lendemains
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0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2021-0038
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2021
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Berhard Lübbers / Isabella von Treskow (ed.): Kriegsgefangenschaft 1914-1919. Kollektive Erfahrung, kulturelles Leben, Regensburger Realität, Regensburg, Verlag Friedrich Pustet, 2019 (Kulturgeschichtliche Forschungen zu Gefangenschaft und Internierung im Ersten Weltkrieg, Band 2), 396 S.
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2021
Thomas Keller
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118 DOI 10.24053/ ldm-2021-0038 Comptes rendus paysages sont des sédiments de l’histoire, emblèmes allégoriques de l’absence et du désastre“ (315). Il n’y a pas de perspective centrale même déformée, aucun horizon ou lointain. Kiefer affirme par ses œuvres ce qu’il en est de l’art après la fin et la ruine de l’art. Youssef Ishaghpour nous restitue un Kiefer matérialiste, étranger à la réflexivité de l’art du XXème siècle et à ses recherches formelles, produisant des œuvres qui tendent (mais savent échouer) à la transmutation alchimique de la matière: „le sublime s’est effondré en lui-même, et l’exaltation est remplacée par la résonance douloureuse du deuil et de l’amertume sans rémission ni d’espoir de survie“ (316). Il n’y a aucun salut, ni religieux, ni politique, ni dans l’art, ni hors de „la ruine comme scène primitive, situation inaugurale, au commencement“ (294), ce qui explique le titre de l’ouvrage d’Ishaghpour et celui de l’opéra de Kiefer. Ceci n’ôte en rien à l’œuvre de l’artiste allemand sa puissance et sa force, qui ne doit rien au mythe, ni à l’espérance. Chez Kiefer, „le monde s’est transformé, la peinture également: on trouve donc des traces de la peinture abstraite gestuelle, de la peinture matiériste, et avec l’aspect général et l’écriture qui l’accompagne, l’art conceptuel“ (315). C’est donc à travers la figure mythique de l’Ange de l’Histoire que peut se comprendre Kiefer, dont l’œuvre naît dans la brèche ouverte par une chute originelle, par la destruction, par la ruine, au commencement. Mais Kiefer survit en tant qu’artiste, et même en tant qu’‚artiste souverain‘ ou ‚total‘, démesuré comme le dictateur ou le prophète, mais sur un autre mode. Il pense en images, et affirme par la matérialité de ses œuvres que „[…] les œuvres se ruinent mutuellement, par nécessité de renaître dans un renouvellement permanent. C’est pourquoi l’art se détruit constamment et pourtant survit à ses ruines“ (9). L’ouvrage d’Ishaghpour permet de comprendre la démesure de l’œuvre et la figure excessive, omniprésente, de l’artiste Kiefer lui-même. Juliette Grange (Tours) ------------------ BERNHARD LÜBBERS / ISABELLA VON TRESKOW (ED.), KRIEGSGEFANGEN- SCHAFT 1914-1919. KOLLEKTIVE ERFAHRUNG, KULTURELLES LEBEN, REGENS- BURGER REALITÄT, REGENSBURG, VERLAG FRIEDRICH PUSTET, 2019 (KUL- TURGESCHICHTLICHE FORSCHUNGEN ZU GEFANGENSCHAFT UND INTERNIE- RUNG IM ERSTEN WELTKRIEG, BAND 2), 396 S. Das zu besprechende Buch stellt den zweiten Band einer Reihe dar. Band 1 handelt von der Gefangenenzeitschrift Le Pour et le Contre, Band 3 von Französischem Leben im Lager Regensburg, Band 4 bringt „Gefangen“. Das Tagebuch des Leutnants Gustav Bernhard Hofheinz, Band 5 thematisiert Schreiben in Gefangenschaft. Die Sammelbände stehen quer zu dem Phänomen, dass etwa 50 Jahre zurückliegende Phasen erstmals historisiert werden. Das Geschehen liegt weiter zurück, es ist nicht mehr durch das