg.), Handbuch Disability Studies (s.-Anm.-3), 127-142. 19 Vgl. etwa beispielhaft aus jüngerer Zeit Anna Rebecca Solevåg, Negotiating the Disabled Body. Representations of Disability in Early Christian Texts (SBLECL 23), Atlanta 2018; Gosbell, „The Poor, the Crippled, the Blind, and the Lame“ (s. Anm. 6); einen knappen Forschungsüberblick zu neutestamentlichen Studien, die sich mit einem vorrangig his‐ torischen Anliegen auf die Dis/ ability Studies beziehen, bietet Isaac T. Soon, Disability and New Testament Studies: Reflections, Trajectories, and Possibilities, in: Journal of Disability & Religion-25 (2021), 4.374-387. 20 Vgl. etwa z. B. Wolfgang Grünstäudl, Das Auge der Braut. Zur Metaphorik des Nicht/ Sehens bei Didymus von Alexandrien, in: Grünstäudl/ Schiefer Ferrari (Hg.): Gestörte Lektüre (s.-Anm.-11), 160-179; Schipper, Disability (s.-Anm.-2). 21 Vgl. Soon, Disabled Apostle (s. Anm. 7); Chad Hartsock, Sight and Blindness in Luke-Acts. The Use of Physical Features in Characterization (BiInS 94), Boston 2008; Walter T. Wilson, Healing in the Gospel of Matthew. Reflections on Method and Ministry, Minneapolis-2014. sieren, nicht aber auf die gesellschaftlichen Barrieren oder auf Behinderung als kulturelles Konstrukt. (2) Davon zu unterscheiden ist ein zweites hermeneutisches Anliegen, das auch in anderen historisch arbeitenden Disziplinen vorkommt, die Ansätze der Dis/ ability Studies aufnehmen, 18 und das v. a. in den bibelwissenschaftli‐ chen Disziplinen dem Fach gemäß dominiert. Gegenstand der Untersuchung wird hier das Phänomen Behinderung in seinen jeweiligen historischen oder literarischen Kontexten. 19 Die meisten bisherigen Studien fokussieren dabei auf einen bestimmten neutestamentlichen Text oder eine Textgruppe, es existieren aber auch vereinzelt vergleichende Studien mit zeitgenössischen Vorstellungen. Neben Detailfragen geht es häufig darum, durch den Fokus auf neutestamentliche Phänomene von Behinderung bisherige Klischees zu hinterfragen, wonach Menschen mit Behinderungen in der Antike etwa grund‐ sätzlich sozial ausgegrenzt gewesen seien o. ä. 20 Verwandt damit sind schließlich literaturwissenschaftlich angelegte Arbeiten, die sich auf einzelne behinderte literarische Figuren konzentrieren und diese Beobachtungen mit antiken Per‐ spektiven auf Dis/ ability ins Gespräch bringen. 21 Das hermeneutische Anliegen jener vorrangig historisch interessierten Gruppe an Studien lässt sich dabei freilich nicht gänzlich von den zuvor genannten und um den gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs bemühten Anliegen trennen. Ohne letzteres wäre das jüngst gesteigerte Interesse an Dis/ ability in antiken Kontexten kaum zu erklären. (3) Eine dritte und in den Bibelwissenschaften eher schwächer vertretene Gruppe an Studien lässt sich als rezipientenorientiert im engeren Sinn be‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Dis/ ability Studies und die Texte des Neuen Testaments 109 22 Vgl. Janet Lees, Enabling the Body, in: Avalos/ Melcher/ Schipper (Hg.), This Abled Body (s. Anm. 12), 161-172; sowie den explizit formulierten Anspruch von Sarah J. Mel‐ cher, Genesis and Exodus, in: Melcher/ Parsons/ Yong (Hg.), The Bible and Disability (s. Anm. 2), 29-556, hier 14: „to read the Bible through the lens of disability, informed by the experiences of human beings with disabilities“ (auch wenn die einzelnen Beiträge des Bandes dann nicht in gleicher Weise dieses Anliegen durchführen). Vgl. auch Schiefer Ferrari, (Un)gestörte Lektüre von Lk-14,12-14 (s.-Anm.-11), 14. 23 Vgl. so mit Blick auf Dis/ ability im Estherbuch Kerry H. Wynn, First and Second Chronicles-Esther, in: Melcher/ Parsons/ Yong (Hg.), The Bible and Disability (s. Anm. 2), 121-157, hier-150-156. 24 Dorothee Wilhelm, Wer heilt hier wen? Und vor allem: wovon? Über biblische Hei‐ lungsgeschichten und andere Ärgernisse, in: Schlangenbrut-62 (1998), 10-12, hier-11. schreiben. Sie fragt explizit nach der Perspektive und Leseerfahrung von behin‐ derten Menschen auf und bei bestimmtem neutestamentlichen Texten. 22 Ver‐ wandt damit sind Lesestrategien von biblischen Texten, die über deren histori‐ sche Perspektive hinausgehend, diese in metaphorischer Weise so (um-)deuten, dass sich darin Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen widerspiegeln lassen. 