eJournals lendemains 47/185

lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2022-0010
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2022
47185

Hans Manfred Bock (1940-2022)

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2022
Wolfgang Asholt
ldm471850107
DOI 10.24053/ ldm-2022-0010 107 In memoriam Wolfgang Asholt Hans Manfred Bock (1940-2022) Hans Manfred Bock ist als Politikwissenschaftler eng mit der Geschichte der Romanistik des vergangenen halben Jahrhunderts verbunden. Am 13. Mai 1940 in Kassel geboren, stirbt er am 22. August 2022 in Zierenberg (bei Kassel). Er steht für den Aufbruch der Geisteswissenschaften seit den späten 1960er Jahren, musste allerdings in den letzten beiden Jahrzehnten feststellen, wie viele Reformen der 1970er Jahre ‚abgewickelt‘ wurden, auch in der ihm als ‚Frankreichwissenschaft‘ besonders wichtigen Romanistik. Nach dem Abitur am Kasseler Realgymnasium studiert er in Marburg Politikwissenschaft, Germanistik und Romanistik und geht im Studienjahr 1964/ 65 als Assistant für ein Jahr nicht an eine französische Schule, sondern an die germanistische Abteilung der Universität Orléans. 1968 promoviert er bei Wolfgang Abendroth mit einer Arbeit zum Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 bis 1923 (Anton-Hain Verlag 1969), dessen Untertitel in der Neuauflage bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft 1993 auf die methodische Konzeption verweist, für die Manfred Bock ein Leben lang stehen wird: Ein Beitrag zur Sozial- und Ideengeschichte der frühen Weimarer Republik. Die Publikation der Arbeit wird durch ein „Vorwort“ Wolfgang Abendroths eingeleitet. Nach der Promotion geht Manfred Bock im Rahmen des DAAD -Lektorenprogramms an die Sorbonne und beteiligt sich mit Hansgerd Schulte ab 1969 an der dortigen Reform der Germanistik unter der Leitung von Pierre Bertaux, die die civilisation am neugegründeten Institut d’Allemand d’Asnières, also in einer Vorstadt, zum Kern des ‚auslandswissenschaflichen‘ Faches machte. Diese Konzeption, die die französische Germanistik in mehr oder minder deutlicher Weise bis heute prägt, will Bock sein Leben lang auch in der Romanistik verwirklicht sehen. 1970 wird er an der Sorbonne zum professeur associé ernannt, um schon im folgenden Jahr einen Ruf auf eine politikwissenschaftliche Professur an der Gesamthochschule Kassel anzunehmen, die er bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2005 wahrnimmt. In der Aufbauphase der Kasseler Politikwissenschaft engagiert, veröffentlicht er 1976 in der von Günther Busch betreuten „edition suhrkamp“ seine einflussreiche Studie Geschichte des ‚linken Radikalismus‘ in Deutschland. Ein Versuch, in der er, ausgehend von der Aktualität des Linksradikalismus der frühen 1970er Jahre, diesen am Beispiel von drei relevanten Phasen analysiert: der Bewegung der ‚Jungen‘ in der Sozialdemokratie um 1890, der rätekommunistischen Bewegung der Weimarer Republik und der Studentenbewegung der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Diese Verbindung einer historischen mit einer Gegenwartsperspektive ist charakteristisch für alle Arbeiten Bocks: immer geht es ihm darum, die Gegenwart aufgrund ihrer ‚Vorgeschichte‘ nicht nur besser zu verstehen, sondern auch auf sie einzuwirken. Die 1970er und 1980er Jahre sind durch Aufsätze zu zwei Schwerpunkten geprägt: die Fortsetzung von Studien zur Sozial- und Ideengeschichte der (radikalen) 108 DOI 10.24053/ ldm-2022-0010 