kommunikative Gedächtnis erreichbar, kein Augenzeuge DOI 10.24053/ ldm-2021-0038 119 Comptes rendus kann mehr befragt werden. Die Existenz des Lagers mitten in Regensburg auf der Inselspitze des Unteren Wöhrd in der Donau war vergessen. In Deutschland ist zudem das Interesse am Ersten Weltkrieg generell schwächer als in Frankreich, es wurde durch das 100jährige Gedenken wieder etwas belebt. Es gibt indes immer noch viel mehr Studien zu den Lagern des Zweiten Weltkriegs. Die den Bänden zugrundeliegenden Forschungen sind - neben dem hundertjährigen Gedenken des Krieges - ausgelöst durch neue Quellen, das heißt durch den Fund der Regensburger Lager-Zeitschrift Le Pour et le Contre und beiliegende Dokumente über Konzerte und Theateraufführungen. Der Erwerb der Dokumente 2008 machte die Gründung des Forschungsprojekts Mitten im Krieg - Das Regensburger Kriegsgefangenlager während des Ersten Weltkriegs, getragen von der Staatlichen Bibliothek und der Universität Regensburg, möglich. Die Dokumentation fußt auf der Zusammenarbeit des Direktors der Staatlichen Bibliothek Regensburg, Bernhard Lübbers, mit Isabella von Treskow, Romanistin an der Universität Regensburg. 2016 fand dann eine Tagung in Regensburg statt, die in vorliegendem Band dokumentiert ist. Der Band ist aufgeteilt in Beiträge zu den Quellen, zum Ort, dessen Organisation und künstlerischen Aktivitäten, zu Aspekten wie Feindbilder, Medien, Kontakte, hier verschiedene Lager berücksichtigend. Während Lübbers die Arbeit des Bibliothekars im Zusammenhang des Quellenfunds nachzeichnet, bettet von Treskow Le Pour et le Contre in andere französische Gefangenenzeitschriften in Bayern ein - L’Intermède aus Würzburg, Baracke! aus Amberg, Le Canard aus Nürnberg, Le Can-Camp aus Ingolstadt, L’Exilé aus Hammelburg, L’Exilé aus Grafenwöhr, Le Trait d’Union aus Hammelburg und Le Flambeau aus Landsberg. Lübbers betont die Aufgabe des Bibliothekars, den Quellenfund mit einer wissenschaftlichen Aufarbeitung zu verknüpfen, die große Geschichte im Kleinen erfasst. Den Titel L’Exilé, eine Anspielung auf Victor Hugo, gibt es für zwei Zeitschriften. Die zweite ist klandestin, das heißt unzensiert, und bringt Frontberichte und antideutsche Texte. Trait d’union setzt sich für Solidarität unter Kriegsgefangenen ein. Le Flambeau bringt Frontnachrichten, Fortsetzungsromane, spannende Ereignisse im Lager. L’Intermède befasst sich mit Unterhaltung, Kultur und Sport. Baracke! ist republikanisch und setzt sich für Solidarität mit russischen Kriegsgefangenen ein. Ihr Gründer ist Roger Salengro. Can-Camp ist eher scherzhaft. Le Canard, von einem Geistlichen geleitet, informiert über das Lager und die Situation der Gefangenen. Alle Zeitschriften geben sich, wenn auch entwaffnet, tapfer und solidarisch. Von Treskow wie auch weitere Beiträger erfassen das große, wiederkehrende Thema le cafard, das ist der Lagerkoller und eine allgemeinere Befindlichkeit der Niedergeschlagenheit, die über eine Gemütslage der Lagerinsassen hinausgeht. Bemerkenswert sind auch Zeugnisse, die den unmerklichen Widerstand und die erstaunliche Kreativität im Lager belegen. Die Gefangenen müssen sich Verdächtigungen erwehren, Drückeberger zu sein. Von Treskow erinnert an das tragische Schicksal von Roger Salengro, des späteren Innenministers der Volksfrontregierung, der sich unter dem Druck des Rufmords umgebracht hat. Sogar Texte über die Kultur 120 DOI 10.24053/ ldm-2021-0038 Comptes rendus des Feindes, so diejenigen von Alfred Besancenot über die Geschichte Regensburgs, erscheinen. Adressaten sind die