23 Auch hier dominieren dann überwiegend kritische Bewertungen der neutestamentlichen Texte. So urteilt etwa stellvertretend die im Rollstuhl sitzende Dorothee Wilhelm zu Lk 14,12-14 aus der Perspektive von behinderten Leserinnen und Lesern, dieser sei einer der schlimmsten Texte, vielleicht der behindertenfeindlichste - ich sage dazu ‚normalistischste‘ der Bibel. Auf Kosten meiner und meinesgleichen sollen die Gast‐ geber spirituelles Kapital ansammeln; es geht um unsere spirituelle Ausbeutung. 24 Angesichts der Vielfalt dieser interesseleitenden Ansätze und der Existenz unterschiedlicher Paradigmen in den neutestamentlichen Disability Studies wird deutlich, wie mannigfaltig der sich am Schnittpunkt zwischen Exegese und Disability Studies entspinnende Diskurs ist. So sehr man diese Anliegen für sich genommen auch als wissenschaftlich erstrebenswert oder gar als ethisch geboten betrachten mag, entspringen ihrer nicht hinreichend reflektierten Vermengung jedoch stellenweise Konzepte, die zum einen hinsichtlich ihrer historisch-methodologischen Vorgehensweise als fraglich erscheinen müssen und die zum anderen umgekehrt auch für deren Nutzen im Hinblick auf gegenwärtige gesellschaftliche Diskurse hinderlich sind. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 110 Ruben A. Bühner 25 Dass die alttestamentlichen Schriften dennoch auch ein Konzept „Behinderung“ hätten, argumentiert ausgehend von sprachlich-grammatischen Beobachtungen Thomas Hieke, Die Eignung der Priester für ihren Dienst nach Lev 21,16-24. Mūm, körperlicher Schaden, als Kriterium des Ausschlusses vom Priesterdienst, in: Grünstäudl/ Schiefer Ferrari (Hg.), Gestörte Lektüre, (s.-Anm.-11), 48-66, hier-48. 26 Davon ausgehend übersetzen manche dann etwa griechische Wendungen wie anapeiroi als „Behinderte“; vgl. etwa zu Lk 14,13 Michael Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen-2008, 507. 2.2 Sprachliche und konzeptionelle Unschärfen: Einige kritische Perspektiven In den biblischen Schriften finden sich analog zu anderen Texten dieser Zeit bekannterweise nicht das Konzept bzw. das Abstraktum „Behinderung“ sowie körperlich behinderte Menschen im Allgemeinen, sondern immer nur konkrete Menschen mit körperlichen oder kognitiven Einschränkungen Erwähnung, wie etwa Blinde, Taube, oder Menschen mit defekten Gliedmaßen. 25 Insgesamt scheint den frühjüdischen und neutestamentlichen Texten ein umfassendes Konzept von „Behinderung“, im Unterschied etwa zu temporärer oder län‐ gerfristiger „Krankheit“, zu fehlen. Einige summarische Auflistungen von un‐ terschiedlichen körperlichen Gebrechen legen gelegentlich nahe, dass diese paradigmatisch für eine bestimmte Gruppe an stärker beeinträchtigten Personen stehen und insofern trotz fehlender sprachlicher und konzeptioneller Schärfe nicht automatisch auf jede Form von Krankheit verweisen. 26 Wenn wir von „Behinderung“ oder „Dis/ ability“ sprechen, handelt es sich demnach nicht um quellensprachliche Begriffe, sondern um eine moderne Forschungstermino‐ logie, um bestimmte Aspekte antiker Konzepte zu beschreiben. Wie bei anderen historischen Sachverhalten ist auch hier nicht die gewählte fachwissenschaft‐ liche Metasprache automatisch anachronistisch, wohl aber der Umstand, wenn über die Wahl moderner Beschreibungssprache unreflektiert auch moderne Konzepte auf antike Texte übertragen werden. Dies lässt sich jedoch an einigen jüngeren Studien beobachten, die die oben genannten hermeneutischen An‐ liegen miteinander vermengen. Die vielfach geäußerte Kritik an neutestamentlichen Texten und deren Umgang mit bzw. Darstellung von behinderten Menschen ist aus der Perspektive gegenwärtiger Diskurse meist zutreffend. Die biblischen Heilungsgeschichten setzen implizit häufig die Behinderung als Negativfolie von Heil und Heilung voraus. V. a. in den synoptischen Evangelien findet sich eine Infantilisierung von Menschen mit Behinderung, indem ihnen jede Eigenständigkeit und Fähigkeit abgesprochen wird, oder Menschen mit Behinderung werden lediglich als „Mittel“ verzweckt, durch das nicht Betroffene einen Lohn im Himmel erwerben Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Dis/ ability Studies und die Texte des Neuen Testaments 111 können (vgl. etwa Lk 14,13f.). 