lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2021-0035
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2021
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Jenseits der (positiven) Wissenschaft : Zu einigen Korrespondenzen zwischen Walter Benjamin und dem Collège de Sociologie
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2021
Rosa Eidelpes
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DOI 10.24053/ ldm-2021-0035 97 Dossier Rosa Eidelpes Jenseits der (positiven) Wissenschaft: Zu einigen Korrespondenzen zwischen Walter Benjamin und dem Collège de Sociologie Walter Benjamins Verhältnis zu dem geheimen Pariser Forschungskollektiv namens Collège de Sociologie ist bis heute Gegenstand der Spekulation. Was hat Benjamin mit dem verschwörerischen Zirkel rund um einige dissidente Surrealisten und Georges Bataille verbunden, die - vor dem Hintergrund der Theorie Émile Durkheims, dass Religion nichts weiter als der Ausdruck des kollektiven (Un)bewussten 1 sei - mit den Mitteln einer neu erfundenen Wissenschaft, der sogenannten Sakralsoziologie (sociologie sacrée), Phänomene des „Sakralen“ nicht nur analysieren, sondern mit ihren Forschungen zugleich auch ausloten wollten, ob diese sich zur Formierung neuer „Kollektivkräfte“ mobilisieren lassen (cf. Ambrosino u. a. 1995 [1937]: 26)? In seinen Briefen an Adorno äußerte Benjamin sich zurückhaltend zu den Aktivitäten des Collège de Sociologie und berichtete offen ablehnend über die Arbeiten einzelner Collège-Teilnehmer wie Roger Caillois (cf. Benjamin 2000: 92-94, 202) und Denis de Rougemont (cf. Benjamin 1999: 598-600). Laut Pierre Klossowski, der Benjamins Kunstwerk-Aufsatz ins Französische übersetzte und selbst Mitglied im Collège de Sociologie war, hat Benjamin allerdings die zweiwöchentlichen Treffen der Gruppe im Hinterzimmer einer katholischen Buchhandlung ebenso regelmäßig wie fasziniert besucht (cf. Klossowski 1969). In diesem Rahmen hielten zwischen 1937 und 1939 diverse Mitglieder und Gäste mehr als 25 Vorlesungen, deren Themenspektrum von der „Struktur und Funktion der Armee“ über „Geheimgesellschaften“ bis zur „Tragödie“ reichte (cf. Hollier 1995: 29). Aus verschiedenen Quellen ist zudem überliefert, dass Benjamin selbst einen Vortrag zum Semesterprogramm 1939 beisteuern wollte, in dem es, basierend auf Teilen seines Passagen-Konvoluts, um „die Mode“ gehen sollte (cf. Mayer 1992: 66). Benjamin teilte mit der Gruppe wichtige Themenschwerpunkte, darunter das Interesse an den sozialen Funktionen des Mythos (cf. Baxmann 2000, Ciantelli 2017, Krause 2021, Moebius 2006: 370-382, Palmier 2009: 563sq.), des Unbewussten und Irrationalen (cf. Baxmann 2000, Weingrad 2001) sowie die Beschäftigung mit den oszillierenden Schwellen zwischen Ritual und Moderne (cf. Moebius 2006: 377-378). 2 Zwar waren die theoretischen und politischen Prämissen der Mitglieder des in sich heterogenen Collège de Sociologie - das rückblickend eher als Arbeitstitel für den letztendlich abgebrochenen Prozess einer Gruppenbildung gesehen werden muss (cf. Blanchot 1983) - so unterschiedlich wie Benjamins Verhältnis zu ihnen. 3 Mit Blick auf die Gründungserklärung der Gruppe kann jedoch eine zentrale erkenntnistheoretische und zugleich -kritische Stoßrichtung konstatiert werden: Die Sakralsoziologie grenzte sich von wissenschaftlicher Objektivität ebenso ab wie vom dichotomischen Subjekt-Objekt-Verhältnis der klassischen akademischen Forschung und 98 DOI 10.24053/ ldm-2021-0035 Dossier wollte die Kräfte des Sakralen nicht aus der Distanz analysieren, sondern seine Manifestationen im (kollektiven) Unbewussten aktiv erfahren und ergründen. Im Folgenden wird der These nachgegangen, dass sich neben den geteilten Forschungsinteressen auch in Bezug auf den erkenntniskritischen Impetus geistige Korrespondenzen zwischen Benjamin und dem Collège de Sociologie feststellen lassen, nämlich im Versuch, das tradierte Wissens- und Wissenschaftsverständnis in Richtung eines erweiterten Erkenntnisbegriffs zu öffnen, der das Unbewusste ebenso umfasst wie sinnlich-körperliche Praktiken (cf. ähnlich Baxmann 2000: 281). Gemeinsamer Ausgangsaber auch Abstoßungspunkt war dabei sowohl für Benjamin als auch für das Collège de Sociologie die Erfahrungssuche des Surrealismus jenseits der bewährten Methoden der rationalen Wissenschaften (cf. Breton 2002 [1928]: 43). Vom Surrealismus zur Wissenschaft Die Auseinandersetzung mit den programmatischen Texten der Surrealisten ist grundlegend für Benjamins Arbeit, bereits der 1929 veröffentlichte Aufsatz über den Surrealismus als „letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“ (Benjamin GS II-1: 295sq.) ist Teil seiner Suche nach einem methodologischen „Grundriß“ für die Passagenarbeit (cf. Barck 2011: 386), die Benjamin als „philosophische Verwertung des Surrealismus“ und damit (im dialektischen Sinne) als seine „Aufhebung“ (cf. GS V-2: 1137) verstand. Dabei interessierte ihn zunächst der radikale „geistige Freiheitsbegriff“ des Surrealismus: die Idee, die politische Befreiung des Menschen von den ökonomischen Unterdrückungsverhältnissen im Kapitalismus mit der Befreiung seiner sinnlichen Wahrnehmungskräfte zu verbinden - und zwar nicht durch das Herstellen von