Internationales Verkehrswesen
iv
0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/iv-2011-0009
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2011
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Sicherheitsdebatte Luftfracht
11
2011
Benjamin Bierwirth
Trotz konstanter Verbesserung der Sicherheit im Luftverkehr gibt es weiterhin Anschlagsversuche von Terroristen. Durch die jüngsten Vorkommnisse in der Luftfracht werden die Bedingungen für Speditionen und Abfertiger härter: Der Anteil der zu kontrollierenden Fracht wird sich verdreifachen. Auf die Abfertiger kommen räumliche Probleme und zusätzliche Kosten zu.
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Internationales Verkehrswesen (63) 1 | 2011 34 LOGISTIK Transportkettensicherheit Trotz konstanter Verbesserung der Sicherheit im Luftverkehr gibt es weiterhin Anschlagsversuche von Terroristen. Durch die jüngsten Vorkommnisse in der Luftfracht werden die Bedingungen für Speditionen und Abfertiger härter: Der Anteil der zu kontrollierenden Fracht wird sich verdreifachen. Auf die Abfertiger kommen räumliche Probleme und zusätzliche Kosten zu. D ie Bombenfunde in Frachtflugzeugen im Oktober 2010 haben die Diskussion über Sicherheit in der Luftfracht neu entfacht. Die Komplexität der globalen Logistik erfordert jedoch eine genaue Analyse möglicher Maßnahmen. Um eine Gefährdung durch Luftfracht zu verhindern, müssen unsichere Sendungen an einem Punkt in dieser Transportkette kontrolliert werden. Die Entwicklung der Luftfrachtsicherheit Die Luftsicherheit hat sich in der Vergangenheit stark auf die Kontrolle von Passagieren und deren Gepäck konzentriert. Seit Ende der 1960er Jahre nuzten Terroristen Flugzeugentführungen als Druckmittel für die Durchsetzung ihrer politischen Forderungen. Um dies zu unterbinden wurden zunächst Kontrollen bei Passagieren und deren Handgepäck verschärft. Seit Mitte der 1990er Jahre wurden zunehmend Sprengstofe im Gepäck versteckt. Ziel war es, Flugzeuge in der Luft zu zerstören. Als Konsequenz verschärften die Behörden die Kontrolle der aufgegebenen Gepäckstücke. Die Anschläge 2001 stellen eine neue Form des Terrorismus dar. Flugzeuge wurden als Wafen eingesetzt. Trotz weiterer Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen unternahmen terroristische Gruppen auch im letzten Jahrzehnt weitere Anschlagsversuche, teilweise durch neue Angrifsmuster und selbsterstellte Sprengstofe. Seit 2001 sind auch die globalen Warenketten in den Fokus der Gefahrenabwehrmaßnahmen gerückt. Luftfracht könnten Terroristen auf zwei Arten nutzen: Zum einen als Transportmittel zur Versorgung der Terrorzellen mit Wafen. Zum anderen durch Bombenattentate, die eine Flugzeugzerstörung zum Ziel haben. Ein Anschlag, bei dem sich eine Person über eine Luftfrachtsendung in ein Flugzeug einschleust, kann aufgrund der Vorschriften zur Verpackung und Verladung von Luftfrachtsendungen ausgeschlossen werden. Die sichere Lieferkette Die sichere Lieferkette in der Luftfracht umfasst die Transportkette vom Versender bis zur Verladung ins Flugzeug, die in Abbildung 2 dargestellt ist. Versender konnten in der Vergangenheit von ihren Speditionen als Bekannte Versender (BekV) anerkannt werden. Hierfür unterzeichnete der Versender eine Sicherheiterklärung. Mit Inkrafttreten