27 Diese und ähnliche Kritik an neutestamentlichen Texten und an deren Wirkungsgeschichte ist dabei zwar nachvollziehbar und sollte auch nicht einfach abgetan werden, 28 in historischer Hinsicht läuft diese kritische Perspektive jedoch Gefahr, die antiken Texte einseitig durch eine gegenwärtige Brille hindurch wahrzunehmen, die die zeitgeschichtliche Veran‐ kerung der Texte in verschiedener Hinsicht nicht hinreichend berücksichtigt. Dies gilt nicht nur in Bezug auf die Tatsache, dass heutige technische oder institutionelle Möglichkeiten der Inklusion für die Zeit des Neuen Testaments in der Regel nicht zur Verfügung standen, 29 sondern mehr noch in hermeneutischer Hinsicht. Denn paradoxerweise bringen solch anachronistische Zugänge das Risiko mit sich, genau jene Aspekte zu verstärken, die sie eigentlich kritisieren und mit Blick auf die Gegenwart aufbrechen wollen. Dies zeigt sich zum einen im Hinblick auf das jeweilige Modell von Dis/ ability. Gemeinsam ist allen jüngeren Arbeiten im Rahmen der Dis/ ability Studies, dass sie ein älteres und individualistisches oder medizinisches Modell von Behinderung überwinden möchten, d. h. Disability ist nicht zu verstehen als ein quasi naturgegebenes körperliches Merkmal, sondern als Ergebnis einer gesellschaftlichen Übereinkunft. 30 Solch ein älteres medizinisches Modell wird dabei nicht selten in den neutestamentlichen Schriften identifiziert und kriti‐ siert. Deren Umgang mit behinderten Menschen zeige eine Sichtweise von Behinderung, die diese als Defizit und als individuelles Problem des Einzelnen begreift. Veränderung bzw. Besserung geschieht nur als „Normalisierung“ der Behinderten, nicht an der Umgebung oder der Gesellschaft als Ganzem. Ironi‐ scherweise setzen Studien, die solch eine Kritik äußern, dabei jedoch unbewusst gelegentlich selbst ein medizinisches Modell von Behinderung voraus. Denn versteht man Behinderung als ein soziales und kulturelles Konstrukt, dann lässt sich nicht einfach von bestimmten Impairments, die wir heutzutage als Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 112 Ruben A. Bühner 27 Vgl. Hermann-Josef Venetz, „Und du wirst selig sein …“: kritische Beobachtungen zu Lk 14,14, in: Dieter Böhler/ Philippe Hugo/ Innocent Himbaza (Hg.): L’écrit et l’esprit. Études d’histoire du texte et de théologie biblique en hommage à Adrian Schenker (OBO 214), Göttingen/ Fribourg (Suisse) 2005, 394-409, hier 407: „Die Armen und Krüppel sind nicht Subjekte einer Gemeinschaft von Gleichgestellten; sie sind Objekte, denen die Reichen Gutes tun.“ 28 Vgl. so aber bei Albl, „For Whenever I am Weak, then I am Strong“ (s.-Anm.-12), 158. 29 Vgl. dazu zu Recht Tobias Nicklas, Gottesbeziehung und Leiblichkeit des Menschen. Frühjüdische und antik-christliche Perspektiven, in: Grünstäudl/ Schiefer Ferrari (Hg.), Gestörte Lektüre (s.-Anm.-11), 127-140, hier-137. 30 Zu den unterschiedlichen Modellen vgl. ausführlich Waldschmidt, Macht (s. Anm. 5), 55-77; Dederich, Körper (s. Anm. 7), 26-47; Marianne Hirschberg, Modelle von Behin‐ derung in den Disability Studies, in: Waldschmidt (Hg.), Handbuch Disability Studies (s.-Anm.-3), 93-108. Disability beschreiben, darauf zurückschließen, dass dies in der Antike bzw. in einem konkreten antiken Text oder Kontext auch so gewesen sein muss. 31 D.-h. wir können nicht allein auf Grund der Tatsache dessen, dass wir heute beispiels‐ weise Blindheit als Disability beschreiben - weil wir in unserer gegenwärtigen Gesellschaft Blindheit als Abweichung vom körperlichen Ideal definieren und aus diesem Impairment in unserem heutigen Kontext Nachteile für betroffene Personen erwachsen - darauf schließen, dass das Gleiche für das 1. Jh. n. Chr. in jüdisch geprägten Gegenden Palästinas galt. Oder anders ausgedrückt, wo solch eine Kontinuität unreflektiert angenommen wird, werden damit nicht nur ungewollt bestimmte Klischees verstärkt, sondern wird unbewusst auch einem medizinischen Modell von Behinderung Vorschub geleistet, das mit Verweis auf das körperliche Merkmal (z. B. Blindheit), anders als soziale oder kulturelle Modelle, ohne nähergehende Begründung von einer historischen Kontinuität ausgehen kann. Nun lässt sich berechtigt einwenden, dass bei dem gewählten Beispiel der