In memoriam sozialen Bewegungen und Arbeiten zu politischen und sozialen Themen des gegenwärtigen Frankreich sowie zur Konzeption und Didaktik der civilisation. In Heft 2 (1975) der neugegründeten Zeitschrift lendemains erscheint erstmals ein Beitrag (zum Neopoujadismus), der ein Jahr später auch in einer Publikation des Deutsch- Französischen Instituts in Ludwigsburg veröffentlicht wird. Damit tauchen zwei ‚Institutionen‘ auf, in denen sich Manfred Bock seit den späten 1980er Jahren verstärkt engagieren sollte. Von 1991 bis 2005 ist Manfred Bock neben Robert Picht, Marieluise Christadler und anderen Mitherausgeber des Frankreich-Jahrbuchs, was auch heißt, dass er die jährlichen Frankreichforscher-Tagungen am Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg (mit)konzipiert, die erfolgreich versuchen, der Frankreichforschung neue Impulse zu geben und die relevanten Akteure zu vernetzen. Repräsentativ für seine Konzeption der Frankreichforschung ist ein Beitrag, der in der Ausgabe 1990 anlässlich des 65. Geburtstags Gilbert Zieburas erscheint: „Zur Konstituierung der sozialwissenschaftlichen Frankreichforschung in Deutschland“, und vielleicht programmatisch noch deutlicher ein Beitrag für einen Ludwigsburger Sammelband des Jahres 1991: „Von der geisteswissenschaftlichen zur sozialwissenschaftlichen Frankreichforschung“. Symptomatisch für diese sozialkritische Frankreichforschung ist wohl der Titel eines Einleitungsbeitrags des 1995er-Jahrbuchs: „Wechselseitige Wahrnehmung als Problem der deutsch-französischen Beziehungen“, die Perzeptionsproblematik hat bis heute nichts an ihrer Bedeutung verloren. Bis er 1988 neben Michael Nerlich Mitherausgeber der 1975 gegründeten Zeitschrift für „Vergleichende Frankreichforschung“, lendemains, wird, ist Manfred Bock einer ihrer regelmäßigen und wohl ihr profiliertester sozialwissenschaftlicher Mitarbeiter. In seinem Editorial des Hefts 49 aus dem Jahr 1988 kündigt Nerlich die Mitherausgabe durch Bock als eine „inhaltliche Verbesserung“ an: er wird „endlich das Ressort kompetent und kontinuierlich betreuen […] bei dem wir bisher immer wieder zu Improvisationen gezwungen gewesen waren: das der Soziologie und Sozialgeschichte sowie der ökonomischen und politischen Aktualität“. Diesen Bereich, der für das innovative Doppelprofil der romanistischen Zeitschrift zentral ist, sollte Manfred Bock fast ein Vierteljahrhundert betreuen: gemeinsam mit dem für Kultur, Literatur und Medien verantwortlichen Michael Nerlich bis 1999 und von 2000 bis 2012 mit mir. Im Rahmen dieses Engagements sind zahlreiche Dossiers entstanden, deren Titel für die Bocksche Konzeption der Frankreichforschung symptomatisch sind: „Zur gesellschaftlichen Verantwortung der Geisteswissenschaft“ (Heft 59, 1990), „Französische Intellektuelle vor den ‚deutschen Ungewißheiten‘ der Zwischenkriegszeit“ (Heft 66, 1992), „Paul Diestelbarth oder die unterbrochene Revision des deutschen Frankreichbildes nach 1945“ (Heft 71/ 72, 1993), „Die Intellektuellen- Vereinigung Union pour la vérité in der Dritten Republik“ (Heft 78/ 79, 1995) oder „Mittler“ (Heft 86/ 87, 1997). In allen stehen Mittler und die Mittler-Problematik, und damit auch die Frage der Perzeption im Zentrum. Symptomatisch dafür ist eine kritische Revision des Selbstbildes der Romanistik. Dabei kommt Manfred Bocks Artikel „Zu Ernst Robert Curtius’ Ort im politisch-intellektuellen Leben der Weimarer Repub- DOI 10.24053/ ldm-2022-0010 109 In memoriam