eJournals lendemains 47/186-187

lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
10.24053/ldm-2022-0016
925
2023
47186-187

Gilbert Badia: Ein Mittler im Einsatz für einen untergegangenen Staat

925
2023
Imke Schulz
ldm47186-1870027
DOI 10.24053/ ldm-2022-0016 27 Dossier Imke Schultz Gilbert Badia: Ein Mittler im Einsatz für einen untergegangenen Staat „Ich selbst war nicht gegen die deutsche Vereinigung. Aber hätte ich gewusst, wie diese Vereinigung verlaufen würde, wäre ich dagegen gewesen“ (Nakath 1995: 4). Derart emotional äußert sich 1995 der Germanist und Historiker Gilbert Badia (1916- 2004) auf der vom Institut Français in Berlin organisierten Veranstaltung Avoir eu tort d’avoir raison - Avoir raison d’avoir eu tort? zum Thema der deutschen Wiedervereinigung. Geleitet wird die Gesprächsrunde, an der neben Badia ferner Nicole Bary, Jean Pierre Hammer auch Jean Mortier teilnehmen, von Michel Cullin. Gilbert Badia, als Sohn katalanischer Einwanderer 1916 im Hérault geboren und 2004 in Paris verstorben, kann zweifelsfrei als der „bedeutendste französische Germanist kommunistischer Provenienz“ (Pfeil 2013: 115) bezeichnet werden. Badia ist neben seiner Tätigkeit als Universitätsprofessor an Paris VIII als Übersetzer (vor allem für marxistisch orientierte Literatur) aktiv und gilt zeitlebens als Spezialist für Rosa Luxemburg, den Spartakismus und die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts (cf. Goergen/ Kalinowski 2021). Bis heute ist er in vor allem als Übersetzer von Marx-Engels oder Bertolt Brecht in Erinnerung geblieben und seine Übersetzungen werden weiterhin neu publiziert. So erscheint 2019 eine Neuauflage des Sammelbandes Correspondance. Tome 1 et 2 (1835-1851) von Karl Marx, den Badia 1968 gemeinsam mit Jean Mortier übersetzte (Marx 2019). Die Arbeiten des Historikers Badia, der eindeutig einer marxistischen Geschichtsschreibung zuzuordnen ist, sind nach 1990 hingegen weitestgehend in Vergessenheit geraten - mit wenigen Ausnahmen. Im Frühjahr 2021 erscheint beispielsweise eine Neuauflage von Badias 1967 herausgebrachter Abhandlung über den Spartakismus mit einem Vorwort von Nicolas Offenstadt (Badia 2021). Eines der Haupteinsatzfelder Badias ist das Engagement für die Deutsche Demokratische Republik. Er engagiert sich seit ihrem Entstehen unermüdlich für ihre Anerkennung. Nachdem diese 1973 offiziell durch die französische Regierung anerkannt wird, konzentriert Badia seine Anstrengungen auf den Ausbau und die Intensivierung der französisch-ostdeutschen Beziehungen. Tatsächlich sieht Badia in der DDR bis zu ihrem Ende das „bessere humanistische Deutschland“ und grenzt sie antithetisch von dem in seinen Augen „militaristisch-revisionistischen“ westdeutschen Staat ab (cf. Badia/ Lefranc 1963). Der von André Gisselbrecht pointierte Vergleich von „La bonne Allemagne et l’Allemagne de Bonn“ ist für Badia geopolitische Realität. Die Wiedervereinigung reaktiviert in den Nachbarländern Deutschlands neben positiven Reaktionen auch uralte, traditionell im französischen Bewusstsein verankerte Ängste vor einem übermächtigen Deutschland. Michael Nerlich verfasst im 28 DOI 10.24053/ ldm-2022-0016 Dossier April 1990, als die Wiedervereinigung immer greifbarer erscheint, einen besorgten Artikel, in welchem er die immense Bedeutung des Nachbarlandes für die deutsche Identität herausstellt und bedauernd konstatiert: „Der deutsch-französische Dialog, den wir mit so viel Pomp in eine ewigwährende deutsch-französische Freundschaft institutionalisiert hatten, schlägt wieder einmal um in deutsch-französische Feindseligkeit“ (Nerlich 1990: 52). Wie gehen nun kommunistisch orientierte Akteure wie Badia, die sich seit der Gründung der DDR für selbige eingesetzt haben, mit der radikalen Neuordnung der Welt um? Ferner: Wie ergeht es ihnen, ist ihnen die wissenschaftliche und weltanschauliche Grundlage entzogen? Zu hinterfragen wären unter anderem folgende Aspekte: Welche Elemente der Wiedervereinigung und des wiedervereinten Deutschlands reaktivieren die alten Ängste? Sicherlich kann Badias Perzeption als aufschlussreiches Beispiel für diejenigen französischen Linksintellektuellen gelten, für welche das Ende der DDR ein herber Schlag ist. Unter anderem diesen spannenden Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. 1. Direkte Folgen der Wiedervereinigung in Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft Insbesondere in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung publiziert Badia kritische Stellungnahmen zu den Entwicklungen im wiedervereinten Deutschland. Als exemplarisch für seine Argumentations- und Sichtweise können dabei sein Artikel „L’ex-RDA après l’unification ou les effets de la normalisation“ (Badia 1991: 3-16) im Jahr 1991 und „L’Allemagne malade de réunification“ (Badia 1994: 99-110) gelten. Wie sind Badias Veröffentlichungen zur deutschen Wiedervereinigung einzuordnen? Zunächst einmal sind sie ideologisch determiniert von seiner Ablehnung des Kapitalismus. Ohne Rückgriff auf seine Biografie sind die dargelegten pessimistischen Szenarien nicht vollständig erklärbar. Trotzdem gilt es, Badias Analyse nicht nur auf den Protest eines enttäuschten Kommunisten zu reduzieren. Die Aussagen Badias bieten vielmehr Anlass für weiterführende Überlegungen und sind primär als ein erhellendes Zeugnis eines Akteurs zu sehen, der nicht nur den Nationalsozialismus 1936- 1938 in Deutschland direkt erlebt, sondern auch als Widerstandskämpfer in Frankreich sein Leben riskiert und sowohl der Gründung als auch dem Ende der DDR unmittelbar beiwohnt. Der 1991 in Pensée Révolutionnaire Moderne veröffentlichte Artikel besteht aus zwei Teilen: einer Auseinandersetzung mit den aktuellen Gegebenheiten im wiedervereinigten Deutschland und des Weiteren einer Autokritik Badias zu früheren Aussagen seinerseits. Badia beginnt seinen Artikel mit einer negativen Bestandsaufnahme: Die Mauer sei zwar faktisch nicht mehr existent, in Form einer ideellen Mauer in den Köpfen aber weiterhin präsent. Während die Bevölkerung der DDR in kürzester Zeit auf einen ähnlichen Lebensstandard wie in Westdeutschland gehofft habe, müssten stattdessen zahlreiche Firmen schließen, die Arbeitslosigkeit steige unaufhörlich an und die grundsätzliche Perspektive der gesamtdeutschen Wirtschaft sei finster. Kurzum: Die Stimmung habe sich gewandelt (cf. Badia 1991: 3sq.). Dazu DOI 10.24053/ ldm-2022-0016 29 Dossier komme die herablassende, teils arrogante Einstellung der Westdeutschen: „L’attitude condescendante, parfois arrogante de nombreux Allemands de l’Ouest traitant les Est-allemands en parents pauvres, en cousins de province un peu retardés, a accentué la morosité et le désarroi“ (ibid.: 4). In der Gesamtheit kritisiert er aufs Schärfste die politisch in Bonn gesteuerten Entwicklungen der ostdeutschen Wirtschaft, die geplanten Veränderungen im Forschungssystem und den Umgang mit dem ostdeutschen Universitäts- und Wissenschaftspersonal. Zudem hätten auch die westdeutschen Unternehmen bislang keinerlei Initiative gezeigt, die neuen fünf ostdeutschen Bundesländer wirtschaftlich zu fördern. Als Beispiel dafür führt er den Autohersteller Mercedes an, für welchen die Frage einer