Kunst im traditionellen Sinne, sondern durch das Experiment mit dem Unbewussten und der „Überwindung des rationalen Individuums im Rausch“ (GS II- 3: 1022). Benjamin deutete dies als Entwurf zu einer revolutionären politischen Praxis, die nicht mehr auf der Ebene des rationalen Diskurses, des Intellektes und der Repräsentation ansetzt, sondern im Körper selbst. Er spricht von einem im Inneren des Menschen (seiner Psyche) sich öffnenden „Bild“-bzw. „Leibraum“, „[…] in welchem politischer Materialismus und die physische Kreatur“ zusammentreffen - „so daß kein Glied ihm unzerrissen bleibt“ (GS II-1: 209). Im Zentrum dieses surrealistischen, „anthropologischen Materialismus“ (ibid.: 311) steht für Benjamin die Suche nach einer weltlichen und „profanen“ Form der religiösen Erleuchtung - einer leiblich vermittelten, sinnlichen Form der Erkenntnis. Benjamin greift hier seine bereits früher verfolgte Weitung des philosophischen Erkenntnisbegriffs auf, der nun auch Formen der nicht-sprachlichen, nicht-logischen, (a-theologisch) religiösen Erfahrung einschließt (cf. GS II-1: 164-168). Der Surrealismus wird zur Vorlage seiner eigenen Theorie der Erfahrung (cf. Barck 2011: 396), die Erkenntnis mit einer fundamentalen - der Erfahrungsarmut der Moderne (GS II-1: 215) entgegengesetzten - Form der Erfahrung zu verkoppeln sucht. DOI 10.24053/ ldm-2021-0035 99 Dossier Als Benjamin Mitte der 1930er Jahre im Pariser Exil persönliche Bekanntschaft mit den Surrealisten rund um André Breton schloss, war der Höhepunkt der Bewegung allerdings bereits überschritten. Die Surrealisten hatten sich zwischen dem Beharren auf der Autonomie der Kunst einerseits und dem politischen Engagement für die kommunistische Partei andererseits in die Handlungsunfähigkeit manövriert (cf. Bürger 1971: 173sqq.). Für Benjamin hatten sich zudem die surrealistischen Verfahrensweisen als Vorlage für sein eigenes Werk erschöpft, sollte doch sein Zugang im Gegensatz zum Surrealismus kein „impressionistischer“, sondern ein „deutender“ sein (cf. Tiedemann in GS V-1: 20). Der Surrealismus, der sich nach Benjamin an der „Schwelle zwischen Wachen und Schlafen“ bewegte, sei am Ende im Traum verblieben, das heißt im Intuitiven und Unbewussten (GS II-1: 296). Er selbst strebte dagegen zur Bewusstheit: Erkenntnis braucht für Benjamin die dialektische Vermittlung durch die Vernunft, die es erst ermöglicht, dass der Mensch, „die Augen sich reibend, gerade dieses Traumbild als solches erkennt“ (GS V-1: 571). Seine eigenen Arbeiten standen im Zeichen eines solchen politischen Erwachens - das vor dem Hintergrund des aufziehenden Faschismus immer dringlicher schien. Intellektuell war Benjamin in Paris zudem mehr als von Bretons surrealistischer Bewegung von Georges Batailles „Gegen-Surrealismus“ (cf. Ades/ Baker/ Bradley 2006) angezogen 4 - sicher auch deshalb, weil dieser sich stärker an theoretischen Diskursen orientierte. Batailles Verhältnis zum Surrealismus war ambivalent: Er gehörte zwar nie dem surrealistischen Zirkel an, bewegte sich aber zeitlebens in einem Reibungsverhältnis mit Breton und bezeichnete sich rückblickend als „innerer Gegenspieler“ (ennemi du dedans) der Surrealisten (cf. Richardson 2006: 7). Auch Bataille kritisierte den Surrealismus für dessen „idealistische“ Konzentration auf den Traum, das Unbewusste und das Wunderbare und setzte dieser seinen eigenen, „niederen Materialismus“ und die Konzentration auf die das Kreatürliche, Deformierte, Groteske und Abjekte sowie auf das vom Idealismus ignorierte, „nackte Phänomen“ entgegen (cf. Leiris 1963: 689). In seinen Gruppenprojekten der 1930er Jahren versammelte Bataille ehemalige, aus der Bewegung ausgetretene oder ausgeschlossene Surrealisten um sich - so bspw. in der 1929 gegründeten Zeitschrift Documents, die der Revision des dominanten abendländischen Kunst- und Kulturbegriffs auf der Basis der wissenschaftlichen Theorien und Methoden der Ethnologie gewidmet war und auf der Bildebene eine surrealistische Ästhetik sowie dem Surrealismus entlehnte künstlerische Montagepraktiken zum Einsatz brachte (cf. Didi-Huberman 1995: 25sqq.). Die Verwebung von ethnologischen Diskursen mit surrealistischen Verfahrensweisen brachte dem Projekt nachträglich den Titel eines „ethnographischen Surrealismus“ ein (cf. Clifford 1988: 548sqq.). Gemeinsam mit dem Physiker Georges Ambrosino, den beiden ehemaligen Surrealisten Roger Caillois und Jules Monnerot, dem Übersetzer Pierre Klossowski und einem gewissen Pierre Libra gründete Bataille wenig später das Collège de Sociologie (cf. Ambrosino et al. 1995 [1937]), das durch das Bekenntnis zur Wissenschaft unter anderem den Widersprüchen zwischen Kunst und Politik zu entkommen versuchte, in die sich der Surrealismus verstrickt hatte (cf. Caillois 1974: 57-60). 