lik“ im Rahmen des Dossiers zur „gesellschaftlichen Verantwortung der Geisteswissenschaft“ besondere Bedeutung zu, nicht nur wegen ihres historischen Zeitpunkts 1990. Eingeleitet durch einen Artikel von Michael Nerlich, der Curtius mit Paul de Man gleichsetzt, wirft Bock Curtius zu Recht „seine aus der politischen Romantik übernommene ‚organische‘ Europa-Konzeption“ vor, die „ein nachweisbar revisionspolitisches Ziel und ansatzweise auch kulturhegemoniale Züge“ aufgewiesen habe. Auch wenn diese Einschätzung mit Curtius’ Französischer Geist im neuen Europa (1925) hätte relativiert werden können, weist sie das Verdienst auf, die einhellige Bewunderung des ‚großen‘ Romanisten in Frage zu stellen, und vielfältige Reaktionen belegen, dass dies in jeder Hinsicht gelungen ist. Mit dem Dossier zu französischen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit erschließt Manfred Bock ein neues Forschungsfeld, wie der Einleitungsaufsatz dokumentiert: „Zur historischen Intellektuellen-Forschung in Frankreich“. Neben der Analyse und Präsentation der französischen Intellektuellenforschung (Michel Winock, aber auch Nicole Racine / Michel Trebitsch) entwickelt Bock das Konzept einer Vergleichenden Intellektuellenforschung, das er in der folgenden Jahrzehnten praktizieren und weiterentwickeln wird. Ein erstes, beeindruckendes Beispiel sind die beiden Bände Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930 ( CNRS -Éditions 1993), die er gemeinsam mit Reinhart Meyer-Kalkus und Michel Trebitsch herausgibt, die aber konzeptionell vor allem von Manfred Bock verantwortet werden, wie die beiden (nicht identischen) Einleitungsaufsätze, „Les relations culturelles franco-allemandes entre Locarno et Vichy. Un champ de recherches spécifique“ und „Zwischen Locarno und Vichy. Die deutsch-französischen Kulturbeziehungen der dreißiger Jahre als Forschungsfeld“ bezeugen. Dem folgen zahlreiche Aufsätze zur Intellektuellenproblematik, vor allem aber Großprojekte in Kooperation mit Michel Grunewald (Metz), etwa: Le discours européen dans les revues allemandes in vier Bänden (1996-2001) oder erneut mit Michel Grunewald vier Bände zum Milieu intellectuel en Allemagne (2002-2008). Daneben findet Manfred Bock auch die Zeit, gemeinsam mit Gilbert Krebs und Hansgerd Schulte die Berlin-Briefe Pierre Bertaux’ herauszugeben: Pierre Bertaux. Un normalien à Berlin. Lettres franco-allemandes 1927-1933 (2001), deren Umfeld sich anschließend ein Berliner Kolloquium widmet, dessen Beiträge er mit Gilbert Krebs 2004 herausgibt: Échanges culturels et relations diplomatiques. Présences françaises à Berlin au temps de la République de Weimar, deutsch 2005 als erster Band der edition lendemains: Französische Kultur im Berlin der Weimarer Republik. Kultureller Austausch und diplomatische Beziehungen. Noch 2012 nimmt er mit dem Beitrag „Nekrologe auf Widerruf. Legenden vom Tod des Intellektuellen“ an dem Schwerpunkt „Macht und Ohnmacht der Experten“ des Septemberheftes des Merkur teil. Und schließlich muss in diesem Zusammenhang der gemeinsam mit Friedrich- Martin Balzer und Uli Schöler verantwortete Band Wolfgang Abendroth - wissenschaftlicher Politiker. Bio-bibliographische Beiträge (2001) erwähnt werden, der mit dem Doktorvater auf die Kontinuität der wissenschaftlichen Arbeit Manfred Bocks verweist. 