eJournals ZNT – Zeitschrift für Neues Testament 27/54

ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
10.24053/ZNT-2024-0017
1216
2024
2754 Dronsch Strecker Vogel

Lena Nogossek-Raithel: Dis/ability in Mark. Representations of Body and Healing in the Gospel Narrative. Berlin/Boston: De Gruyter, 2023 (Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 263) XIV+326 S. ISBN 9783111180861

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2024
Christine Jacobi
znt27540121
Buchreport Christine Jacobi Lena Nogossek-Raithel Dis/ ability in Mark. Representations of Body and Healing in the Gospel Narrative Berlin/ Boston: De Gruyter, 2023 (Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 263) XIV+326-S. ISBN 9783111180861 Das vorzustellende Buch ist die überarbeitete Fassung der Dissertation von Lena Nogossek-Raithel, die im Wintersemester 2021/ 22 von der Humboldt- Universität angenommen wurde. Nogossek-Raithel untersucht darin die Funk‐ tion von Körperdarstellungen und Heilungserzählungen im Markusevangelium im Rahmen des hermeneutischen Modells der Dis/ ability Studies. Ein Schwer‐ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0009 punkt liegt auf der Frage, wie die Heilungserzählungen zur Charakterisierung der Gestalt Jesu beitragen. Die Verfasserin entwickelt die interessante These, dass nicht nur die Geheilten, sondern auch Jesus selbst als „dis/ abled protago‐ nist“ aufzufassen und das MkEv insgesamt als „gospel of dis/ ability“ (S. 211) zu verstehen sei. Die Dis/ ability Studies befassen sich seit den 1970er Jahren mit der Kon‐ struktion und Diskursivität von Körpern und Devianz. Die Disziplin ist aus politischen Bewegungen im angelsächsischen Raum hervorgegangen und be‐ trachtet Körperbilder als historisch, kulturell und sozial geprägte Phänomene. Dis/ ability Studies analysieren körperliche Devianz als Produkt symbolischer Systeme und gesellschaftlicher Diskurse, die vor dem Hintergrund wechselnder normativer Körperbilder entworfen werden und kritisch zu reflektieren sind, statt als vorgegebene Eigenschaft eines Individuums verstanden zu werden. In den Bibelwissenschaften werden Ansätze und Einsichten der Dis/ ability Studies seit etwa 20 Jahren rezipiert, gleichwohl gibt es bisher nur erste über‐ blicksartige oder Einzelaspekte erfassende Untersuchungen neutestamentlicher Texte in diesem Forschungsfeld (vgl. S. 5-9). Nach wie vor stehen ihnen überholte und teilweise diskriminierende Auffassungen von Körperbildern in der älteren Exegese gegenüber. Umfassende Analysen ganzer neutestamentli‐ cher Schriften, die die Einsichten der Dis/ ability Studies auch mit anderen hermeneutischen Zugängen vermitteln, fehlen jedoch. Die vorliegende Arbeit kann diese Forschungslücke mit Blick auf das MkEv schließen. Sie trägt entscheidende neue Einsichten zur Markusforschung bei und er‐ schließt darüber hinaus auch die Dis/ ability Studies weiterführende Erkennt‐ nisse: So werden im MkEv nicht nur Protagonisten mit körperlichen Abwei‐ chungen dargestellt, sondern auch deren Transformation zu einem im Text positiv bewerteten körperlichen Zustand (S. 9). Dieser Prozess kann geradezu als Definition von „Heilung“ im MkEv bezeichnet werden. Auch die Gestalt des mk Jesus kommt in diesem Zusammenhang und unter der Hermeneutik der Dis/ ability Studies auf eine neue Weise in den Blick. Jesus wird als eine körperlich aktive Figur beschrieben, deren Fähigkeit in ihrer transformierenden Kraft liegt. Die Heilungsaktivität, die Jesus in den einzelnen Erzählungen ausübt, korrespondiert dabei jeweils mit den geschilderten Krankheiten und Beeinträchtigungen. Auf die Einführung folgen sieben Hauptkapitel, in denen die Verfasserin zunächst die mk Heilungssummarien und anschließend die Einzelheilungen in Mk 1-10 unter dem Zugang des narrative und literary criticism