Gefangenen selbst und Leser in den Heimatländern. Wer bekommt ein Gesicht? Bekannt geworden ist der Sozialist Roger Salengro, der Widerstand im Kriegsgefangenenlager organisiert. Ein anderer Prominenter, Charles de Gaulle, ist Kriegsgefangener, er ist allerdings nicht in Regensburg interniert. Im Artikel von Susanne Fontaine über Musik im Gefangenenlager Regensburg tritt die Rolle von Marcel Gennaro hervor. Gennaro wird nach dem Krieg Kirchenmusiker und Komponist, u. a. an Sacré-Cœur in Paris. Im Regensburger Lager gibt es eine Theatertruppe (Ratis-Bouffes) und ein Orchester. Gennaro leitet das Orchester Ratis-Boum-Boum nur zeitweilig. Gennaro gründet einen Chor. Dann entsteht ein Instrumentalensemble. Fontaine beschreibt das Répertoire, es ist ähnlich wie an der Front, zugleich ambitioniert, es bietet nicht nur Unterhaltungsmusik und -theater (Labiche), sondern auch anspruchsvolle Kunst, einschließlich Musik aus dem deutschsprachigen Raum, so Mozart und selbst Wagner, wenngleich Gennaro sich in der wagnerkritischen Linie von Vincent d’Indy situiert. Diese prominenten Fälle aber sind eher Ausnahmen. So ist Joseph Demange, dessen berührende Korrespondenz in Belfort archiviert ist, ein Unbekannter. Wolfgang Asholt spricht über die Auswahl der Theaterstücke im Regensburger Lager. Das Pariser Boulevard-Theater ist identitätsstiftend, es bietet Zuflucht. Gennaro leitet mit Paul Lasternas auch die Theatertruppe, die aus 16 Personen besteht und zahlreiche heute zum Teil vergessene Boulevard-Autoren auf die Bühne bringt. Eine verblüffend hohe Zahl an Aufführungen auf hohem Niveau ist zu vermerken, ehe die deutsche Lagerleitung sie drosselt, dann ganz verbietet. Asholt stellt Stücke von Tristan Bernard, Georges Courteline, Georges Feydeau und Sacha Guitry vor, die tröstende Identifikationsangebote liefern wie z. B. die zuhause wartende Frau. Dieser Artikel wäre wohl besser unmittelbar nach demjenigen von Fontaine plaziert. Dominik Bohmann besichtigt in seinem Beitrag über das Stammlager Regensburg den Insel-Ort als anderen Raum. Er verwendet Foucaults Begriff der Heterotopie für Orte, die abweichend von der Norm sind und wo man Menschen abgetrennt unterbringt. Vor den Kriegsgefangenen hielten sich dort Kranke, Ansteckende, Delinquenten auf; heute ist die Insel ein Parkplatz, ein übersehener Ort ohne historische Kennzeichnung. Hubert Emmering informiert über das Lagergeld, das nur noch aus Münzkatalogen erschließbar ist. Es reduziert die Fluchtgefahr und wirkt dem Kleingeldmangel im Ersten Weltkrieg entgegen. Die briefmarkenähnlichen Scheckmarken, die Scheine und Zinkmünzen werden lokal produziert. Georg Köglmeier berichtet über das städtische Umfeld des Lagers in einer Zeit des starken Bevölkerungswachstums und knapper Lebensmittel mit Zwangsbewirtschaftung und Schwarzmarkt. Das Lager wird vom Magistrat der Stadt verwaltet, die Versorgung der Regensburger sichergestellt. 1915 sind im Lager bis zu 2500 Gefangene, dann starke Abnahme, Arbeitseinsätze außerhalb dominieren. Köglmeier DOI 10.24053/ ldm-2021-0038 121 Comptes rendus erschließt über seine Quelle, den Regensburger Anzeiger, wie Beziehungen der Gefangenen mit Frauen tabuisiert, argwöhnisch beäugt und kriminalisiert werden. Dahinter verbirgt sich eine Wirklichkeit mit zahlreichen Kontakten, vor allem auf Bauernhöfen. Dominik Bohmann beschreibt in seinem zweiten Beitrag ambivalente Lagen zwischen „Zwang und Freiheit“ vor allem anhand der Lagerzeitung. Die Lagerverwaltung zeigt dem Besucher Abbé Desvaux stolz die Lagerkapelle. Zu den selbstverwalteten Institutionen