100 DOI 10.24053/ ldm-2021-0035 Dossier Anschließend an Durkheims sozialwissenschaftliche Bestimmung des Sakralen als Ergebnis von Bewusstseins- und Denkmodi jenseits von Logik und Rationalität, dem eine gesellschaftlich wirkmächtige Realität sui generis zukommt (Durkheim 1960 [1912]: 13), wollte die Gruppe die Spuren des Sakralen in der Gegenwart aufdecken. Dem Positivismus der französischen Soziologie und Ethnologie der 1930er Jahre stellte die Sakralsoziologie allerdings einen eigenen, auf der „sinnlichen Erfahrung“ des Sakralen basierenden Forschungszugang gegenüber (cf. Bataille 1995a [1938]: 147). Im Unterschied zu den Phänomenen der Naturwissenschaft, so führte Bataille in einem programmatischen Vortrag über die Methode der Sakralsoziologie aus, sei „das Wesentliche“ am Sakralen nur auf sinnliche Weise greifbar, denn man habe es nicht mit objektiven Daten und Fakten zu tun, sondern mit subjektiven Erfahrungen: „[…] mais c’est un fait indubitable pour moi que je n’aurais rien aperçu si ma pensée n’avait pas suivi tout d’abord une démarche tout à fait étrange à celle d’un biologue, à savoir l’analyse de l’expérience vécue“ (cf. ibid.: 160). Insbesondere Bataille dachte die Sakralsoziologie dabei als Werkzeug zur Bewusstmachung von zuvor unbewussten, aus der bürgerlich-homogenen Sphäre verdrängten Kräften des Sakralen: „Et le refoulement qui rejette une partie appréciable des éléments vitaux dans l’inconscient, toujours selon les données de la psychanalyse, est lui-même un mécanisme inconscient“ (ibid.: 161). Zu einer solchen Bewusstmachung der „gelebten Erfahrung“ des Sakralen gehörten bspw. die Reflexionen über „das Sakrale im Alltag“, die Michel Leiris am 8. Januar 1938 im Collège de Sociologie vortrug (Leiris 1995 [1938]). Anhand autobiographischer Erinnerungen aus seiner Kindheit beschreibt Leiris heftige Gefühle, die durch das Betreten von (für Kinder) verbotenen oder gesellschaftlich tabuisierten Orten entstanden und klassifiziert sie als Resultat aus der Begegnung mit dem „linken Sakralen“ (cf. ibid.: 106). 5 Affinitäten zwischen den sakralsoziologischen Analysen des Collège de Sociologie und Benjamins Forschungen lassen sich zunächst insofern konstatieren, als auch Benjamin religiöse Erfahrung nicht als überwundene, vormoderne Kategorie betrachtete und weniger von einer Säkularisierung als von einem Nachleben religiöser Vorstellungen in der Moderne ausging (cf. Weigel 2008). Sowohl Benjamin als auch das Collège de Sociologie waren dabei besonders an den Erfahrungsdimensionen des Sakralen interessiert und teilten die Perspektive des Surrealismus auf das Sinnliche und das Unbewusste jenseits von wissenschaftlichem Positivismus und Formalismus (cf. GS III: 367). Benjamin und das Collège de Sociologie verband darüber hinaus aber auch das Desiderat eines - im Gegensatz zum Surrealismus - weniger künstlerischen als vielmehr analytischen Zugangs zu diesen Phänomenen und die Kritik am „Idealismus“ (Bataille) bzw. „Impressionismus“ (Benjamin) der surrealistischen Bewegung, dem sie den Anspruch entgegenstellten, Erfahrung mit Analyse zu verbinden, um so von der Kunst zur Wissenschaft und vom Unbewussten zu seiner Deutung zu gelangen. DOI 10.24053/ ldm-2021-0035 101 Dossier Vom individuellen zum kollektiven Unbewussten Eine weitere Gemeinsamkeit war die Perspektivverschiebung vom Unbewussten des Subjekts auf das Unbewusste des Kollektivs: Mit Ausnahme des Vortrags von Michel Leiris war der Großteil der Vorträge im Collège de Sociologie den Ausdrucksformen des kollektiven sakralen (Un)Bewussten 6 gewidmet, wie dem Mythos, dem Fest, dem Stierkampf oder der Tragödie (cf. Bataille 1995a [1938]: 145sqq., Caillois 1995a [1939], Klossowski 1995 [1938], Leiris 2005 [1937]). In den Deutungen der Sakralsoziologie kommt diesen Formen nicht nur die Funktion zu, kollektive Glaubensüberzeugungen zu repräsentieren, das temporäre Außerkraftsetzen der sozialen Regeln des Alltags in vormodernen Ritualen bzw. seinen modernen Äquivalenten bringe das Sakrale vielmehr überhaupt erst hervor (cf. Caillois 1995a [1939]: 648sqq.): Der kollektiven Rausch wirke unmittelbar und vorreflexiv auf die Affekte des Kollektivs und entfalte dort seine sakrale Kraft - auch gegen den Willen des Einzelnen und seine Bewältigungsversuche (cf. Bataille 1995b [1938]: 318sq.). Benjamin teilte dieses Interesse an unbewussten Kollektivkräften. Er schätze bereits an der französischen Tradition des „anthropologischen Materialismus“ des 19. Jahrhunderts den Fokus auf die Dimensionen des Kollektiven (cf. Berdet/ Ebke 2014: 15). Und obwohl Benjamin sich selten explizit auf die Theorie der französischen Soziologie und Anthropologie des 20. Jahrhunderts bezog, die Beschäftigung mit dem Kollektiven fand dort eine Fortsetzung und dürfte Benjamin wohlbekannt gewesen sein: Ethnologen wie Lucien Lévy-Bruhl (1922, 1935), Émile Durkheim (1960 [1912]) und Marcel Mauss (1950 [1902-1903]) untersuchten die „Mentalität der Primitiven“ (Lévy-Bruhl 1922) und gingen von der Existenz einer kollektiven Psyche aus, die nach eigenen Regeln operiert und der sich das Einzelsubjekt unterwirft (cf. Durkheim 1960: 13). Für das Collège de Sociologie waren diese Theorien die Blaupause der eigenen Analysen - mit dem Unterschied, dass die Sakralsoziologie das scheinbar „Primitive“ und „Archaische“ nicht auf geographisch entfernte oder vergangene Gesellschaften beschränkte, sondern vielmehr „Parallelen“ zwischen Phänomenen des „Primitiven“ und den „Modernen“ (cf. Caillois 1937: 65) aufzeigen und so die ethnologische Perspektive auf die europäische Gegenwart verschieben wollte, um nun die Spuren des „Primitiven“ bzw. „Sakralen“ in der eigenen Gesellschaft