eJournals lendemains 47/186-187

lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2022-0013
925
2023
47186-187

Das Deutsch-französische Jugendwerk als ,Laboratorium der Erinnerung‘

925
2023
Magali Nieradka-Steiner
ldm47186-1870012
12 DOI 10.24053/ ldm-2022-0013 Dossier Magali Nieradka-Steiner Das Deutsch-französische Jugendwerk als ‚Laboratorium der Erinnerung‘ Ein persönlicher Erfahrungsbericht 2023 blickt das Deutsch-französische Jugendwerk (DFJW) in vielen Veranstaltungen 1 auf seine 60jährige Geschichte zurück. Eine Schlüsselfrage ist bei solchen Jubiläen der jeweils gewählte Ort und seine Symbolkraft. Im Jahre 2003, anlässlich des 40-jährigen Bestehens, wählte es sich den Süden Frankreichs - zunächst, vom 28. Juni bis 06. Juli 2003, Sanary-sur-Mer (Var), dann Cap d’Ail (Alpes-Maritimes). Warum Sanary-sur-Mer, eine kleine Mittelmeergemeinde zwischen Toulon und Marseille? Der Ort sei aufgrund seiner Symbolkraft als Hochburg der deutschen Emigration nach Frankreich gewählt worden, heißt es dazu im DFJW -Tätigkeitsbericht von 2003 ( DFJW 2003: 18). Damit steht der Ort und das seinerzeit dort vom DFJW organisierte Forum zum Thema Das DFJW - Experimentierfeld im Dienste der europäischen Zivilgesellschaft im Zeichen eines travail de mémoire, einer Erinnerungsarbeit, die nicht zuletzt ein Herzensanliegen des damaligen stellvertretenden DFJW -Generalsekretärs Michel Cullin darstellte. Lassen Sie mich an dieser Stelle ein wenig ausholen. Als Deutsch-Französin, Sanaryenne und Doktorandin hatte ich 2003 das Glück, an dem besagten Festakt in Sanary-sur-Mer teilzunehmen. Zwischen 1933 und 1942 lebten und arbeiteten über sechzig deutschsprachige, aus Deutschland und Österreich geflüchtete Intellektuelle in Sanary-sur-Mer. Der deutsche Philosoph und Schriftsteller Ludwig Marcuse, selbst Sanary-Exilant, ging deshalb so weit, Sanary-sur-Mer den Beinamen „Hauptstadt der deutschen Literatur“ (Marcuse 1960: 180) zu geben. Die bedeutendsten Literaten der Weimarer Republik hielten sich dort über Wochen, Monate oder sogar Jahre auf, bevor sie à contrecœur, gegen ihren Willen, meist nach Übersee weiterzogen. Zu ihnen zählten unter anderem Bertolt Brecht (1898-1956), Lion Feuchtwanger (1884-1958), René Schickele (1883-1940), Franz Werfel (1890-1945) und der Literaturnobelpreisträger von 1929, Thomas Mann (1875-1955). Sie alle lebten, zunächst weitgehend unbehelligt, im „Exil unter Palmen“ (Nieradka-Steiner 2018), bevor sie, so Lion Feuchtwanger, vom „Teufel in Frankreich“ (Feuchtwanger 1942) eingeholt wurden. Sanary-sur-Mer war ein (E)Migrationsort, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich über einen Erinnerungs- und Gedächtnisort zum deutschdeutsch-österreichisch-französischen Gedenkort par excellence entwickelt hat. Im Juli 2003 bekam ich die Chance, den DFJW -Ländervertreter Jean-Pierre Guindon, einen ehemaligen Deutschlehrer, der in Sanary-sur-Mer lebte, auf einer Exkursion in das Internierungslager Les Milles bei Aix-en-Provence (Bouches-du- Rhône) zu begleiten und gemeinsam mit ihm zu moderieren. Zwar stand zu diesem Zeitpunkt mein Promotionsthema - ich wollte über Sanary-sur-Mer und die ExilantInnen schreiben - bereits fest, aber zahlreiche Impulse, Begegnungen und Ge- DOI 10.24053/ ldm-2022-0013 13 Dossier spräche während dieses Forums - unter anderem mit Michel Cullin - gaben meiner Arbeit eine neue Ausrichtung. Die Debatte um die lieux de mémoire, die Gedächtnisorte, die von Pierre Nora (Nora 1984-1992) ausgelöst und von Hagen Schulze und Étienne François (François/ Schulze 2001) fortgeführt worden war, sollte fortan im Zentrum meiner Doktorarbeit stehen und so promovierte ich 2009 über „Sanarysur-Mer als Ort des literarischen Exils“ (Nieradka 2010). 