eJournals lendemains 46/184

lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2021-0036
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2021
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Gérard Raulet: Das befristete Dasein der Gebildeten. Benjamin und die französische Intelligenz, Göttingen, Konstanz University Press, 2020, 286 S.

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2021
Robert Krause
ldm461840114
114 DOI 10.24053/ ldm-2021-0036 Comptes rendus GÉRARD RAULET: DAS BEFRISTETE DASEIN DER GEBILDETEN. BENJAMIN UND DIE FRANZÖSISCHE INTELLIGENZ, GÖTTINGEN, KONSTANZ UNIVERSITY PRESS, 2020, 286 S. Walter Benjamins Beschäftigung mit der französischen Literatur beschränkt sich keineswegs auf Charles Baudelaire und Marcel Proust, denen er Übersetzungen ins Deutsche und kanonische Studien widmete. Baudelaire bildet zusammen mit Louis- Auguste Blanqui, Joseph de Maistre und Georges Sorel eine Konstellation, Proust mit André Gide und Paul Valéry ein Dreigestirn in Benjamins literarischem Panorama Frankreichs, zu dem ebenfalls Guillaume Apollinaire, Louis Aragon, André Breton, Jean Cocteau, Louis-Ferdinand Céline, Jean Giraudoux, Julien Green, Marcel Jouhandeau und viele weitere zählen. Diese extensiven französischen Lektüren kommen allerdings erst in den Blick, wenn man Benjamins Verzeichnis gelesener Schriften, seine Briefe an Freunde und Verleger und seine publizistischen Gelegenheitsarbeiten für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften der zwanziger und dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts sichtet. Wieviel dabei zu entdecken ist, dokumentiert Gérard Raulets 2020 erschienene Monographie zu Benjamin und der französischen Intelligenz. Bereits der Buchtitel zeigt an, dass über Literaturkontakte im engeren Sinne hinaus auch die deutsch-französischen Intellektuellenbeziehungen in der Zwischenkriegszeit behandelt werden. Angelehnt ist der Obertitel an eine Bemerkung Benjamins zu Julien Benda; letzterer ahne nicht, dass dem „Privileg“ auf Bildung „nur noch ein befristetes Dasein“ vergönnt sei, kritisiert Benjamin 1934. Der „Schwebezustand“, den Benjamin den französischen Künstlern noch 1927 attestiert hatte, geht zu Ende, die kulturelle Krise und der politische Extremismus in Europa schreiten voran. Literatur und Kritik politisieren sich zusehends, die Rolle von Wissenschaft und Philosophie ist umstritten. Dieser europäische Horizont und die zahlreichen intertextuellen, soziopolitischen und philosophischen Bezüge sind mit zu bedenken, um Benjamins Kritiken und Rezensionen französischer Bücher adäquat einordnen und ihre jeweilige Stoßrichtung erkennen zu können. Kommentierung und Kontextualisierung helfen, ja erschließen dieses komplexe Themenfeld erst, das in weiten Teilen Neuland der ansonsten äußerst regen Benjamin- und Moderne-Forschung insgesamt ist. Wohl deshalb verzichtet der Verfasser weitestgehend auf den Dialog mit der Forschung, seine kundigen Erläuterungen und luziden Deutungen sprechen für sich, Blockzitate bieten zudem vertieften Einblick in die Quellen. Raulet, emeritierter Professor für deutsche Ideengeschichte an der Sorbonne, hat in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl von Publikationen zu Benjamins Werk und Zeit vorgelegt. Sein neues Buch hebt sich dezidiert vom gewohnten Benjamin-Bild als linkspolitisch fest verankertem Intellektuellen oder gar Marxisten ab. Erstmals wird darin auch Benjamins Interesse an der französischen Rechten eingehend untersucht. Dabei folgt Raulet der Hypothese, „dass Benjamin über rechts und links DOI 10.24053/ ldm-2021-0036 115 Comptes rendus anders urteilt, als wir es nachträglich von unserem politischen Spektrum aus rückprojizieren und dass der Gegensatz von rechts und links auf keinen Fall einen genügenden Maßstab der Kritik abgibt“ (15). Mit „Kritik“ dürfte hier sowohl Benjamins Ansatz in seinen literatur- und kulturkritischen Schriften als auch deren Deutung durch den Verfasser gemeint sein. Raulet hinterfragt und differenziert gängige Links- Rechts-Schemata - ganz im Sinne der von ihm geleiteten Groupe de recherche sur la culture de Weimar, die seit ihrer Gründung 1982 intensiv die interdiskursiven Austauschbeziehungen in der politischen Gemengelage der Zwischenkriegszeit untersucht. Wie diese Forschungsgruppe an der Fondation Maison des Sciences de l’Homme in Paris, zielt auch Raulets neue