ost-west-deutschen Kooperation nicht mehr im Raum stehe: „Pourquoi dépenser de l’argent pour racheter, moderniser, construire des usines dans les Länder de l’Est, quand il suffit de faire tourner à plein les usines de l’Ouest pour satisfaire les besoins du marché est-allemand? “ (ibid.: 5). Badia wählt hier bewusst drastische Worte und grenzt die bisherige materielle Sicherheit der Bürger*innen in der DDR von den Ungewissheiten im kapitalistischen System ab. Ähnliche Auswirkungen stellt Badia im Bereich der Kultur fest: Aufgrund der extremen Armut, die ihnen nun drohe, seien viele Kulturschaffende auf der Suche nach Sponsor*innen. Badia befürchtet, dass medial weniger präsente Gruppierungen, wie die Rockgruppe Barbara Thalheim, die dennoch ebenso essenziell für die Kulturlandschaft der DDR seien, verschwinden werden (cf. ibid.: 7). Als zutiefst ungerecht und autoritär kritisiert Badia die bereits erfolgten Veränderungen und die noch geplanten Reformen im Bildungssystem und in der Forschung. Er hebt die Qualitäten des bisherigen Schulsystems der DDR hervor: „La RDA s’était donné un système d’école unique, correspondant à notre enseignement primaire et secondaire […]“ (ibid.: 8). Die staatliche Akademie der Wissenschaften sei vergleichbar mit der französischen Vorzeigeinstitution CNRS, die Anzahl der Forschenden gemessen an der Bevölkerung beeindruckend, so Badia. All diese positiven Aspekte sieht er nun bedroht. Zwar hätten viele ostdeutsche Wissenschaftler*innen einer Evaluierung ihrer Forschungstätigkeiten durch eine bundesdeutsche Kommission zunächst erwartungsvoll entgegengeblickt: „[I]ls espéraient une appréciation objective“ (ibid.: 9). Das Gegenteil trete jedoch ein, so Badia, da dieser Prozess, meist durchgeführt durch rein westdeutsche Kommissionen, teilweise demütigend verlaufe und der zuständige (westdeutsche) Minister auf die Dekonstruktion der ostdeutschen Institutionen ziele, „um den marxistisch-leninistischen Einfluss zu beseitigen“ (ibid.). 1 Man habe im wiedervereinigten Deutschland eine wichtige Gelegenheit einer Bestandsaufnahme, Neuausrichtung und Modernisierung der Forschungsmethoden verstreichen lassen: Une concertation sur un pied d’égalité […] aurait permis de réorganiser, de réorienter la recherche allemande pour mieux l’adapter aux besoins actuels, en matière d’écologie notamment. Comme pour l’économie, c’est au contraire l’Ouest qui a imposé ses normes, son modèle. La normalisation tend tout simplement à empêcher désormais toute recherche marxiste en histoire. Ce qui a amené le président Fink à demander aux deux journalistes qui 30 DOI 10.24053/ ldm-2022-0016 Dossier l’interrogeaient: ,S’agit-il de rattraper aujourd’hui sur le dos des marxistes de l’université ce que vous n’avez pas fait, en RFA, lors de la dénazification‘? (ibid.: 9sq.) Dieses Zitat ist eine der Schlüsselaussagen Badias hinsichtlich der Wiedervereinigung. Er weist, wie schon in den 1950er Jahren, auf die nicht erfolgte Denazifizierung in Westdeutschland hin und betont erneut, dass es um keinerlei partnerschaftliche Zusammenarbeit gehe, sondern um das Ausradieren des ostdeutschen Systems. Für Badia gibt es in dem Prozess der Wiedervereinigung einen eindeutigen Verlierer: die ostdeutsche Bevölkerung. Der westdeutsche Kapitalismus sei im Begriff, die positiven Errungenschaften der DDR zunichtezumachen und westdeutsche Standards unerbittlich aufzuzwingen (cf. ibid.). Insgesamt zieht Badia ein düsteres Fazit. Die ostdeutsche Bevölkerung spreche in diesem Kontext oftmals von dem Gefühl der Erniedrigung. Mit dieser Beschreibung benennt er konkret die