der EU-Verordnung 300/ 2008 am 30. April 2010 zertifiziert nun das Luftfahrtbundesamt (LBA) als zuständige Behörde alle neuen Bekannten Versender. Alle BekV, die vor diesem Datum bereits als sicher galten, haben nun eine Übergangszeit von drei Jahren, bis sie ihren Status verlieren oder vom LBA zertifiziert werden. Auf Basis der Vorgängerverordnung der EU300/ 2008 wurden bereits Speditionen und Abfertiger durch das LBA als Reglementierte Beauftragte (RegB) zertifiziert. Logistikdienstleister, die im Auftrag eines RegB oder BekV handeln, müssen eine Unterauftragnehmererklärung (UAN) unterzeichnen. Eine Sendung, die von einem BekV über mehrere RegBs bis zum Flugzeug transportiert wurde, ohne dass ein Unbefugter Zugrif darauf hatte und dies auch dokumentiert wurde, kann ohne Kontrolle verladen werden. Dies wird als sichere Lieferkette bezeichnet. Im Umkehrschluss müssen alle Sendungen, die nicht von Bekannten Versendern stammen oder deren sichere Lieferkette nicht dokumentiert oder unterbrochen wurde, sich einer physischen Sicherheitskontrolle unterziehen. In der Regel findet diese Kontrolle im Speditions-Hub oder beim Abfertiger statt. Die US-Amerikanischen Behörden beabsichtigen unabhängig von der sicheren Lieferkette für Flüge in Richtung USA die Kontrolle aller Sendungen, die in Unterflurladeräumen von Passagierflugzeugen Sicherheitsdebatte Luftfracht Abb. 1: Kontrolle mit Hilfe von Röntgengeräten zur Durchleuchtung von Fracht und Gepäck Foto: Dieter Schütz, pixelio.de Internationales Verkehrswesen (63) 1 | 2011 35 transportiert werden (Beiladung). Seit August 2010 ist die 100 %-Kontrolle von Beiladefracht im inneramerikanischen Flugverkehr vorgeschrieben. Zukünftige Entwicklung der sicheren Lieferkette Viele Versender nutzten die sichere Lieferkette in der Vergangenheit, so dass nur geringe Frachtmengen (etwa 10 %) kontrolliert werden mussten. Aus aktuellem Anlass wurden Stichprobenkontrollen bei den Beteiligten durchgeführt. Sie zeigten, dass einige Unternehmen die geforderten Standards nicht gewährleisten. Darauhin haben diese ihren Status als BekV oder RegB verloren. Die Zertifizierung als BekV ist für Unternehmen mit erheblichen Kosten für Schulungs- und Sicherungsmaßnahmen verbunden, so dass die Zahl der BekV nach Ablauf der dreijährigen Übergangsfrist deutlich niedriger liegen wird als heute. In anderen europäischen Ländern sank die Anzahl BekV auf einen dreibis niedrigen vierstelligen Bereich, nachdem eine behördliche Zertifizierung eingeführt wurde. Der Rückgang der Anzahl der BekV führt zu einer Erhöhung des Anteils unsicherer Fracht. 80 % des Luftfrachtaukommens stammt von Großversendern, für die eine Zertifizierung als wirtschaftlich ist. Für die anderen Versender wird eine Zertifizierung als BekV größtenteils nicht lohnenswert sein. Auch Großversender werden nicht alle Versandstellen zertifizieren lassen. Es ist somit zukünftig von über 20 % unsicher angelieferter Fracht auszugehen, die im Speditions-Hub oder beim Abfertiger zu kontrollieren ist. Hinzu kommt die Beiladefracht in Richtung USA, welche unabhängig von der Art der Anlieferung kontrolliert werden muss. In der Summe wird daher der Anteil der zu kontrollierenden Fracht von heute unter 10 % auf deutlich über 30 % steigen. Manche Experten und Marktteilnehmer