Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
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»Mehr als die Hälfte des SPNV-Markts zu vergeben«
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Frank Sennhenn
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Internationales Verkehrswesen (63) 1 | 2011 78 GASTKOMMENTAR Frank Sennhenn »Mehr als die Hälfte des SPNV-Markts zu vergeben« I m deutschen SPNV-Markt wird es spannender denn je. 110 Vergabeverfahren mit einem Volumen von rund 350 Mio. Zugkilometern werden in den kommenden fünf Jahren erwartet. Das ist weit mehr als die Hälfte des gesamten deutschen SPNV- Markts. Für unsere Branche bedeutet das eine enorme Herausforderung. Und dies nicht nur aus quantitativen Gründen: Auch das Marktumfeld hat sich deutlich gewandelt. Manchen Aufgabenträger treibt bereits die Frage um: Werden sich in Zukunft nicht mehr die Besteller die Verkehrsunternehmen aussuchen, sondern die Verkehrsunternehmen die Besteller? Die Anfangsphase der Liberalisierung des deutschen SPNV ist unwiderruflich vorbei. Lokale mittelständische Unternehmen sind längst eine Ausnahme. Stattdessen prägen große, leistungsfähige Anbieter das Bild. Und sie befinden sich, wie die DB Regio AG, ganz überwiegend in öfentlichem Eigentum. Veolia ist durch die Fusion mit Transdev zur mehrheitlichen Tochtergesellschaft der staatlichen französischen Caisse de Dépôts geworden. Keolis Deutschland gehört mehrheitlich zur französischen Staatsbahn SNCF, Abellio zur Niederländischen Staatsbahn, VIAS zur Dänischen Staatsbahn. Arriva war Ziel eines Übernahmeversuchs durch die SNCF, wurde aber mittlerweile von der DB übernommen. Die deutschen Arriva-Aktivitäten wurden an die italienische Staatsbahn Trenitalia verkauft. BeNEX als Tochter der Hamburger Hochbahn ist wie die Hessische Landesbahn im Eigentum der jeweiligen Bundesländer. Das heißt: Die großen „Player“ im deutschen Markt sind miteinander vergleichbar - sowohl im Hinblick auf ihre Größe im internationalen Maßstab, als auch hinsichtlich ihrer Finanzierungsmöglichkeiten als Unternehmen in öfentlichem Eigentum. Der deutsche Markt ist auf leistungsfähige Akteure angewiesen, gerade angesichts der bevorstehenden Vergabewelle. Jede Ausschreibung bindet bei den Unternehmen und den Bestellern erhebliche personelle Kapazitäten und bedeutet auf der Kostenseite ein Volumen von durchschnittlich 2 Mio. EUR. Immens ist zudem der mit jeder Neuvergabe einhergehende Investitionsbedarf, insbesondere im Fahrzeugbereich. Geht man konservativ von 20 Mio. EUR Investitionsvolumen pro Mio. Zugkilometer aus, ergibt sich in den nächsten Jahren insgesamt ein Finanzbedarf von 7 Mrd. EUR. Dabei ist der Finanzbedarf nur ein Aspekt. Von der Vergabewelle betrofen ist auch die Fahrzeugindustrie. Sie muss sich auf eine zyklische Marktentwicklung einstellen, ihre Kapazitäten in kürzester Frist hochfahren und wieder reduzieren - und liefert schon heute vielfach nicht die von Betreibern und Bestellern geforderte Qualität. Unter diesen Rahmenbedingungen wird es zunehmend schwierig, den Markt attraktiv zu gestalten. Davon zeugt eine stark schwankende Bieterbeteiligung bei Ausschreibungen, die wir in der Vergangenheit mehrfach gesehen haben. Die Unternehmen gehen dazu über, ihre Ressourcen auf ausgewählte Vergaben zu konzentrieren. Die Aufgabenträger muss diese Tendenz beunruhigen. Für sie wäre es fatal, würden sich die Verkehrsunternehmen künftig tatsächlich die Besteller aussuchen statt umgekehrt. Allerdings: Es gibt Gegenmittel. Zum einen können attraktivere Bedingungen den Wettbewerb stimulieren. Notwendig sind dafür vor allem unternehmerische Spielräume, die in den vergangenen Jahren leider vielfach reduziert worden sind. Die Verkehrsunternehmen wollen jedoch Verkehrslösungen mitgestalten. Sie wollen unternehmerische Verantwortung übernehmen und am Erfolg ihrer Angebote partizipieren. Und zum anderen: Das Instrument der Direktvergabe bietet die Möglichkeit, die negativen Begleiterscheinungen der Vergabewelle unter Kontrolle zu halten, die Wettbewerbsfahrpläne zu entzerren und für einen geordneten Übergang auslaufender Verkehrsverträge in den Wettbewerb zu sorgen. Hierzu zählen Harmonisierungsmaßnahmen, also Direktvergaben zur Angleichung der unterschiedlichen Laufzeiten von Verträgen. Unverzichtbar ist sie auch, wenn aufgrund spezifischer Verkehrssituationen volkswirtschaftlich sinnvoll nur ein Unternehmen als Betreiber in Frage kommt. Die Bedeutung der Direktvergabe für die Gestaltung der deutschen Wettbewerbsfahrpläne lässt sich im EU-Amtsblatt ablesen. Vergaben von rund 240 Mio. Zugkilometern sind hier derzeit angekündigt. Rund 70 Mio. Zugkilometer sollen davon direkt vergeben werden. Für weitere rund 67 Mio. Zugkilometer sind Wettbewerbsverfahren außerhalb des deutschen Vergaberechts (sog. „Fünf- Schritte-Verfahren“) vorgesehen. Hier kommt es darauf an, dass die Direktvergabe - im EU-Recht durch die EU-VO 1370/ 2007 seit 2009 ausdrücklich gestattet und in Europa gängige Vergabepraxis - auch in Zukunft in Deutschland rechtssicher genutzt werden kann. Dipl. Kfm. Frank Sennhenn (46) ist seit 2000 für die DB Regio AG in Frankfurt am Main tätig, war ab 2003 Vorstand Produktion und ist seit Juni 2009 Vorsitzender des Vorstandes der DB Regio AG. Bis 2000 war er für die DEG-Verkehrs-GmbH tätig. ɷ