110 DOI 10.24053/ ldm-2022-0010 In memoriam Das Engagement im Rahmen des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg findet nach der Pensionierung von Robert Picht 2005 ein Ende, als die Konzeption einer sozialwissenschaftlichen und kulturellen Frankreichforschung durch jene einer Politikberatung abgelöst wird. Mit einigen anderen Kolleginnen und Kollegen gibt Manfred Bock deswegen seine Mitherausgebertätigkeit am Frankreich-Jahrbuch auf. Diese Neu-Orientierung repräsentiert durchaus das Ende einer Epoche, wie sie mit dem sozialen Engagement der Frankreichforschung zu Beginn der 1970er Jahre begann. Es ist kein Zufall, dass etwa gleichzeitig auch die meisten der nie zahlreichen landeswissenschaftlichen Professuren in der Romanistik Umwidmungen und Stellenkürzungen zum Opfer fallen. Manfred Bock ist es zu verdanken, dass die von Michael Nerlich gegründete Zeitschrift lendemains bei dessen Wechsel auf eine Professur in Clermont-Ferrand im Jahre 2000 nicht eingestellt wird. Seitdem habe ich gemeinsam mit Manfred Bock unter nicht immer einfachen Umständen - was sich mit dem Wechsel zum Narr- Verlag 2004 änderte - diese ungewöhnliche, weil nie nur der Philologie gewidmete romanistische Zeitschrift bis 2012 weitergeführt, die seit 2013 von Andreas Gelz herausgegeben wird. Auch wenn es nicht nur wegen einer gewissen Rephilologisierung in der Romanistik, sondern auch wegen der zunehmenden Ersetzung der nationalvergleichenden Orientierung (Frankreichstudien) durch Area Studies und Europastudien immer schwieriger wird, sozialwissenschaftliche Beiträge für die Zeitschrift zu gewinnen, garantiert Manfred Bock bis 2012 das mit seinem Œuvre und seiner Person verbundene Profil. Zwei Bände der edition lendemains bringen dies umfassend zum Ausdruck. Die „Studien zu ausgewählten deutsch-französischen Mittlerpersönlichkeiten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung (Band 2, 2005) und der voluminöse Band Versöhnung oder Subversion? Deutsch-französische Verständigungs-Organisationen und -Netzwerke der Zwischenkriegszeit (Band 30, 2014); insbesondere der zweite Band stellt in gewisser Weise das Vermächtnis eines Forscherlebens dar, das einer ihrer Geschichte bewussten Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich gewidmet war. Der Band des Jahres 2005 versammelt bis dahin erschienene Studien sowohl zu „Deutsche[n] Frankreich-Autoren“ (Otto Grauthoff, Ernst Robert Curtius, Victor Klemperer und Paul H. Distelbarth), zu „Französische[n] Deutschland-Autoren“ (Henri Lichtenberger, André François-Poncet, Pierre Viénot, Jacques Rivière, Félix Bertaux und seinem Sohn Pierre) als auch zu „Deutsch-französische[n] Debatten“ (Friedrich Sieburg - Pierre Viénot, Joseph Roth - Pierre Bertaux und Felix und Pierre Bertaux - Ernst Robert Curtius). Mit der Thematisierung von Mittlerfiguren - und d. h. in diesem Falle Intellektuellen und Schriftstellern - wird ein Defizit der Geschichts- und Sozialwissenschaften, aber auch der Kulturwissenschaft „ausgeleuchtet“ (Bock), und es sind gerade die bei Einzelstudien möglichen Differenzierungen, die es ermöglichen, der Komplexität dieser Beziehungen zumindest ansatzweise Rechnung zu tragen. Wie bei allen Studien bei Manfred Bock beeindruckt sowohl die detaillierte Dokumentation (nicht nur mit Hilfe von Archiven, sondern auch Privatarchiven) als auch die methodisch-theoretische Konzeption für die Funktion von Mittlerpersönlichkeiten DOI 10.24053/ ldm-2022-0010 111 In memoriam für transnationale oder übernationale Wertesysteme und Verständigungspolitik. Ohne ein solches Differenzierungs- und Detailwissen