eJournals Internationales Verkehrswesen 63/2

Internationales Verkehrswesen
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0020-9511
expert verlag Tübingen
10.24053/iv-2011-0039
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2011
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Leserbriefe

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2011
Ingo Uttech
Adi  Isfort
Daniel Metzler
Umdenken erforderlich | Kundensicht fraglich
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SERVICE Leserbriefe Internationales Verkehrswesen (63) 2 | 2011 57 Umdenken erforderlich Heft 1/ 2011, S. 11: G. Aberle: „Stuttgart 21: Welche Folgen? Kundensicht fraglich Heft 12/ 2010, S. 11-16: Friedrich/ Schlaich/ Schleupen „Bewertung des ÖPNV aus Kundensicht“ B ahnanlagen werden erweitert, um mehr Kunden zu gewinnen. Die Erfahrungen der letzten 15 Jahre erfordern ein Umdenken. Trotz der neuen teuren Hochgeschwindigkeitsstrecken Nürnberg - München und Frankfurt/ M. - Köln fuhren von 1995 bis 2010 in Deutschland im Fernverkehr ca. 20 % weniger Fahrgäste und im Nah- und Regionalverkehr etwa 33 % mehr Fahrgäste. Rund 90 % aller Reisenden fahren im Nah- und Regionalverkehr. Der DB-Nahverkehr erwirtschaftete 2009 einen Gewinn vor Steuern und Zinsen von 558 Mio. EUR, DB Regio sogar 870 Mio. EUR. Das sind 85 % des Konzerngewinns. [1, 2] Die Schweiz geht einen anderen Weg. Zuverlässig eingehaltene Reisezeit und Reisegüte sowie gute Anschlüsse zwischen allen vorhandenen Verkehrsmitteln im Land gewinnen über verkürzte Reisezeiten viele neue Fahrgäste und Frachten. Das führt über sinkende Gesamtkosten zu wirtschaftlicherem Betrieb. Diese Zunahme der öfentlichen Verkehre spart Energie, vermeidet Unfälle, schont das Klima und entlastet den Straßenverkehr. Die dafür erforderlichen I n Heft 12/ 2010 wurde der vom ADAC in Auftrag gegebene und vom Lehrstuhl für Verkehrsplanung und Verkehrsleittechnik der Universität Stuttgart durchgeführte ÖPNV-Test zum Vergleich des öfentlichen Nahverkehrs in 24 europäischen Großstädten beschrieben. Tatsächlich sind wir von der methodischen Genauigkeit und der gut durchdachten Operationalisierung besonders der Angebotsqualität durchaus überzeugt. Allerdings erscheint uns die in der Überschrift und auch im Text betonte „Kundensicht“ fraglich. Man hat sich ofensichtlich darauf geeinigt, vor allem das in die Bewertung des ÖPNV einzubeziehen, was zwischen den europäischen Städten vergleichbar ist. So wurde zugegebenermaßen auf Kriterien wie Pünktlichkeit, Sauberkeit, Komfort, Sicherheit verzichtet, weil diese nicht objektiv vergleichbar seien. Stattdessen wurde die „theoretische“ ÖPNV-Qualität bewertet. Wichtigstes Kriterium mit 35 % Gewicht ist die Reisezeit. Es ist sicherlich richtig, dass die Angebotsqualität zum Teil durch das Netz (also die Qualität der Linien und Strecken) und durch die Taktfrequenz bestimmt wird. Aus Kundensicht aber ebenso wichtig und mit diesen Krite- Baumaßnahmen sind im Vergleich zu Hochgeschwindigkeitsstrecken gering. Anstelle des bisher geplanten „Hauptbahnhof Stuttgart Tief“ (S 21) und der Neubaustrecke Wendlingen - Ulm (NBS) könnten die Altstrecke Stuttgart - Ulm verbessert sowie Verbund- Takt-Fahrpläne) und Verbund-Takt-Verkehre) in ganz Baden-Württemberg eingerichtet werden. Das führte nach Erfahrungen auch in Bayern zu Tausenden neuer Fahrgäste im Nah- und Fernverkehr [3, 4, 5, 6, 7, 8]. Ob S 21 wegen der Gleisneigung von 15,14 % genehmigt werden kann, ist fraglich. Die NBS verstößt wegen der Länge ihrer Steigungsstrecke gegen die Technischen Spezifikationen für Interoperabilität.[9] Beide Maßnahmen erreichen mit geschätzten Kosten von 7 Mrd. EUR nur noch einen Nutzen-Kosten-Quotienten von 0,92 < 1. Der Bund darf sie als unwirtschaftliche Maßnahmen nicht mehr finanzieren (§ 7 (2) BHO) [10, 11, 12]. S 21 und NBS können die Verkehrs- und Umweltprobleme der Zukunft nicht lösen. Ob sie überhaupt gebaut werden können, ist ofen. [1] BODACK, K.