gehören die Krankenstation, das atelier de peinture, die Werkstätten, das Lagertheater, die Lagerschule, die Bibliothek, von dem Geistlichen Lamy betrieben, ein Duschhaus. Aber die Bedingungen verschlechtern sich. Die Essenrationen werden vermindert, das Theater verboten. Weniger Heizmaterial wird geliefert, der Lesesaal wird geschlossen. Auch Le Pour et le Contre erscheint nur ein Dreivierteljahr. Die Arbeitskommandos unterlaufen indes die Bemühungen der Kontaktverbote. Das Gemälde eines Gefangenen ist sogar zeitweilig im Rathaus aufgehängt. Viel Feldpost und Pakete zirkulieren. Eine Zunahme der Fluchtversuche ist gegen Kriegsende zu verzeichnen. Die in Teil III versammelten Beiträge über Feindbilder, Medien und Kontakte beziehen sich nicht nur auf Regensburg und nicht nur auf die französischen Kriegsgefangenen. Der Beitrag von Oxana Nagornaja über Beziehungen der Entente- Gefangenen bringt die russischen Gefangenen in den Blick. Sie werden anders eingestuft und behandelt, oft in völkerpsychologischer, stereotyper Perspektive als angeblich primitiver eingeordnet. Die Gefangenen werden zunehmend Teil eines Zwangsarbeitersystems, in Widerspruch zur Haager Landkriegsordnung. Engländer und Franzosen werden bevorzugt. Nagornaja vermerkt auch Vorurteile der Franzosen gegen Russen. Die Propagandazeitschrift Russischer Bote schürt die Zwietracht unter Gefangenen. Russische Lagerzeitungen klagen über Privilegien der anderen. Dagegen herrscht bei Theateraufführungen, Musik und Trauerzeremonien eher Solidarität. Ab 1917 wird das Teilen von Lebensmitteln unter den verschiedenen Gruppen seltener. Ein besonderer Fall ist die von gegenseitiger Wertschätzung geprägte Beziehung zwischen De Gaulle und Tuchatschewslij, die beide aus Ingolstadt fliehen. Uta Hinz fügt die Erfahrung von Kriegsgefangenschaft stärker in allgemeine Tendenzen des barbarischen 20. Jahrhunderts ein. Ausbeutung, Entgrenzung der Kriegsführung, Totalisierung und Industrialisierung des Krieges, die Verwendung von Kriegsgefangenen als menschliche Ressource - das sind ihre Stichworte. Auch das Lager in Regensburg fügt sich eine neue Form des Lagersystems ein. Die Stammlager sollen zugleich mit ihren sanitären Anlagen und kulturellen Aktivitäten Menschlichkeit dokumentieren. Im Laufe des Krieges werden die meisten Gefangenen ausgelagert, immer schlechter ernährt, die in der Landwirtschaft bessere Versorgung gerät in den deutschen Medien immer mehr in die Kritik. Der massenhafte Einsatz von Kriegsgefangenen in Industriebetrieben und Landwirtschaft ist völkerrechtswidrig. Die Brutalisierung zeigt sich auf militärischer Führungsebene im Begriff 122 DOI 10.24053/ ldm-2021-0038 Comptes rendus der ‚Arbeitsbiene‘ und individuell in gewalttätigen Übergriffen von Lagerpersonal. Jene Kennzeichen gelten freilich auch für die anderen kriegsführenden Länder. Rainer Pöppinhege erfasst in seinem Artikel über Zeitungen und Musik mit Die Lagerlaterne (Isle of Man) und Lagerfeuer (Japan) deutsche Lagerzeitungen, mit The Freiburg Review und The Wooden City (Göttingen) englische und mit Hameln Tas de Blagues und L’Echo du Camp de Rennbahn (Münster) französische, mit Onze Taal (Göttingen) eine flämische Lagerzeitung. Alle betreiben Sinnstiftung, sie setzen auf Kulturbewahrung gegen Inaktivität, wirken der Scham entgegen und zielen auf Unbeugsamkeit. Die Lagerzeitung etabliert sich als Gattung, die geordnete Beziehungen zwischen Lagerleitung und Gefangenen voraussetzt. Pöppinghege wertet dabei eine 1939 erschienene Studie von Hans Bayer über Presseaktivitäten von