zu untersuchen. Benjamins etwas anders gelagerter Ansatz dagegen war es, die „Methode der Psychoanalyse „[…] vom Individuum aufs Kollektive (zu) übertragen“ (cf. GS V-1: 492 [K 1,5]), er verfolgte aber einen ähnlichen Forschungsgegenstand: Seine Passagenaufzeichnungen drehen sich ab den 1930er Jahren zunehmend um raum-zeitliche Manifestationen des „kollektiven Unbewussten“ 7 bzw. des „Kollektivbewusstseins“ (GS V-1: 491). Dieses Kollektivbewusstsein sedierte sich für Benjamin unter anderem in der Reklame, der Mode und der Architektur einer Epoche - so z. B. in den Passagen als „Tempel des Warenkapitals (GS V-1: 86 [A 2,2]) - wo es einen eigenen kollektiven Bildervorrat hervorbrachte. Für Benjamin war das Kollektivbewusstsein zwar historisch-materialistisch als „Niederschlag des Weltgesche- 102 DOI 10.24053/ ldm-2021-0035 Dossier hens (GS V-1: 504 [K 6,1]) zu sehen, er klassifizierte es aber nicht einfach als falsches Bewusstsein, sondern vielmehr als einen zweideutigen Schauplatz, an dem Ideologie und Utopie zusammentreffen (cf. GS V-2: 1225). Im kollektiven Unbewusstsein zirkuliere nicht nur das „Bild der Geschichte“ (als Ausdruck der ökonomischen Verhältnisse des Kapitalismus und seiner Bilderwelten), sondern auch das noch eingefrorene und uneingelöste Traumbild einer klassenlosen Gesellschaft (cf. GS V-2: 1226), das in „profanen Erleuchtungen“ wie (potenziell) denjenigen der surrealistischen Experimente freigesprengt und zum Bewusstsein gebracht werden kann. Im Kontext dieser Reflexionen über die Traumbilder des kollektiven Unbewussten steht auch Benjamins Beschäftigung mit der Mode: Auch die Mode ist ein solcher „dialektischer Umschlageplatz“ (GS V-1: 111 [B 1,4]) des Kollektivbewusstseins, in dem sich Konstellationen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft offenbaren. Benjamin beschreibt die Kleidermoden des 19. Jahrhunderts als Kondensat der „Traumenergie“ der damaligen Gesellschaft (GS V-1: 113 [B 1a, 2]) und als Seismograph zukünftiger gesellschaftlicher Entwicklungen. Die Mode antizipiert die „kommenden Dinge“ (GS V-1: 112 [B 1a, I]), greift dabei aber auf rituelle Formen zurück. In der Mode treffen sich (vorkapitalistischer) Körper und kapitalistische Warenwelt, gehen das Alte in Gestalt und „im Medium des […] Gewesenen, Gewohntesten“ und das Zukünftige - die kapitalistische Warenwelt des 20. Jahrhunderts - eine Verbindung ein (cf. GS V-1: 113 [B 1a, 2]). Die Mode ist einerseits ein Warenfetisch, sie ist Teil des kapitalistischen Traumschlafs, in dem das narkotisierte Kollektiv vor sich hinträumt. Andererseits wohnt der Mode als Umschlagplatz des Kollektivbewusstseins aber auch das „exzentrische, revolutionäre“ Potenzial inne (cf. GS V-1: 117 [B 2 a, 9]), wie es die Surrealisten im Wiederentdecken der „alten Dinge“, die ihren Fetischcharakter in den sich ewig erneuernden Konsumstrukturen schon längst verloren hatten, freizulegen suchten. Benjamin schreibt: „Die Mode ist die Vorgängerin, nein, die ewige Platzhalterin des Surrealismus“ (GS V-1: 113 [B 1a, 2]). Womöglich wollte Benjamin im Collège de Sociologie auf die Schwellenposition der Mode zwischen Ritual und Warenfetisch hinweisen (cf. Ciantelli 2017: 53sq.) und darauf, dass das Rituelle dem Kapitalismus durchaus nicht äußerlich bleibt, sondern von ihm inkorporiert wird. Es bleibt dennoch die Frage, ob nicht ein Referat über die Thesen seines Kunstwerk-Aufsatzes (französische Fassung von 1936, GS I-2: 709- 739), der wenige Jahre zuvor von Pierre Klossowski ins Französische übersetzt worden war, den Forschungsinteressen der Gruppe stärker entsprochen hätte. Dort widmet sich Benjamin (unter anderem) der Mobilisierung der revolutionären Kräfte des Kollektivs jenseits des archaischen Rituals, nämlich im Medium des Kinos (cf. GS I- 2: 431-471). Mithilfe der technischen Apparatur der Kamera wurde es möglich, so Benjamin, die Tiefenschichten der alltäglichen Sinneswahrnehmung zu ergründen und das „Optisch-Unbewusste“ überhaupt erst zum Ausdruck zu bringen (cf. ibid.: 500). Das Kino löst in Benjamins Theoriegebäude die surrealistischen Experimente mit dem Unbewussten ab und wird zum Medium der revolutionären Neukonfiguration des sinnlichen Wahrnehmungsraums. Der Kunstwerk-Aufsatz von 1935 endet mit DOI 10.24053/ ldm-2021-0035 103 Dossier den bekannten Zeilen, in denen Benjamin konstatiert, dass das anthropologischmaterialistische Potenzial des Kinos vom Faschismus korrumpiert und in den Dienst der „Ästhetisierung der Politik“ genommen wurde (ibid.: 508). Dennoch erkennt er in der Umgestaltung der kollektiven Wahrnehmungsstruktur der Massen durch populäre Kunstpraktiken wie dem Kino ein nicht eingelöstes, revolutionäres Moment. Er spricht von einer […] gewaltigen Erschütterung des Tradierten - einer Erschütterung der Tradition, die die Kehrseite der gegenwärtigen Krise und Erneuerung der Menschheit ist. Sie stehen im engsten Zusammenhang mit den Massenbewegungen unserer Tage. Ihr gewaltigster Agent ist der Film. Seine gesellschaftliche Bedeutung ist auch in ihrer positivsten Gestalt, und gerade in ihr, nicht ohne diese seine destruktive, seine kathartische Seite denkbar: die Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe (GS II-1, 438-439). Benjamin