lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2022-0012
925
2023
47186-187
Einleitung
925
2023
Mathias Delori
Mechthild Gilzmer
Catherine Teissier
Joachim Umlauf
ldm47186-1870006
6 DOI 10.24053/ ldm-2022-0012 Dossier Mathias Delori / Mechthild Gilzmer / Catherine Teissier / Joachim Umlauf (ed.) Die deutsch-deutsch-französischen Beziehungen und ihre Bedeutung für die europäische Integration nach 1990 Einleitung Immer wieder wird die spezifische Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich, die Erfolgsgeschichte ihrer Aussöhnung und ihre Rolle als Motor für die europäische Integration in gesellschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht betont. Auch wenn sie nicht ohne beträchtliche Konflikte auf europäischer Ebene zustande kam, so zeigen die Bemühungen um gemeinsame europäische Strategien angesichts der derzeitigen Krisen (Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg und Energieversorgung), dass diesbezüglich ein Bewusstseinswandel stattgefunden hat. Schon lange handelt es sich bei den deutsch-französischen Beziehungen nicht mehr um eine bilaterale ‚ménage à deux‘. Sie spielen sich im Idealfall immer auf einer zumindest trilateralen, multilateralen, europäischen oder sogar globalen Ebene ab. Vor dem Hintergrund des 60. Jahrestages des Mauerbaus fand am 8. Oktober 2021 im Centre Marc Bloch in Berlin eine Konferenz statt, auf der die Frage in den Fokus genommen wurde, inwiefern die deutsch-deutsch-französischen Dreiecksbeziehungen auch die Integration der neuen Bundesländer nach 1990 in Europa beschleunigt haben. 1 Konnte der französische Partner auf die zuweilen verkrampften Beziehungen zwischen West- und Ostdeutschland positiven Einfluss nehmen? Welche Mittlerpersönlichkeiten waren daran beteiligt? Welche bestehenden oder neu gegründeten Institutionen haben unterstützend und aufklärend gewirkt? Konnten sich französische Mittler*innen, die sich vorher (auch aus politischen Gründen) für die DDR eingesetzt hatten, an die neue Situation anpassen und konstruktiv mit ihr umgehen? Inwiefern konnten französische Mittler*innen durch ihre Außenperspektive das deutsch-deutsche Verhältnis verbessern, wo ‚Ossis‘ und ‚Wessis‘ selbst in problematischen Zuschreibungsmustern verharrten? Welche Initiativen entstanden nach der Wende in Ostdeutschland, welche Partnerstädte fanden sich, welche Politiker unterstützten Projekte oder verhinderten ihre Umsetzung? Wie sind diese Entwicklungen aus heutiger Perspektive zu verstehen? Und schließlich: welche weiteren Initiativen kann man hervorheben (z. B. das Weimarer Dreieck), die förderlich für die europäische Integration der osteuropäischen Staaten waren? Dabei wurde u. a. die Rolle der französischen Germanistik betrachtet, die während des Kalten Krieges umfängliche Forschungen zum ‚anderen‘ Deutschland geliefert hatte. Es wurde gefragt, ob und in welcher Weise sie jenen Prozess beförderte, der nach Beendigung der ideologischen Polarisierung die ‚neuen Bundesländer‘ zum integralen Bestandteil (gesamt-)deutsch-französischer Beziehungen machte. DOI 10.24053/ ldm-2022-0012 7 Dossier Ein Mittler, der in diesem Kontext eine wichtige Funktion besaß, war der 2020 verstorbene Michel Cullin. Als Hochschulattaché nach der Wende für die neuen Bundesländer nach Berlin berufen, nutzte er diese Position, um die Kontakte zwischen den neuen Bundesländern und Frankreich zu vertiefen. Seinem Engagement ist es u. a. zu verdanken, dass im Juli 1995 ein bis dahin noch wenig bekannter Aspekt der deutsch-französischen Geschichte, der gemeinsame Kampf deutscher Emigrant*innen und französischer