deutschen Kriegsgefangenen des Ersten Weltkriegs aus. Bayer hat die soziale Zusammensetzung der Schreibenden ermittelt (Unternehmer, Beamte und Lehrer überwiegen, erst dann folgen Journalisten). Sportveranstaltungen, Theater- und Konzertaufführungen werden in fast allen Zeitungen dokumentiert. Alle verwahren sich gegen den Argwohn, Drückeberger zu sein. Pöppinghege stellt ebenfalls - wie Fontaine - fest, dass im Musikrepertoire französischer Kriegsgefangener Stücke deutscher Komponisten vorkommen, selbst Wagner ist nicht problematisch. Bei deutschen Kriegsgefangenen rangiert Beethoven vor Wagner. Robert L. Nelson schreibt über französische Feldzeitungen hinter den Frontlinien. Nelson erinnert an Audoin-Rouzeaus Pionierstudie über ca. 400 französische Feldzeitungen. Sie verteidigen das Vaterland und geben sich als Sprachrohr der Gedanken der Kameraden aus. Nelson strebt den Vergleich an. Die deutschen Feldzeitungen müssen die Besetzung fremden Bodens rechtfertigen. Etliche Beiträge betonen die guten Beziehungen zur lokalen Bevölkerung. Nur in den französischen Zeitungen gibt es Berichte über unkameradschaftliches Verhalten. Auch die britischen Zeitungen loben und rechtfertigen sich selbst weniger. Nur in französischen Zeitungen kommen Berichte über Respekt und Verbrüderungen mit deutschen Soldaten vor. Die französischen Zeitungen (L’Echo des Guitounes, L’Argonnaute, Le Poilu du 37) sind nicht Verlängerungen der Propaganda, sie enthalten Kritik an der militärischen Führung und an der Heimatfront mit ihren Großsprechern und Drückebergern und an den Parlamentariern. Sie zeigen Frauen in symbolischen und realen Funktionen, auch verletzte Soldaten. Sie thematisieren auch Theater- und Musikaufführungen mit Männern in Frauenkleidern. Auch zeichnen sie schwarze Kolonialsoldaten eher positiv. Erst in diesem Artikel kommen pazifistische Bestrebungen und die Meutereien von 1917 in die Wahrnehmung. Sybille Große erinnert in ihrem Beitrag über linguistische Analysen von Ego- Dokumenten an den Aufruf, der von der Bibliothèque Nationale de France 2014 initiiert wurde. Die Collecte an Dokumenten, an der Université de Montpellier aufbereitet, ist online einsehbar. Das Corpus enthält Briefe und Feldpostkarten von Südfranzosen. Die Heidelberger Projektgruppe „Egoling 14-18“ fokalisiert auf französische und deutsche Schreiber aus dem Grenzraum, so auf die Familienkorrespondenz Grandemange, die im Fonds Grandemange im Stadtarchiv von DOI 10.24053/ ldm-2021-0038 123 Comptes rendus Belfort aufbewahrt ist. Joseph Grandemange aus den lothringischen Vogesen ist Soldat, Verletzter und Kriegsgefangener, ein Vertreter der „einfachen Bevölkerung“. In der Korrespondenz geht es um Gesundheit und Wohlergehen, um familiäre Fürsorge, darum, die Familie zu beruhigen. Grandemanges Briefe verändern sich im Ton, als er aus den Lagern Mannheim und Heuberg berichtet. Er ist jetzt Bauer und bittet um Essenspakete und Strümpfe. Seine einfache Sprache arbeitet mit diskurstraditionellen Formeln. Der Stil ist lebendig durch Injektionen (Ah! Oui! ) und ähnelt der mündlichen Unterhaltung. Verzweifelt wird der Ton mit Einstellung des Postverkehrs im Frühjahr 1918. Bernhard Lübbers verlässt in seinem Artikel über Bibliotheken und Lektüren von Kriegsgefangenen den zeitlichen Rahmen des Ersten Weltkriegs und den räumlichen der Kriegsgefangenenlager und der Frontlinien. Beispiel für rettendes Lesen findet er in Bandô (Japan) und im Ghetto Wilna während der Shoah. Bereits der zeitgenössische Bericht Kruks zeigt drastisch, wie Lesen beim Überleben hilft. Lübbers