Blindheit einiges dafür spricht, dass dies auch in der Antike nachteilige Effekte für die Betroffenen hatte und insofern eine ausführliche Begründung, dass es sich dabei auch in neutestamentlichen Kontexten um Disability handelt, nicht notwendig sei. Doch in vielen anderen Fällen ist die Situation entschieden undeutlicher. Woher etwa nehmen wir die Gewissheit, dass beispielsweise der „Wassersüchtige“, den Jesus in Lk 14,1-6 heilt, nach antiken Maßstäben bzw. nach dem sozio-kulturellen Bild des Lukasevangeliums als behindert zu bezeichnen ist? Natürlich lässt sich (zu Recht) kritisieren, dass der „Wassersüch‐ tige“ in der Perikope nicht selbst zu Wort kommt, dass Jesus ihn sogar heilt, ohne danach zu fragen, ob dieser geheilt werden möchte. 32 Wo jedoch vorrangig nach den medizinischen Details und dem Krankheitsbild eines „Wassersüchtigen“ oder anderen Personen, die Jesus in den Evangelien heilt, gefragt wird, werden die sozial-kulturelle Dimensionen solch eines Impairments weitgehend unre‐ flektiert von gegenwärtigen Konzepten übernommen. Schließt man sich dem Anliegen der Dis/ ability Studies an, wonach es um eine „Inversion der vorherrschenden Sichtweise“ 33 geht, dann können in neutestamentlich angelegten Studien gegenwärtige Konzepte nicht leitend sein. Wo neutestamentliche Texte aus einer gegenwärtigen Perspektive heraus kritisiert werden, geht letztlich die Chance verloren, in den antiken Texten kulturell bedingte Kategorisierungsprozesse zu entdecken, die gerade nicht unseren heutigen Normvorstellungen entsprechen, und umgekehrt können die Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Dis/ ability Studies und die Texte des Neuen Testaments 113 31 Siehe dazu auch Schipper, Disability (s.-Anm.-2), 20. 32 Vgl. etwa Schiefer Ferrari, (Un)gestörte Lektüre von Lk-14,12-14 (s.-Anm.-11), 26f. 33 Waldschmidt/ Karim, Was sind Disability Studies? (s.-Anm.-8), 4. 34 Anne Waldschmidt, Warum und wozu brauchen die Disability Studies die Disability History? Programmatische Überlegungen, in: Disability History (2014), 13-28, hier 14. 35 Albl, „For Whenever I am Weak, then I am Strong“ (s.-Anm.-12), 149. neutestamentlichen Texte dann auch nicht länger als horizonterweiternd für gegenwärtige Debatten dienen. Hierbei handelt es sich nicht nur um sprachliche Ungenauigkeiten, die allein der geforderten Kürze wissenschaftlicher Publikationen zuzuschreiben sind. Denn mit dieser Anwendung moderner Kategorien auf neutestamentliche Texte wird mitunter das eigentliche Anliegen der Dis/ ability Studies selbst unterlaufen und deren Potential nicht gehoben. Setzt man ein kulturelles Modell von Dis/ ability voraus, dann wird deutlich, dass es sich bei der Kategorie „Behinderung“ eben gerade nicht um eine eindeutige oder eine historisch konstante Zuschrei‐ bung handelt, sondern „um einen höchst komplexen, eher unscharfen Oberbe‐ griff, der sich auf eine bunte Mischung von unterschiedlichen körperlichen, psychischen und kognitiven Merkmalen bezieht, die nichts anderes gemeinsam haben, als dass sie mit negativen Zuschreibungen wie Einschränkung, Schwäche oder Unfähigkeit verknüpft werden.“ 34 Verwendet man jedoch gegenwärtige Konzepte und fragt davon ausgehend nach analogen Darstellungen in den neutestamentlichen Texten, dann kann es auch nicht mehr gelingen, durch die Dis/ ability Studies als hermeneutischer Brille, Kategorisierungsprozesse und Machtstrukturen im Neuen Testament oder unserer gegenwärtigen Gesellschaft aufzudecken, die ansonsten nicht sichtbar werden. Die Lektüre biblischer Texte aus der Perspektive gegenwärtiger Diskurse führt zudem bisweilen auch dort zu einer sprachlichen und konzeptionellen Unschärfe, wo eben diese Unschärfe gebraucht wird, um nicht kritische, sondern positive oder befreiungstheologische Bezüge zwischen einem biblischen Text und gegenwärtigen Anliegen herzustellen. Innerhalb des neutestamentlichen Kanons ist es v. a. Paulus, bei dem manche Exegeten eine Position erkennen wollen, die aktuelle Bemühungen um eine Demarginalisierung von Behinderten und das Hinterfragen kulturell bedingter Kategorien unterstützt. So will etwa M. Albl ausgehend von 1Kor 1,18 und der Kreuzigung Jesu bei Paulus die Vorstellung von einem behinderten Jesus identifizieren: „In the ancient world, a crucified person was the ultimate example of ‚disability‘.