Stimmungslage vieler Menschen in den neuen Ländern, da viele weitere, später publizierte Zeugenberichte ebenfalls das Gefühl der „Demütigung“ und „Entmündigung“ benennen (cf. Bangel 2020). Badia kommt zu dem Schluss: „Les lendemains de la réunification ne sont pas et ne seront pas des lendemains joyeux pour une grande partie de la population est-allemande“ (Badia 1991: 13). Im Bemühen, den Leser*innen eine möglichst objektive Berichterstattung zu bieten, thematisiert Badia in diesem Zusammenhang ebenfalls die von ihm konstatierten positiven Veränderungen und die vorher nicht gegebenen Grundfreiheiten: Dans cet article, j’ai longuement exposé ce qui va mal dans l’ex-RDA. Dans le souci d’informer aussi objectivement que possible, il convient de noter ce qui va mieux: pour les enseignants par exemple une plus grande liberté dans le choix des thèmes et des méthodes, pour les étudiants, la possibilité de choisir les cours etc. […] Pour toutes les ménagères en général, approvisionnement bien meilleur, plus varié, d’où gain de temps considérable. Pour tous les citoyens, liberté d’expression et d’information. Plus de Stasi, plus de police omniprésente. Pour les jeunes surtout, liberté de voyager à l’étranger (ibid.: 15). Dessen ungeachtet schließt Badia seinen Artikel mit folgender Aussage: „Mais ces améliorations - réelles et importantes - ne suppriment ni n’atténuent la peur de l’avenir, les inquiétudes de toute sorte qui sont le lot, en mars 1991, de la très grande majorité des habitants de l’ex RDA “ (ibid.). Wenngleich sich die grundlegenden staatlichen Rahmenbedingungen ins Positive gewandelt haben - Badia benennt dies klar im vorherigen Abschnitt - so blickten viele Menschen in Ostdeutschland in eine ungewisse Zukunft. Aus Badias Artikel sprechen persönliche Wut, das Gefühl des Verrats, Enttäuschung, Resignation, Pessimismus - er zeichnet ein Stimmungsbild, das nach dem Abklingen der ersten Euphorie von vielen Zeitgenossen geteilt wird. Der Journalist Uwe Schlicht schreibt 1999 im Tagesspiegel: „Das Gefühl, als Bürger zweiter Klasse angesehen zu werden, schwankte zwar in den Jahren, ist aber nach wie vor dominierend. 1990 waren 87 Prozent der Ostdeutschen dieser Ansicht […] und 1998 ist es für jetzt 76 Prozent typisch“ (cf. Schlicht 1999). DOI 10.24053/ ldm-2022-0016 31 Dossier Badia agiert weiterhin als Verfechter und Fürsprecher Ostdeutschlands - nicht jedoch als Sprachrohr der neuen Bundesrepublik. Für ihn ist die Misere Ostdeutschlands zuallererst auf das Verhalten der westdeutschen Verantwortlichen - allen voran Helmut Kohl - und der westdeutschen Bevölkerung zurückzuführen, er benennt damit einen klaren Schuldigen. Badia führt die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage auf das Jahr 1990 zurück - vor allem auf die erfolgte Währungsunion - und deutet die friedliche Revolution nicht als Ergebnis einer systemumfassenden Krise der DDR an sich. Insgesamt sieht Badia die 1990 herrschende Desillusionierung der ostdeutschen Bevölkerung als alleiniges Resultat der Wiedervereinigung und keineswegs als Ergebnis der globalen Geschichte der DDR (cf. Vaillant 2012: 268sqq.). Nun ist Badias Analyse der Situation im wiedervereinigten Deutschland sicherlich politisch-ideologisch motiviert. Gleichzeitig scheint Badia eine Sensibilität für grundlegende Aspekte des ostdeutschen Empfindens zu haben, welche in der Medienlandschaft der 1990er Jahre wenig bis kaum zur Sprache kommen. Jene narrativen Strukturen abseits des dominanten Diskurses gewinnen erst in den 2000er Jahren an Sichtbarkeit. 