findet diese Einsicht auch bei Schopenhauer und Proust. In Hinblick auf die Gefangenen im Ersten Weltkrieg zieht Lübbers das Zeugnis des 1916 in englische Kriegsgefangenschaft geratenen Leutnants Gustav Bernhard Hofheinz heran. Dessen Tagebuch ist in der Bibliothek Regensburg aufbewahrt. Es enthält die Erinnerung an die Schlacht an der Somme und schildert Erlebnisse im Lager. Auch Hofheinz schreibt gegen den Stacheldraht-Wahnsinn. Lübbers führt weitere Beispiele wie den britischen Offizier, der Russisch lernt, und Georges Connes, der Bücher verschlingt, an. Bei der Bitte um Bücher hilft das Internationale Rote Kreuz. Besonders viele Bücher geliefert hat die Deutsche Kriegsgefangenenfürsorge mit Hermann Hesses Bücherzentrale in Bern. Hesse wählt Texte wie den Faust und Autoren wie Wilhelm Busch und Gottfried Keller aus. Er schreibt unzählige Bettelbriefe, mit Erfolg. So schreitet Martin Buber zu Bücherschenkungen. In fast allen Lagern entstehen Bibliotheken, die Spuren in den Zeitungen hinterlassen. In Regensburg übernimmt der Geistliche Lamy die Funktion des Bibliothekars. In Bandô in Japan berichtet die Lagerzeitung Die Baracke über die Bibliothek. Wie viele Leser die Bibliotheken haben ist kaum ermittelt, nur eine Studie über Leser im Lager Orléans existiert. Angesichts der zentralen Bedeutung des Lesens kann der Begriff der Bibliotherapie aufkommen. Britta Lange berichtet über Tonaufnahmen, die im Lautarchiv der Humboldt- Universität archiviert sind. Sie sind realisiert von der Phonographischen Kommission, mit dem Englischlehrer Wilhelm Doegen und dem Romanisten Heinrich Morf. Sie ergänzen anthropologische Untersuchungen an Kriegsgefangenen von der Ostfront mit Forschungen über lebende Sprachen und Mundarten, mittels Aufnahmen von russischen, französischen und englischen Gefangenen. Die Kommission nimmt in 31 Lagern auf. In Regensburg wurden keine Aufnahmen gemacht. Morf und seine Mitarbeiter wie Hermann Urtel sind besonders an Dialekten und Regionalsprachen interessiert, auch an Baskisch. Ihr Vorgehen ist angeblich unparteiisch, wissenschaftlich. Es ist aber verbunden mit Völkerpsychologie und soll Individualitäten 124 DOI 10.24053/ ldm-2021-0038 Comptes rendus innerhalb des französischen Staats nachweisen. Es arbeitet mit einem dreiminütigen Sprechen der Parabel vom verlorenen Sohn und mit von Gefangenen selbst geschriebenen Texten in Mundart. Ein besonderes Dokument ist die biographische Schilderung von Jean Beauseigneur, der im Dialekt der Franche Comté über seine Gefangennahme spricht, Urtel schreibt über die Transkription die ‚Übersetzung‘ ins Französische. Erst heute wird das Dokument nicht nur als Aufzeichnung eines Dialekts, sondern auch als selbstbestimmtes Zeugnis eines einfachen Soldaten wahrgenommen. Die beteiligten deutschen Wissenschaftler berichten auch von den Theateraufführungen und bringen Photos davon. Der Gefangene Théophile Sarrat singt im Dialekt des Béarnais das Lied Ma bergère. Der Beitrag über die phonetischen Forschungen dokumentiert gut das unmerkliche Gleiten von völkerkundlichen Forschungen zu rassistischen („rassekundlichen“) Orientierungen, wie die beigefügten Photos in Doegens Schrift Kriegsgefangene Völker (1921) belegen, die dann im Jahre 1941 wiederverwendet werden können. Wie wenig unschuldig die Aufzeichnung der Lautsprache ist, zeigt sich darin, dass das Photo vom Gefangenen Sarrat, der, ein Blatt in der Hand haltend, singt, 1941 erneut in der Propagandaschrift von Doegen Unsere Gegner damals und heute auftaucht. Es ist jetzt eine von drei anthropologischen