Widerstandskämpfer*innen zur Zeit der deutschen Besatzung Gegenstand einer Tagung an der TU Berlin wurde. Michel Cullin initiierte als erster in Halle an der Saale den Austausch zwischen französischen Hochschullektor*innen in Deutschland und DAAD-Lektor*innen in Frankreich und konnte als stellvertretender Generalsekretär des Deutsch-Französischen Jugendwerkes die deutsch-französischen Beziehungen nachhaltig gestalten. Seinem Andenken war die Konferenz gewidmet. Nach einem Besuch der classes prépas am renommierten Gymnasium Louis Le Grand studierte Michel Cullin in Paris Politikwissenschaft und Germanistik (1962- 1965). Nach dem Studium ging er nach Österreich, das ihm zur zweiten Heimat wurde. Zunächst arbeitete er dort als Fremdsprachenassistent am Theresianum in Wien (1966-1967), bevor er eine Stelle als Französischlektor an der Universität Wien (1967-1969) annahm. Von 1982 bis 1986 leitete er dann das dortige französische Kulturinstitut. In Wien lernte er seine spätere Frau Isolde kennen, mit der er drei Kinder haben sollte. Sein Leben und seine berufliche Laufbahn bewegten sich von nun an zwischen Frankreich und Österreich, einem Land, zu dem er eine besondere Beziehung entwickelte. Um dies wirklich zu verstehen, musste man nur einmal von ihm durch die Arbeiterviertel Wiens geführt werden. Danach war man über die Bedeutung der Sozialdemokratie für Österreich und das ‚Rote Wien‘ gut informiert. Sein großes politisches Vorbild war Bruno Kreisky, mit dem er im Übrigen bekannt war. Unterstützung fand er in Frankreich eher in der kommunistischen Partei oder in kritischen, z. T. von ihm selbst initiierten informellen Flügeln der sozialistischen Partei. Durch Michel lernte man das ‚andere‘ Österreich kennen, die Geschichte der Verfolgten und Aufrechten, wie sie z. B. Axel Corti in der Filmtrilogie Wohin und zurück - An uns glaubt Gott nicht mehr über das Exil und die Rückkehr von Georg Stefan Troller zeigt. Dieses Österreich verkörperte für ihn auch der Historiker Felix Kreissler, damals noch Professor für Germanistik in Rouen, der bereits als Siebzehnjähriger nach Frankreich emigrierte und sich dort dem Widerstand anschloss. Die Erinnerung an die Beteiligung deutscher und österreichischer Emigranten am französischen Widerstand wurde Michel Cullin zu einer Herzensangelegenheit, für die er sich dann vor allem in seiner Funktion als Stellvertretender Generalsekretär des Deutsch- Französischen Jugendwerks (1999-2003) einsetzte. Danach kehrte er an die Universität Nizza zurück, an der er bereits 1998-1999 als maître de conférences lehrte. In den letzten Jahren seines Berufslebens nutzte er seine Anbindung als Direktor der Abteilung für die österreichisch-französischen Beziehungen an der Diplomatischen Akademie in Wien zur Entwicklung wissenschaftlicher Kooperationen mit osteuropäischen Ländern. Von seinen Publikationen sei an dieser Stelle das Lexikon 8 DOI 10.24053/ ldm-2022-0012 Dossier Douce France über das Musik-Exil in Frankreich erwähnt, das er 2008 mit der österreichischen Wissenschaftlerin Primavera Driessen Gruber herausgab. Dieses Dossier umfasst Beiträge, in denen versucht wird, die eingangs aufgeworfenen Fragen zu beantworten und dies mit der Würdigung des Wirkens von Michel Cullin zu verbinden. Er hat durch seine Arbeit wesentlich dazu beigetragen, dass verdrängte Aspekte der geteilten deutsch-französischen Geschichte ins öffentliche Bewusstsein drangen. Das gilt vor allem auch für die unrühmliche Behandlung der deutschen und österreichischen Emigranten. So nutzte er, wie Magali Nieradka- Steiner in einem ersten, persönlichen Beitrag