untersucht. Jedes Kapitel beginnt mit einer Einführung in die jeweilige Heilungserzählung, widmet sich anschließend der Darstellung der je vorliegenden „Dis/ ability“ Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0009 122 Christine Jacobi sowie des Heilungsvorgangs und kommt abschließend zu einer Interpretation. Die gleichbleibende Vorgehensweise ermöglicht eine gewisse Vergleichbarkeit der verschiedenen Textpassagen. Wechselnde spezifische Schwerpunkte in den Heilungserzählungen werden darüber hinaus in exkursartigen Abschnitten untersucht. Im Folgenden sollen einige zentrale Aspekte zusammengefasst werden. Kapitel 2: „The Markan Summaric Accounts as Showcases for Markan Dis/ ability“ Die mk Heilungssummarien bündeln zentrale und allgemeine Aspekte der Heilungen Jesu. Die zusammenfassend dargestellten Krankheiten und Beein‐ trächtigungen werden als körperliche Schwäche und Abhängigkeit beschrieben. Ein gemeinsames Merkmal der meisten Kranken ist z. B. ihre eingeschränkte Mobilität, sie werden oft von anderen zu Jesus gebracht. Verwendete Begriffe wie „kakōs echontes arrōstoi“ und „asthenountes“ lassen den generalisierenden, allgemein gehaltenen Charakter der Darstellung erkennen. Die Heilung erfolgt durch physischen Kontakt mit Jesus und durch aktiven Glauben der Menschen (vgl. 5,21-24 und 35-43; 6,5). Damit wird ein zentrales Motiv der mk Heilungs‐ erzählungen aufgerufen, die „embodied Pistis“. Dem entspricht auf Seiten der Jesusfigur die enge Verbindung zwischen Jesu Heilungsfähigkeit und seiner Verkündigung. Jesus erscheint als Träger einer Macht, die er auch an seine Jünger weitergibt. Die Summarien lassen außerdem Jesu zunehmende Bekannt‐ heit und Öffentlichkeit seines Wirkens hervortreten - die Kranken kommen aus den unterschiedlichsten Regionen zu Jesus, während dieser selbst Rückzug und Geheimhaltung sucht. Kapitel 3: „Mark-1: Jesus in a Dis/ abled World“ Das dritte Kapitel befasst sich mit der Austreibung eines unreinen Geistes, einer Fieberheilung und der Heilung eines Aussätzigen (1,21-28.29-31 und 40- 45). In die Analyse der Austreibung eines unreinen Geistes ist ein Abschnitt über Vorstellungen von Dämonen und widergöttlichen Mächten im größeren kulturellen und religiösen Kontext eingefügt (vgl. entsprechende frühjüdische Traditionen und Texte, S. 57-64). Die besprochenen Parallelen bieten wichtige Einblicke in die Welt antiker Dämonologie und Exorzismen und in frühjüdische Konzeptionen einer dualistischen Sphäre des Heiligen und Unreinen. Im Hinter‐ grund der mk Exorzismen werden auf diese Weise die zeitbedingten Konstrukte abweichender Körperlichkeit erkennbar: Die widergöttlichen Mächte wirken so Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0009 Buchreport 123 auf die Besessenen ein, dass sie sie einschränken, „verhärten“, lähmen oder starr machen, zu sozial abweichenden und selbstzerstörerischen Verhalten führen („dis/ abling effects“, S. 54) und letztlich auch ihre soziale Isolation verursachen. Die verwendete Terminologie bei der Austreibung (exerchomai, ekballō, pemptō, apostellō) weist darauf hin, dass - obwohl Körper und Geist nicht getrennt aufgefasst werden - insbesondere der Körper der Besessenen als Kampfplatz zwischen der Herrschaft Gottes und der des Satans gedeutet wird. Nicht nur der Körper insgesamt, sondern auch einzelne Körperteile bzw. Organe können nach Nogossek-Raithel in den Heilungserzählungen akzentuiert werden. So stellt die Heilung des Lepra-Kranken in 1,40-45 die Bedeutung der Haut als kommunikatives Organ des Körpers in den Mittelpunkt. Die Haut symbolisiert die Schnittstelle zwischen Individuum und Gemeinschaft, zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Kapitel 4: „Mark-2: 1-3: 6: A Plot in Motion” Die Heilung des Gelähmten und die Heilung des Mannes mit der „verdorrten“ Hand werden