gehen sogar von Kontrollquoten weit über 50 % aus. Logistische Auswirkungen Aufgrund des bisherigen geringen Aukommens unsicherer Fracht sind Kontrollgeräte in den Speditions-Hub und Abfertigeranlagen meist weit von der Rampe und der Frachtannahme entfernt. Die logistischen Abläufe sind auf die 90 % sichere Fracht optimiert. Für die restlichen 10 % nahmen die Abfertiger bislang Umwege und Zusatzkosten in Kauf. Steigt der Anteil der unsicheren Fracht jedoch künftig auf knapp ein Drittel, so erzeugen die langen Wege unnötige Staplerverkehre, binden Personal und Technik und behindern die Abfertigung in den angrenzenden Bereichen. Eine Verlagerung an die Quelle der unsicheren Fracht, also die Rampe, ist daher sinnvoll und reduziert die internen Logistikkosten. Weiterhin müssen die Kontrollkapazitäten sowie vor- und nachgelagerten Puferflächen stark ausgebaut werden. Ein Großröntgengerät benötigt etwa 25 m 2 . Hinzukommen Verkehrsflächen sowie Puferflächen im Einzelzugrif, so dass sich schnell ein Gesamtflächenbedarf von 100 m 2 und mehr je Gerät ergibt. Zukünftige Entwicklungen Seit den jüngsten Vorfällen wird eine Vielzahl von Ansätzen zur Verbesserung der Sicherheit in der Luftfracht diskutiert: Von organisatorischen Verschiebungen über eine Verkürzung der Übergangsfrist bis hin zur vollständigen Kontrolle der Fracht am Übergang in den Sicherheitsbereich des Flughafens. Viele dieser Vorschläge haben keine Auswirkungen auf die logistischen Abläufe wie beispielsweise häufigere Überprüfungen der BekV und RegB. Die 100 %-Kontrolle und die Überprüfung von Transferfracht ziehen jedoch massive logistische Auswirkungen nach sich und werden daher im Folgenden aus der logistischen Perspektive betrachtet. 100 %-Kontrolle Die absolute Kontrolle nach US-amerikanischen Vorbild ist langfristig denkbar, aber nicht kurzfristig umzusetzen. Durch die große Anzahl an Kontrollgeräten, an einem großen Hubflughafen ist insgesamt von einer dreistelligen Anzahl auszugehen, wird die Fläche in den Gebäuden der Abfertiger und somit die Produktivität drastisch reduziert. Logistisch eizienter ist eine Überprüfung größerer Einheiten wie der Unit Load Devices (ULDs) oder sogar der anliefernden Lkw. Ersteres könnte zusammenfallen mit dem Übergang in den Sicherheitsbereich des Flughafens (Critical Parts). Die zweite Option könnte auf dem Flughafengelände oder in unmittelbarem Umfeld erfolgen. Bisher fehlt jedoch eine Technologie, die eine Kontrolle inhomogen beladener Einheiten in der erforderlichen Qualität und Abb. 2: Die sichere Lieferkette in der Luftfracht Internationales Verkehrswesen (63) 1 | 2011 36 LOGISTIK Transportkettensicherheit einer kurzen Zeitspanne ermöglicht. Hinzu kommen die Anforderungen an die Zuverlässigkeit der Kontrollen, um die Anzahl der Fehlalarme zu minimieren. Die Kontrolle am Übergang in den Critical Part ist auf Grund begrenzter Flächenverfügbarkeit in diesem Bereich kritisch. Ergänzend tritt das logistische Problem hinzu, dass die aufwändigen sekundären Kontrollprozesse bei einem Fehlalarm dazu führen, dass die betrofene ULD mit großer Wahrscheinlichkeit den vorgesehenen Flug verpasst. Kontrolle von Transfer- und Transitfracht An einem Flughafen gibt es vier Transfer- und einen Transitstrom für Luftfracht wie in Abbildung 4 deutlich