berichtet, den 40. Jahrestag der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags im Jahr 2003, um daran zu erinnern. Mit der Wahl von Sanary-sur-Mer und anderer zentraler Erinnerungsorte des deutschsprachigen Exils in Südfrankreich als Veranstaltungsort zur Feier der Gründung des Deutsch- Französischen Jugendwerks setzte er ein klares Zeichen. Immer wieder nutzte er Gedenkfeierlichkeiten zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, um auf vergessene Opfergruppen hinzuweisen oder an ‚unterschlagene‘ Aspekte der deutsch-französischen Geschichte zu erinnern. Für ihn war die Erinnerung keine leere Formel, sondern eine gelebte Praxis, mit der die Opfer anerkannt und vor allem der Geschichte der ‚kleinen Leute‘, der Vergessenen, der Unsichtbaren, gedacht werden sollte. In den ebenso persönlich gehaltenen Beiträgen von Nicole Bary und Dorothee Röseberg wird die Rolle von Michel Cullin als Förderer für das Verhältnis zwischen Frankreich und der DDR deutlich. In den Umbruchszeiten nach dem Fall der Mauer unterstützte er als Hochschulattaché in der französischen Botschaft insbesondere die Aktivitäten, die Nicole Bary und Dorothee Röseberg in ihren Beiträgen beschreiben: Kulturaustausch und Vermittlung von Kenntnissen über das andere Deutschland in Frankreich, Überwindung der Begrenzung auf eine rein westdeutsche Sicht auf die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen, Öffnung des Blicks von Frankreich auf den Osten Deutschlands, zukunftsweisender Einbezug von Grenz- und Drittländern. In ihrem Beitrag „Un parcours franco-allemand“ macht Nicole Bary deutlich, dass sie sich bei ihrer Vermittlung von deutscher Literatur mit ihrer Buchhandlung „Le Roi des Aulnes“ in Paris stets für das Randständige einsetzte - auch darin Michel Cullin vergleichbar. Sei es, dass sie in Frankreich noch wenig bekannte DDR-Literatur, sogenannte ‚Migrant*innen-Literatur‘ oder den Einfluss osteuropäischer Autor*innen und Intellektueller auf die deutschsprachige Literatur in den Blick nahm. Bei ihrer Arbeit konnte sie sich auf die Unterstützung durch Michel Cullin in seiner Funktion als stellvertretender Generalsekretär verlassen. Das galt auch für die wissenschaftliche Forschung über das Verhältnis zwischen Frankreich und der DDR, wie Dorothee Röseberg sie in ihrem Beitrag „Michel Cullin und der andere Blick auf das ‚andere Deutschland‘“ darlegt. Dass die Tagungen der entsprechenden Arbeitsgruppe in den 90er Jahren in Berlin an der TU stattfinden konnten, daran hatte wiederum Michel Cullin als Hochschulattaché maßgeblichen Anteil. DOI 10.24053/ ldm-2022-0012 9 Dossier Auf eine dieser Tagungen geht Imke Schultz in ihrem Beitrag über den Germanisten und Historiker Gilbert Badia ein, der 1995 ein kritisches Fazit der ‚Wiedervereinigung‘ zieht. In ihrer Skizze der Arbeit dieses zentralen Mittlers zwischen der DDR und Frankreich im französischen universitären Milieu wird der von Dorothee Röseberg zu Recht eingeforderte ‚andere Blick‘ verkörpert. Die verborgenen oder weniger mediatisierten Lebensgeschichten, Erfahrungen und Sichtweisen werden auf originelle Weise und mit unterschiedlicher Perspektive in dem wissenschaftlichen und künstlerischen Projekt „Utopia 89“ von Caroline Moine, Guillaume Mouralis und Laure de Verdalle vorgestellt. Gegenstand ihres Beitrags sind die friedlichen Demonstrationen auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989. Sie beschreiben zum einen deren künstlerische Verarbeitung in einem Theaterstück des Autors und Regisseurs Frédéric Barriera (Utopia 89. Nous sommes le peuple) und analysieren zum anderen die Bedeutung