Benjamin-Monographie auf ein Verständnis der politischen und kulturellen Modernität insgesamt. Die Herangehensweise ist interdisziplinär, gleichermaßen literatursoziologisch und ideengeschichtlich fundiert, bietet seine Studie sowohl Beschreibungen und Analysen des zeitgenössischen literarischen Felds in Frankreich als auch Differenzierungen (in) der Intellektuellengeschichte (dazu v. a. 145-151). Dieser programmatische Ansatz spiegelt sich bereits in der Disposition des Buches wider: Symmetrisch aufgebaut, besteht es aus zwei gleich langen Teilen mit jeweils 5 Kapiteln. Unter dem Titel „Destruktion“, explizit angelehnt an Benjamins Konzept des „destruktiven Charakters“ und sein Kritikverständnis, wird mit der tabula rasa seiner Bestandsaufnahme der französischen Literatur begonnen (cf. 30, 36). ‚Kritik‘ bedeutete für Benjamin auch, Werke bewusst zu zerstören, um sie dann neu zu beleben. Sukzessive nachvollzogen wird diese Destruktion mit Blick auf Benjamins Bemerkungen zum psychologischen Roman Julien Greens (Kap. I,1) und seine sprachphilosophisch fundierten Teil-Übersetzungen von Prousts Recherche (Kap. I,2), auf seine intelligenzsoziologischen Schriften zum Surrealismus (Kap. I,3) und seine Verfallsdiagnose der realistischen oder gar naturalistischen Darstellungstradition (Kap. I,4 und I,5). Dabei stellt Raulet die instruktive Frage, wen Benjamin wider Erwarten nicht erwähnt, so etwa die Literatur-Nobelpreisträger Anatole France und Roger Martin du Gard (91). Benjamins Beschäftigung mit der französischen Literatur mag auf den ersten und womöglich auch zweiten Blick eklektisch erscheinen: Neben berühmten oder zumindest bekannten Autoren stehen die Namen heute weitestgehend vergessener, etwa Emmanuel Berl, Léon Deubel, Martin Maurice und Denis de Rougemont. Was also interessierte den Kritiker Benjamin? Raulet begibt sich auf Spurensuche, führt manche Indizienbeweise, spekuliert auch und räumt es durchaus ein, wenn er sich mal „auf abenteuerliche interpretatorische Wege [wagt]“ und dabei „nicht ganz auf Textanalysen, sondern teilweise nur auf Indizien stützen“ kann (32). Ihm zufolge liegt Benjamins Gelegenheitsarbeiten „ein Netz von Motiven zugrunde […], das mit dem ausformulierten theoretischen Werk übereinstimmt“ (132). Ein, wenn nicht gar das zentrale Motiv ist es, eine alternative Geschichtsschreibung der Moderne zu entwickeln, die wie der ikonische Lumpensammler aus den Baudelaire- und Passagen- Arbeiten Abseitiges und Deviantes aufnimmt (121). Prostituierte, Verbrecher und Detektive rücken aus der Peripherie heraus ins Zentrum, Benjamin opponiert gegen 116 DOI 10.24053/ ldm-2021-0036 Comptes rendus Konformismus und unterscheidet nachdrücklich zwischen dem sozialen und dem psychologischen Gehalt von Literatur (101), wobei er Affinität zu Außenseiterfiguren zeigt. Erst die tabula rasa schafft die Bedingungen für das Engagement, dem der gleichnamige zweite Teil von Raulets Studie gewidmet ist. Deutlich wird die Problematik dieses Engagements in Benjamins Reflexionen zu Bendas „Trahison des clercs“ (Kap. II,6), ebenso in seinem eigenen ambivalenten Verhältnis zu rechten Autoren wie Thierry Maulnier, Léon Bloy, Maurice Barrès und Charles Péguy (cf. Kap. II.7, insbes. 190), das sich in dezisionistischer Manier um die „Geste der Entscheidung“ und die „Figur des selbstbewussten Intellektuellen“ dreht (182, 184). Der „destruktive Charakter“ und Monsieur Teste, Valérys Alter Ego, ähneln sich auf frappierende Weise (cf. Kap. II,8), ebenso die politische Entwicklung Benjamins und Gides seit Mitte der 30er Jahre (cf. Kap. II,9). Die intellektuellen Debatten beschleunigen sich, Benjamins Blick, bislang frei von Ideologie, erscheint nunmehr getrübt (230). So verteidigt er nicht nur den aus Russland zurückgekehrten Gide gegen antikommunistische, vermeintlich faschistische Gegner wie Maulnier, sondern revidiert und radikalisiert auch seine „Standort[bestimmung] des gegenwärtigen französischen Schriftstellers“ aus dem gleichnamigen programmatischen Aufsatz von 1934 (229- 233). Benjamin sucht und findet eine „Ethik des politischen Engagements“, wie Raulet eindringlich zeigt (233). Der antifaschistische Kampf wird ihm zum Maßstab der Kritik - auch der Kritik an den Mitgliedern des Collège de Sociologie, wohlgemerkt trotz regelmäßigen Umgangs mit dessen spiritus rector Georges Bataille sowie Pierre Klossowski und trotz ihrer ähnlich