greift hier seine im Surrealismus-Aufsatz entwickelte These auf: Dass eine Revolution, welche den Forderungen des kommunistischen Manifests tatsächlich gerecht werden will, auch die (sich schockartig und kathartisch vollziehende) Revolution der Sinne umfassen und diese „revolutionären Spannungen“ zugleich in den kollektiven Leibraum überführen muss - „denn auch das Kollektivum ist leibhaft“ (GS II-1: 310). Erst durch diese „kollektive Innervation“, also das Schaffen einer neuen Anthropologie durch neue, „kollektive“ Nervenbahnen, könne die Umwälzung der bestehenden Verhältnisse auf den Weg gebracht werden (cf. ibid.). Dass sich Benjamin im Collège de Sociologie nicht auf eine Diskussion über die gegenwärtigen (medialen) Formen zur Revolutionierung des kollektiven Unbewussten einlassen wollte, mag an der ambivalenten Nähe der Gruppe, insbesondere Georges Batailles und Roger Caillois’, zum Faschismus gelegen haben. Bataille hatte den Faschismus bereits in einer zweiteiligen Analyse von 1933/ 1934 als antibürgerliches, „sakrales Phänomen“ klassifiziert (Bataille 1970b [1933]: 350sq.), das die kollektiven Affekte zwar freisetze, zugleich aber auch in autoritärer Weise kanalisiere (cf. ibid.: 362sq.). Die herrschaftsförmige und zweckgerichtete Organisation der Kollektivkräfte im totalitären System steht zwar in scharfem Kontrast zu seiner eigenen Vision eines freien und anarchistischen Oszillierens der „heterogenen“ Kräfte des Sakralen (cf. ibid.: 350sq.). Dennoch waren Bataille und das Collège de Sociologie unverkennbar von der faschistischen Zerschlagung der bürgerlichen „Homogenität“ fasziniert. Das Collège de Sociologie widmete sich der Analyse der kollektiven Kräfte auch mit dem Ziel, die (latenten) Restbestände des Sakralen zu reaktivieren bzw. neue sakrale Phänomene ins Leben zu rufen, um so den Faschismus „mit seinen eigenen Waffen“ (cf. Caillois 1995b [1938]: 335) zu schlagen. Es ging also darum, dem Faschismus neue und andere Formen der Mobilisierung des kollektiven Unbewussten entgegenzusetzen - ein Gedanke, der durchaus Affinitäten zu Benjamins Ausführungen im Kunstwerk-Aufsatz aufwies. Wo Benjamin allerdings eine „Politisierung der Ästhetik“ im Sinn hatte, das heißt die Verknüpfung der (durch die Technik) revolutionierten sinnlichen Wahrnehmung mit einer kommu- 104 DOI 10.24053/ ldm-2021-0035 Dossier nistischen Umwälzung der Verhältnisse, griff das Collège de Sociologie ohne konkrete politische Agenda auf archaische Formen des kollektiven Rausches zurück um die bestehende gesellschaftliche Ordnung außer Kraft zu setzen und zum (anarchistischen) „Chaos hin“ zu öffnen - „sur la convulsion des fêtes, des puissances et des morts humaines“ (Bataille/ Caillois/ Leiris 1995 [1939] : 801). Klossowski berichtet in diesem Zusammenhang von Benjamins Warnung, die Aktivitäten der Gruppe könnten in einen „präfaschistischen Ästhetizismus“ abgleiten (Klossowski 1995 [1969]: 884). Denn wo das Collège de Sociologie die Mythen und Rituale als antifaschistisches Gegengift gänzlich undialektisch zu reanimieren versuchte (cf. Bataille1995b [1998]: ) 320sq.), wollte Benjamin sie „in den Geschichtsraum auflösen“ (cf. Tiedemann in GS V-1: 20). In den sakralsoziologischen Analysen sucht man dagegen vergeblich nach einer historisch-materialistischen Perspektive. Dennoch mag Benjamin, trotz aller Kritik, das surrealistische Erbe des Collège de Sociologie fasziniert haben: der Versuch, den kollektiven Rausch mit der revolutionären Umwälzung der Gesellschaft zu verbinden. Auch in den späten 1930er Jahren hielt Benjamin daran fest, dass sich die Kräfte des Kollektiven und die „therapeutische Sprengung des Unbewussten“ im Rausch (cf. GS I-2: 462) für die Revolution nutzen lasse. Noch 1938 schrieb er an Horkheimer, die kritische Theorie dürfe nicht verkennen, wie tief gewisse Kräfte des Rausches der Vernunft und ihrem Freiheitskampfe verschworen sind. Alle Aufschlüsse, will ich sagen, die der Mensch im Gebrauch der Narkotika je sich erschlichen hat, können ihm […] durch Gruppen [werden] […]. Sind nicht diese Aufschlüsse, durch die menschliche Verbundenheit, der sie entstammen, zuletzt wahrhaft politische? (Benjamin 2000: 23). Wenn auch nicht die politische Stoßrichtung, so verband Benjamin und das Collège de Sociologie doch die Überzeugung, dass es höchst an der Zeit war, das intuitive surrealistische Experiment mit Traum- und Rauschzuständen durch die Analyse und Aufdeckung der Funktionsweise des kollektiven Unbewussten zu flankieren, denn dies schien angesichts seiner Usurpation durch den Faschismus das Forschungsgebot der Stunde. Von der wissenschaftlichen zur mimetischen Erkenntnis An den kollektiven Dimensionen des Unbewussten interessierte Benjamin darüber hinaus seine Fähigkeit, die Formen, Zeichen und Kräfte der eigenen Zeit, die den Objekten, Gebäuden und Dingen eingeschrieben waren, unbewusst wahrzunehmen, aufzugreifen und mit der Welt mimetisch in Kommunikation zu treten (cf. GS V-1: 47). Mimetische Kommunikation ist auch das Fundament von Benjamins Erfahrungstheorie (cf. Schwarz 1992: 45sqq.). In diesem Punkt fühlte er sich ebenfalls mit dem Surrealismus wahlverwandt, der nach Benjamins Deutung versucht hatte, in Zuständen des Traumes oder Rausches „einen Bereich von Erfahrung aufzuschließen, in dem das Ich noch mimetisch-leibhaft mit den Dingen kommunizierte“ (Tiedemann in GS V-1: 18). Benjamin wollte Mimesis nicht als archaischen Rest, sondern DOI 10.24053/ ldm-2021-0035 105 Dossier vielmehr als Vermögen verstanden wissen - als Fähigkeit des „Sich-Ähnlich- Machens“ und als „Gabe“, nicht nur existierende Ähnlichkeiten in Form von Korrespondenzen und Analogien in der Welt zu erkennen, sondern auch „deutend“ neue hervorzubringen (cf. GS II-1: 210sq., 204-210). Seine Thesen zum mimetischen Vermögen standen in den 1930er Jahren in engem Verweiszusammenhang mit anthropologischen Theorien über das mimetische Weltverhältnis der ‚Primitiven‘ (cf. GS II-1: 162, 140-157; cf. auch Lang 1998: 107 sowie Werkmeister 2010: 217sqq.). Ethnologen wie James George Frazer (1907), Lucien Lévy-Bruhl (1922) und Marcel Mauss (1950 [1902/ 03]: 57) diskutierten um die Jahrhundertwende über die Existenz einer ‚primitiven‘ Form des Denkens: verstanden als ein analogisches Denken in assoziativen Näheverhältnissen beziehungsweise „sympathetischen Ähnlichkeiten“ und Kontakt- und Assoziationsketten, für das alle Dinge und Menschen durch unsichtbare Korrespondenzen miteinander verbunden sind (cf. Mauss/ Hubert 1950 [1902/ 03]: 57). Der Rekurs auf die Mimesis der ‚Primitiven‘, der sich in zahlreichen künstlerischen und kulturtheoretischen Diskursen Anfang des 20. Jahrhunderts beobachten lässt (cf. Torgovnick 1990), ermöglichte dabei nicht nur die Revision des repräsentativen Kunstbegriffs und der symbolischen Sprach- und Zeichentheorien (cf. Werkmeister 2010: 2014), sondern auch die Neujustierung von Wahrnehmungskonzepten (cf. ibid.: 156-166 sowie Gess 2013: 309-310). Sinnliche Wahrnehmungsweisen wurden nun stärker gewichtet und die Perspektive von der hierarchischen Entgegensetzung zwischen Betrachtersubjekt und -objekt auf die Wechselseitigkeit und Verwobenheit der Beziehungen verschoben (cf. Werkmeister 2010: 165). In diesem Sinne verwies auch Benjamin gegen die (Kantische) Vorstellung „eines individuellen leibgeistigen Ich, welches mittelst der Sinne die Empfindungen empfängt und auf deren Grundlage sich seine Vorstellungen bildet“ (GS II-1: 161), auf die „Naturvölker […], welche sich mit heiligen Tieren und Pflanzen identifizieren“ (ibid.: 162, Kursivierung R. E.). Auch Roger Caillois arbeitete Mitte der 1930er Jahren an einer anthropologisch erweiterten Theorie der Mimesis. In zwei 1934 bzw. 1935 in der surrealistischen Zeitschrift Minotaure veröffentlichten Aufsätzen entwickelt er seine Gedanken anhand des Problems der Mimese (mimétisme), also dem Phänomen der Tarnung des Tiers durch die optische Anpassung an seine unbelebte Umgebung. Die Mimese, so Cailloisʼ provokante These, sei nicht nur evolutionär funktionslos, sondern sogar maladaptiv, ein „gefährlicher Luxus“ der Natur: „On a donc affaire à un luxe et même un luxe dangereux, car il n’est pas sans exemple que le mimétisme fasse tomber l’animal de mal en pis: les chenilles arpenteuses simulent si bien les pousses d’arbuste que les horticulteurs les taillent avec un sécateur […]“ (Caillois 1934: 7). Weil sich in mimetischen Praktiken der Mimende der Natur ähnlich macht, so generalisiert Cailloisʼ seine These und weitet sie zugleich auf menschliche Nachahmungspraktiken aus, und weil so die Grenzen zwischen dem mimenden Subjekt und der Natur verschwimmen, birgt sie für den Mimen immer auch die Gefahr, sich selbst im Prozess des Mimens zu verlieren. Der pathologische Kern mimetischer 106 DOI 10.24053/ ldm-2021-0035 Dossier Praktiken ist für Caillois die Überassimilation - eine übersteigerte Form des Nachahmens oder Mimens, Ausdruck des Freud’schen Todestriebs und eines bedrohlichen Strebens in die Passivität des Anorganischen (cf. ibid.: 8-9). Aber auch die menschliche Einbildungskraft, die in der Nachahmung der Außenwelt ihren Ursprung hat, ist für Caillois nur ein mimetischer Reflex und in Folge auch Mythen- und Kunstproduktion eine bloße Reaktion auf die natürlichen Phänomene der Außenwelt. Ein Sublimierungs- oder Aneignungsprozess der Natur durch die Phantasie und Kunst findet in seiner Theorie nicht statt. So führt in Cailloisʼ Deutung das Verhalten der weiblichen Gottesanbeterin, dem Männchen bei der Paarung den Kopf abzubeißen, zur direkten und unvermittelten Produktion von Mythen rund um die femme fatale. Und schließlich führte er die Mimese der Insekten mit den rituellen Praktiken der Magie eng: Bei der Mimese handle es sich letztlich um eine „invertierte“ Form der Magie, um das Ergebnis eines fehlgeschlagenen Versuchs, die bedrohliche Umwelt durch ihre Imitation magisch zu „beschwören“ (cf. Caillois 1935: 8sq.). Benjamin berichtete Adorno von Cailloisʼ Veröffentlichungen (cf. Adorno 1994: 276sq.), Adorno rezensierte daraufhin Cailloisʼ ersten Insektenaufsatz (cf. Adorno 1986: 229sqq.) in Teilen durchaus wohlwollend und lobte, „daß Caillois die Mythen nicht in Bewußtseinsimmanenz auflöst, sie nicht durch ‚Symbolik‘ verflacht, sondern auf ihre Wirklichkeit aus ist“ (Adorno 1994: 276sq.). Allerdings kritisierte er gleichzeitig die „Naivetät“ [sic], mit der Caillois „zwar die historische Dynamik in die Biologie hereinzieht, nicht aber ebenso