in Kapitel 4 behandelt. Beide Heilungen sind mit den Themen der Vollmacht zur Sündenvergebung und der Sabbatobservanz dergestalt verwoben, dass sie Jesu provokante Haltung jeweils legitimieren. Im ersten Fall heilt Jesus durch seine Aufforderung an den Gelähmten: egeire. Der Begriff egeirō (aufstehen) ist zunächst im eigentlichen Sinne zu verstehen, erhält dann aber auch die eschatologische Konnotation des Auferstehens. Die verdorrte Hand des Mannes in Mk 3 wird mit dem griechischen Begriff xērainō beschrieben, der normalerweise das Austrocknen von Pflanzen bezeichnet, aber hier auf den körperlichen Zustand des Mannes angewendet wird. Dies lässt auf eine chronische Krankheit schließen, die einen Teil des Körpers unbeweglich macht. Der physisch unbeweglichen Hand des Mannes entsprechen die geistig verhärteten Herzen der anwesenden Schriftgelehrten. Sie repräsentieren eine eigene Form von Unbeweglichkeit, die im Gegensatz zu der Heilung der verdorrten Hand nicht geheilt wird. Auch in Mk 3 begegnet eine auffällige Wortwahl: sōzein und apokathistēmi. Wie in Mk 2 verweisen diese Begriffe subtil über die physische Heilung im vordergründigen Sinne hinaus auf eine besondere, eschatologische Qualität der Heilungen Jesu, die sein Wirken am Sabbat zusätzlich rechtfertigen. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0009 124 Christine Jacobi Kapitel 5: „Mark-5: The Physical Protagonist between Pathologization and Pistis” Kapitel 5 befasst sich mit dem Exorzismus in Mk 5,1-20 sowie mit den ineinander verwobenen Heilungen der Jaïrustochter und der blutflüssigen Frau (5,21-43). Die letztgenannten Protagonistinnen weisen schwerwiegende Leiden auf, die als unheilbar, potenziell sogar tödlich gelten. Auch diese Heilungserzählungen besitzen auf mehreren Ebenen Bedeutung, wie die Verfasserin herausarbeitet. Das Lexem sōzein begegnet in Mk 5,34 im Zusammenhang mit der pistis der blutflüssigen Frau: „Dein Glaube hat dich gerettet“. Ebenso zeichnet sich auch Jaïrus, der Vater des für tot gehaltenen Mädchens, durch pistis aus. Beide Heilungen führen zu einer vollständigen Wiederherstellung, d. h. zu einer Funktionalität im Sinne der vorausgesetzten normativen Körperlichkeit. Sie umfassen darüber hinaus aber auch alle anderen Aspekte des menschlichen Seins - die emotionale, soziale und geistige Dimension. Vor allem aber sind sie offen für ein Verständnis, wonach die Heilung der Beginn neuen Lebens in einem eschatologischen Sinne ist. Die blutflüssige Frau, die lange Zeit unter ihrer Krankheit und der daraus resultierenden sozialen Isolation gelitten hat, erlebt ihre Reintegration in die Gemeinschaft als neues Leben, und noch mehr wird diese Ebene bei der Tochter des Jaïrus erkennbar, die von einem Zustand des Todes zu einem aktiven Dasein findet. Kapitel 6: „Mark-7: 24-37: Transitional Dis/ ability“ In diesem Kapitel behandelt Nogossek-Raithel die Austreibung eines Dämons aus der Tochter einer Syrophönizierin (7,24-30) und die Heilung eines Taub‐ stummen (7,31-37) durch Berührung und Speichel. Die Besonderheit des Exor‐ zismus liegt darin, dass er aus der Distanz heraus erfolgt. Die vorausgehende Diskussion zwischen Jesus und der Syrophönizierin legt den Schwerpunkt dieser Exorzismuserzählung auf die Reichweite und Inklusivität der Heilungs‐ tätigkeit Jesu, die sich nun auch auf Nichtjuden ausdehnt. Wie bereits in Kap. 3 erarbeitet, liegt dem Wirken der Dämonen gemäß antiker Vorstellung ein Konzept räumlich-physischer Okkupation und Inbesitznahme zugrunde. Wenn nun Mk 7 von einem Exorzismus an einer Nichtjüdin erzählt, so seien damit nach Nogossek-Raithel die Themen der Grenzziehung zwischen Juden und Nichtjuden sowie der Teilhabe und Integration in das mit Jesus gekommene Heilsgeschehen verhandelt (S.-195). Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0009 Buchreport 125 Kapitel 7: „Mark 8-10: Beyond Dis/ ability“ In Mk 8-10 begegnen die letzten Heilungserzählungen, bevor sich Markus dem Wirken Jesu in Jerusalem und seiner Verhaftung, Verurteilung und Kreuzigung zuwendet. Sie haben deshalb summierenden und abschließenden Charakter, es werden noch einmal zentrale Themen gebündelt (etwa die ganzheitliche Hei‐ lung mit eschatologischer Qualität). Die Beschreibungen der Kranken schildern verschiedene Grade sensorischer Beeinträchtigungen, wie die Sehbehinderung des Blinden in Bethsaida und die Auswirkungen des stummen Dämons auf den Jungen. Diese unterschiedlichen Grade verdeutlichen, dass Beeinträchtigungen nicht einfach in Kategorien wie „gesund“ oder „krank“ eingeordnet werden können, sondern ein Spektrum von Zuständen umfassen. Auch die vollzogenen Heilungen durchbrechen vorgegebene Erwartungen und stellen traditionelle Vorstellungen von Norm und Abweichung in Frage. Indem sie die Komplexität und Vielfalt von Beeinträchtigungen und Heilungen illustrieren, überschreiten die Heilungserzählungen binäre Konzepte von Krankheit und Gesundheit. Das Buch wird durch eine Ergebnisbündelung, Ertragssicherung und einen Ausblick abgerundet (vgl. Kapitel-8: „Conclusion: This Is (Not) the End“). Als wesentliche Einsicht der Arbeit kann erstens genannt werden, dass die mk Darbietung der Heilungen Jesu durch verschiedene, teils gegenläufige Bewegungen geprägt ist: Sind die beeinträchtigten Menschen zunächst aus dem öffentlichen Raum verdrängt und isoliert, so holt Jesu Heilen, etwa durch Berührung, sie wieder ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens und befähigt sie zu eigener Bewegung. Den dämonischen Wirkbereich in den Körpern der Besessenen zwingt Jesu Aktivität dagegen zum Rückzug, er verliert an Raum. Die starr machende, verhärtende, widergöttliche Macht muss der Bewegung und Leben fördernden göttlichen Macht weichen. Zweitens ist die Darstellung des heilenden Jesus vieldimensional. Einerseits offenbaren die Heilungen Jesu göttliche, machtvolle Identität, andererseits erweist sich sein Körper, das Instrument der Heilungen, selbst als verletzlich. Wie die blutflüssige Frau in Mk 5, deren Blutfluss unkontrolliert von ihrem Körper ausgeht, verlässt auch Jesu heilende Dynamis seinen Körper in einer von ihm nicht intendierten Weise (5,30). Wie das Leben der Kranken, die zu ihm drängen, ist auch seine Existenz vom Tod bedroht (vgl. 3,6). Und auch er wird, wie die Besessenen, isoliert, an den Rand gedrängt und dem Vorwurf ausgesetzt, er sei „von Sinnen“ und „habe den Beelzebul“ (3,21f.). Dem entspricht andererseits, dass das neue Leben der Geheilten bereits Aspekte der eschatologischen Heilsfülle vorwegnimmt, ebenso wie Jesus bereits in seiner Heiltätigkeit das kommende Reich Gottes repräsentiert. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0009 126 Christine Jacobi Neben diesen exegetischen und narratologischen Einsichten in die Tiefen‐ strukturen der mk Heilungserzählungen bietet die Arbeit ausführliche Ab‐ schnitte zu medizinhistorischen, religiösen und kulturellen Hintergründen der dargestellten Krankheitsbilder und Heilungspraktiken. Dazu werden eine Fülle von jüdischen und griechisch-römischen Primärtexten herangezogen, die die mk Krankheitsschilderungen einzuordnen helfen. Nicht zuletzt zeigt das Buch, wie die mk Heilungserzählungen soziale Patho‐ logisierungen kritisieren und herausfordern. Jesu Heilungen richten sich darauf, Stigmatisierung und Ausgrenzung zu überwinden. Die Monographie leistet damit zugleich einen zentralen Beitrag zu aktuellen Diskursen über Krankheit und Beeinträchtigung und begegnet Vorurteilen und Diskriminierungen, die leider in Teilen der Bibelwissenschaften noch immer anzutreffen sind. Zeitschrift für Neues Testament 27/ 54 (2024) DOI 10.24053/ ZNT-2024-0009 Buchreport 127