gelagerten Interessen, insbesondere am Verhältnis von Mythos und Aufklärung. Diese von Horkheimers und Adornos Skepsis an den Collégiens mitbefeuerte Auseinandersetzung erklärt Raulet aus divergierenden anthropologischen Prämissen (cf. Kap. II,10). Sein Schlusskapitel zeigt nicht nur den Gegensatz von Mimesis und Mimikry, Benjamins und Roger Caillois’ Konzepten mimetischer Nachahmung (248sq.), sondern gerät auch explizit zu einer „Art von Generalabrechnung mit den Irrwegen und Sackgassen der französischen Intelligenz, die Benjamin seit den zwanziger Jahren so intensiv beobachtet hatte“ (236). „Zweideutigkeiten“, wie Benjamin sie bei Caillois festzustellen meint, erscheinen ihm angesichts des erstarkenden Faschismus schlichtweg inakzeptabel; dieser politischen Gefahr klar entgegenzutreten wird für Benjamin zum Signum echter Intellektueller (244). Raulet rechnet hier ebenfalls ab, und zwar mit Positionen der Kritischen Theorie, der er indes selbst verpflichtet ist, woran u. a. grundsätzliche zeitdiagnostische Befunde und gesellschaftskritische Bemerkungen im Verlauf seiner Studie erinnern (bspw. 120, 281). Kommunikations- oder anerkennungstheoretische Begründungen des „Engagements für gerechtere Lebensformen“, wie sie Jürgen Habermas und Axel Honneth vorgelegt haben, mit denen Raulet bestens vertraut ist, erscheinen ihm zu „liberalistisch-sozialdemokratisch“; er argumentiert dagegen auf der „Ebene der ökonomischen Gesellschaftsformation“, in der Tradition der Pariser Manuskripte DOI 10.24053/ ldm-2021-0037 117 Comptes rendus von Marx, einem Schlüsseltext für die Ursprünge Kritischer Theorie (281). Womöglich verdankt diese, zumindest bei Benjamin, französischen Einflüssen mehr als bislang gedacht, so ließe sich vom fulminanten Abschluss des Buches her argumentieren. Robert Krause (Freiburg) ------------------ YOUSSEF ISHAGHPOUR: KIEFER. LA RUINE, AU COMMENCEMENT. IMAGE, MYTHE ET MATIERE, PARIS, ÉDITIONS DU CANOË, 2021, 512 P. Youssef Ishaghpour, né en 1940 et mort en 2021, est un spécialiste de l’image et du cinéma. 1 Il a adhéré sans réserve à la définition que donne Theodor Adorno de l’essai: „un essai est écrit par un non spécialiste pour des non-spécialistes“. Bien sûr, il y a un peu d’humour et de coquetterie dans cette affirmation dans la mesure où il pratique de manière approfondie la philosophie allemande, l’histoire politique du XXème siècle, et les théories esthétiques (de Benjamin et Adorno, entre autres). Son ouvrage sur Anselm Kiefer est bien un essai, simplement écrit, qui aborde avec clarté, sans références érudites non indispensables mais avec audace et une très grande justesse, la totalité de l’œuvre foisonnante, saturée d’allusions littéraires, ésotériques ou picturales de Kiefer. Youssef Ishaghpour nous donne le mode d’emploi, la trame esthétique de cette œuvre sans pourtant aucune simplification didactique. De par sa connaissance de la poésie et de la philosophie de langue allemande, Youssef Ishaghpour sépare avec brio ce qui est dans l’œuvre de Kiefer citation, syncrétisme ou simple allusion pour nous livrer ce qu’il en est des buts et de la nature de cette œuvre, s’appuyant sur de nombreux extraits de textes ou interviews de l’artiste lui-même. La place de Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Rilke, Goethe, Jabès et tant d’autres présents dans les œuvres et titres de Kiefer, et de même les rôles de Robert Fludd, de la gnose ou de la Kabbale sont restituées à leur juste place. Surtout, cet essai nous tend un fil d’Ariane, nous guidant dans le labyrinthe volontairement mis en place par Kiefer, dans une forêt d’allusions, de citations, de mélanges ou juxtapositions parfois provocateurs. Sans porter aucun jugement, sans pathos, avec neutralité, dans ce livre où l’on ne trouve aucune reproduction ou image, Ishaghpour indique ce que Kiefer a voulu faire, la ligne directrice de son travail, sa place dans l’art du XXème du XXIème siècle, ceci sans louange ou condamnation. L’ouvrage nous permet de voir et de comprendre cette œuvre puissante, d’en situer les intentions. Kiefer, malgré l’apparence, n’est pas un peintre de paysage, nous dit Ishaghpour (293). La dimension contemplative, le panthéisme de Friedrich sont absents, non pas simplement absents mais de facto affirmés comme impossibles: chez Kiefer „les 1 Orson Welles une caméra visible, Éditions de La Différence, coffret 3 vol., 2005.