“ 35 Doch auch dort, wo argumentiert wird, dass manche Texte des Neuen Testaments bereits eine in‐ klusive Perspektive im modernen Sinne aufweisen, ist die sprachliche Unschärfe letztlich Ausdruck eines konzeptionellen Defizits. Zwar gibt es zahlreiche Hinweise dafür, dass die frühen Anhänger des christlichen Glaubens von ihren Zeitgenossen für die Verehrung eines Gekreuzigten belächelt wurden, dies macht aber Paulus selbst und seine Christologie nur dann zu einer „Christologie Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 114 Ruben A. Bühner 36 Dass im Hintergrund dieser konzeptionellen Unschärfe die Absicht steht, einen neutes‐ tamentlichen Text positiv in Bezug zu setzen zu einem gegenwärtigen gesellschaftlichen Anliegen, wird beispielsweise bei Albl dort deutlich, wo er abschließend zusammen‐ fasst: „Paul’s gospel called for nothing less than a radical rethinking of the whole concept of ‘disability’.“ (Albl, „For Whenever I am Weak, then I am Strong“ [s. Anm. 12], 158). Dagegen scheinen Stellen wie 2Kor 12,10 weniger eine grundsätzliche Umkehrung des Konzepts der Dis/ ability anzuzeigen, (noch weniger im Sinne eines modernen Inklusionsgedankens), sondern sie verweisen auf die spezifisch paulinische und in diesem Sinne sicherlich auch ein Stück weit innovative Erfahrungsdeutung des Paulus; vgl. dazu auch Michael Tilly, Behinderung als Thema des paulinischen Denkens, in: Grünstäudl/ Schiefer Ferrari (Hg.): Gestörte Lektüre (s.-Anm.-11), 67-80, hier-79. 37 Vgl. so aber Albl, „For Whenever I am Weak, then I am Strong“ (s.-Anm.-12), 152. der Behinderung“, wenn man Disability so weit fasst, dass es auch jede Form der sozialen Verachtung oder Benachteiligung miteinschließt, die nicht von körperlichen oder kognitiven Merkmalen, sondern von bestimmten Ereignissen ausgeht. Zwar geht eine Kreuzigung mit körperlichen Schäden einher, aber der Spott nimmt nicht in erster Linie an diesen körperlichen Wunden Jesu seinen Anstoß, sondern an dem Ereignis der Kreuzigung an sich. Welche forschungs‐ sprachlichen Begriffe auch immer man dafür verwendet, die Unterscheidung zwischen jenen Dingen, die meist als „Impairment“ und „Disability“ bezeichnet werden, sowie - in diesem Fall - die Umstände oder Handlungen, die zu einem Impairment führen, ist wesentlich. 36 Ähnliches gilt etwa, um ein weiteres Beispiel anzuführen, für die „Schwach‐ heit des Fleisches“, von der Paulus in Gal 4,13f. schreibt. In der Kommen‐ tarliteratur finden sich unterschiedliche Vorschläge, welche Krankheit oder Einschränkung damit gemeint sein könnte. In jedem Fall handelt es sich jedoch um ein Impairment und Paulus betont geradezu wörtlich, dass ihm dies bei den Galatern nicht zur „Disability“ wurde: Ihr wisst aber, dass ich euch einst in Schwachheit des Fleisches das Evangelium verkündigt habe, und meine Versuchung an meinem Körper habt ihr nicht verachtet noch verabscheut, sondern wie einen Engel Gottes nahmt ihr mich auf. Insofern ist es auch nicht hilfreich, ausgehend von diesen Versen von einem „Disabled Paul“ 37 o. ä. zu reden. Überspitzt formuliert, wenn alles Disability ist, dann ist nichts mehr Disability und wir können weder die antiken Zeugnisse adäquat beschreiben noch diese gewinnbringend mit gegenwärtigen Diskursen ins Gespräch bringen. Verbunden damit ist die weitreichende und grundsätzliche Frage nach der Unterscheidung zwischen „Behinderung“ und „Nichtbehinderung“. Folgt man einem sozial-kulturellen Modell, dann stellen Dis/ ability Studies Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Dis/ ability Studies und die Texte des Neuen Testaments 115 38 Waldschmidt, Warum (s.-Anm.-33), 19. 39 Es gibt mittlerweile vielfache Arbeiten zu Heilungen in den synoptischen Evangelien oder zu dem „blind Geborenen“ in Joh 9, wohingegen andere neutestamentliche Texte und Phänomene, die (möglicherweise) ebenfalls unter das Schlagwort Dis/ ability fallen, bisher kaum bis gar nicht bearbeitet worden sind. 40 Vgl. Soon, Disabled Apostle (s.-Anm.-7). 