diese in die historische Dynamik“, und warf Caillois „kryptofaschistische Naturgläubigkeit“ vor (ibid.: 277). Tatsächlich ist in Caillois’ Deutung der (animalischen und menschlichen) mimetischen Praktiken das aktive und poietische Potenzial der Einbildungskraft begrenzt, ihr passives Anschmiegen an die Außenwelt dagegen exzessiv. Mimetische Praktiken drohen bei Caillois deshalb immer in die unkontrollierte und rauschhafte Lust am Aus-der-Haut-Fahren und „Ausrasten“ umzuschlagen - und damit auch in die Zerstörung des eigenen Ichs (cf. Taussig 1997: 53). Im Gegensatz zu Walter Benjamin deutet Caillois mimetische Praktiken zunächst also als nicht als Ausdruck eines produktiven Vermögens, sondern als Ergebnis eines pathologischen, selbstzerstörerischen Reflexes. In Bezug auf Cailloisʼ negative Bewertung der Mimese muss allerdings der Kontext seiner frühen Aufsätze berücksichtigt werden, die im Zeichen der Kritik an den künstlerischen Verfahren des Surrealismus standen, wie der erklärtermaßen passiven, rein rezeptiven - mimetischen - écriture automatique, der Caillois eine aktive, analytische und ‚wissenschaftliche‘ Haltung entgegensetzte. Er distanzierte sich 1934 von Breton und der surrealistischen Bewegung mit der Begründung, der Surrealismus verbleibe bei der Beschäftigung mit dem Irrationalen und dem Imaginären im vagen Terrain der Intuition und des naiven Ästhetizismus. Er selbst wollte die „Phänomene der Imagination“ weder einfach beschreiben noch sie mit den Mitteln der Kunst evozieren, sondern ihre Teilstücke analysieren, klassifizieren und systematisieren (cf. Caillois 1974 [1934-1935]: 35-54). In der Periode des Collège de Sociologie reformulierte Caillois seine Thesen und gab ihnen eine neue Ausrichtung (cf. Caillois 1939): Im Gegensatz DOI 10.24053/ ldm-2021-0035 107 Dossier zur potenziell lebensgefährlichen Mimese des einzelnen Subjekts wird die Mimese als kollektives Tarnverhalten nun zu erfolgreichen „Strategie der Maske" (Massonet 1998: 163), hinter der sich die Geheimgesellschaft (des Collège de Sociologie) verbirgt, um die Unterwanderung der sozialen Strukturen der Mehrheitsgesellschaft vorzubereiten - zu einer durchaus produktiven Strategie also (cf. Hollier 1993: 67). Aber auch das Verhältnis des Collège de Sociologie zum Faschismus lässt sich als „mimetisches“ beschreiben (cf. Bürger 2000: 53): Von der faschistischen Zerschlagung der bürgerlichen „Homogenität“ fasziniert, war die erklärte politische Strategie der Gruppe nicht die Entwicklung einer eigenen politischen Agenda, sondern die Subversion des Faschismus durch seine Imitation. In diesem Politikverständnis hallt Cailloisʼ Interpretation der Mimese als magische Beschwörung des Originals durch dessen möglichst genaue Imitation nach. Die Gefahr eines Selbstverlusts ist dann aber, Caillois’ Logik folgend, auch in der Strategie der kollektiven politischen Mimese gegeben: Bei der Imitation des politischen Gegners besteht die Möglichkeit, dass die Unterschiede letztlich bis zur Unkenntlichkeit verwischen und die Mimetiker gerade zu dem werden, den sie bekämpfen wollten. Die Mimesis könnte in diesem Sinne zu gut gelingen, das Kollektiv der Sakralsoziologen den Faschismus zu stark imitieren, sich dabei im Feind verlieren und die politische Mimese zur „fehlgeleiteten Magie“ regredieren. Die Gefahr des Umschlags von der politischen ‚Beschwörung‘ des Faschismus in die mimetische Angleichung an den Faschismus war in diesem Sinne auch in den Aktivitäten des Collège de Sociologie gegeben. Benjamin hat nicht umsonst auf die Gefahren der Grenzverschwimmungen zum Faschismus hingewiesen (cf. Klossowski 1995 [1969]). Dennoch lassen sich auch in den Zugängen des Collège de Sociologie und denjenigen Benjamins zum mimetischen Vermögen einige Parallelen ausmachen: Der anthropologisch erweiterte und ‚entgrenzte‘ Mimesis-Begriff (cf. Eidelpes 2019) sowohl Benjamins als auch Cailloisʼ entbindet mimetische Praktiken von der Limitation auf das Symbolische, und die Trennung zwischen Realismus und Abstraktion entfällt darin ebenso wie die Hierarchie zwischen Subjekt und Objekt, Kopie und Original. Jenseits tradierter Konzepte wird Mimesis nicht mehr als Repräsentation der Außenwelt gefasst, sondern als Kommunikation in Ähnlichkeitsbeziehungen - bis hin zu dem Punkt, an dem die platonische Trennung zwischen Mimesis und Methexis obsolet wird (cf. Potolsky 2006: 38, Eidelpes 2019: 208-209). Unter dem Eindruck ethnologischer Theorien über das ‚primitive Denken‘ verschiebt sich die Perspektive auf Mimesis von der Imitation optischer Formen auf Figuren der Verwandlung und Metamorphose bzw. Alterität, wie sie im Surrealismus der 1920er und 1930er Jahre allgegenwärtig waren (cf. Cheng 2009: 68) und auch für Benjamin eine große Rolle spielten (cf. ibid. sowie GS V-1: 235-304). Er teilte durchaus Roger Cailloisʼ Interesse an Zuständen der Ich-Auflösung und Alterität und für die mit mimetischen Praktiken einhergehenden ekstatischen Erfahrungen des Außer-Sich- Seins, in denen sich das Subjekt aus seiner alltäglichen Identität befreit - unter anderem deshalb, weil er sie als essentiell für kreative Prozesse verstand (cf. Cheng 2009: 65sq.). 