2. Enttäuschte Erwartungen Das Fazit, das Badia in seinem Artikel „L’Allemagne malade de la réunification“ (Badia 1994) zieht, fällt noch finsterer aus, wie bereits die Wahl des Titels vermuten lässt. Badia eröffnet seine Analyse mit einer ähnlichen Feststellung wie 1991: „Bref, on souligne souvent, à bon droit, que si le mur de Berlin est tombé, celui qui existe dans les têtes est plus haut qu’il n’était en 1989“ (ibid: 100). Innerhalb von knapp drei Jahren habe sich die Erscheinung Deutschlands gewandelt: Verschuldung, rückläufige Exporte, Arbeitslosigkeit bisher unbekannten Ausmaßes, sich häufende fremdenfeindliche Angriffe (cf. ibid.: 99). Noch beunruhigender jedoch sei der Meinungsumschwung, der sich abzeichne. Badia attestiert der westdeutschen Bevölkerung eine grundsätzliche Feindlichkeit ihren ostdeutschen Mitbürger*innen gegenüber, was diese traumatisiere: „[…] Ils sont déçus, irrités, souvent par l’arrogance des ,Wessis‘“ (ibid.: 100). Aufschlussreich ist Badias systempolitische Einordnung der DDR . Während sich nach dem Mauerfall rasch der Begriff der „zweiten deutschen Diktatur“ etabliert, welcher besonders von westdeutschen Politikern genutzt wird, sperrt Badia sich gegen diese Einordnung. Er führt aus: Ce qui blesse beaucoup d’Est-Allemands, c’est la volonté systématique de Bonn de condamner, d’effacer les quarante années d’histoire de la RDA. Celle-ci est qualifiée couramment de zweite Diktatur. Ses sujets sont accusés de lâcheté puisqu’ils ont attendu quarante ans avant de se révolter. On veut les enfouir avec toute leur histoire dans la fosse commune des déshonneurs de la nation allemande (ibid.: 102). Badia positioniert sich gegen die Einordnung der DDR als Diktatur und damit gegen jegliche Assimilierung der DDR mit dem Dritten Reich. Im Besonderen kritisiert Badia die für ihn einseitige und eindimensionale Darstellung der Menschen in den neuen 32 DOI 10.24053/ ldm-2022-0016 Dossier Bundesländern in offiziellen Diskursen. Die grundsätzliche, systematische Diffamierung der DDR stelle ihre ehemaligen Bewohner*innen unter Generalverdacht. An dieser Diskussion über die DDR seien die Betroffenen selbst wenig beteiligt, so Badia. Daraus ergeben sich für die ostdeutsche Gesellschaft insgesamt und das Individuum an sich folgende Konsequenzen: Les ressortissants de l’ex-RDA sont de la sorte spoliés de leur passé, de leur existence antérieure, de tout ce qu’ils ont fait entre 1949 et 1990. Ce qui est grave, c’est que cette campagne systématique est approuvée et appuyée par de nombreux intellectuels, journalistes, etc. et qu’elle tend à devenir la version de l’histoire acceptée comme seule vraie par la majorité de la population ouest-allemande (ibid.). Badia beschreibt hier ein gesteuertes, systematisches Handeln, das darauf abziele, die Lebensweise der DDR -Bürger mitsamt ihren individuellen Lebensgeschichten, Erfahrungen und Leistungen abzuwerten und nahezu zu überschreiben und verschwinden zu lassen. Angestrebt werde eine singuläre Erzählstruktur und kollektive Erinnerungskultur mit nur einer Deutungsmöglichkeit der Vergangenheit, in welcher die Rollen klar verteilt seien zwischen Ost und West. Der Autor bezeichnet die von ihm skizzierten Einordnung der DDR als zweite Diktatur als eine „gefälschte Version der Geschichte“ (ibid.: 102). 