41 Vgl. auch Adam Booth, A Circumcising Mission to the Gentiles and Hazing Cultures, in: Susan R. Holman/ Chris L. de Wet/ Jonathan L. Zecher (Hg.), Disability, Medicine, and Healing Discourse in Early Christianity. New Conversations for Health Humanities (Religion, Medicine and Health in Late Antiquity Series), Milton-2024, 30-46, hier-31f. nicht nur Behinderung, sondern auch ‚Nicht-Behinderung‘ (sprich: Normalität, Ge‐ sundheit, Funktionsfähigkeit etc.) in Frage; die beiden Pole erweisen sich als höchst kontingente, im Grund arbiträre Kategorien, deren Konturen eben gerade nicht trennscharf sind. 38 Dies bedeutet aber, dass es nicht nur anachronistisch ist, moderne Kategorien von Behinderung auf neutestamentliche Texte zu übertragen, sondern dass die Vermengung historischer und gegenwärtiger hermeneutischer Anliegen es ebenso erschwert, in den neutestamentlichen Schriften Phänomene als Disability zu identifizieren, die nach heutigen Maßstäben nicht darunter fallen. Die vielfältigen Studien, die sich in jüngster Zeit durch die Bezugnahme auf die Dis/ ability Studies auch auf dem Gebiet der neutestamentlichen Wissenschaft ergeben, bleiben jedoch gelegentlich noch bei einem medizinischen oder rein sozialen Modell von Behinderung stehen. Es ist geradezu auffallend, dass die überwiegende Mehrheit jüngerer Publikationen sich mit neutestamentlichen Texten befasst, in deren Zentrum „klischeehafte“ Behinderungen stehen, wie etwa blinde, taube oder lahme Menschen. 39 Gegenwärtige Konstruktionen von Behinderung müssen aber keineswegs abschließend das umfassen, was nach den Maßstäben (mancher) antiker Kulturen als Disability zu bezeichnen ist. So hat beispielsweise jüngst Isaac Soon 40 in einer bemerkenswerten Studie zu Paulus herausgearbeitet, dass die Beschneidung des Paulus nach heutigen wie auch nach antik-jüdischen Kategorien überwiegend nicht als Behinderung verstanden wird, dass allerdings aus griechisch-römischer Perspektive eine Beschneidung durchaus konträr zum körperlichen Idealbild steht und Juden wie Paulus aufgrund ihrer Beschneidung Stigmatisierung und Benachteiligung erfahren haben. D. h. nicht nur, dass die Beschneidung des Paulus in manchen antiken Kontexten als Disability zu verstehen ist, sondern Soon gelingt es auch aufzuzeigen, wie sich durch solch eine Dis/ ability-Perspektive, die sich in ihren Kategorien gerade nicht durch moderne Perspektiven leiten lässt, die Rhetorik des Paulus in Teilen seiner Briefe besser verstehen lässt. 41 Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 116 Ruben A. Bühner Als ähnlich produktiv-irritierend im Hinblick auf gegenwärtige kulturelle Vorstellungen von Behinderung erweist sich die Studie von Gosbell. Sie liest die Perikope der sog. „blutflüssigen Frau“ in Mk 5,25-34 mit einer Dis/ ability-Per‐ spektive vor dem Kontext griechisch-römischer medizinischer Literatur und den sozialen Folgen solch einer Krankheit 42 und kann dabei überzeugend herausar‐ beiten, dass es sich dabei wohl entgegen moderner Kategorisierung im antiken Kontext um ein Phänomen handelt, dass sich als Disability beschreiben lässt. 43 Ähnliches wurde auch schon mit Blick auf den in verschiedenen biblischen Texten vorkommenden Aspekt der Unfruchtbarkeit von Frauen herausgear‐ beitet. 44 Nur dort, wo gegenwärtige Diskurse und Anliegen von der Frage nach neutestamentlichen bzw. historischen Perspektiven auf Dis/ ability zumindest heuristisch voneinander getrennt werden, kann es gelingen, zu einem vertieften Verständnis der Kategorisierungsprozesse zu kommen und nicht nur „Behinde‐ rung“, sondern auch das damit immer verbundene Konzept von „Normalität“ in den Blick zu nehmen. 45 Oder anders formuliert, wer von dem Anliegen ge‐ leitet ist, gegenwärtige gesellschaftliche und politische Debatten um Dis/ ability durch Arbeiten an neutestamentlichen Texten zu unterstützen, der muss diese zunächst einmal möglichst unabhängig von späteren Diskursen und Kategorien in den Blick nehmen. Damit einher geht die Notwendigkeit, die in den Dis/ ability Studies gewonnenen Einsichten um die (zumindest auch) kulturelle Bedingtheit von Behinderung und die damit verbundenen Frageperspektiven in neutestamentlichen Studien zu etablieren, um sich nicht länger unbewusst doch von älteren Modellen leiten zu lassen, die Behinderung als relativ eindeutige Kategorie wahrnehmen. Diese Grundsätzlichkeit der Frageperspektive, die mit Anne Waldschmidt danach fragt, „Wie, warum und wozu wird historisch, sozial und kulturell ‚Andersheit‘ als Behinderung hergestellt, verobjektiviert und praktiziert? “, 46 gilt es in dieser Weite auch in neutestamentlichen Bezugnahmen auf die Dis/ ability Studies zu implementieren. Heilungstexte und die Hoffnung auf eine bessere Welt sind nicht aufzugeben. Aber hermeneutisch ist dabei die immer gegebene und begrenzte Perspektivität Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Dis/ ability Studies und die Texte des Neuen Testaments 117 42 Vgl. Gosbell, „The Poor, the Crippled, the Blind, and the Lame“ (s.