des Ereignisses aus soziohistorischer Perspektive in den Jahren 2019/ 2020. Darin den bereits erwähnten Beiträgen vergleichbar, geht es den Autor*innen um den französischen Blick auf die DDR, um eine ‚dezentrierte‘ Perspektive, darum, den dominanten westdeutschen Diskurs zu verlassen. Der Regisseur von Utopia 89, Frédéric Barriera, verbachte seine Kindheit und Jugend im kommunistisch geprägten Montreuil, wo 1959 die erste ostdeutsch-französische Partnerschaft mit Cottbus geschlossen wurde. Dies mag sein besonderes Interesse für die DDR und die Spuren der Utopie erklären. Das Theaterstück erinnert uns auch daran, dass die Zukunft immer offen und ungewiss ist. Die Motivationen, Hoffnungen und Projekte der Teilnehmer*innen an den Demonstrationen waren viel breiter und vielfältiger als das, was tatsächlich stattfand, nämlich das Verschwinden nicht nur einer Diktatur, sondern eines ganzen Landes. Es erinnert uns auch an den Idealismus dieser Zeit, einen Idealismus, den Michel Cullin teilte und der im Gegensatz zur realistischen Politik Frankreichs bezüglich der ‚Wiedervereinigung‘ und der Ost-Erweiterung der EU steht. In ihrem Beitrag stellt Elsa Tulmets diese Politik dar. Sie zeigt, dass diese Politik fast nur im Elysée-Palast entschieden wurde. Präsident Mitterrand war kein absoluter Gegner der Wiedervereinigung und der Osterweiterung. Er hatte aber Angst vor dem Machtgewinn Deutschlands und er versuchte, ihn zu begrenzen. Dass Städtepartnerschaften eine der wichtigsten Formen des zivilgesellschaftlichen Engagements in den deutsch-französischen Beziehungen darstellen, erläutert Anne Pirwitz in ihrem Beitrag „Ost-West-Städtepartnerschaften als Motor europäischer Integration - ihre Entwicklungen, Errungenschaften und aktuellen Herausforderungen“. Sie zeigt am Beispiel der deutsch-französischen und der französischrumänischen Städtepartnerschaften, wie diese insbesondere in gesellschaftlichen und politischen Transformationszeiten zu starken positiven Veränderungen auf lokaler Ebene führen konnten und so vor allem in den 1980er und 1990er Jahren zu einer zivilgesellschaftlichen und lokalpolitischen europäischen Integration Ostdeutschlands und Rumäniens beitrugen. 10 DOI 10.24053/ ldm-2022-0012 Dossier Die Bedeutung der Öffnung in Richtung östlicher Partner zeigt auch der Beitrag von Paul Maurice: „De l’‚Institut de Berlin-Brandebourg pour la coopération francoallemande en Europe‘ à la fondation Genshagen: organiser le dialogue francoallemand à l’échelle européenne après 1990“. Hatte das 1993 gegründete Institut zunächst vor allem das Ziel, im Osten Deutschlands einen Ort für den Austausch der politischen und intellektuellen Eliten zu schaffen und die neuen Bundesländer in den deutsch-französischen Dialog einzubeziehen, entwickelte es sich im Lauf der Zeit zunehmend zu einem Ort, an dem die deutsch-französisch-polnische Partnerschaft im Rahmen des sogenannten ‚Weimarer Dreiecks‘ Impulse erhielt. 1 „Die deutsch-französischen Beziehungen und die europäische Integration nach 1990. Eine Hommage für Michel Cullin (1944-2020)“. Das vorliegende Dossier ist aus dieser Veranstaltung hervorgegangen. Es wäre ohne die Unterstützung der Sponsoren dieser Konferenz nicht zustande gekommen: das Centre Marc Bloch, der Deutsch-Französische Bürgerfond, das Goethe-Institut und die Université d’Aix-Marseille. Wir danken der Zeitschrift lendemains für ihr Vertrauen und Juliette Vignale für ihre freundliche Unterstützung bei der Fertigstellung des Dossiers. Dossier Michel Cullin (1944-2020) (Christian Siegel, Porträt Michel Cullin, 2014-2016, 100 x 100 cm, Öl auf Leinwand)