2003 gelang es dem DFJW unter Michel Cullin, sowohl Jugendliche aus Deutschland und Frankreich als auch Zeitzeugen wie Gerhard Leo (1923-2009), einen deutschen Widerstandskämpfer in Frankreich, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Frankreich-Korrespondent für die Tageszeitung der DDR Neues Deutschland schrieb, miteinander in einen Dialog zu bringen. Studierende der TU Berlin und des Institut d’études politiques in Paris, SchülerInnen aus Deutschland und Frankreich, unter anderem aus Sanary-sur-Mer und der deutschen Partnerstadt Bad Säckingen, PreisträgerInnen des Wettbewerbs des Volksbunds deutscher Kriegsgräberfürsorge und VertreterInnen des Office National des Anciens Combattants (ONaC) diskutierten gemeinsam über die Bedeutung von deutsch-französischen Erinnerungsstätten im 20. und 21. Jahrhundert. Doch inwiefern kann ein Ansprechpartner oder eine Ansprechpartnerin des Volksbundes deutscher Kriegsgräberfürsorge für SchülerInnen eines französischen Collège interessant sein? Kriegsdenkmäler anschauen und im Archiv wühlen, das ist aus der Perspektive von jungen Menschen langweilig - könnte man meinen. Oder können - und wenn ja was - junge Menschen aus der Geschichte etwas für ihr Leben lernen? Lassen wir an dieser Stelle Michel Cullin zu Wort kommen: Wenn Sie sich die Geschichte der deutschen Emigranten in Frankreich anschauen, mit wem hatten Sie es da zu tun? Mit Männern und Frauen, deren Herkunftskultur die deutsche Kultur war, die nach der Vertreibung aus ihrem Land eine ganze Menge Probleme in Frankreich gekriegt haben. Frankreich hat sie nicht immer gut aufgenommen - gelinde gesagt. Trotzdem ist viel passiert in den kulturellen Transfers zwischen diesen Deutschen und den Franzosen. Und was bleibt am Ende dieser ein wenig vergessenen Geschichte? Etwas das [sic] ich „doppelte Erinnerung“ nennen würde, ja sogar „doppelte Kultur“. Und das ist unglaublich aktuell heute in unseren multikulturellen, multiethnischen Gesellschaften. Wir haben es zu tun mit doppelten oder dreifachen Erinnerungen an doppelte oder dreifache Kulturen. Es ist wichtig zu zeigen, dass diese Vergangenheit dazu dient, die Gegenwart zu verstehen. Sie kann den Jugendlichen zum Beispiel in Deutschland, die aus einer anderen Kultur stammen - vielleicht nicht ein Beispiel geben - aber sie doch zum Nachdenken anregen darüber, wie sich das damals abgespielt hat. Warum hat das mit der Integration geklappt? Warum nicht? Und das Gleiche gilt auch für Einwandererkinder in Frankreich. Unser Ziel ist nicht das Museum der Erinnerung, sondern eher das Laboratorium der Erinnerung. Dadurch können heute die vielfachen Identitäten der Jugendlichen in unseren beiden Gesellschaften neu definiert werden. (Rosenberg: 25.06.2003) So Michel Cullin in einem Radio-Feature von Barbara Rosenberg für den Deutschlandfunk. Das DFJW -Forum 2003 als Laboratorium der Erinnerung - eine schöne, konstruktiv in die Zukunft weisende Vorstellung. 14 DOI 10.24053/ ldm-2022-0013 Dossier Cullin, Michel, „Résistance: la double mémoire“, in: Libération, 17.07.2000. —, „Le devoir de mémoire et de réconciliation“, in: Libération, 10.06.2004. Cullin, Michel / Driessen-Gruber, Primavera (ed.), Douce France? Musik-Exil in Frankreich / Musiciens en Exil en France 1933-1945, Wien, Böhlau, 2008. DFJW, „Activités OFAJ - DFJW Aktivitäten“, Tätigkeitsbericht, 2003, www.dfjw.org/ media/ aktivitaten-2003.pdf (letzter Aufruf am 19.12.2022). Feuchtwanger, Lion, Unholdes Frankreich [später: Der Teufel in Frankreich], Mexiko-Stadt, El Libro Libre, 1942. François, Etienne / Schulze, Hagen (ed.), Deutsche Erinnerungsorte, München, C. H. Beck, 2001. Marcuse, Ludwig, Mein zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie, München, List, 1960. Nieradka, Magali Laure, Die Hauptstadt der deutschen Literatur. Sanary-sur-Mer als Ort des Exils deutschsprachiger Schriftsteller, Göttingen, Vandenhoek & Ruprecht, 2010. Nieradka-Steiner, Magali, Exil unter Palmen. Deutsche Emigranten in Sanary-sur-Mer, Darmstadt, wbg Theiss, 2018. Nora, Pierre, Les Lieux de mémoire, Paris, Gallimard, 1984-1992. Rosenberg, Barbara, „Auf den Spuren einer Freundschaft“, www.deutschlandfunk.de/ aufden-spuren-einer-freundschaft-100.html (publiziert am 25.06.2003, letzter Aufruf am 19.12.2022). 1 www.dfjw.org/ 60-jahre-dfjw.html.