Porträtaufnahmen, betitelt mit „ein Baske“ als „Ureinwohner“, daneben der Flame als „Mischform“ und der „mongolische Kambodjianer“ in der Kolonie. In diesem letzten Kapitel der Textsammlung wird greifbar, was Uta Hinz in ihrem Artikel über Entgrenzungen mehr behauptet als nachweist, nämlich die Übergänge in einen unmenschlichen Szientismus. Der Band ist ein gelungenes Beispiel für einen kulturwissenschaftlichen Zugriff auf eine deutsch-französische Konstellation. Er führt historische, romanistische, sprachwissenschaftliche, musikologische und numismatische Ansätze zusammen, ohne dass die verschiedenen Methoden und Perspektiven auseinanderfallen. Indes bleibt er etwas unentschieden zwischen einer Konzentration auf „Regensburger Realität“ und allgemeineren Ausführungen zu Kriegsgefangenen im Ersten Weltkrieg. Die Aufteilung in Teil I und II reißt Beiträge auseinander, die zusammengehören, um das Lagerleben in Regensburg zu beschreiben (etwa Theater und Musik). Das Regensburger Lager ist sehr klein im Vergleich etwa zu Grafenwöhr. Allein deshalb ist es sicherlich sinnvoll, andere Lager und andere Gefangenengruppen mit einzubeziehen. Pöppinghege bringt andere Lager in anderen Ländern ins Spiel, freilich nicht französische. Dabei wären gerade Vergleiche mit den Lagern in Frankreich aufschlussreich. Nelsons Artikel über Feldzeitungen bezieht Audoin-Rouzeaus Studie über französische Feldzeitungen ein. Im Vergleich mit deutschen Feldzeitungen fällt eine größere Freiheit der Berichterstattung auf. Wie nun ist die Lage in französischen Lagern mit deutschen Zeitschriften? Ist der Fall Bernhard Groethuysens, der im Krieg in Châteauroux eine stille, zurückgezogene Existenz außerhalb des Stacheldrahts führen konnte, eine Ausnahme? So wird deutlich, dass hier noch viel zu erforschen ist. Was lässt sich aus Studien und autobiographischen Quellen aus der Zwischenkriegszeit erfahren? Von Treskow DOI 10.24053/ ldm-2021-0038 125 Comptes rendus erwähnt die Schrift von Hans Bayer von 1939. Gibt es entsprechende französische Quellen? Der Sammelband ist asymmetrisch auch in Hinblick auf die Hierarchie im Lager, wohl zwangsläufig wegen der Quellenlage: es fehlen fast ganz Aussagen über die Lagerleitungen und das Wachpersonal. Britta Lange erwähnt einen milden Lagerleiter. Kontinuitäten scheinen nur in dem Artikel über die Tonaufnahmen auf. Welche Lager wurden im Zweiten Weltkrieg erneut genutzt? Gibt es Übergänge zur Ritterbusch-Aktion der Romanisten im Zweiten Weltkrieg? Es erstaunt den Rezensenten, dass die Sprache eines Franzosen aus der Franche- Comté und diejenige aus dem Béarn unterschiedslos und widerspruchslos als patois geführt werden. Es handelt es sich beim Lied La bergère, als provenzalisches Minnelied bezeichnet, offensichtlich um ein Dokument in okzitanischer Sprache. Es gehört wohl zu dem Umkreis von Liedern, die Joseph-Marie Chanteloube (der sich von Vichy hat vereinnahmen lassen) unter dem Titel Chants d’Auvergne gesammelt und berühmt gemacht hat. Diese Bemerkungen sollen keine Einwände sein, sondern den Wunsch nach weiteren Forschungen übermitteln. Der Band belegt eindrucksvoll, wie die französischen Gefangenen ihre Würde behaupten, vor allem durch kulturelle Aktivitäten. Zugleich verschweigt er auch unangenehme Phänomene nicht, so die zuweilen herablassende Haltung zu russischen Kriegsgefangenen. Neben vielen Gemeinsamkeiten der Kriegsgefangenenlager verschiedener Länder sticht die Besonderheit der französischen Feldzeitungen ins Auge. Fazit: eine sehr lesenswerte Publikation. Thomas Keller (Aix-en-Provence)