ist eine adäquate Perzeption des jeweils anderen nicht möglich, und dieses fehlende Wissen um den/ die Anderen macht sich in den deutsch-französischen Beziehungen zunehmend bemerkbar. Im „Vorwort“ zum Band Versöhnung oder Subversion weist Manfred Bock auf das eigene „wissenschaftliche Engagement und den lebensgeschichtlichen Verkehr“ hin, in deren Kontext die zwölf großen Studien zu Verständigungs-Organisationen und -Netzwerken entstanden sind. Wenn er den Band Nicole Racine und Michel Trebitsch widmet, so wegen der in Zusammenarbeit mit ihnen entwickelten Konzeption einer Intellektuellen-Geschichte im Zusammenhang einer europäischen Sozialgeschichte. Vor allem mit Hilfe der interkulturellen Perzeptions- und Rezeptionsprozesse und der „transferanalytischen Erweiterung und Differenzierung der Rezeptionsforschung“ will Bock die bilateralen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen der Zwischenkriegszeit, wie sie Organisationen und Netzwerke intendieren und ermöglichen, als (vergessene) Voraussetzung der „Versöhnung“ und des zivilgesellschaftlichen Engagements in der Zeit nach 1945 nicht nur wiederentdecken, sondern rehabilitieren. Seine Untersuchungen von zum Teil in Vergessenheit geratenen Organisationen/ Institutionen wie der Ligue des Droits de l’Homme, der Union pour la Vérité, der Deutsch-Französischen Gesellschaft oder der Ligue d’Études Germaniques und anderen, bis hin zu den „Austauschstrukturen der Avantgarde zwischen Berlin und Paris von 1925 bis 1936“, versuchen mit Erfolg, die Vielfalt und Komplexität dieser „Versöhnungs-Landschaft“ zu rekonstruieren, die „eine wichtige Erfahrungsgrundlage für die Neugestaltung der bilateralen Verhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg wurden“ (Klappentext). Eine mehr als 150 Seiten umfassende bibliographische Zusammenstellung schließt den Band ab. In den Jahren zunehmender gesundheitlicher Probleme gelingt es Manfred Bock 2019, ein seit langem geplantes regionales und persönliches Projekt abzuschließen, Die Wolff von Gudenberg. Zur Sozialgeschichte und Familienchronik eines Adelsgeschlechts der Region Kassel (Kassel UP ), dem ursprünglich eine Studie mit dem Titel Ein internationaler Intellektuellenzirkel der Nachkriegsjahrzehnte im Raume Kassel: Der Meimbressener Kreis folgen sollte, ein Diskussionsforum, an dem er selbst als Jugendlicher teilgenommen und das seine intellektuelle Biographie geprägt hat. Dazu sollte es nicht mehr kommen. Mit seinen Arbeiten ist Manfred Bock in zahlreiche Frankreichforscher-Netzwerke eingebunden, die er oft maßgeblich prägte. In Frankreich gilt dies vor allem für die am IHTP und im CNRS tätige Gruppe zur Intellektuellenforschung um Nicole Racine und Michel Trebitsch sowie die Metzer Forschungsgruppe zu deutsch-französischen Beziehungen des 20. Jahrhunderts um Michel Grunewald, mit dem ihn eine jahrzehntelange Freundschaft verbindet, und in Deutschland für das Deutsch-Französische Institut zu Zeiten von Robert Picht, als, längere Zeit nicht ohne Erfolg, versucht wird, die Konzeption einer Frankreich- oder Landeswissenschaft als einen Teil der Romanistik nicht nur zu entwickeln, sondern diese ‚Säule‘ als einen Teil des Faches auch institutionell zu verankern. In anderer Weise gilt dies auch für lendemains, die 112 DOI 10.24053/ ldm-2022-0010 In memoriam Manfred Bock ebenso lange wie ihr Gründer (mit)herausgegeben hat, wobei er den sozialwissenschaftlichen Schwerpunkt der Zeitschrift personifiziert