-Anm.-6), 229-277. 43 Vgl. Gosbell, „The Poor, the Crippled, the Blind, and the Lame“ (s. Anm. 6), 276: „Within her circumstances then this woman with the flow of blood was most certainly ‚disabled.‘“ 44 Vgl. Melcher, Genesis and Exodus (s.-Anm.-22), 29-56. 45 Vgl. dazu noch einmal Anne Waldschmidt, Disability Studies. Individuelles, soziales und/ oder kulturelles Modell von Behinderung, in: Psychologie und Gesellschafts‐ kritik-29 (2005), 1.9-31, hier-25. 46 Anne Waldschmidt, Disability Studies zur Einführung, Hamburg-2020, 12. der eigenen Position sowie der neutestamentlichen Texte anzuerkennen. Zuge‐ spitzt formuliert: Sich den Himmel als eine Welt ohne Behinderung vorzustellen, entspricht der begrenzten Perspektive von nichtbehinderten Menschen als Au‐ toren neutestamentlicher Schriften. Ebenso entspricht die Wirkungsgeschichte dieser Texte in weiten Teilen der dominanten Perspektive von nicht-behin‐ derten Exegeten, die auf diesem Auge gerade deshalb blind sind. Nur wo diese Perspektivität historischer wie gegenwärtiger Äußerungen mitbedacht wird, kann es gelingen, dass solche Texte und Vorstellungen nicht länger implizit normalisierend und damit exkludierend wirken. Zugleich heißt das aber, erst wenn man sich dieser historischen Distanz und Fremdheit bewusst ist, lassen sich unsere gesellschaftlichen Annahmen, was ein „normaler“ oder „gesunder“ Körper ist, durch den Bezug auf antike und neutestamentliche Texte kritisch hinterfragen. 47 3. Fazit und Ausblick Insofern die Mehrheit der Exegetinnen und Exegeten und überhaupt der Le‐ serinnen und Leser neutestamentlicher Texte selbst nicht von Behinderung betroffen ist, können die Dis/ ability Studies wesentlich dazu beitragen, un‐ bewusste Leseperspektiven der Mehrheitsgesellschaft aufzudecken und eine „Normalisierungslektüre“, d. h. eine dominante Interpretation der Texte aus den Augen derer, die nicht vom Phänomen Behinderung betroffen sind, aufzu‐ brechen. Bisherige Publikationen haben dabei bereits erstaunliche Einsichten hervorgebracht und weitere werden sich sicherlich anschließen. Die Dis/ ability Studies als hermeneutische Leitkategorie haben gerade auch im Hinblick auf die Texte des Neuen Testaments das Potential, auf soziale und kulturelle Machtstrukturen aufmerksam zu machen und vermeintlich feststehende oder essentialistisch dargestellte Gruppenidentitäten zu hinter‐ fragen, die ansonsten unentdeckt bleiben. Dies setzt allerdings voraus, dass sich die Untersuchung an den antiken Texten in ihren Kategorisierungen und Konzepten nicht von gegenwärtigen gesellschaftlichen Perspektiven und Normvorstellungen leiten lässt. Nur wo jeweils gesondert nach der kulturellen Bedingtheit der in einem Text impliziten Kategorisierung von „behindert“ und Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 118 Ruben A. Bühner 47 Vgl. dazu auch den programmatischen Satz von Hector Avalos/ Sarah J. Melcher/ Jeremy Schipper, Conclusion, in: Avalos/ Melcher/ Schipper (Hg.), This Abled Body (s. Anm. 12), 197-199, hier 197: „We want readers to think in new ways about what it means to be abled-bodied or disabled in the Bible and the ancient Near East. In so doing, we discover more about what it means to be disabled and abled of body today, and how those ancient texts have influenced, for better or for ill, our present embodied experience.“ 48 Vgl. dazu in Bezug auf Paulus bereits Soon, Disabled Apostle (s.-Anm.