2 Konkret wirft er die Frage nach der Anerkennung unterschiedlicher Lebensrealitäten und der Pluralität von Diskursen auf. Dies ist eine gänzlich differente Sichtweise als man sie in den frühen 90er Jahren in öffentlichen deutschen Diskursen findet. Zwar zirkuliert in offiziellen Narrativen nach 1990 vermehrt der Ruf nach „Anerkennung der Lebensleistungen“ der ostdeutschen Bevölkerung, Christian Bangel kritisiert diesen Begriff jedoch zurecht als unpolitische, folgenlose „Allwetterformulierung“ (Bangel 2019). Badia hingegen weiß um die politische aufgeladene Bedeutung von Aspekten wie „Treuhand“ oder „Fremdenfeindlichkeit“ und fordert eine konkrete Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Realitäten ein. 3 Das Ende der DDR löst bei nicht wenigen linksorientierten französischen Akteuren Bedauern und Misstrauen aus oder reaktiviert alte Ängste vor einem möglichen Hegemoniestreben des wiedervereinten Deutschlands - so auch bei Badia. Er wehrt sich gegen den Begriff der Wiedervereinigung und spricht stattdessen durchgehend von einer „Einverleibung“ (ibid.: 103). Die Existenz der DDR interpretiert Badia nicht nur als geographisch real existente Entsprechung der Utopie des „guten Deutschlands“, sondern auch als einen geopolitischen Sicherheitsfaktor für Frankreich und Europa. 4 3. Das Ende der Hoffnung auf eine alternative Gesellschaftsform? Für Badia impliziert das Ende der DDR sogleich das Ende all der positiven Eigenschaften, die er dem sozialistischen Staat in den vergangenen 40 Jahren zuschreibt - da diese von der BRD „einverleibt“ werde. Er löst sich bis zum Zeitpunkt des Mauerfalls nicht von der Zwei-Deutschland-Theorie. Obwohl Badia lange Zeit den DOI 10.24053/ ldm-2022-0016 33 Dossier ostdeutschen Staat als Beispiel für einen antifaschistischen, kulturorientierten, gerechteren Staat sieht, von welchem er sich Impulse für andere Gesellschaftssysteme abseits des Kapitalismus erhofft, bedeutet dies nicht im Umkehrschluss, dass Badias Hoffnung auf die Möglichkeit eines alternativen Systems parallel mit der DDR untergeht. Obgleich Badias Berichterstattung hinsichtlich der DDR seit den 1970er Jahren kontinuierlich nuancierter und kritischer ausfällt, so kritisiert er nicht das System per se, wie auch Jérôme Vaillant feststellt: „Il critique surtout à partir des années 1970, ses tares, relève les zones d’ombre que comporte l’histoire du pays […] mais il ne critique pas le régime lui-même“ (Vaillant 2012: 269). Im Unterschied zu der (westeuropäischen) Mehrzahl der Zeitzeug*innen und Intellektuellen betrachtet Badia die Menschen in der DDR und Akteure wie Schriftsteller*innen, Künstler*innen und deren Engagement losgelöst von dem staatlichen Gebilde mitsamt der politischen und administrativen Führungselite. Konkret bedeutet dies, dass die Hoffnung auf eine andere Gesellschaftsordnung, die auf Werten wie Antifaschismus und Humanismus basiert, vorrangig durch mit Badia verbundene Personen verkörpert und symbolisiert wird. Die in den vorherigen Jahrzehnten um Badia herum entstandenen französisch-ostdeutschen Personennetzwerke (beispielsweise mit dem Schriftsteller Volker Braun oder der Widerstandskämpferin Dora Schaul) erlauben es ihm, seine Grundüberzeugungen und Hoffnungen auf eine „gerechtere Welt“ beizubehalten, auch über die Existenz des real existierenden staatlichen Gebildes hinaus. Somit impliziert eine Diskreditierung der DDR keineswegs eine Abwertung der Individuen und deren Lebensrealitäten der letzten 45 Jahre. Dieser kurze Abriss der Artikel hat gezeigt, dass Badia trotz seiner in den 1970er Jahren einsetzenden Distanzierung zum Parti communiste français (cf. ibid.: 261sqq.) in seinen Grundüberzeugungen verankert bleibt und auch den Sozialismus als solchen keineswegs kritisiert, wenngleich er, so berichten Zeitzeugen, von einer neuen linken Bewegung träume. In den Netzwerken Badias habe man den Mauerfall keinesfalls kommen sehen. 