und damit entscheidend dazu beiträgt, der Zeitschrift ein unverwechselbares und innovatives Profil zu verschaffen: die zwölfjährige Zusammenarbeit für diese Zeitschrift gehört zu den produktivsten und prägendsten beruflichen Erfahrungen, die ich machen durfte. Manfred Bock repräsentiert schon wegen seiner akademischen Sozialisation im Marburg der 1960er Jahre einen sozial- und ideologiekritischen Aufbruch, mit dem der Versuch verbunden ist, Studium und Forschung auf die Gesellschaft hin zu öffnen, und das heißt: die Fächer und ihre Struktur, in diesem Falle die Romanistik, zu verändern. Mit seinem Forschungsprofil einer historischen Intellektuellenforschung, den Untersuchungen transnationaler Gesellschafts- und Kulturbeziehungen, der Wegbereiter und Mittler zwischen Nationen und von nationalen und transnationalen Milieus und Netzwerken sowie der damit verbundenen Ideengeschichte steht Manfred Bock für eine ‚andere‘ Romanistik, die sich auch dem ‚Kontext‘ widmet, in dem Sprache und Literatur sich entwickeln. Doch seine Hoffnung, Elemente der civilisation, zu deren Konzeption und Institutionalisierung in der französischen Germanistik er maßgeblich beigetragen hat, für die Romanistik akzeptabel und mit ihr kompatibel zu machen, stellt sich als eine Illusion heraus, die er am Ende seines wissenschaftlichen Engagements verloren geben muss, auch weil die Romanistik, anders als die französische Germanistik, mehrere Sprachen und Literaturen vereint, von denen in dieser Zeit gerade das Spanische immer wichtiger wird. Trotz vielfältiger Verbindungen zwischen den Intellektuellennetzwerken, etwa jenem von Pontigny oder dem Colpacher Kreis, beide mit André Gide und Ernst Robert Curtius, und der (französischen) Literatur, zeigt sich die Romanistik einer kulturwissenschaftlichen Sozialwissenschaft gegenüber für ihr eigenes Fächerspektrum reserviert bis desinteressiert. Manfred Bock ist 2005eine 800seitige Festschrift, herausgegeben von François Beilecke und Katja Marmetschke, gewidmet worden: Der Intellektuelle und der Mandarin. Für Hans Manfred Bock (Kassel UP , Intervalle 8). Neben mehr als 30 Beiträgen enthält sie auch eine Bibliographie sämtlicher bis zu diesem Zeitpunkt veröffentlichter Arbeiten. Und im Rahmen einer Zeremonie in Metz ist er 2008 zum Chevalier des Palmes académiques ernannt worden. So ist Manfred Bock zum Grenzgänger und Mittler zwischen den Sozialwissenschaften und der Romanistik geworden. Gerade in deren Distanz zu seinen Forschungsprojekten wird deren Bedeutung umso deutlicher. Die Kultur- und Gesellschaftsbeziehungen zwischen Frankreich und Deutschland, aber auch in ihrer europäischen Dimension, sind durch seine Studien nicht nur in außergewöhnlich gut dokumentierter Weise und häufig erstmals aufgearbeitet worden, kultur- und sozialgeschichtliche Forschungen, insbesondere wenn sie der Zwischenkriegszeit gewidmet sind, werden an ihnen nicht vorbeigehen können. Dem Wikipedia-Artikel zu Hans Manfred Bock ist ein Foto des Jahres 2004 beigefügt, das ihn während eines Vortrags in der Bibliothek von Cerisy zeigt, und das gewissermaßen symbolische Bedeutung besitzt. In der Folge von Pontigny während der Zwischenkriegszeit widmet sich Cerisy seit der Nachkriegszeit der intellektuellen DOI 10.24053/ ldm-2022-0010 113 In memoriam Diskussion zwischen den Fächern und über ihre Grenzen hinaus. Vielleicht ist das der nicht nur symbolische Ort, an dem sich Manfred Bock wirklich zu Haus fühlen konnte.