-7). „normal“ gefragt wird, tragen die Dis/ ability Studies in exegetischer Hinsicht zu einem vertieften Verständnis der neutestamentlichen Texte bei und haben dann durch das Erhellen fremder Kategorisierungsprozesse auch das Potential, unre‐ flektierte Differenzkategorien in gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskursen zu enttarnen und damit aufzubrechen. Diese Linie stärkend werden sich zukünftig die Dis/ ability Studies, gerade auch im Hinblick auf neutestamentliche Texte, weiterentwickeln, indem sie noch grundsätzlicher nach historischen, literarischen und rezeptionsgeschicht‐ lichen Prozessen der „Normalisierung“ und „Besonderung“ fragen, die auch über die - ohnehin unscharfe - Kategorie der Behinderung hinausgehen. Dies schließt eine Ausweitung in textlicher und konzeptueller Hinsicht mit ein. So gibt es bislang - von wenigen Ausnahmen abgesehen - kaum Studien zu Dis/ ability in den antikjüdischen Kontexten des Neuen Testaments wie etwa zu Qumran, zu den alttestamentlichen Pseudepigraphen, zu Josephus oder Philo. Gerade im Hinblick auf die neutestamentlichen Texte und die darin vorfindlichen Kontraste zu gegenwärtigen Konzepten, drängt es sich zudem auf, dass zukünftige Forschung sich über „klassische“ Formen der Behinderung hinaus auch auf andere körperliche oder kognitive Merkmale fokussiert, die in (manchen) antiken Kontexten als Dis/ ability zu beschreiben sind. Insbesondere mit Blick auf das Neue Testament scheint die Untersuchung der Verbindung von menschlichem Körper und der Welt der Geister und Dämonen sowie anderen nichtpersonalen, aber übermenschlichen Entitäten noch neue Entdeckungen in Aussicht zu stellen: Im Neuen Testament wohnen Dämonen in menschlichen Körpern, in ihnen herrscht die „Begierde“ (Röm 1,24 u. ö.), sie besitzen einen „Leib der Sünde“ (Röm 6,6) und „des Todes“ (Röm 7,24). Diese und verwandte biblische Vorstellungen machen deutlich, dass möglicherweise auch jene Phä‐ nomene in manchen Kontexten mit der Kategorie „Behinderung“ verbunden sind. 48 Ferner stellt es ein Desiderat dar, die historischen und bibelwissenschaftli‐ chen Einsichten auch in didaktisch-methodischer Hinsicht für schulische und kirchliche Kontexte zu implementieren. Dazu gilt es zunächst grundsätzlich, in entsprechenden Lehrveranstaltungen zukünftige Pfarrerinnen und Pfarrer sowie Religionslehrerinnen und Religionslehrer für die mit Dis/ ability verbun‐ denen Herausforderungen auch im Hinblick auf die Texte des Neuen Testaments zu sensibilisieren. Während dies v. a. in sonderpädagogischen Studiengängen von Seiten der Religionspädagogik bereits geschieht, fehlt es nach meiner Wahrnehmung noch an spezifisch neutestamentlichen Lehrkonzepten oder Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 Dis/ ability Studies und die Texte des Neuen Testaments 119 49 Dederich, Körper (s.-Anm.-7), 177. überhaupt Lehrbüchern, die die Einsichten der Dis/ ability Studies im Hinblick auf das Neue Testament aufnehmen und zu einer kritischen Haltung anleiten. Schließlich bedienen sich zukünftige Theologie und Bibelwissenschaften idealerweise nicht nur der konsequent interdisziplinär angelegten Disability Studies, sondern bringen auch ihre eigene Stimme mit ein. Durchaus berechtigte Anliegen und Fortschritte der Medizin, individuelle körper‐ liche Defizite zu heilen oder Beeinträchtigungen zu kompensieren, führen auf der Basis eines molekularbiologischen Paradigmas zunehmend zu Vorstellungen von der Perfektibilität des Menschen und der Kontrollierbarkeit möglicher Abweichungen. Implizit verbunden ist damit die ‚Abwertung unheilbar kranker und behinderter Menschen‘. 49 Hier kann - ohne deshalb die hermeneutischen Probleme beiseitezuschieben - gerade eine theologisch und biblisch geprägte Anthropologie einen Gegenpol setzen, indem sie die Annahme des Menschen durch Gott auch in seinen körperlich-kognitiv unterschiedlichen und teilweise als fragmentarisch wahr‐ genommenen Formen betont. Ruben A. Bühner studierte Evangelische Theologie in Heidelberg, Princeton (NJ) und Tübingen. Nach Promotion (2020), Vikariat und einer Zeit als Pfarrer der Württem‐ bergischen Landeskirche folgte die Habilitation (2023) in Zürich. Im Sommersemester 2024 übernahm er eine Lehrstuhlvertretung für Neues Testament in München. Gegenwärtig arbeitet er als Postdoctoral Fellow an einem Forschungsprojekt zur Krisenrhetorik in apokalyptischen Texten an der Uni‐ versität Bonn. Er hat zudem Lehraufträge an den Universitäten in Würzburg sowie in Zürich. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0008 120 Ruben A. Bühner