wird. Transitfracht bleibt an Bord des Flugzeugs, da dieses nicht wieder zu seinem Ausgangsflughafen zurückkehrt, sondern mindestens ein weiteres Ziel anfliegt (Multi-Leg-Flug). Zwischen zwei Flugzeugen können ULDs als direkter Transfer ausgetauscht werden. Ist dies nicht der Fall, wird die Fracht beim Abfertiger abgebaut, um zu neuen ULDs mit weiterer Fracht zusammengesetzt zu werden. Zwei weitere Transferströme betrefen die Anlieferung fertiger ULDs mit dem Lkw von anderen Flughäfen (RFS) oder den Speditions-Hubs (BUP). Wird die Transferkontrolle Pflicht, sind neue Technologien erforderlich, um eine schnelle und zuverlässige Kontrolle der Fracht-Einheiten zu ermöglichen. Der Ab- und Aubau von ULDs zur Kontrolle benötigt bei üblichen Gewichten mindestens zwei Stunden pro Einheit. Hinzu kommen Wegezeiten zu den Terminals der Abfertiger, wenn diese ULDs nicht mehr direkt und ohne Kontrolle von einem Flugzeug zum nächsten gebracht werden können. Für die Transferströme vom Lkw zum Flugzeug muss sichergestellt werden, dass eine vorgelagerte Kontrolle ihre Gültigkeit behält. Der Ab- und Wiederaubau der Einheiten ist logistisch nicht sinnvoll. Er führt dazu, dass Fracht in Einzelteilen zum Abfertiger am Abflughafen angeliefert würde. Da bereits über die Hälfte der Fracht der großen Speditionen als BUPs angeliefert werden, und sich die RFS-Netze europaweit ausgedehnt haben, ist zu erwarten, dass die vorhandene Abfertigungsfläche dann nicht mehr ausreicht, um diese Mengen zu bewältigen. Fazit Die Kontrollquote in der Luftfracht wird sich nach dem Auslaufen der Übergangsfrist der EU300/ 2008 deutlich erhöhen. Die Luftfrachtkontrollen haben in den vergangenen acht Jahren jedoch nicht das Niveau der über 40 Jahre kontinuierlich verbes- Benjamin Bierwirth, Dr.-Ing. hwup Consulting, Berlin bierwirth@hwup.de serten Passagier- und Gepäckkontrollen erreicht. Die Adaption von Technik und Prozessen vom Gepäck auf die Fracht sind auf Grund von technologischen Hürden und anderen Strukturen in der Luftfracht nicht machbar. Die Abfertiger und Speditionen müssen sich jedoch auch ohne neue Auflagen auf einen deutlichen Anstieg der zu kontrollierenden Fracht einstellen und ihre Prozesse daran anpassen. LITERATUR 1 Vgl. EUROPEAN COMMISSION - DG ENERGY AND TRANSPORT (2004): Study on Civil Aviation Security Financing. 2 Vgl. HAINMÜLLER, JENS und LEMNITZER, JAN MARTIN (2003): Why do Europeans fly safer? The politics of airport security in Europe and the US. 3 Eine Übersicht über die Beteiligten der Luftfrachttransportkette und deren Anforderungen geben SCHÜLLER, MICHAEL (2002): Strategieentwicklung airlinegeführter Supply Chains in Kapitel 2.5 und GRANDJOT, HANSHELMUT (2002): Leitfaden Luftfracht, S. 127f. 4 Vgl. Verordnung (EG) Nr. 300/ 2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. März 2008 über gemeinsame Vorschriften für die Sicherheit in der Zivilluftfahrt und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 2320/ 2002 (EU) (2008) sowie zugehörige Durchführungsverordnungen. 5 Vgl. BIERWIRTH, BENJAMIN (2009): Optimierung der Sicherheitskontrolle in der Luftfrachttransportkette. Abb. 4: Transit- und Transferströme im Luftverkehr Abb. 3: Veränderung der Prozesse beim Abfertiger: Die Luftfrachtkontrolle verschiebt sich in Richtung Rampe. ɷ