-D., Bahnzukunft für Baden-Württemberg: Alternativen zu Stuttgart 21, Eisenbahn-Revue International 02/ 2011, S. 93 [2] BUND, K., TATJE, D.: Neben der Spur, Die Zeit Nr. 5, S. 19 v. 27.01.2011 [3] GÖBERSHAHN, R., Der Integrale Taktfahrplan, Die Deutsche Bahn 5/ 1993, S. 357 [4] SCHULZ, A., Der „Allgäu-Schwaben-Takt“, Die Deutsche Bahn 5/ 1993, S. 363 [5] BREUER, S., ITF Bayern 21 − Ein Schienenverkehrskonzept für ganz Bayern, Eisenbahn-Revue International 3/ 2010, S. 146 [6] BREIMEIER, R., Wirtschaftliche Aspekte des Schienenschnellverkehrs, Die Deutsche Bahn 3/ 1993, S. 241 [7] PFUHL, SCHENK, BUTTLER, MARTINONI, SCHÜRCH, SPIEGEL, STERENBERGER, Die nächste Optimierungsstufe im Schweizer Bahnsystem, Eisenbahn-Revue International 10/ 2010, S. 508 [8] BREUER, S., ITF Bayern 21 − Ein Schienenverkehrskonzept für ganz Bayern, Eisenbahn-Revue International 2/ 2010, S. 93 [9] ANDERSEN, S., Problempunkte bei Stuttgart 21 und NBS Wendlingen-Ulm, Eisenbahn-Revue International 12/ 2010, S. 637 [10] ABERLE, G., Nutzen-Kosten-Analysen ohne Aussagekraft? Internationales Verkehrswesen (62) 4/ 2010, S. 6 [11] JUNG, V., Wie ein hoher Nutzen-Kosten-Quotient unter 1 rutschen kann, Internationales Verkehrswesen (62) 5/ 2010, S. 47 [12] JUNG, V., Schuldenlast der öfentlichen Hand und Großprojekte im Schienenverkehr, Beispiel Stuttgart 21 + Neubaustrecke Stuttgart - Ulm, Internationales Verkehrswesen (58) 4/ 2006, S. 159 Dipl.-Ing. Ingo Uttech, Reinbek rien zusammenhängend sind die Pünktlichkeit und die Anschlusssicherheit. Weitere Kriterien, die mit den gegebenen Methoden durchaus bewertbar sind, sind die Umsteigequalität, die Informationsqualität sowie ein Vergleich der Preise. Insgesamt ist eine Bewertung der Qualität durchaus gut umgesetzt, und wenn der Test beschrieben worden wäre als ein Versuch eines möglichst objektiven Qualitätsvergleichs des ÖPNV, würden wir durchaus zustimmen (wenngleich wichtige Aspekte fehlen). Aber Qualität ist nicht dasselbe wie Kundenzufriedenheit! Bemerkenswert ist, dass man eine Bewertung des ÖPNV aus Kundensicht geschafen hat, ganz ohne einen einzigen Kunden zu fragen. Kriterien wie Pünktlichkeit, Anschlusssicherheit, Komfort, Sicherheit wurden somit aus Machbarkeitsgründen bewusst ausgelassen. Gerade diese Merkmale zeigen sich aber in Kundenbefragungen als durchaus maßgeblich und entscheidend für eine Kundenzufriedenheit mit dem ÖPNV - natürlich neben den objektiven Aspekten wie Angebotsqualität. Im ÖPNV-Kundenbarometer stellt sich z. B. heraus, dass die Zufriedenheit mit dem Preis- Leistungsverhältnis innerhalb eines Tarifsystems durchaus unterschiedlich ausfällt, unter anderem sicherlich dadurch, dass nicht überall die gleiche Erwartung an die Preise herrscht und man mit ein und demselben Preis durchaus unterschiedlich zufrieden sein kann. Aber Kundenzufriedenheit ist - per definitionem - subjektiv, weil Kunden dann zufrieden sind, wenn sie das (oder mehr) bekommen, was sie erwarten. Daher ist es durchaus möglich, auch solche Merkmale - aus Kundensicht - zu erheben, ganz einfach, indem man die Kunden danach fragt. Wir als Marktforscher machen dies jedenfalls so. Besonders wichtig ist die Befragung von „echten“ Kunden auch allein schon deshalb, weil zufriedene Kunden ja schließlich den ÖPNV wieder nutzen werden. Und ein (repräsentativ gemessener) Wert für die Globalzufriedenheit mit dem ÖPNV in Deutschland von 2,85 im Jahr 2010 zeigt, dass sicherlich noch Luft nach oben ist. Dr. Adi Isfort und Dr. Daniel Metzler, TNS Infratest Verkehrsforschung »90% aller Reisenden fahren im Nah- und Regionalverkehr« Die Redaktion behält sich vor, Leserzuschriften zu kürzen.