5 Badias Bemühen - sein teils zwanghaftes Beharren, dem sozialistischen Nachbarn als Gegengewicht zur kapitalistischen BRD stets positive Seiten abzugewinnen und die DDR bis zu ihrem Ende als das moralisch und gesellschaftlich „bessere Deutschland“ zu sehen, führen bei diesem Akteur zu einer partiellen Blindheit. Besonders in den 1950er und 1960er Jahren getätigte, größtenteils dogmatisch motivierte Interpretationen und mittlerweile historisch widerlegte Fehleinschätzungen prägen bis heute den intellektuellen Nachlass und die Erinnerung an Gilbert Badia - zumindest abseits von kommunistischen Milieus. Nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung scheint es Badia wiederum möglich, die Stimmung der ostdeutschen Bevölkerung weitaus sensibler und differenzierter einzufangen, als dies vielen anderen Akteuren gelingt. Während in den Medien und in den offiziellen Narrativen die Wiedervereinigung und die anschließende Rekonstruierung - der Wissenschaft, des Bildungssystems, der Wirtschaft - 34 DOI 10.24053/ ldm-2022-0016 Dossier als großer Erfolg und Fortschritt zelebriert wird, konstatiert Badia primär die Demütigung, die Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und viele andere erfahren. Die Folgen der damals konkret erlebten Abwertung der eigenen Geschichte - gesellschaftlich und individuell - werden erst im Nachhinein sichtbar und erkennbar - teilweise erst heute. Insofern scheint es, als ermögliche es dem Autor die positive Sicht auf die DDR , die Pluralität der Lebensrealitäten der Menschen anzuerkennen, das Individuum mitsamt seiner Lebensgeschichte innerhalb des Staates zu sehen und auf die Konsequenzen für den Einzelnen hinzuweisen. Beispielhaft sei hier die Umgestaltung der Forschungslandschaft genannt, in deren Verlauf zahlreiche bis dato renommierte Forscher*innen aufgrund von Zugehörigkeit zu Marxismus-Leninismus- Instituten diskreditiert werden - wobei die Angliederung innerhalb der DDR meist arbiträr erfolgt und keineswegs als Zeichen einer besonders starken Identifizierung mit sozialistischen Idealen zu deuten ist. Badia weist in den hier erwähnten Artikeln auf diese Ungerechtigkeit hin. Zusammenfassend erlaubt die Analyse des Mittlers Gilbert Badia (Mittler wird hier im Sinne des erweiterbaren Mittlerbegriffs nach Colin/ Umlauf verstanden) 6 ein authentisches und feinfühliges Stimmungsbild eines Großteils der ostdeutschen Bevölkerung zu zeichnen und kann dadurch auch heute noch durchaus erhellend für den innerdeutschen Dialog sein. 7 Am Beispiel des Akteurs Badia wird die Problematik deutlich, der sich im 20. Jahrhundert zahlreiche (intellektuelle) Mittler*innen ausgesetzt sehen: das Bemühen, kritisches Denken und Treue zu einem (politischen) Ideal miteinander zu vereinbaren. Eine Analyse des Engagements Badias abseits normativer Kategorien zeigt, dass innerhalb des historisch hochkomplexen Kontextes unterhalb der offiziellen Politik individuelle Prädispositionen zu Engagement und Interesse für den ‚Anderen‘ führen - mit durchaus fruchtbaren Effekten. Badia, Gilbert, Les spartakistes: 1918, l’Allemagne en révolution, Paris, Julliard 1966. —, „L’ex-RDA après l’unification ou les effets de la normalisation“, in: Pensée Révolutionnaire moderne, 280, 1991, 3-16. —, „L’Allemagne malade de réunification“, in: Pensée Révolutionnaire moderne, 297, 1994, 99- 110. —, Le Spartakisme. Les dernières années de Rosa Luxemburg et Karl Liebknecht, Ivry-sur- Seine, Otium, 2021. Badia, Gilbert / Lefranc, Pierre, Un Pays méconnu: La République Démocratique Allemande, Leipzig, Edition Leipzig, 1963. Bangel, Christian, „Das L-Wort“, in: Die Zeit, 2019, www.zeit.de/ politik/ deutschland/ 2019-09/ ostdeutschland-lebensleistungen-bundestagsdebatte-bundeswoerter (publiziert im September 2019, letzter Aufruf im Oktober 2021). —, „Nacht der deutschen Einheit“, in: Die Zeit, 2020, www.zeit.de/ gesellschaft/ zeitgeschehen/ 2020-10/ 30-jahre-wiedervereinigung-ostdeutschland-rechtsextremismus-neonazis-ost-west (publiziert im Oktober 2020, letzter Aufruf im Oktober 2021). Goergen, Marie-Louise / Kalinowski, Isabelle, „notice BADIA Gilbert [BADIA Théodule, Gilbert, Adolphe]“, https: / / maitron.fr/ spip.php? article15456 (publiziert im Oktober 2008 [September 2021], letzter Aufruf April 2022). DOI 10.24053/ ldm-2022-0016 35 Dossier Marx, Karl et al., Correspondance. Tome 1 et 2 (1835-1851), avec une préface de Jean Quétier, Paris, Éditions Sociales, 2019. Nakath, Detlef, „Hätte ich das gewußt, wäre ich dagegen gewesen. Französische Wissenschaftler debattierten in Berlin über DDR-Geschichte und -Forschung“, in: Neues Deutschland, 27.01.1995, 4-5. Nerlich, Michael, „Den Bach hinunter? Die Deutschen brauchen Frankreich für ihre eigene Identität“, in: Die Zeit, 06.04.1990, 52. Pfeil, Ulrich, „Gilbert Badia“, in: Nicole Colin et al. (ed.), Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945, Tübingen, Narr, 2013, 115. Schlicht, Uwe, „Nach der Wende kam die Wende“, in: Der Tagesspiegel, 1999, www. tagesspiegel.de/ themen/ gesundheit/ nach-der-wende-kam-die-wende/ 104922.html (publiziert im November 1999, letzter Aufruf im April 2022). Vaillant, Jérôme, „Gilbert Badia: entre médiation et ,agitation‘ au service d’une double cause: antifascisme et (re)connaissance de la RDA“, in: Michel Grunewald et al. (ed.), France- Allemagne au XXème siècle. La production du savoir sur l’autre / Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert. Akademische Wissensproduktion über das andere Land, Bern, Peter Lang, 2012, 261-270. 1 Im Original: „[...] pour éliminer l’influence marxiste-léniniste […]“ (Übersetzung der Verfasserin). 2 Im Original: „[...] version falsifiée de l’histoire“ (Übersetzung der Verfasserin). 3 Konkret schreibt Bangel: „Jeder kann diese Phrase jederzeit nutzen, um gefahrlos etwas mitfühlende Ostkompetenz zu zeigen. Wer ,Lebensleistungen‘ sagt, der stellt sich gegen das Ostbashing, ohne sich des Westbashings verdächtig zu machen. Der zeigt Verständnis für die Probleme des Ostens, ohne mehr Geld für den Osten zu fordern. Die ,Lebensleistungen der Ostdeutschen‘ zu würdigen, das ist ein wenig so, wie ,klare Kante gegen rechts‘ zu zeigen. Eine Allwetterformulierung ohne Fettnäpfchengefahr und ohne Folgen.“ 4 Interview mit Claude Mazauric im Februar 2019. 5 Interview mit Jean Mortier und Hélène Roussel, geführt im Oktober 2018. 6 Cf.: Nicole Colin / Joachim Umlauf, „Eine Frage des Selbstverständnisses? Akteure im deutsch-französischen champ culturel. Plädoyer für einen erweiterten Mittlerbegriff“, in: Nicole Colin et al. (ed.), Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945, Tübingen, Narr, 2013, 71-82. 7 In diesem Zusammenhang sei auf die Position Bernd Martens verwiesen, der explizit davor warnt, die Menschen in Ostdeutschland nur als passive Opfer der sozialen und wirtschaftlichen Transformationen zu stilisieren. Der Opferdiskurs sei fehl am Platz, Teile der ostdeutschen Bevölkerung seien aktive Akteure im Prozess der Wiedervereinigung (cf. Bernd Martens, „Der Blick zurück: Erwartbare Enttäuschungen“, www.bpb.de/ themen/ deutscheeinheit/ lange-wege-der-deutschen-einheit/ 47525/ der-blick-zurueck-erwartbare-enttaeusch ungen (publiziert im September 2020, zuletzt abgerufen im Oktober 2021).