108 DOI 10.24053/ ldm-2021-0035 Dossier Die Faszination für Praktiken des Selbstverlusts bleibt zwar ambivalent, droht doch die Liquidation des Individuums und sein Aufgehen in der Masse immer auch, ins Faschistische zu kippen (cf. Horkheimer/ Adorno 1969: 190sq.). 8 Andererseits bieten Zustände der Ich-Auflösung aber auch das Potenzial eines Modus der Passivität, der einen anderen als objektivierenden Zugriff auf die Welt erlaubt und es ermöglicht, das Subjekt-Weltverhältnis neu zu explorieren, den machtförmigen Wissenszugriff der „objektiven Wissenschaft“ im Sinne einer sinnlichen bzw. ästhetischen Form der Erkenntnis zu überwinden 9 und so die „gegenseitige Durchdringung von Kunst und Wissenschaft zu befördern“ (GS I-2: 299). Resümee Benjamins Arbeiten unterschieden sich in zentralen Aspekten von den Forschungen des Collège de Sociologie, allen voran in der historisch-materialistischen Perspektive und Benjamins Bewusstsein für die Gefahren einer mimetischen, „sur-faschistischen“ Politik. 10 Sie können und sollen keineswegs mit den sakralsoziologischen Analysen gleichgesetzt werden. Allerdings war Benjamins Faszination für die Gruppe auch nicht zufällig, sind doch einige geistige Korrespondenzen nicht von der Hand zu weisen: Sowohl Benjamin als auch das Collège de Sociologie verfolgten eine Theorie der Moderne, die das Religiöse nicht aussortiert, sondern seinen Transformationen und neuen (profanen) Erscheinungsweisen nachspürt. Darüber hinaus arbeitete Benjamin, wie auch das Collège de Sociologie, in Weiterführung bzw. „Aufhebung“ (Benjamin) der surrealistischen Erfahrungssuche an einer kritischen Epistemologie, die solche Formen des Religiösen in Gestalt des Irrationalen, (kollektiven) Unbewussten und der (rauschhaften) Erfahrung nicht nur als Analysegegenstand, sondern auch methodisch mit einschließen sollte. Sie griffen dabei auch auf sinnliche bzw. mimetische Wahrnehmungs- und Erkenntnisweisen sowie auf dem Denken der sogenannten ‚Primitiven‘ zugeschriebene, ‚archaische‘ Weltzugänge zurück. Ihre jeweils unterschiedliche Auslotung der Grenzen des abendländischen Erkenntnisbegriffs explorierte das Potenzial solcher Epistemologien für die Revision der Regeln und Normen des abendländischen Wissens - weshalb der Zugang kein historisierender war, sondern auf die Gegenwart bezogen blieb und so implizit auch problematische Dichotomien wie diejenige zwischen den ‚Primitiven‘ und den ‚Modernen‘ zur Disposition stellte. Die Produktivität und Aktualität des in diesem Punkt ‚wahlverwandten‘ Denkens Benjamins und des Collège de Sociologie liegt bis heute darin, hegemoniale Wissens- und Erkenntnisbegriffe zu hinterfragen und allzu einfache Dualismen zwischen Natur und Kultur, Körper und Geist bzw. Subjekt und Objekt zu überwinden. DOI 10.24053/ ldm-2021-0035 109 Dossier Ades, Dawn / Baker, Simon Baker / Bradley, Fiona, Undercover surrealism: Georges Bataille and Documents, London/ Cambridge, MIT Press, 2006. Adorno, Theodor W., „Roger Caillois, La Mante religieuse. 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Fields 1995: Iiiisq. 2 Elisabeth Bosch (1991), Jochen Hörisch (1990) und Gerhard Rupp (1999) diskutieren Analogien in den Denkmotiven von Bataille und Benjamin u. a. zwischen Batailles Theorie der Verausgabung und Benjamins Passagenwerk. Auf die Differenzen zwischen dem Collège de Sociologie und Benjamin weisen Weingrad (2001) und Raulet (2020) hin. 3 Georges Bataille war für Benjamin ein wichtiger Kontakt zur Bibliothèque Nationale (cf. Benjamin 1999: 124 sowie Benjamin 2000: 152) und ein Vertrauter, dem Benjamin vor seiner Flucht aus Frankreich sein Passagen-Konvolut übergab. 4 Er hatte zuvor bereits an mindestens einem Treffen des von Breton (der aber die Gruppe bald wieder verließ) und Bataille 1935 gegründeten, anti-faschistischen Kampfbunds Contre-Attaque teilgenommen (cf. Klossowski 1952), der statt auf gezielte politische Aktionen und politische Programme auf die Mobilisierung von kollektiven Affekten und auf eine voluntaristische „Politik des Unmöglichen“ zielte, die sich der Formulierung konkreter politischer Ziele verweigerte, nur den Moment anvisierte und sich ganz auf die Kraft der „organischen Energie“ der Massen verlassen wollte (cf. Bataille 1970a). 5 Zur für das Verständnis der politischen Stoßrichtung des Collège de Sociologie zentralen Unterscheidung (übernommen aus Hertz 1909 [1907)] zwischen „linkem“ (in der Deutung Batailles anarchistisch-revolutionärem) und „rechtem“ (machtförmigen, strukturerhaltenden) Sakralem cf. Jamin 1981. 6 Siehe Anmerkung 1: Die Terminologie des Collège de Sociologie unterscheidet nicht eindeutig zwischen kollektivem Bewusstein/ Unbewusstem. 7 Benjamin grenzte seine eigene Terminologie allerdings gegen Jungs archaisches „kollektives Unbewusstes“ ab (cf. GS V-2: 1162, 1250). DOI 10.24053/ ldm-2021-0035 113 Dossier 8 Auch Hal Foster (1991) und Susan Buck-Morss (1992) diskutieren das Verhältnis zwischen faschistischen Subjektentwürfen und der Deformations- und Zerstückelungsästhetik in der surrealistischen Kunst der 1930er Jahre kritisch. 9 Cf. in diesem Sinne die Beiträge in Bertrams/ Roselli 2021. 10 So lautete der Vorwurf André Bretons an Batailles Politikverständnis in der Zeit von Contre- Attaque (cf. Anmerkung 4), cf. Kilian 2014: 129.
